Mutterschaft in feministischen Utopien

In der feministischen utopischen Literatur zeigen sich zwei grundsätzlich verschiedene Ansichten über Mutterschaft. Die eine betont Verantwortung und Verantwortlichkeiten der Kindererziehung und möchte die Frauen von diesen noch immer ungleich verteilten Pflichten befreien. Die andere streicht die persönliche Genugtuung heraus, die eine Mutter in der Liebesbeziehung mit ihren Kindern empfängt, und möchte die sozialen Vorteile der mütterlichen Erfahrung allen zuteil werden lassen. Dieser zweite Ansatz befreit die Mutter im allgemeinen auch aus der alleinigen Verantwortung für die Kindererziehung und sieht als Ziel dieser Befreiung die Möglichkeit, die Kinder zu lieben und daneben auch noch andere Dinge zu tun. Im Gegensatz dazu spielt der erste Ansatz die Liebesbeziehung als Ablenkung von »höheren« Gefühlen herunter.
Carol Pearson hat einige Gemeinsamkeiten in der Darstellung der Mutterschaft in feministischen Utopien herausgestrichen: kurze Kindheit; gemeinsame Verantwortung für die Kindererziehung; herunterspielen der biologischen Aspekte der Mutter-Kind-Bindung.[1] Diesen letzten Punkt halte ich für sehr kritisch, wenn wir uns fragen, wie die Befreiung für Mütter — sei es von der Liebe oder für die Liebe — in Utopia erreicht werden soll. In den Utopien, die die Mutter-Kind-Beziehung auslassen, wird auch nicht in den biologischen Fortpflanzungsprozeß eingegriffen. Utopien, die die mütterliche Freude und Erfüllung in der engen Bindung verwurzelt sehen, möchten dieses Gefühl als wesentliche Quelle menschlichen Glücks allen ermöglichen — was aber aufgrund der biologischen Unterschiede nicht möglich sein könne. Also besteht die Lösung dieses Problems darin, den biologischen Prozeß zu verändern, um die negativen Folgen des kleinen Unterschieds möglichst gering zu halten.
Radikale Eingriffe in die traditionelle Intimsphäre der Mutter-Kind-Beziehung sind nicht allein weiblicher Vorstellungskraft vorbehalten — man denke nur an Platos »Staat«. Etliche zielgerichtete Gemeinschaften, die sich an utopischen Idealen von Männern orientieren, sehen Mutterschaft — theoretisch — als Pflicht, Ablenkung und Quelle der Unterdrückung, die abgeschafft werden sollte. Zwei Kommunen — Oneida und die israelischen Kibbuzim [2] — wollen wir genauer anschauen. Während bei diesem Ansatz soziale Lösungen für soziale Ungerechtigkeiten gesucht werden, erfindet der alternative Ansatz, bei dem Mutterschaft als Quelle des Glücks und Wiege der Kraft gesehen wird, »technische Tricks«, um die Ungerechtigkeit zwischen Mann und Frau bei der Fortpflanzung aus der Welt zu schaffen. Herland, Whileaway und Wanderland sind männerlos, und die Vermehrung geschieht durch Parthenogenese oder Eiverschmelzung. In Mattapoisett und Thoacdien werden Maschinen eingesetzt. Gethen schafft den Geschlechtsunterschied mit einer an-drogynen Rasse ab: Jedes Individuum kann zu verschiedenen Zeiten Vater oder Mutter sein.[3]
Wenn Männer von Utopien träumen, zeigen sie oft wenig Empfinden für Mutterschaft. Einige Feministinnen teilen dieses Gefühl, während viele Männer und vor allem Frauen in der Mutterschaft doch viele Vorzüge erkennen. Andere Frauen, sowohl Autorinnen von Utopien wie auch in männlich geprägten utopischen Kommunen lebende, glauben, daß soziale Ungerechtigkeiten nur dann beseitigt werden können, wenn niemand auf Grund des Geschlechts von der Mutterschaft ausgeschlossen wird. Um Utopia zu erreichen, müssen also Männer ausscheiden oder die biologischen Voraussetzungen so verändert werden, daß Männer auch Mütter sein können. Die erste Gruppe sieht Frauen nicht als »mangelhafte Männer«, sondern »Menschen«, die von einem sozialen System benachteiligt werden, die anderen sehen Männer als »mangelhafte Frauen« und wollen dies korrigieren, indem sie Mütter werden sollen.

Befreiung der  Frauen aus der Mutterschaft

In Platos »Staat«, dem Prototyp »antifamiliärer«[4] Utopien, waren die Staatsbeamtinnen von der Kindererziehung und anderen häuslichen Pflichten befreit, damit sie sich voll dem Staatsdienst widmen konnten. Die Kinder wurden unter der Obhut von Pflegern oder Pflegerinnen aufgezogen. Stillende Beamtinnen wurden in den Zentralkindergarten gebracht, damit sie abwechselnd die Kleinen nähren könnten — ohne zu wissen, welches Baby nun das ihre war. Mit diesem System sollten Familienbindungen ausgeschlossen werden, die nach Plato nur Selbstsucht und Wettbewerb hervorbrachten. Derlei Eigenschaften waren den Beamten und Beamtinnen des »Staats« verwehrt.
Platos elitäre Utopie steht im Gegensatz zu Ursula LeGuins anarchistischem Annares,[5] und doch behandelt sie Mutterschaft ähnlich wie Plato. Alle in Annares haben ihren Beruf. Hausarbeiten wie Kochen, Waschen und Kindererziehung sind vergesellschaftet und örtlich zentralisiert. Wie es einer Anarchie geziemt (im Gegensatz zu einem rigide geführten Staat), können die Eltern unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen. Die Mutter des Protagonisten auf dem »Planet der Habenichtse« beispielsweise hat diesen nicht aufgezogen, auch sah er seinen Vater als Kind nur selten. In einer Anarchie findet ein typisch patriarchaler Vater, Führer oder Gesetzgeber keinen Platz. In Ursula Le Guins Utopie bedeutet eine Befreiung der Frauen von »Mutterpflichten« nicht zugleich ein Aufgeben der Mutterfreuden, im Gegenteil, in einer Anarchie wird Mutterschaft auch Vätern zuteil.
Die Möglichkeiten sozialer Eingriffe, die Plato und LeGuin sich vorstellen, sind extrem, doch in der bereits bestehenden Welt experimentell anwendbar. Analogien zu Platos und LeGuins Umgehen mit Mutterschaft können wir in einigen experimentellen Kommunen finden. Interessant dabei ist Oneida (1849-79), eine von John Humphrey Noyes geführte, religiös orientierte utopische Gemeinschaft. In Oneida gab es die »komplexe Ehe«: Jedes Mitglied der Gemeinde war formell mit jedem anderen (gegengeschlechtlichen) Mitglied verheiratet. Die sexuellen Beziehungen wurden von einem Ältestenrat geregelt, der darauf achtete, daß keine »ausschließlichen Bindungen« zwischen den Paaren entstanden. Enge Bindungen zwischen Eltern und Kindern wurden als Ablenkung von Gott, Christus und der Gemeinschaft gesehen. Noyes predigte die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung. In den ersten zwanzig Jahren von Oneida war Geschlechtsverkehr zur Zeugung von Nachkommen verboten. Danach gab es ein zehn Jahre währendes eugenisches Experiment, bei dem ein Komitee bestimmten Paaren die Fortpflanzung erlaubte. Für dieses Experiment meldeten sich mehr Frauen als Männer. 58 Kinder wurden in jener Zeit (1869—79) geboren. Eine Gruppe von 3 Männern und 15 Frauen erzog sie. Mütter durften ihre Kinder ab und zu besuchen, aber keine ausschließlichen und ausschließenden Beziehungen zu ihnen eingehen.
Trotzdem fühlten sich einige Mütter mehr zu ihren Kindern als zu anderen Kommunemitgliedern hingezogen und waren daher über die wenigen Möglichkeiten des Beisammenseins mit ihren Kindern unglücklich. Hätte denn eine liberale Mutter-Kind-Politik dem Gemeinschaftsleben entgegengestanden?
Das beeindruckende und großartige Experiment der israelischen Kibbuzim mit Tausenden von beteiligten Menschen scheint dies in über drei Generationen zu bestätigen. Heute gibt es rund 240 Kibbuzim mit etwa 100 000 Mitgliedern. Die Kibbuz-Prinzipien sind: Gleichberechtigung, Gemeinsinn und Gemeinschaft. Zu Beginn war man gegen die Kleinfamilie, da sie als repressiv und sozialistischen Gemeinschaftsgedanken entgegenstehend empfunden wurde. Paare durften enge Zweierbeziehungen eingehen, hatten aber keinen Anspruch auf ein eigenes Familienleben. Die Erwachsenen aßen in gemeinsamen Speisesälen, die Hausarbeit war vergesellschaftet, und Kindererziehung lag in den Händen der Gemeinschaft. Kurz nach der Geburt wurden die Kinder den Müttern weggenommen und in Kindergärten und Kinderhäusern aufgezogen und erzogen. Die Kinder kannten zwar ihre Eltern, lebten aber nicht mit ihnen. Die Eltern verbrachten höchstens den Feierabend und den Sabbat mit ihren Kindern.
Nach und nach wurden Änderungen eingeführt, die schließlich zum Wiederaufleben der Kernfamilie in einigen Kibbuzim führte.[6] Zunächst hatten die Frauen das Recht auf Besuche bei ihren Kindern während des Tages verlangt. Eine wachsende Zahl von Kibbuzim erlaubte den Kindern schließlich, bei den Eltern zu schlafen. Wo es eigene Küchen gab, aßen sie gemeinsam. Das Ergebnis war nicht nur eine Stärkung der Familienbande, sondern auch eine Zunahme der Hausarbeit für Mütter.
Die Veränderungen wurden auf Verlangen der Mütter eingeführt, die mehr mit ihren Kindern zusammen und auch mehr an der Erziehung der Kinder beteiligt sein wollten. Dafür nahmen die Frauen lieber eine Arbeit in der Nähe der Kinderhäuser auf (meist niedrig bewertete Dienstleistungsjobs in der Siedlung) und eine Zunahme privater Hausarbeit in Kauf. Feministische Kritikerinnen [7] meinen, tieferliegende Gründe für diesen Wechsel seien im Sexismus der jüdischen Tradition und in der israelischen Gesamtgesellschaft zu suchen. Auch der Druck auf die Frauen, im Zusammenhang mit den ständigen Kriegen für Nachkommen zu sorgen, könnte eine Erklärung sein.
Wären die Kibbuzfrauen mit der Trennung von ihren Kindern einverstandener gewesen, wenn es keine sexistische Tradition und Umgebung gegeben hätte? Hätten sie die Trennung von den Kindern als glücklich empfunden, wenn es weder militärischen noch wirtschaftlichen Druck gegeben hätte? Wäre das ideale Kibbuz ein Utopia für Mütter?
Mutter-Kind-Beziehungen scheinen Gemeinschaftsverpflichtungen in männlich geprägten Utopien zu untergraben. Häufig sind sie Ursache von Konflikten in den Kommunen auf der ganzen Welt.[8] Auch einige Verfasserinnen von Utopien sehen eine strenge Mutter-Kind-Bindung als negativen sozialen Einfluß. Dorothy Bryants »Die Insel der Ata« illustriert diese Auffassung.[9] Schwangerschaft ist eine Last, die allein getragen werden muß, die Geburt wird als schmerzhafter Erfolg gesehen. Nur das Stillen scheint der Mutter Freude zu bereiten. Andere hüten das Baby — bleibt also fraglich, welche Last oder Lust ihnen das bereitet.
In Bryants Buch werden auch die Kinder in einem negativen Licht gezeichnet. Die Freiheit schöner Träume wird von allen in Ata gesucht. Kinder lenken da nur ab. In der Vergangenheit führten Kinder zu Sorgen und Zerstörung, da sie nicht genügend Urteilskraft hatten, um frei zu entscheiden und zu handeln. Diese Ansicht über Kinder und die Bedrohung, die sie darstellen, stehen im Gegensatz zu den Auffassungen von Charlotte Perkins Gilman und Marge Piercy, die Kinder in positivem Licht zeigen und nicht als Ursache ungeliebter Störungen.

Abschaffung der Vaterschaft: Erhöhung der  Mutterschaft

Die meisten feministischen Utopien sehen Mutterschaft als etwas Verehrungswürdiges. Nur wenige sehen die Vaterschaft im gleichen Licht. Wie kann Vaterschaft abgeschafft und Mutterschaft beibehalten werden? In »Herland« von Charlotte Perkins Gilman wird das Problem durch Ausschluß der Männer gelöst: Frauen vermehren sich durch Parthenogenese. Schwangerschaft ist ein ungeheures Privileg, das Frauen nur einmal im Leben unter kontrollierten Bedingungen gewährt wird. Alle Frauen sind Mütter und Ernährerinnen: Ihre Fähigkeiten werden für die Hege und Pflege von allen Dingen gebraucht, nicht nur für Kinder. Dieses konventionelle Ideal der Mutter wird in »Herland« zum idealen Menschenwesen: stark, kontrolliert, sanft, weise, fruchtbar und großzügig. Befreit von männlicher Herrschaft und Unterdrückung können die Bürgerinnen von »Herland« ihre mütterlichen Tugenden der Entwicklung der Künste, Wissenschaft, Landwirtschaft und anderen schöpferischen Tätigkeiten zuwenden.
Im ersten Jahr nach der Geburt sind die Kinder ganz nah bei ihren Müttern, werden aber allmählich besonderen Pflegerinnen zugeteilt, doch nie gänzlich von ihren Müttern getrennt. Kindererziehung war Sache der Spezialistinnen — nicht weil die Mütter zum »Arbeiten« freigestellt werden sollten, sondern weil die Spezialistinnen sich mit dieser Aufgabe auskannten.
In »Whileaway« von Joanna Russ hat Mutterschaft relativ wenig Bedeutung für die Erwachsenen. Die Mütter in »Whileaway« ähneln nachgiebigen patriarchalen Vätern und tragen keine der üblicherweise mit Mutterschaft verbundenen Pflichten oder Sorgen. Genau wie »Herland« ist »Whileaway« eine Frauenwelt ohne Männer. Die Fortpflanzung geschieht mechanisch: Die Eier von zwei Frauen werden zusammengebracht, damit sich eine Keimzelle bildet, die dann im Körper einer der Frauen ausgetragen wird. Je nach demographischer Notwendigkeit tragen die Frauen einmal in ihrem Leben entweder ein einzelnes Kind oder Zwillinge aus. In den fünf Jahren, die die ungefähr dreißig Jahre alte Mutter mit ihrem Kind verbringt, gibt sie sich ganz der Erziehung und emotionalen Betreuung ihrer Tochter hin — für das körperliche Wohlergehen braucht sie nicht zu sorgen. Das Mutterdasein wird als erholsamer Urlaub für diese und als Segen für das Kind gesehen. In diesen fünf Jahren braucht die Frau auch nicht zu arbeiten.
Diese Art der Kindererziehung wird für die Persönlichkeitsstruktur der Frauen von »Whileaway« als notwendig erachtet — den Kindern mag es nicht immer gut erscheinen, doch den Frauen darf es nicht schwerfallen. Mütterliche Leidenschaften gelten als Schwäche, die der Ethik von »Whileaway« nicht dienlich sind.
Auch »Wanderland« von Sally Miller Gearhart schildert eine Gesellschaft ohne Männer. Die Mutterschaft erscheint hier etwas unklar, doch werden »Einpflanzung« und »Eiverschmelzung« erwähnt. Eine siebenköpfige Frauengruppe ist Mutter eines Kindes. Die Geburt ist ein hochentwickelter Ritus und erhöht die Spiritualität der Gemeinschaft. Mutterschaft ist hier eine freiwillige Erfahrung, die allgemein hohe Wertschätzung und Anteilnahme erfährt.

Männer werden Mütter: psychosoziale Androgynie

Gilman, Russ und Gearhart verbessern das Los der Menschheit, indem sie die Männer ausschließen. Marge Piercy hingegen ändert die Fortpflanzungsrollen von Frauen und Männern. In ihrem utopischen Mattapoisett finden Empfängnis und Austragung in technisch kontrollierten Behältern statt. Jedem Kind werden drei Ko-Mütter zugeteilt, die dieses Privileg beantragen und sich in die Mutterrolle teilen, bis das Kind in die Pubertät kommt. Mit einem Ritual endet dann diese Rolle. Auch Männer können Ko-Mütter werden und Freude und Verantwortung für ihre Kinder tragen. Hormonspritzen ermöglichen ihnen das Stillen der Kinder. Mindestens zwei der drei Ko-Mütter teilen sich das Säugen der Kinder. Eine Vaterrolle gibt es in Mattapoisett nicht.
Kindererziehung ist wie Empfängnis und Austragung ein gemeinsames Unterfangen. Die Ko-Mütter unterhalten eine besondere Beziehung zu ihrem Kind, das gemeinsam mit den anderen Kindern in von Spezialist/inn/en betreuten Kindergärten aufwächst. Freie und leichte Kontakte zwischen Ko-Müttern und Kindern werden nicht ausgeschlossen. Diese künstliche Lösung der Unterschiede zwischen Frauen und Männern wird in Mattapoisett als notwendige Aufgabe einer Frauenmacht gesehen, die es wert sei, im Namen gemeinsamer Erfahrungen zu opfern.
Ähnlich wird die psychologische Androgynie bei Mary Staton in »The Legend of Biel« erreicht. In ihrem Thoacdien werden Embryos von Maschinen gebildet, genährt und behütet. Die Babyhütemaschinen, »Gladdins«, sind »ideales« Pflegepersonal: darauf programmiert, alle körperlichen Bedürfnisse des Säuglings zu befriedigen. Erst wenn sie ein gewisses Maß an intellektueller und emotionaler Reife erreicht haben, kommen die Kinder mit anderen Menschen in Kontakt. Dann bitten sie selbst um eine/n »Mentor/in«.
Mentor/inn/en sind für Gesundheit und Entwicklung ihres Pfleglings bis zum Erwachsenenalter verantwortlich. Diese Beziehung gründet nicht auf Autorität, sondern Liebe. Sie hat die Intimität einer Mutter-Kind-Beziehung, ist aber noch ausschließlicher, da es nur eine/n Mentor/in gibt und diese Pflege Körper, Geist und Seele umfaßt. In »The Legend of Biel« ist psychosoziale Mutterschaft hoch angesehen, die biologische entfällt hingegen. Die Herauslösung der Fortpflanzung aus dem Menschenkörper bringt »Mutterschaft« in Einklang mit einer geschlechtsfreien und gleichberechtigten Gesellschaft.

Männer werden Mütter: biologische Androgynie

Während die Gleichberechtigung in Mattapoisett und Thoacdien durch psychosoziale Androgynie und in »Herland« durch Abschaffung der Vaterschaft und allgemeinen Zugang zur Mutterschaft erreicht wird, befassen sich andere Utopien mit beidem: Vater- und Mutterschaft werden durch biologische Androgynie allgemein möglich.
Nehmen wir Ursula LeGuins Gethen in »Winterplanet«. Durch ihre Erfindung einer androgynen Bevölkerung schafft sie Gleichberechtigung. Die psychosoziale Beziehung zwischen Eltern und Kind wird aufgehoben. Alle in Gethen können zu jeder unterschiedlichen Zeit ihres Lebens Väter oder Mütter sein. Die Erbfolge ist matrilinear, Familienbande werden anerkannt, die Ehe ist weder von staatlichem noch von gesellschaftlichem Belang. Die Kindererziehung beschreibt LeGuin nicht weiter.
Ihr frühester Vorgänger war wahrscheinlich der Aufklärungsschriftsteller Gabriel de Foigny.[10] In »A New Discovery of Terra Incognita Australis« (1676) schildert er die androgyne Rasse der »Australier/innen«. Mit der Idealisierung der Mutterschaft geht Foigny weiter als LeGuin. Die Geburt ist schmerzlos und angenehm, die Muttermilch so vollkommen, daß die Säuglinge bis zu ihrem zweiten Lebensjahr nichts anderes brauchen; Babys haben keinen Stuhlgang. Schnell werden die Kinder erwachsen und von ihren Eltern zur weiteren Erziehung den Spezialist/inn/en überlassen.

Eine heterosexuelle Lösung: veränderte Vaterschaft

Einige Utopien bringen »natürliche« Mutterschaft und Gleichberechtigung bei gleichzeitiger enger Mutter-Kind-Bindung in Einklang. Ein treffendes Beispiel ist »Zone drei« von Doris Lessing,[11] wo Vaterschaft nicht abgeschafft, sondern erweitert wird. Es gibt genetische und geistige Väter, die beide von der Mutter des Kindes ausgesucht werden. Die genetischen Väter sind die leiblichen Erzeuger. Die geistigen Väter sind für die Sorge um Fötus und Kind weit wichtiger. Jedes Kind hat mehrere geistige Väter. Ihre Rolle in der Pflege des Kindes unterscheidet sich von der der Mutter und wird als wesentlicher Beitrag für das Wohlergehen des Kindes gesehen.
Mutterschaft wird wegen des Staatswohls oder zum Wohl der Mutter nicht eingeschränkt; es ist ein kontinuierlicher und lohnender Seinszustand für Frauen. Ein Nachlassen der Fruchtbarkeit wird als Verarmung betrachtet und als Zeichen dafür, daß etwas falsch läuft. Nur auf den Wunsch der Mutter hin findet Empfängnis statt. Die Geburt bringt kaum Schwierigkeiten mit sich. Das Stillen ist angenehm, doch wird die körperliche Nahrung nicht über die geistige — sowohl von der Mutter als auch den Vätern — gestellt. Die Kinder werden von beiden geliebt und angenommen. Mutter- und Vaterschaft sind Verantwortlichkeiten, werden jedoch nicht als Einengung des Individuums dargestellt. Sie passen sich wunderbar in Lessings utopischen Traum ein und müssen nicht mit Selbstsucht, Herrschaftsverlangen oder anderen Übeln einhergehen; denn die entstehen offensichtlich nur im Zusammenhang mit Krieg.

Schluß: Veränderung der Gesellschaft

Mit Ausnahme vielleicht der biologisch androgynen sind die hier dargestellten Menschen uns relativ ähnlich, so daß wir diese Utopien mit didaktischem Blick lesen können.[12] Wir lernen daraus, daß Sozialgerechtigkeit, Kreativität und Erfüllung unmöglich zu verwirklichen sind, wenn die Vorzüge der Mutterschaft der Menschheit vorenthalten werden. Frauen werden Freude und Ausdruck mütterlicher Eigenschaften verwehrt, weil sie von männlichen Interessen an Krieg, Wettbewerb und Profit beherrscht werden. Männern wird der Ausdruck mütterlicher Eigenschaften wegen ihrer Biologie verwehrt. Gilman, Russ und Gearhart lösen das Problem durch Abschaffung der Männer; Piercy und Staton machen Männer zu Müttern; Lessing und Bryant schaffen einen Ausgleich, indem sie Männern die geistige Pflege mitanvertrauen.
In keinem dieser Fälle wird die Lösung der Problematik allein durch Sozialreformen erreicht; biologische Eingriffe sind notwendig, entweder um Frauen die Fortpflanzung ohne Herrschaft der Männer zu ermöglichen oder um allen die Möglichkeit zur Mutterschaft zu geben. Daraus geht hervor, daß die Autorinnen soziale Ungerechtigkeit im Sexismus verwurzelt sehen, der wiederum mit unserer Art der Fortpflanzung zu tun hat. Viele andere Sozialprobleme sind mit Sozialreformen lösbar; Sexismus anscheinend nicht.
In diesem Sinn scheinen die Autorinnen eine ähnliche Position wie Tiger und Shepher [13] und Alice Rossi [14] zu vertreten, die sagen, daß die enge Bindung der Mütter an ihre Kinder biologisch begründet ist. Anders als frauenfeindliche Denker sehen die utopischen Schriftstellerinnen in den bio-psychologischen Eigenschaften einer Mutter eine Quelle der Stärke. Wenn die Unterschiede der Geschlechter ihren Ursprung in der Biologie haben, können sie nicht durch Sozialreformen allein aus der Welt geschafft werden. Ein solcher Versuch wird unweigerlich und immer wieder Frauen wie Männer enttäuschen: So führt kein Weg nach Utopia. Bleibt also nur die biologische Intervention, wenn sexistische Ungleichheiten ausgeglichen werden sollen.
Solche Eingriffe werden in Dystopien beschrieben. Die berühmteste ist wohl die »Retortenbaby«-Phantasie aus Huxleys »Schöne Neue Welt«. Frauen haben sich auch solcher Mittel in ihren negativen Phantasien bedient. So beschreibt Zoe Fair-bairns das Großbritannien der Zukunft[15]: Da ist eine staatliche Bürokratie dabei, die Fortpflanzung der Frauen zu kontrollieren, indem zunächst allen Frauen Mutterschaftsgeld gewährt wird, dann einigen Frauen Spiralen eingesetzt werden, schließlich allen Frauen, um nur noch wenige für die Fortpflanzung herauszusuchen. Die letzte Maßnahme besteht in der Beigabe langwirkender Verhütungsmittel ins Wasser. Nur den von der Regierung ihrer Gefügigkeit wegen ausgesuchten Frauen, von denen man auch weiß, daß sie traditionelle mütterliche Werte verkörpern, wird dann ein Gegenmittel gegeben. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß das Ganze in Chaos endet. Die Lehre daraus heißt: Mutterschaft ist ein Privileg, das am besten von den einzelnen Frauen kontrolliert wird. Die Abgabe der Mutterschaft macht weder die Frauen glücklich, noch die Gesellschaft besser.
Die meisten feministischen Utopie-Autorinnen halten Mutterschaft für eine Erfahrung, die Frauen nicht missen wollen. Soziale Veränderungen sollten die Tugenden der Mütterlichkeit verbreiten und zur Wandlung der männlichen Rolle beitragen, indem entweder Vaterschaft abgeschafft oder der Mutterschaft angeglichen wird. Die Werte der Mutterschaft entstehen nicht aus der Sozialstruktur, sondern aus der Erfahrung der Mutterschaft selbst, die offenkundig die Frauen zu Ernährerinnen macht, ein Bewußtsein für die Umwelt weckt und zum Bewahren von Werten befähigt. Sie entwickelt Altruismus, Kreativität und eine Menge anderer menschlicher Tugenden.
Viele Kritiker warfen der Frauenbewegung der letzten Dekade eine antimütterliche Haltung vor; das lag offensichtlich an der Bewegung für die Freigabe der Abtreibung und bessere Arbeitschancen für Frauen außer Haus. In den feministischen utopischen Phantasien wird diese Kritik nicht unterstützt. In der freien Vorstellung einer idealen Gesellschaft haben die feministischen Schriftstellerinnen Mutterschaft keineswegs abgelehnt, sondern vielmehr ihre Bedeutung und ihren Wert hervorgehoben und hochgelobt.

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