Frauen im Übergang:

Kreta und Sumer

Die gegensätzlichen Sozialstrukturen im minoischen Kreta und in Sumer wirkten grundverschieden auf die Frauen. Im städtischen Kreta führte friedlicher Handel zur Dezentralisierung der Macht und ließ die Verwandtschaftsclans, in denen Frauen dominierten, fortbestehen. In Sumer hingegen führte der Wettstreit der Städte um die kargen Rohstoffe zu ständigen Kriegszügen, politischer Zentralisation und dem Zusammenbruch der Clanstrukturen; dabei wurde die Stellung der Frau immer mehr geschwächt. Diese beiden Zivilisationen der Bronzezeit entstanden aber aus ähnlichen gleichberechtigten Gesellschaften, in denen Frauen hohes Ansehen genossen. Doch mit der systematischen Unterdrückung der Frau, die vor ungefähr 5000 Jahren begann, sehen wir in der militaristischen Klassengesellschaft Sumers erstmals die Verwandlung einer utopischen Gesellschaft in eine voll erblühende dystopische.
Patriarchale Staaten, die zunehmend imperialistischer wurden, erhoben sich in der Alten, wie in der Neuen Welt und kulminierten in modernen Nationen, weltweitem Imperialismus und der Aussicht auf eine Zerstörung der Erde. Doch befinden sich Patriarchalgeseilschaften, die lediglich ein Prozent unserer Zeit auf der Erde ausmachen, bereits wieder in ihrem Niedergang.[1]
In dieser Übergangsphase empfiehlt es sich, einen Blick auf frühere Formen sozialer Organisation zu werfen, um deren Ursachen der Transformation zu studieren und dadurch Fehler zu vermeiden. Das alte Kreta und Sumer eignen sich gut als Anschauungsmaterial für die Übergangsphasen.
Seefahrer und Pioniere besiedelten Kreta vor mehr als 8000 Jahren und richteten ihr Leben dort auf einem vergleichsweise hohen Niveau neolithischer Kultur ein. Sie bauten Getreide, Obst und Oliven an; züchteten Rinder, Schafe, Ziegen und Schweine; sie jagten die wilden Tiere, von denen es genug auf der Insel gab.  Lange Seereisen waren bereits im Neolithikum durchaus üblich für den Handel mit Übersee.
Die Umwandlung der neolithischen Gesellschaft in ein Stadium, das wir als Zivilisation bezeichnen, begann — nach archäologischen Aufzeichnungen — in Sumer. Das ist der alte Name für das südliche Mesopotamien, das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris — heute Irak und Iran. Hier entwickelte sich städtisches Leben um das Jahr 3500 vor unserer Zeitrechnung und ungefähr 500 Jahre später verstädterte auch Kreta.[2] Die Umstände, die zur Entfaltung der ausgezeichneten und originalen Kultur Kretas führten, förderten natürlich auch die besondere Stellung der minoischen Frau; ebenso hatten die Umstände, die für den Niedergang der Stellung der Frau in Sumer verantwortlich waren, den Niedergang des ganzen Reichs mitbewirkt.
Kreta befand sich in einer äußerst günstigen Ausgangsposition für Reisen in alle Teile der antiken Welt: Es lag am Schnittpunkt aller großen Reiserouten. Die Insel am südlichen Eingang der Ägäis bildet einen Brückenkopf zwischen Asien, Afrika und über Griechenland nach Europa. Lange vor der Bronzezeit handelte Kreta mit Manufakturen wie Keramik, Metallprodukten und Textilien im Austausch gegen Rohstoffe wie Gold, Silber, Zinn, Blei, Kupfer, Elfenbein und Lapislazuli, die sie für ihre Industrie benötigten. Minoische Güter wurden in Ägypten, Anatolien, Syrien, Zypern und Griechenland gehandelt. Mit der Zeit erlangte Kreta wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft in der Ägäis.
Kretas Zivilisation entwickelte sich aus Handel und Verkehr, sowohl zu Hause als auch mit der Ferne und der Verbundenheit mit den Stammessystemen sowie den einheimischen Handwerkstraditionen. Während diese Prozesse die Entfaltung der anderen Zivilisationen der Bronzezeit begünstigten, ersetzte das minoische Kreta den Handel nicht durch militärische Eroberungszüge zur Sicherung wichtiger Rohstoffquellen. Die Insel lebte in Frieden mit der Heimat und der Ferne. Und die verschiedenen minoischen Bevölkerungsschichten blieben in ihrem Clansystem weitgehend autonom. Frauen wiederum spielten darin entscheidende Rollen.
Völlig anders als die städtische Wirtschaft im minoischen Kreta war dagegen die politische Zentralisation der sumerischen Städte, die sich gegenseitig vernichtende Kämpfe lieferten, wie die Stadtmauern belegen, die seit ungefähr 3000 vor Christus gebaut wurden. Kretische Städte entwickelten sich meist aus den Häfen mit einem Marktplatz als Tausch- und Handelszentrum und Mittelpunkt religiöser und sozialer Aktivitäten. Minoische Städte waren nicht befestigt; zum Palast von Knossos beispielsweise führte eine große Brücke, ein Viadukt ohne Ziehbrücke oder hohe Verteidigungswälle.
»Kreta der hundert Städte«, schreibt Homer bewundernd in seiner Ilias. Das schnelle Wachstum der Städte verhinderte die Konzentration der Macht in den Händen von Großgrundbesitzern, die in Sumer sowohl religiöse wie weltliche Leitungsfunktionen besetzt hielten und den Handel kontrollierten. Es gab Schreine in minoischen Palästen, aber keine Tempel in den Städten:

  • Eine typische minoische Stadt drängt sich um einen offenen Platz nahe beim Palast eines Prinzen, der sowohl Hohepriester als auch Gouverneur war, doch hauptsächlich ein Handelsfürst, neben dem andere Händler, die nur weniger reich waren, in ihren Herrschaftshäusern wohnten... durch nichts von der übrigen Gesellschaft getrennt.[3]

Die Städte, die sich um die Paläste entfalteten, waren für ein »zivilisiertes« Leben entworfen: kanalisiert und mit gepflasterten Straßen. Das zellenähnliche, zufällige Wachstum der Städte und ihre Planlosigkeit bezeugen den Mangel an zentraler Kontrolle und die entsprechend größere Freiheit, die im minoischen Kreta im Vergleich zu anderen Bronzezeitkulturen herrschte.
Die Landwirtschaftsproduktion im minoischen Kreta hemmte gleichfalls politische Zentralisation. Da militärische Eroberung und Verteidigung nicht in Erwägung gezogen wurden, mußten die Bauern weder hohe Steuern entrichten noch Militärdienste ableisten oder Zwangsarbeit verrichten — wie es sehr wohl den sumerischen Landbewohnern geschah. Darüber hinaus waren die Paläste eher von Handel und Verkehr abhängig als von der Landwirtschaft. Diese wurde daher geschickten Spezialisten aus einer unabhängigen Sozialtradition überlassen, die eine Art Gartenbau bevorzugten. Der Überschuß dieser mediterranen Polykultur sorgte für den Unterhalt von Adel, Kauf-und Seeleuten, Künstlern und Handwerkern und füllte die Laderäume der Schiffe.
Der gemeinsame Landbau des Clans kam auch in den Gemeindefriedhöfen zum Ausdruck, die es während der meisten Zeit minoischer Geschichte gab. Eine ganze Gemeinde teilte sich eine gemeinsame Begräbnisstätte manchmal für 500 Jahre oder mehr. Große, runde, gewölbte Steingräber, tbolos, wurden am Wohnort des Clans hergestellt und mit den Gebeinen eines ganzen Clans und nicht nur der Herrscherklasse gefüllt. Auf dem Friedhof der sumerischen Stadt Ur fanden sich auch gemeinsame Grabstätten, doch völlig anderer Natur:

  • Beim Begräbnis eines Königs wurden großzügig Menschenopfer dargebracht: Der Boden der Königsgräber war mit Leibern von Männern und Frauen angefüllt, die wahrscheinlich ins Grab gebracht und dort hingeschlachtet worden waren, wo sie gerade standen.[4]

Das Minoische kannte auch eine Art Bilderschrift aus Hieroglyphen, die um 1900 v. Chr. zur Kursivschrift entwickelt wurde. Linear A, noch nicht entziffert, wurde für die Aufzeichnungen des Palasts benutzt. Linear A fand sich aber auch in zahlreichen Graffiti, was darauf hindeutet, daß die Alphabetisierung nicht den Eliten vorbehalten war wie in den anderen Kulturen der Bronzezeit, wo Schriftzüge die Paläste und Grabmale der Könige zierten und die Schrift benutzt wurde, um Ereignisse der Geschichte aufzuschreiben, die der Herrschaftssicherung dienten.
Eine bedeutende Klasse in Kreta waren Künstler und Handwerker, die Güter und Dienstleistungen für Adel und Kaufleute erbrachten, aber auch für die Städte und Dörfer. Tief- und Hochbauingenieure errichteten Netzwerke gepflasterter Straßen, Aquädukte, Viadukte, Abwasserkanäle und Hafenbauten, die zu den besten des Bronzezeitalters zählten. Installateure bauten Kanalisationssysteme, die moderne wissenschaftliche Methoden vorwegnahmen. Architekten bauten Paläste, die orientalische Prachtbauten übertrafen. Metallarbeiter legierten Metalle großer Stärke und waren besonders geschickt in der Bronzierung. Minoische Bildhauer verwendeten als erste Gold und Elfenbein für ihre Statuen, die Töpfer erfanden Fayencen; die Freskomaler waren unübertroffen. Durch die Benutzung einer Vielfalt von Materialien erschufen Maler, Juweliere und Siegelmacher Meisterwerke der Miniatur, die wichtige Informationen über das minoische Leben liefern.
Die minoische Kunst war realistisch und doch phantasievoll und überschwenglich und bezog jeden Aspekt der natürlichen Umgebung und des sozialen Lebens mit ein, den Alltag wie auch das Ritual. Die Künstler zeigten Frauen und Männer, Tiere und Pflanzen in freier und enger Verbindung zueinander. Ihre Werke bezeugen auch, daß die weiblichen Figuren, die noch im Neolithikum vorherrschten, hier in eindrucksvolle Bilder der alles-durchwaltenden Göttin, aber auch in Königinnen und Priesterinnenbilder umgewandelt worden waren.
Diese Kunstwerke liefern auch klare Zeugnisse über die Rolle der Frau, die in dieser ersten europäischen Zivilisation, dieser reichen und vergleichsweise freien Gesellschaft hochangesehen war. Frauen waren die Hauptthemen in Kunst und Handwerk. Und meist werden sie in der Öffentlichkeit gezeigt. Der Ring von Minos zeigt eine Frau, die ein Schiff steuert. Ein goldener Ring, der in einem Grab auf Mochlos gefunden wurde, zeigt eine Frau, die mit einem Baum ein Schiff verläßt. War sie eine Handelsfürstin aus der Holzbranche? Selbst nachdem Kreta zum Patriarchat wurde, betrieben Frauen weitreichende Handelsgeschäfte unter eigenem Namen.
Immer wieder werden Frauen gezeigt, auf Ringen und Siegeln, oft mit Obstbäumen. Kreta war berühmt für seine Früchte, und der Gartenbau wurde mit zunehmender Ausweitung des Obsthandels ins Ausland immer wichtiger. Frauen verwendeten Pflanzen nicht nur fürs Essen, sondern auch in der Gesundheitspflege. Sie waren Hebammen und wahrscheinlich auch Allgemeinärztinnen. Lilie, Mohn, Krokus und Iris - beliebte Motive minoischer Maler, Töpfer und Siegelmacher — galten als besonders geheiligt und wurden zusammen mit der Göttin (Gottheit des Pflanzenreichs) verehrt. Lilien dienten zur Regulierung der Menstruation. Mohnsamen wurde sowohl für religiöse als auch medizinische Zwecke genutzt. Eine aus der Spätzeit stammende weibliche Figur zeigt in ihrer Kopfkrone drei Mohnsamenhülsen mit den für die Opiumgewinnung typischen Schnitten.
Minoische Figuren hatten gleichermaßen Zugang zu Handwerk und Kunst, besonders aber zum Töpferhandwerk. Minoische Ware war in der ganzen Antike berühmt, insbesondere, nachdem um das Jahr 2000 vor unserer Zeitrechnung die Töpferscheibe erfunden worden war. Die Statue einer Töpferin stammt aus dieser Periode. Steingut war so dünn wie Porzellan und mit dynamischen geometrischen Mustern von Blumen und Blättern, Schellfisch und fliegenden Fischen, Vögeln und Tieren sowie tanzenden Frauen verziert.
Die Minoer liebten das Tanzen leidenschaftlich, und die Kunst zeigt, daß dies hauptsächlich eine Domäne der Frauen war. Immer wieder werden Frauen beim Tanz in Wiesen und Hainen, vor der Göttin und ihrem Altar, vor Publikum, einzeln und in Gruppen auf Fresken, Ringen und Spiegeln dargestellt. Frauen waren ebenso gute Spielerinnen und Musikerinnen, sie spielten die Flöte und die Leier. Der minoische Chor bestand nur aus Frauen unter der Leitung einer Priesterin.
Minoische Frauen jagten, und manchmal werden sie mit Pfeil und Bogen gezeigt oder auch Wagen lenkend. Vor allem spielten Frauen und Männer gemeinsam ein höchst gefährliches Spiel: das Stierspringen. Dabei wurde ein wilder Stier mit Stäben und Schlingen in öffentlichen Arenen gejagt. Frauen und Männer setzten dabei ihr Leben aufs Spiel. Auf einem Fresko trägt der Stier ein junges Mädchen auf seinem Kopf. Eine andere Szene auf einer goldenen Vase aus Vapheio zeigt einen Jäger von einem Stier zu Boden geworfen, während die Jägerin das Tier beim Hörn packt, um es zu Boden zu zwingen.
Die Rollenverteilung in der minoischen Gesellschaft zeigte sich auch an der androgynen Kleiderordnung. Stierkämpferinnen und Stierkämpfer trugen den Lendenschurz, bei Begräbnissen trugen Frauen und Männer die gleichen Röcke aus Schaffellen. Bei anderen Zeremonien, an denen beide Geschlechter teilnahmen, waren die Männer mit langen, falbelnbesetzten Roben bekleidet, die ursprünglich Tracht der Priesterin waren und sonst von Frauen getragen wurden. Beide trugen Metallgürtel um ihre schlanken Taillen; beide schmückten sich gern mit Pre-ziosen: Arm-, Hals- und Stirnbändern. Beide frisierten ihr Haar in der gleichen Weise — über den Rücken fallend mit Locken vor den Ohren. Aufschlußreich waren auch die Kleider, die die weiblichen Brüste und den Penis betonten.
Doch war es vor allem ihre Rolle in der Religion, jener Institution, die das gesamte Leben in der Bronzezeit zur Einheit fügte, in der sich die Vormachtstellung der Frau im minoischen Kreta zeigte. Seit ungefähr 2000 vor Christus werden die Göttin und ihre Verehrerinnen in beinah jedem Aspekt der Natur und des sozialen Lebens auf Kreta dargestellt:

  • Mit Tieren, Vögeln und Schlangen, mit... Säulen und dem heiligen Baum; mit Schwert und Doppelaxt. Sie ist Jägerin und Göttin des Sports; sie ist bewaffnet und führt rituelle Tänze an-, ihre Gefolgschaft besteht aus Frauen und Männern. Sie regiert Berge, Erde, Himmel und Meer; Leben und Tod sind ihr Untertan. Sie ist die Göttin des Haushalts und der Vegetation, Mutter und Jungfrau zugleich.[5]

Ein im Palast von Knossos gefundener religiöser Schrein enthielt Fayencefiguren der Schlangengöttin mit Schlangen, die sich um ihre Handgelenke, ihre Taille und ihren Kopf wanden. In Kreta wie auch anderswo galten ungiftige Schlangen als Beschützerinnen, da sie Ungeziefer ausrotten, und so besaß jeder minoische Haushalt Rohre, in die die Schlangen kriechen konnten.
Männer stellte man ebenso in verschiedenen Rollen und bei unterschiedlichen Aktivitäten dar. Sie sind Bauern, Akrobaten, Boxer und Ringer, Stierkämpfer und Jäger, Künstler und Handwerker. Doch sobald es um die Göttin oder ihre Verehrerinnen geht, nehmen sie stets eine ehrfurchtsvolle Haltung der Anbetung oder Verehrung an. Dies beweist ein Fresko in Knossos, auf dem zwei Reihen von Männern, einige davon Vasen tragend, sich von zwei Seiten einer Figur in der Mitte nähern: der Königin oder der Priesterin. Ein Stuckrelief im Großen Gang des Pa-lasts von Knossos ist mit dem Bildnis eines langhaarigen Jugendlichen bemalt. Er ist unbewaffnet, trägt einen Kopfschmuck aus Pfauenfedern und spaziert zwischen Blumen und Schmetterlingen einher. Er wurde als Jungpriester oder Priesterkönig bezeichnet — obgleich nie und nirgends auf Kreta bislang die zweifelsfreie Darstellung eines Gottes oder Königs gefunden wurde.
Wer also saß auf dem einen Thron, der in strahlenden Farben zwischen zwei Greifvögeln auf eine Wand des Thronzimmers im Palast von Knossos, dem Zentrum minoischer Zivilisation, gemalt ist? Viele Gelehrte sind überzeugt, daß Kreta ein Matriarchat unter der Führung einer Priesterkönigin war. Das Fehlen von Bildern eines allmächtigen Herrschers oder Gotts, so verbreitet in den anderen Zivilisationen der Bronzezeit, unterstützt diese Ansicht ebenso wie der soziale und religiöse Vorrang der Frauen.[6]
Doch wenn Königinnen auf dem minoischen Thron saßen, wer war dann Minos, nach dem diese Kultur benannt ist? Zunehmend erhärten sich die Beweise, daß er ein Mitglied jener Dynastie war, die in Knossos von den Achäern aus dem mykeni-schen Griechenland errichtet wurde. Diese waren in Kreta eingefallen, nachdem Flutwellen und Erdbeben, Überschwemmungen und Feuer zwischen 1500 und 1400 vor unserer Zeitrechnung die Küstenstädte der Insel zerstört hatten. Die Mykener überrollten die geschwächten Kreter, kolonisierten die fruchtbare Insel und versklavten einen Großteil der Einwohner. Deshalb ist »mi-noisch« eine falsche Bezeichnung für die Zeitspanne vor 1500 vor Christus, dem Zeitalter des Matriarchats auf Kreta. Thomson schreibt:

  • Hinter den Werken des menschenfreundlichen Dichters von Ilias und Odyssee liegt ein Zeitalter von Brutalität und Gewalt, in dem die kühnen Pioniere des Privateigentums die wohlhabende und verfeinerte Zivilisation des minoischen Matriarchats ausgeplündert hatten.[7]

Ebenso wie in Kreta herrschten auch in Sumer in der neolithischen Zeit weibliche Figuren vor, und das fast vollständige Fehlen einer Differenzierung der Grabbeigaben spiegelt die zentrale Rolle der Frauen in einer egalitären Gesellschaft. Die Invasionen der nomadisierenden Hirten führten die Sumerer anscheinend dazu, sich zur Verteidigung ihrer Grenzen zu größeren territorialen und politischen Einheiten, nämlich Städten, zu verbinden. So begann die sumerische Zivilisation gleichzeitig mit dem Militarismus.

Von Anfang an entwickelte sich zugleich mit der Verstädterung eine Verwalterklasse, deren Existenz nicht nur in der Verteidigung begründet war. Sie war auch deswegen notwendig, weil die Reserven an Nahrung, Samen und Herden gesammelt werden mußten, um sich gegen die Unbill der Natur wie Dürrekatastrophen, Hungersnöte und Überflutungen zu wehren. Die bereits im Neolithikum einflußreichen rituellen Führer wurden nun zu Verwaltern. Der Tempel — ein Gebäudekomplex bestehend aus dem Allerheiligsten, den Warenhäusern und Werkstätten - wurde Mittelpunkt der expandierenden Stadt. Die Priesterschaft erhielt einen beträchtlichen Anteil der produzierten Überschüsse von den Bauern, Handwerkern und Künstlern, die auch Mehrarbeit für Bau und Erhaltung des Tempels leisten mußten. Etwa 3 500 vor Christus verloren die Bauern ihre Unabhängigkeit, als sie gezwungen wurden, die Ländereien des Tempels zu bestellen. Zur gleichen Zeit forderten die Priester mehr Materialien zur Verschönerung der immer kunstvolleren Tempel, was wiederum zur Ausweitung der Gebrauchsgüterproduktion führte sowie zu Ausdehnung und Vergrößerung des Handelsgebiets. So entstand die Klasse der Händler, die sich ebenfalls Reichtum, Macht und Land aneignete.
Der Wettstreit der sumerischen Städte um Wasser und Land, Holz, Stein und Metall führte zu bewaffneten Konflikten und der Eingrenzung der Städte mit Mauern. Mit dem zunehmenden militärischen Einfluß auf wirtschaftliche und politische Entscheidungen übernahmen nach und nach erfolgreiche Generäle die Führung. Meist ging ein Machtkampf mit der Priesterschaft voraus. Die Priester behielten dennoch einen sicheren Platz in der Hierarchie, indem sie die Führungsposition ethisch untermauerten. Noch eine Klasse wurde mit den militärischen Eroberungszügen eingeführt: Sklaven, die als Kriegsgefangene verschleppt worden waren. Mit der Zeit wurden dann auch jene versklavt, die ihre Schulden nicht bezahlen konnten oder den Staat in irgendeiner Weise beleidigt hatten. So kam es, daß Menschen, ebenso wie das Land und seine Güter, als Eigentum betrachtet wurden.
Ungefähr um das Jahr 2500 vor Christus wurden alle Stadtstaaten in Sumer unter einem einzigen Führer zusammengefaßt; Sargon der Große »vereinte« Sumer mit Akkad im Norden und erhob sich zum Herrscher über ganz Mesopotamien. Von da an wurden die früheren Schutzgottheiten des Ackerbaus zu himmlischen Kriegern: Enlil, »Herr des Pflugs«, wurde »Herr allen Landes«. Unter dem weitläufigen Reich Hammurabis, der seine Dynastie um 1790 vor Christus zu Babylon errichtete, endete dann die sumerische Geschichte.
Als Babylon die sumerische Kunst erbte, war diese von ihrer Blüte im späten Neolithikum längst zur blassen Stereotypie verkommen. Die Künstler waren gezwungen worden, die Militäraktionen der Führer zu verherrlichen. Der Niedergang der künstlerischen Vorstellungskraft zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit dem schöpferischen Schwelgen der Künste im minoi-schen Kreta. Die Veräußerlichung der sumerischen Künste war nur ein Symptom für die Auflösung der egalitären Clanstrukturen. Autonomie und Zusammengehörigkeitsgefühl der miteinander verbundenen Verwandtschaftsgruppen wurden geschwächt, als das früher unveräußerbare Land verkauft, gemeinsame Rohstoffquellen und Arbeit von den Eliten ausgebeutet wurden, Clanführer in die Hierarchie eingingen und Clanstrukturen benutzt wurden, um Handwerksverbände, Schutzeinheiten und Milizen zu gründen. Endgültig brachen die Clans auseinander, als die gleichberechtigten Beziehungen zwischen Frauen und Männern, Grundlage jedes demokratischen Prozesses, zerstört wurden. Dies geschah im Zusammenhang mit den chronisch werdenden Kriegszügen, die als »männliche« Tätigkeit die Vorherrschaft der Männer sichern halfen, mit der Entstehung des Privateigentums und der Vererbung über die männliche Linie.
Der Wechsel zu einem patrilinearen und patrilokalen System führte zur Gründung der patriarchalen Familie, die die Trennungen in der gesamten Gesellschaft zugleich widerspiegelte und festigte. Frauen wurden aus ihren Clans gerissen, der Solidarität mit den anderen Clanfrauen beraubt, nach und nach aus herausragenden wirtschaftlichen Stellungen verdrängt, ihrer Stimme bei politischen Entscheidungen beraubt und von Männern abhängig gemacht. Die Analyse archäologischer Funde und religiöser, literarischer und wirtschaftlicher Dokumente zeigt, daß die Unterwerfung der Frau mit dem Aufkommen einer streng gegliederten Militärgesellschaft einherging.
In den frühen sumerischen Stadtstaaten »scheint das Matriarchat nur wenig mehr als eine Spur hinterlassen zu haben«.[8] Ähnlich wie in Kreta waren in den frühen sumerischen Mythen die Göttinnen Schöpferinnen allen Lebens.[9]  Ursprünglich verband man die Göttin Inanna mit der Dattel, einer der ersten Zuchtpflanzen in Mesopotamien; und mit dem Gemeinschaftslagerhaus [10] als Sinnbild weiblicher Macht.  Frauen waren als Herstellerinnen und Händlerinnen für Grundnahrungsmittel und Gewänder zuständig. Später nimmt Inanna vielfältige Rollen an, doch spielen noch alle im öffentlichen Bereich. Mit der Herrschaft der Militärs über die Stadtstaaten wandelt sich auch Inannas Rolle: Sie wird, nachdem Frauen aus politischen Entscheidungsfunktionen verdrängt waren, zur Göttin des Kriegs und der Prostitution. Die Prostitution war in Mesopotamien keineswegs das »älteste Gewerbe«. Sie kam auf, als die Frauen rechtlich und wirtschaftlich in die Abhängigkeit der Männer gerieten und Berufe wie Priester, Schreiber und Krieger Männern vorbehalten wurden. Ein auf einer Tafel eingeritzter Mythos besagt, daß »Sexualverkehr und Prostitution« eng verbunden sind mit Priesteramt, Heldentum, Macht und Kriegsführung, »Grundlage jeder Zivilisation«.[11]  Die Tafel, die auf das Jahr 2000 vor Christus datiert wird, dürfte sich aber auf eine frühere Periode beziehen.
Ursprünglich waren Priesterinnen Verwalterinnen und Angestellte der Tempel und traten besonders in den Künsten wie Musik und Literatur hervor. Sie komponierten Musikstücke, leiteten Chöre und Orchester, in denen Frauen aller Klassen auftraten.[12] Mit der Zunahme männlicher Herrschaft hatten Frauen dann auch Sexualrollen zu übernehmen, die aber von den Männern bestimmt wurden. Hochgestellte, wohlhabende und unabhängige Frauen blieben die »Frauen in Gottes Harem«,[13] während die Frauen der untersten Schichten gewöhnlich Tempelprostituierte wurden. Doch selbst wenn die Frauen ihrer öffentlichen Rollen beraubt waren, behielten sie »wegen der beständigen Macht der Göttin, der sie dienten«,[14] ihr Ansehen in der Religion.
Nisaba, Göttin des Schilfrohrs, das zum Bauen wie zum Schreiben verwendet wurde, war die früheste Patronin des Schrifttums und der Buchhaltung, der Wissenschaft und der Erziehung. Sie galt auch als Erfinderin des Alphabets. Die sumerische Akademie, der Nisaba vorstand, diente als Zentrum literarischen Schaffens. Schriftgelehrte und Schreibschulen bei den Palästen und Tempeln entwickelten verschiedene Wissenschaften wie zum Beispiel die Medizin. Früher war die Medizin empirischrational begründet und schloß die Benutzung von Pflanzen und Naturprodukten ein, die der Göttin Gula geweiht waren. Später, als die Medizin von Männern bestimmt wurde, wandelte sie sich zu einem magisch-mystischen System, wie die alten medizinischen Texte belegen.
Im frühen Sumer konnten Mädchen wie Jungen Schriftgelehrte werden. Auf den Straßen wurden die Dienste der Schreibkundigen von Frauen und Männern für eine Vielzahl von Geschäften in Anspruch genommen. Als die Gesellschaft vielschichtiger wurde, verschwanden die Straßenschreiber und -schreiberinnen. Nabu, Sohn des Kriegsgotts Marduk, wurde dann zu Hammurabis Zeiten - etwa um 1792 bis 17 50 vor Christus - zum Schutzgott der Schrift ernannt. Zu dieser Zeit besuchten hauptsächlich Knaben aus der Oberschicht die Schulen.[15] Der Ausschluß der Frauen von der Erziehung in Sumer markiert den Anfang einer fünftausendjährigen Periode männerbestimmter und männerbeherrschter Bildungsinstitutionen, die bis heute auf der ganzen Welt vorherrschen.
Schreiben war den Eliten vorbehalten, für die es ein »ideologisches Instrument unberechenbarer Macht« wurde. »Offiziell festgelegte und dauerhafte Versionen der Ereignisse können geschrieben werden... die des Schreibens Mächtigen, Schreiber und Priester... waren kaum geneigt, die Einstellungen jener zu notieren,  die  sie besteuerten, unterjochten  oder mystifizierten.«[16]
Die Kodifikation der Gesetze war ein entscheidender Faktor bei der Zentralisation des Staates, und Gesetze wurden kodifiziert, wenn ein Staat die Polizeigewalt hatte, sie auch durchzusetzen. Der älteste Gesetzeskodex, der bisher entdeckt wurde, stammt von dem Hohepriester Urukagina aus dem Jahr 2145 vor Christus. Dieser hatte einen anderen Hohepriester im Kampf besiegt, sich selbst zum König eingesetzt und seine Frau von einer Königin zu Konsorten erniedrigt. Gleichzeitig riß er auch all ihre Güter an sich. Urukaginas Kodex schrieb den Frauen Monogamie vor und bestrafte Polyandrie, eine in Matriarchaten übliche Praxis, als Ehebruch mit dem Tod.[17] Die Gesetze engten die Frauen schließlich immer mehr ein. Verglichen mit den sumerischen Gesetzen sah der von Hammurabis um 1750 vor unserer Zeit im Namen des Kriegsgottes Marduk erlassene Kodex »schwerere Strafen für bestimmte Vergehen vor, besonders für solche, die gegen geheiligte Familienbande verstießen«.[18] Die späteren assyrischen Gesetze »sagen nichts mehr über die Rechte, die eine Familienmutter noch in den früheren Perioden Ham-murabis hatte«.[19] Mit der Legalisierung der patriarchalen Familie wurden Kinder so erzogen, daß sie Geschlechter- wie Klassenhierarchie akzeptieren lernten.

So wurde in der allerersten Zivilisation der sumerischen Staatsgesellschaft eine Utopie in eine Dystopie verkehrt.

Autor(en)