Künftige Visionen und die Politik von heute

Feministische Utopien im Überblick

Die Fülle utopischer Literatur, die in der letzten Dekade von Frauen geschrieben wurde, bietet uns Alternativen feministischer Zukunft an. Natürlich spiegelt sich darin auch die Gegenwart. Ich möchte hier eine Arbeitsbeschreibung des »feministischen utopischen Romans« vorstellen und mich dann auf elf kürzlich erschienene Bücher konzentrieren.[1] Dabei versuche ich, fünf gegenwärtige feministische Themen: 1. der kollektive Prozeß; 2. lesbischer Separatismus; 3. die Quelle der Gegenwart;4. Technologie und Natur; 5. Rassismus, zu analysieren und zu identifizieren.
Ein feministischer utopischer Roman hat folgende Merkmale:

  • a) er stellt der Gegenwart eine künftige ideale Gesellschaft gegenüber (die von der Gegenwart durch Raum oder Zeit getrennt ist);
  • b) er kritisiert die gegenwärtigen Werte und Umstände-,
  • c) er sieht Männer oder deren Institutionen als Hauptursache gegenwärtiger sozialer Mißstände und
  • d) er stellt Frauen nicht nur den Männern ebenbürtig dar, sondern auch als die einzig berechtigte Autorität zu Fragen der Fortpflanzung.

All diese Kriterien treffen auf folgende elf Romane zu:

  • Marion Zimmer Bradley: Die Matriarchen von Isis, Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 1979. (Der Planet/Isis.) [2]
  • Marion Zimmer Bradley: Die zerbrochene Kette, Moewig, Rastatt 1985. (Die Gesellschaft der freien Amazonen.)
  • Dorothy Bryant: Die Insel der Ata, Droemer, München 1985.
  • Suzy McKee Charnas: Motherlines, Berkeley, New York 1979. (Die Frauen einer künftigen Erde.)
  • Sally Miller Gearhart: Das Wanderland — Geschichten von den HügelFrauen, Frauenoffensive, München 1982. (Die HügelFrauen der künftigen Erde.)
  • Charlotte Perkins Gilman: Herland, Rowohlt, Reinbek 1980. (Erstmals veröffentlicht 1915.)
  • Marge Piercy: Die Frau am Abgrund der Zeit, Heyne, München 1986. (Mattapoisett, die mögliche künftige Erde.)
  • Joanna Russ: The Female Man, Gregg, Boston 1975. (While-away, eine künftige/parallel laufende Erde.)
  • Rochelle Singer: Die Demeterblume, Nikolai und Medea, Frankfurt 1983. (Demeter, die künftige Erde.)
  • Monique Wittig: Die Verschwörung der Balkis — Les Guerilleres, Frauenoffensive, München 1980. (Guerilla, kämpfende Frauen, die künftige Erde.)
  • Donna Young: Retreat.- As It Was!, Naiad Press, Tallahassee, Florida, 1978. (Der Planet, Rückzug.)

Es könnte so aussehen, als ob die Kriterien c) und d) nicht auf die Romane von Bryant und Piercy zutreffen. Das scheint jedoch nur oberflächlich so. Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern findet sich sowohl auf der Insel der Ata als auch in Mattapoisett. Auf Ata pflanzen sich die Menschen fort, wenn eine Frau von einem Mann träumt, »dessen Frau sie sein mag«. In Mattapoisett entscheiden Dreiergruppen als Mütter über »Retortenbabys«, und da die Männer Brüste entwickelt haben, um die Babys zu nähren, entscheiden die Frauen über die Geburten. Obgleich Piercy die Feinde ihrer Heldin nicht ausdrücklich als Männer oder männliche Institutionen bezeichnet, verwischen sich bei Connies Vorstellung einer Zukunft die Geschlechtsgrenzen: Männer werden akzeptiert, weil sie ihre männlichen Eigenschaften hinter sich gelassen haben. Bezeichnend ist auch, daß die Frauen ihre »weiblichen« Eigenschaften abgelegt haben und alle Arbeiten verrichten, so daß die Gesellschaft gewissermaßen androgyn wirkt. Bryants Humanismus erlaubt ihr nicht, männliche Personen oder Institutionen als Feinde darzustellen. Doch ist ihre ganze Traumkultur auf den Prinzipien der rechten Gehirnhälfte, nämlich der Intuition und nichtlinearen Werten aufgebaut, die im Gegensatz zu den vom Protagonisten repräsentierten Werten der linken Gehirnhälfte stehen (rationales und lineares Denken). Die Eigenschaften der Ata werden mit dem Weiblichen in der westlichen Kultur gleichgesetzt. Am Beispiel des hartnäckigen Helden zeigt die Autorin unsere gegenwärtigen destruktiven männlichen Werte deutlich auf. Ein Wechsel von diesen Werten zu denen der Ata wird als notwendig und nützlich dargestellt. Auf die anderen Romane treffen die Kriterien unstrittiger zu als auf die von Piercy und Bryant.

Der kollektive Prozeß

In ihrer Auflehnung gegen Autoritäten haben sich Feministinnen zu neuen Mustern der Zusammenarbeit entschlossen, die sowohl die Autonomie erhalten als auch die Gruppe zu kollektiven Handlungen führen. An verschiedenen feministischen Utopien zeigt sich das Bedürfnis nach Struktur und Prozeß sowie der weiten Beteiligung an Entscheidungsprozessen. Zusammenarbeit soll ohne hierarchische Strukturen ermöglicht werden.
Die Macht der Gründerinnen ist eins der Hauptthemen in »Demeterblume«. Es geht dabei zum Beispiel darum, ob sie das Recht haben, sich allein, ohne die übrigen Ratsmitglieder, zu treffen. Singer erschafft Frauen und Kinder, die sich häufigen Treffen, leidenschaftlichen Debatten sowie der Beteiligung aller an gemeinsamen Entscheidungen verschrieben haben. Die Hügel-Frauen im Wanderland verbringen die ganze Nacht im »Versamm-lungs-weven« (eine kanalisierte psychische Gegenwart aller Frauen), um zu einem »klaren Wunsch« zusammenzufinden. Die jungen Bürgerinnen in »Retreat« gelangen zu ihren wichtigsten Entscheidungen, indem sie in Kreisen zusammensitzen und einander die Hände halten. Die Aufgabenverteilung rotiert — wie bei den Hügel-Frauen und den Frauen Demeters. Gleichzeitig wird die Freiheit individuellen Handelns auch gegen Mehrheitsbeschlüsse betont. In diesen drei Gesellschaften erkennen Feministinnen leicht die Kämpfe über Elitedenken, Parteirichtlinien, Führungspositionen und Kritik wieder. Piercys künftige Welt ist ein Modell für eine partizipatorische Demokratie, die aus kleinen Einheiten besteht, an denen die Bürgerinnen sich begeistert beteiligen. Wie Singer, Gearhart und Young zeigt Piercy uns ein Gemeinschaftstreffen, bei dem wir den Prozeß mitverfolgen können.
Die anderen Romane befassen sich allerdings weit weniger mit Fragen der Führung und der Prozesse als diese vier. Die Verteidigung von Russ' Whileaway hängt davon ab, daß es keine richtige »Regierung« gibt, auch keine richtige Zentralgewalt. Russ, wie die meisten anderen Autorinnen, gibt zudem wenig Hinweise auf die Art und Weise der Gesellschaftsführung. Ernüchternd auch zu erkennen, daß Bradleys Umkehrung der Rollenklischees in allem anderen als gemeinsamem Handeln mündet. Dort ahmt ein Matriarchat bis ins kleinste Detail das nur allzu bekannte Patriarchat nach. So entsteht in der Tat kein Bild gemeinschaftlichen Glücks, obwohl drei oder vier Bücher sich mit der Thematik kollektiver Handlungen befasssen und auch einige neue Ideen darüber entwickeln.
Der Kollektivitätsgedanke findet sich aber sehr deutlich in den Charakterisierungen der Protagonistinnen. Zumindest bei fünf Romanen finden sich die Gruppenheldinnen im Titel: »Die Insel der Ata«; »Motherlines«, »Das Wanderland - Geschichten von den HügelFrauen«; »Herland«; »Die Verschwörung der Balkis — Les Guerilleres«. Auch wenn die Protagonisten sich nicht gleich im Buchtitel zeigen, so ist doch eher eine Tendenz hin zu Gruppenheldinnen als zu individuellen Heldinnen zu beobachten. Bei Singer wechselt die Aufmerksamkeit manchmal von der Heldin zu ihrer Geliebten; Gilmans Ich-Erzähler beschreibt genauso die Taten der anderen zwei Männer wie seine eigenen-, Charnas Allderea gerät über den Episoden der reitenden Frauen manchmal fast in Vergessenheit; Bryants Erzähler, der nie genannt wird (was schon auf die Auflösung der Individualität hinweist), ist sicher nicht der Charaktertyp, mit dem Leserinnen sympathisieren. Russ präsentiert eine vielfältige Protagonistin, die sich aus vier unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammensetzt, und sowohl Wittig als auch Gearhart nennen zwar verschiedene Charaktere mit Namen, heben jedoch keine besonders hervor.
So zeigen also nur vier Romane eine starke Tendenz in Richtung kollektiver Prozesse, doch finden sich auch bei den anderen Autorinnen die Prinzipien des Kollektivismus und eine Abkehr von einzelnen, hochstilisierten Heldinnen.

Lesbischer Separatismus

Konflikte über Separatismus innerhalb der Frauenbewegung erschüttern uns schon ein Jahrzehnt und werden sogar erbitterter, seit farbige Frauen — besonders lesbische Farbige — klarstellen, daß sie nicht den gleichen Standpunkt zum Separatismus einnehmen wie die weißen Frauen. In dieser Problematik stecken zudem die Themen von Klasse und Privilegien, Ideologie und Strategie, Vertrauen und Hingabe.
An separatistischen Gemeinschaften wird hauptsächlich kritisiert, daß sie ja niemals gänzlich separat sein können, daß da immer irgendwelche Verbindungen zum männlichen System bestehen und daß Frauen, die sich abtrennen, sich dabei nur selbst etwas vormachen. Vollständiger Separatismus ist zur Zeit unmöglich, besonders wenn Frauen sich fortpflanzen wollen. Utopien allerdings enthüllen uns neue Antworten auf die vitale Frage der Reproduktion.
Zwei der elf Romane stellen eine heterosexuelle Welt vor („Die Insel der Ata«; »Die Frau am Abgrund der Zeit«), in der die Befruchtung künstlich stattfindet und der Fötus in eigenen Brütern »ausgebrütet« wird. »Herland« ist einerseits heterosexuell, beschreibt aber andererseits eine zölibatäre rein weibliche Bevölkerung; die acht übrigen Romane handeln von lesbischen Gesellschaften mit Ausnahme der »Matriarchen von Isis«, wo Männer zur Fortpflanzung zugelassen sind. Die lesbischen Gesellschaften der Freien Amazonen in »Die zerbrochene Kette« und die Guerillas bei Wittig pflanzen sich heterosexuell fort. Die Reitenden Frauen aber treiben es mit ihren Pferden, und die Frauen von Demeter trinken einen magischen Tee, der die Parthenogenese herbeiführt. In drei lesbischen Gemeinschaften pflanzt frau sich durch Eiverschmelzung fort, um genetische Vielfalt zu erhalten (Whileaway, Retreat und Wanderland). Gilmans zölibatäre Kultur der Mütter pflanzt sich allein durch den starken Wunsch danach fort und verändert die Gene auf magische Weise durch die Einbeziehung der unterschiedlichen Lebenserfahrungen der verschiedenen Frauen. So werden also nur in fünf der elf Kulturen die Männer zur Fortpflanzung benötigt.
Frauen in traditionellen Utopien haben vielleicht ein Mitspracherecht bei der Fortpflanzung, soviel Kontrolle aber wie in den hier vorgestellten Romanen haben sie wahrscheinlich nie. Natürlich hängt diese Freiheit mit der Tatsache zusammen, daß diese Kulturen nur von Frauen bevölkert sind, was für sich allein genommen ja schon ein neues Phänomen in der utopischen Schriftstellerei ist. Die Frage, weshalb es keine rein männlichen Utopien gibt, müßte noch untersucht werden.
Ist erst einmal die dornige Frage nach der Methode der Fortpflanzung geklärt, besteht zumindest in der Phantasie die Möglichkeit einer wirklich separatistischen Gemeinschaft. Kein Wunder, daß einige der jüngsten Debatten über Separatismus oder nicht in der Frauenbewegung von manchen dieser utopischen Romane stimuliert wurden.

Die Quelle der Gewalt

Gewalt gegen Frauen (auch die Gewalt, die sich Frauen untereinander antun) war der Schwerpunkt feministischer Aktionen in den letzten fünf Jahren. Feministinnen sind sich erstaunlich einig darüber, daß Frauen Opfer eines institutionalisierten Systems von Gewalt sind. Da das System von Männern erschaffen und bestimmt wurde (auch außerhalb der westlichen Kultur) und ein Blick in die Geschichte Männer als Urheber und Ausübende von Gewalt zeigt — zumindest auf der offenen physischen und lebensbedrohenden Ebene — fällt es vielen Frauen leicht, den Ursprung der Gewalt in der Psyche der Männer zu orten. Einige der alten Streitpunkte zwischen sozialistischen Feministinnen und radikalen — oder kulturellen — Feministinnen verdichten sich an diesem Punkt zu zwei extremen Positionen:

  1. die männliche Gewalt ist eins der Übel, das mit der Neuordnung wirtschaftlicher Prinzipien und Macht verschwindet;
  2. die Gewalt der Männer ist das Urübel aller gesellschaftlichen Übel, und seine Ausrottung ist der wichtigste Faktor beim Aufbau einer revolutionären Gesellschaft.

In den elf Romanen ist die Frage nach der Ursache von Gewalt eng verknüpft mit dem Phänomen des Separatismus. Sieben der elf Gemeinschaften haben sich für ein Leben ohne Männer entschieden, und selbst ein oberflächliches Lesen der Bücher läßt keinen Zweifel daran, daß die männliche Ausgabe der menschlichen Spezies zu gewalttätig für ein Zusammenleben ist. Eigentlich gehört auch »Herland« zu dieser Kategorie, denn obgleich die Frauen am Anfang noch neugierig auf die Kommunikation mit der »ganzen« (nämlich heterosexuellen) Kultur außerhalb ihres Landes sind, läßt Gilman sie dann doch sich ehrlich ausdrücken: Sie wollen sich noch nicht dieser Zivilisation aussetzen, weil sie sehen, wie friedlich ihre Gesellschaft dank der Abwesenheit von Männern ist. Bradleys Männer auf »Isis« zeigen viele Eigenschaften, die derzeit Frauen zugeordnet werden: Sentimentalität, Selbstmitleid, Furcht, sexuelle Unersättlichkeit. Ihre Männlichkeit dürfen sie beim Jagen ausleben. Es heißt, daß Männer in Schach gehalten werden müssen, weil sie sich sonst zu leicht an Kriegsführung und Herrschaft verlieren.
Wie wir zuvor bereits bemerkten, befassen sich die beiden Romane („Die Frau am Abgrund der Zeit« und »Die Insel der Ata«) mit den Männern in unspezifischer Weise. Piercy ordnet den Männern kurzerhand das sogenannte weibliche Element des Nährens zu — schließlich das Gegenteil von Gewalt. Bryant bestätigt in ihren idealisierten Charakteren das ganze Spektrum des nicht-maskulinen psychologischen Paradigmas. Neun der elf Romane sehen die Gewalt im Mann begründet, und die anderen beiden vermuten diese Begründung.

Der Gebrauch der Technik und die Beziehung zur Natur

Bei einer Konferenz über Frauen und Technik [3] schälten sich zwei sehr unterschiedliche Ansichten zu diesem Thema heraus. Die eine Gruppe sah in der Technik ein Instrument zur Befreiung der Frau und eine unausweichliche Bewegung der Zukunft. Die andere Gruppe sah in der Technik die Entfremdung und vertrat entweder eine radikale »Zurück-zur-Natur«-Position oder empfahl den gemäßigten Gebrauch angemessener Technologien. Dies sollte mit einem klaren Bewußtsein für die Folgen und Wirkungen des Gebrauchs von Maschinen und Werkzeugen auf die Natur und die Menschen einhergehen.
Feministische Utopien halten es im großen und ganzen mit der zweiten Gruppe. Die meisten bekunden ein Mißtrauen gegenüber der Technik, und alle setzen sich für ein »gleiches« und nicht ein »anderes« Verhältnis zur Natur ein. Das Prinzip der Empathie spielt nicht nur in menschlichen Beziehungen eine Rolle, sondern auch in den Beziehungen eines jeden Individuums zur Erde, zum Wasser, zur Luft, zu den Wäldern, den Tieren usw. Keine der Gesellschaften ist hochtechnisiert. In einigen Fällen liegt es daran, daß sich dazu keine Gelegenheit bot; in anderen Fällen hat sich die Kultur eindeutig gegen jede Form der Entfremdung ausgesprochen, wie sie ja unweigerlich mit der hochentwickelten Technik in der westlichen Kultur einhergeht.
Eine sehr ausgesuchte Technik ist Teil der Kultur in »Die Frau am Abgrund der Zeit« (wo Retortenbabys die Frauen von Schwangerschaft befreien und Arbeiten, die niemand tun mag — wie Abwaschen oder Kissen füllen —, mechanisiert sind); »The Female Man« (wo »Induktionshelme« — die Russ'sche Version eines Computers — die großen und wichtigen Arbeiten auf While-away erleichtern) und »Retreat« (wo die Gesellschaft mit anderen Planeten kommunizieren und sich am interstellaren Krieg beteiligen kann). Alle drei Kulturen jedoch scheinen sich nicht dem Gebot westlicher Wissenschaft zu beugen, wonach das, »was möglich ist, auch getan werden muß«. Statt dessen erklärt die Autorin die Weisheit, die in eingeschränkter Anwendung von Technologien liegt, oder läßt die Geschichte selbst die Entscheidung dafür klarmachen.
Isis möchte mehr technische Hilfe vom Rest der Galaxien, hauptsächlich aber, um die zerstörerischen Erdbeben und Flutwellen unter Kontrolle zu bringen. Wir werden jedoch belehrt, daß es niemals ein Ungleichgewicht zwischen materiellen (technischen) und spirituellen (natürlichen) Bedürfnissen der Menschen geben wird. Damit wird klargestellt, daß der Planet trotz seiner Öffnung für auswärtige Beziehungen niemals so »progressiv« wie die anderen Welten wird. Demeter und Wanderland propagieren den Gebrauch begrenzter Technologien. Bei den Hügel-Frauen werden psychische Kräfte die eher schwerfällige Elektronik oder Mechanik ersetzen. Die Ata leben so einfach, daß sie nicht einmal Eßbesteck brauchen.
Wir könnten versucht sein zu denken, daß bei freier Wahl alle feministischen Gesellschaften die Natur der Technik vorziehen. Aber diese Schlußfolgerung muß nicht auf der Hand liegen. Die Freien Amazonen in »Die zerbrochene Kette« schweigen sich über dieses Thema genauso aus wie Charnas Reitende Frauen und Wittigs Guerillas. In all diesen Gesellschaften kämpft eine Subkultur um die Existenz auf einem feindlichen Planeten. Und in diesen Gesellschaften wird auch kaum über die Heiligkeit der Natur nachgedacht. Die Amazonen müssen sich selbst schützen, die Guerillas benutzen Bazookas, und die Reitenden Frauen fühlen sich von Holdfast bedroht. Eine jede dieser Gesellschaften würde sicher im eigenen Interesse die mit »fortschrittlicher« Kriegsführung einhergehende Technologie willig ergreifen, böte man sie ihnen an.
Eine erneuerte oder beständige empathische Beziehung zur Umwelt äußert sich auch in der Haltung dieser Kulturen zu den Tieren. In traditionellen Utopien wird ganz selbstverständlich Fleisch gegessen, Tiere dienen da der Unterhaltung und Erziehung, und selbst kommerzielle Tierhaltung wird betrieben. Auch in einigen feministischen Utopien existiert nur ein sehr konventioneller Umgang mit Tieren. In Whileaway kümmern die Menschen sich um Kühe, und die Freien Amazonen sind freundlich zu den Lasttieren. Aber in mindestens der Hälfte der feministischen Romane entfaltet sich eine neue Sensibilität für Tiere. Besonders feinfühlig in dieser Hinsicht sind die Ata und die Hügel-Frauen, deren Respekt vor Tieren sich an der Ehrfurcht vor Menschen messen kann oder sie sogar noch übertrifft. Jede Person auf Bryants Insel hat eine besondere Beziehung zu einem bestimmten Tier, und im »Wanderland« unterhalten sich die HügelFrauen mit Bäumen und Tieren genauso leicht wie oder manchmal sogar leichter als mit Menschen. Die Reitenden Frauen haben eine eigene Beziehung zu ihren Pferden, die weit über Respekt hinausgeht: Sie sorgen für sie auch aus Gründen der Fortpflanzung. Die Demeterfrauen töten nur, wenn es absolut notwendig ist, und empören sich über die Haltung eines Besuchers gegenüber einer Ziege. In Herland nehmen die Katzen eine herausragende Stellung ein, obgleich die Frauen aus praktischen Gründen die meisten anderen Tiere aussterben lassen mußten. In Mattapoisett wurde ein Schimpmse Nationalheld, und Katzen werden rituell angesprochen. Es wird ganz deutlich gemacht, daß wir nicht von einer menschlichen Überlegenheit gegenüber den Tieren ausgehen können.
Noch ein abschließendes Argument für das ökologische Bewußtsein: Einige dieser Utopien befassen sich mit dem Thema der Überbevölkerung, das langsam auch als feministisches Thema erkannt wird. Die meisten Autorinnen haben Kulturen geschaffen, in denen eher noch darum gekämpft wird, wie überhaupt Nachkommen erzeugt werden können. In drei Romanen allerdings finden wir ein Bewußtsein über die menschliche Verantwortlichkeit in der Gesamtökologie: »Die Frau am Abgrund der Zeit«; »Herland« und »Die Insel der Ata«. Luciente in Piercys Roman erklärt das empfindliche Gleichgewicht der Biosysteme und die Notwendigkeit einer stabilen Bevölkerungszahl: »Die Menschen des nächsten Jahrhunderts werden als gleichberechtigte Partner mit dem Wasser, der Luft, den Vögeln, den Fischen und Bäumen leben wollen.« (S. 152) Alle wissen genau, wie viele Kinder es in einem Dorf gibt, und wenn jemand stirbt, wird der Brüter beauftragt, ein neues Baby zu produzieren. Die Herland-Frauen bedauern die Zeit, in der sie noch nicht die Bevölkerungszahl kontrollieren konnten und deswegen einige Tier-und Pflanzenarten zur Sicherung des eigenen Überlebens opfern mußten. Die Aufgabe dieser fruchtbaren und glücklichen Mütter bestand darin, die Empfängnis zu verhüten und nur noch eine pro Frau zuzulassen, so daß sie ihre Einwohnerzahl auf drei Millionen halten konnten. Die Ata sehen sich selbst so sehr als Teil der Natur, daß es ihnen unmöglich erscheint, in dieses Gleichgewicht einzugreifen. Da sie wissen, was Schwangerschaft und Geburt nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Gemeinschaft bedeuten, haben Ata-Frauen nie mehr als ein Kind. Sie wissen, wann sie fruchtbar sind und wann nicht, und die Erfahrenen unter ihnen können selbst diese Fruchtbarkeit noch bestimmen. Der Besuch von Außenstehenden (wie dem Helden) sorgt für unterschiedliche Typen und Charaktere unter ihnen. Sowohl der Tod als auch der gelegentliche Übergang eines hochentwickelten Ata in die Welt bedeuten Verluste für die Bevölkerung.
Es gibt also verschiedene Arten, wie die Gesellschaften mit ihrer Verpflichtung auf gute ökologische Prinzipien umgehen: zum einen die Nutzung ausgesuchter Technologien; das Verhalten gegenüber Tieren zum anderen und ein Bewußtsein für die Verantwortung der Menschenrasse in der Bevölkerungspolitik.

Rassismus

Die meisten Romane sind nicht antirassistisch, und dieser Fehler führt dann dazu, daß Klischees der herrschenden Kultur reproduziert werden. Ernest Callenbach in seinem »ökotopia«[4] meint, daß all die starken Frauen und jeglicher Geschlechtsverkehr in seinem Buch sexuelle Befreiung bedeuten. So sehr er das auch zu beweisen versucht, ist doch das, was dabei herauskommt, alles andere als sexuelle Befreiung. Es zeigt ganz einfach nur, was ein Mann sich vorstellt und was er sich von Frauen erhofft. Callenbach kann auf jeder Seite über »sexuelle Freiheit« plaudern, und unsere feministischen Utopie-Schriftstellerinnen können auf die dunkle Haut und nicht-weißen Gesichtszüge ihrer Charaktere hinweisen: Callenbachs Figuren sind einfach der Phantasie eines Mannes entsprungen, und die unserer Feministinnen entstammen weißen Hirnen. Callenbach erweist Frauen mit seiner Vision keinen Dienst. Indem er nur die männliche Wahrheit erzählt, führt er lediglich auf heimtückische Weise seine Privilegien und die Unterdrückung der Frauen fort. Diese Analogie trifft auch auf den Rassismus in feministischen Utopien zu.
Bradley (in beiden Büchern), Gearhart, Gilman, Russ, Singer, Young und Wittig machen keinerlei Versuche, ethnische Unterschiede unter Frauen darzustellen oder Konflikte aufzuzeigen, die aus solchen Unterschieden entstehen können. Gilman könnte noch entschuldigt werden, schließlich schrieb sie sechzig Jahre vor der zweiten Welle des Feminismus. Ein paar Alibischritte werden zwar getan. Singers Calliope bringt »noch ein schwarzes Baby« zur Welt (S. 3); Wittig benutzt eine ganze Reihe von Namen in ihrem Buch, die auf Frauen verschiedener Kulturen hindeuten; Gearhart beschreibt dunkelhäutige Frauen. Doch Handlung und Hauptfragestellung für diese Autorinnen liegen in der Mann-Frau-Thematik. Damit befassen sich ihre Romane hauptsächlich, und alle anderen politischen und sozialen Fragen werden in diesem Licht betrachtet oder gehen in der Hauptthematik verloren.
Charnas und Bryant machen recht beachtliche Versuche. Charnas unterscheidet sehr genau zwischen den Mutterlinien und hebt Nenisi und die (schwarzen) Conors besonders hervor. Ihre Beschreibung einer nomadischen Kultur, die in einer kargen Landschaft hart ums Überleben kämpft, und das daraus erwachsende Verhalten unter den Frauen hat so gar nichts mehr mit den üblichen Mittelstandsmustern gemein. Doch selbst Charnas Reitende Frauen und deren Härte und Unterschiedlichkeit überzeugen die Lesenden nicht von einem Rassismus-Bewußtsein. Bryants Gesellschaft, offensichtlich ein Schmelztiegel aller Völker der Erde, eifert der Traumkultur der Senoi nach. Bei den Ata stehen das Wertesystem, die Eßgewohnheiten, Behausung und Bekleidung, die Verständigung, die Rituale und Erzählungen in direktem Gegensatz zu den weißen, männlich definierten Standards des Protagonisten — genau Bryants Standpunkt. Doch ob sie es beabsichtigte oder nicht — die Kultur der Ata erscheint eher als Gegensatz zur männlichen und nicht zur weißen. Rassendiskussionen werden auch hier nicht geführt, es wird nirgendwo ersichtlich, daß die Autorin ein tieferes Bewußtsein für das Rassenstigma der westlichen Zivilisation entwickelt hat.
Beim Vergleich von Piercys »Frau am Abgrund der Zeit« mit anderen feministischen Utopien erscheint dieser Roman noch als der herzhafteste Versuch, sich mit Klassen- und Rassenfragen auseinanderzusetzen und sie in einem größeren sozialen Rahmen zu behandeln. Piercy erreicht dies nach meiner Ansicht zum Teil dadurch, daß sie dialektische Beziehungen zwischen Connies Gegenwart (im Krankenhaus) und der möglichen Zukunft, die sie sich vorstellt (Mattapoisett), erfindet. Keine andere Protagonistin in feministischen Utopien ist so sehr ein Opfer des gegenwärtigen Systems wie Consuelo: arm, mexikanisch-amerikanisch, gefangen, Kindesmißhandlerin, nachgewiesenermaßen irr und mißbraucht von Zuhältern, Liebhabern, Familie, Chefs, Regierungen und der psychiatrischen Berufswelt. Ihre Einflüsse hier und jetzt, ihre Zukunftsvorstellungen wie beispielsweise Essen, Kleidung, Handlungen, Nähren und Kinderspiel erinnern sie an ihre Kindheit, und sie zählt sogar die Generationen, die zwischen ihrer Tochter Angelina und dem Mattapoisett-Kind liegen, das sie an die verlorene Angelina erinnert. Und so ist Mattapoisett einerseits ein Gegensatz zu Connies entpersonalisiertem und unter Drogen stehendem Selbst und andererseits gleichzeitig die Fortsetzung davon. Connie beginnt zudem eine Debatte
über Rassismus, so daß Luciente und die anderen über die Entstehung dieses Übels reden. Keine der anderen Schriftstellerinnen befaßt sich mit dem Thema. Bewußt wird in dieser künftigen Welt die Tradition spezifischer und unterschiedlicher Kulturen gepflegt. (Lucientes Dorf ähnelt der Welt der Wamponang Indianer, egal wie irisch, deutsch oder schwarz seine Bürgerinnen sind.) Grundprinzip dieser Politik ist Teil des Verständnisses eines jeden Kindes.
Piercy zeigt uns in Connie eine großartige Heldin, deren Fortschreiten durch künftiges Wohl und gegenwärtiges Übel in einer rechtschaffenen Rebellion gegen ihre Ärzte gipfelt — eine Inspiration für viele Leser/innen bei der eigenen revolutionären oder rebellischen Tat. Piercys Buch ist nicht weiß. Ihre Charaktere erfüllen keine Alibifunktion. Sie verändert und vertieft die Perspektive der Lesenden über die gegenwärtige Welt. Ihr Buch ist revolutionär, weil es das utopische Genre für einen guten politischen Zweck nutzt.
Mich selbst von einem nicht-rassistischen Standpunkt zu einem anti-rassistischen zu bewegen, erscheint mir wie das An-schubsen einer stehenden Dampfwalze: Ich kann mich nicht loseisen, es erscheint hoffnungslos, und es fällt mir leichter, etwas anderes zu tun, das mich mehr packt, wo ich eher Erfolge sehe. Das Wort »Leidenschaft« scheint für mich den Schlüssel zu bergen. Offensichtlich ist es leichter, Zorn und Schmerz zu fühlen, wenn ich das Opfer bin, als wenn ich selbst unterdrücke. Und um die Wahrheit zu sagen, im Vergleich mit dem Zorn und der Wut, die ich bei anderen Themen entwickle (Homophobie, Sexismus etc.), fühle ich fast keine Leidenschaft, um dem Rassismus entgegenzutreten. Zu den Unterdrückenden zu gehören bedeutet, meine Gefühle abzuschneiden, und so wird für mich das ganze Unternehmen zu einem Versuch des Fühlens, zu einer Suche nach dem leidenschaftlichen Gefühl. Am besten hat mir dabei die Erinnerung an meine frühe Kindheit und Teenagerzeit geholfen, als ich enge Kontakte mit Schwarzen hatte. Damals habe ich mit Wut, Furcht, Verletzung oder Erstaunen reagiert. Wenn ich wieder an diese Gefühle herankomme, bin ich wirklich zu Aktionen bereit, das heißt, dann entwickle ich eine Leidenschaft zur Politik.
Zusammenfassend läßt sich über die Romane folgendes sagen: Es findet sich ein Ansatz zu kollektivem Handeln, eine starke Betonung lesbischen Separatismus, die Behauptung, daß Männer die Ursache von Gewalt sind, Skepsis gegenüber der hochentwickelten Technik und - mit der Ausnahme von Piercy - kaum ein Bewußtsein für Fragen der Rassen und Klassen. So verdeutlichen feministische Utopien ihren politischen Standpunkt. Wir tun gut daran, sie genauer zu erkunden, denn sie formen unsere Ideen, unsere Kämpfe und unsere Strategien in der Gegenwart.