Einleitung
Beim Lesen der von Männern geschaffenen Utopien wächst der Eindruck, daß Frauen anscheinend nirgends Platz finden — an diesen neuen Plätzen bleibt ihnen nur ihr alter Platz. Trotz einiger Gegenbeweise bleiben die Frauen Gefangene ihres Geschlechts: Sie haben keine Zukunft, denn ihre Anatomie ist ihr Schicksal. Utopien von Frauen sind hingegen ein anderes Kapitel. In feministischen Utopien bevölkern Frauen — und natürlich auch Männer — völlig andere Raum- und Zeit-Visionen. Anarchistisch, antihierarchisch, gleichberechtigt, die Technik für menschliche Zwecke nutzend, engagiert in zwischenmenschlichen Beziehungen und in der Kunst, die persönliche Entwicklung mit dem Zusammenhalt der Gruppe verbindend. So entfliehen weibliche Utopien der starren Kühle traditioneller männlicher Utopien, vermeiden aber gleichzeitig die Verherrlichung des Körpers auf Kosten der Vernunft — wie es die Marcuse-Richtung anzustreben scheint.[1]
Die meisten Männerutopien trugen nur wenig zur Verbesserung des Frauenloses bei. (Siehe Baruch, Teil IV.) Verändern wir die Perspektive nur ein klein wenig, könnte sich zeigen, daß Männer-Dystopien Frauen-Utopien sein könnten und umgekehrt, wie ja auch aus Shulamith Firestones »Frauenbefreiung und sexuelle Revolution« hervorgeht.[2] Was Huxley in seiner »Schönen, Neuen Welt« noch negativ sah - die Auflösung der Familie, des Heims und die Anwendung künstlicher Fortpflanzung — drückt Firestone positiv aus. Viele Autorinnen in diesem Teil befassen sich kritisch mit dem Thema der Fortpflanzung und der Geburtenkontrolle. Einige Feministinnen befürchten, daß durch die Gentechnologie die Frauen nur noch stärker von den Männern beherrscht werden, weil diese Technologie von Männern kontrolliert wird. (Zimmerman, Teil II) Eine der führenden spanischen Feministinnen der Gegenwart, Lidia Falcon, setzt dagegen, daß wir erst dann zu Menschen werden, wenn wir nicht mehr gebären müssen.[3] Sie sagt den Tag der künstlichen Befruchtung und Austragung voraus. Auch Lees merkt an, daß in einigen feministischen Utopien — am eindrucksvollsten vielleicht bei Piercys »Die Frau am Abgrund der Zeit« — künstliche Fortpflanzung als unabdingbar für Gleichberechtigung angesehen wird. Viele Feministinnen sind anderer Ansicht, da für sie die Hierarchie nicht in der Biologie begründet liegt, sondern gesellschaftlich bedingt ist.[4] Lees' Analyse wird mit Sicherheit Staub aufwirbeln und für Kontroversen sorgen. Nach ihrer Meinung sind es nämlich genau die Utopien, in denen Fortpflanzung unabhängig vom Körper gesehen wird, die das mütterliche Sorgen auch Männern erfahrbar machen wollen.
Eine erstaunliche Verbindung der gentechnischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts mit dem überhöhten Mutterbild des 19. Jahrhunderts findet sich in Charlotte Perkins Gilmans »Herland« aus dem Jahre 1915. Die rein weibliche Bevölkerung kann sich dort allein fortpflanzen. Obgleich Gilman nach Sheila Dela-nys Worten »in jeder Frau die heilige Jungfrau Maria« sieht,[5] stellt sie doch auch den Zusammenhang zwischen Mutterschaft und gesellschaftlichem sowie kulturellem Fortschritt her.
Utopien enthüllen oft mehr über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, als über die Zukunft. Deshalb verwundert es nicht, daß einige Utopien des letzten Jahrhunderts im »Kult der wahren Weiblichkeit« schwelgen. Einige Feministinnen konnten sich allerdings auch damals schon mit großen Sprüngen aus jener Abgeschiedenheit befreien. In »Union Ouvriere« rief Flora Tristan zu einer Gewerkschaft von Arbeiterinnen und Arbeitern auf und verglich die »zwei Rassen« — das Proletariat und die Frauen — miteinander. Tristan schöpfte Hoffnung aus der Tatsache, daß auch die Arbeiter in ihrer geschriebenen Geschichte immer unterdrückt waren, bis die Revolution in Frankreich einen Aufschwung der Künste und Wissenschaften mit sich brachte. Das würde nach Tristan auch den Frauen blühen, wenn sie ihr »89« erleben. Die Emanzipation der Frau, so sagte sie voraus, bereichere die Gesellschaft ungemein. »Das ist so einfach, wie eins und eins zwei ergeben.«[6]
Die von Flora Tristan 1843 vorausgesagte Gleichberechtigung hat sich noch nicht verwirklicht. Nur gelegentlich werden Frauen von Männern unterstützt, sei es am Arbeitsplatz oder sonstwo. Dies war einer der Gründe für die Gründung eigener Frauenorganisationen und Kollektive. Farley beschreibt, wie die Frauen des 20. Jahrhunderts in ihren Utopien von Separatismus träumen. Traurig genug, daß Christine Delphy, eine der Gründerinnen der neuen Frauenbewegung in Frankreich, nicht an eine feministische Revolution noch zu ihren Lebzeiten glaubt. Für sie ist Utopia weniger ein Baustein für die Zukunft als ein Prozeß, eine Denkart — die Fähigkeit, sich die Dinge anders vorzustellen.[7] Einen ähnlichen Standpunkt vertritt auch Pearson in ihrem Aufsatz »Zeit und Revolution«: ,,... wir können die künftige Welt nicht erschaffen, bevor wir nicht darin leben, das heißt, daß wir sie uns vorstehen und zu eigen machen.« Pearson ist positiver als Delphy: »Wir können den Wandel weder erzwingen noch beherrschen, aber wir könnten darauf vertrauen, daß wir bereits heute Bürgerinnen einer utopischen Gesellschaft im Werden sind.« Für einige Autorinnen verwirklicht sich Utopia genauso im Heute wie im Morgen.
Sally Gearhart — Verfasserin utopischer Romane — wirft einen leidenschaftlichen Blick auf die heutige feministische utopische Literatur. Mit großer Offenheit schreibt sie, wie selbst die eifrigsten Verfechterinnen der Gleichberechtigung — mit Ausnahme von Marge Piercy — Schwierigkeiten mit der Frage des Rassismus haben. Sich selbst nicht ausnehmend, bekennt Gearhart: »Um die Wahrheit zu sagen, befasse ich mich längst nicht so engagiert mit Fragen des Rassismus wie mit den anderen Themen — beispielsweise Homophobie und Sexismus.« (Könnte einer der Gründe für das Kaum-vorhanden-Sein schwarzer weiblicher Utopien darin liegen, daß das Verfassen von Utopien ein Privileg darstellt, das eine bestimmte materielle Sicherheit voraussetzt, und daß die farbigen Frauen wegen ihrer gegenwärtigen Unterdrückung keine Energie an die Zukunft verschwenden wollen?) Gearhart weist aber auch auf Versuche zur Überwindung der traditionellen Trennung in den Utopien hin, die eher die ganze Gruppe in den Mittelpunkt rücken als einzelne Heldinnen wie »Herland« und »Die Verschwörung der Balkis — Les Guerilleres«.
Ein Grund für die gegensätzliche Auffassung von Kunst in weiblichen und männlichen Utopien mag darin liegen, daß die meisten Utopisten Stabilität festschreiben wollen, während feministische Utopistinnen den Wandel anstreben, ja für unabdingbar halten. Dieser Unterschied erstreckt sich auf die soziale Realität. Während die vorstaatliche Gesellschaft von Sumer den Frauen nach Rohrlich noch große Bedeutung beimaß, brachte der Wechsel zum Patriarchat den Niedergang der Kunst und den Aufstieg der Propaganda mit sich. Die Kunst erschöpfte sich in der Verherrlichung der kriegführenden Könige. Eine Antithese zur utopischen Vision von Frauen.
Feministische Utopien verwischen die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit, Vernunft und Verrücktheit, Vorher und Nachher, Innen und Außen. Definitionen zerfließen. Die Polarität von entweder/oder schwindet. Anfang und Ende lösen sich auf. Utopie bedeutet Prozeß und findet sich weder in vergangenen Arkadien noch künftigen Elysien.
Neue Konzepte von Raum und Zeit entstehen aus der Zerstörung des männlichen Logos, der sich in feministischer Fiktion, Poesie, Linguistik und Theorie wandelt. Sind diese Konzepte tatsächlich so neu? Im ersten Teil zeigen uns ja die Hopis ihre nichtlineare Auffassung von Realität. Matriarchale Gesellschaften wie das minoische Kreta maßen der Kunst große Bedeutung bei. Ein Teil der feministischen Utopie besteht in der Wiederentdeckung vergangener Wirklichkeiten, der Wirklichkeit anderer Kulturen. Die Erkenntnis, daß Utopien bereits in der Vergangenheit zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten existierten, läßt uns für die Zukunft hoffen und — was vielleicht noch wichtiger sein mag — gibt uns Mut für die Gegenwart.