Wandel und Kunst in Frauenwelten:

Doris Lessings »Canopus im Argos: Archive«

Weil es so schwer ist, sich die Möglichkeiten im alten Traum vom freien Menschen vorzustellen, ist der Alptraum auch so stark... Die Künstler haben sich außerdem so sehr mit dem Alptraum befaßt, daß keine Zeit für eine Neufassung der alten Utopien blieb... Und doch sind wir alle, direkt oder indirekt, vom großen Wirbelwind des Wandels erfaßt; und wenn ein Künstler dies je begreift... sich je die Mühe des Verstehens macht, endet die Verzweiflung... und etwas Neues kann beginnen.
Doris Lessing: »The Small Personal Voice«, in: A Small Personal Voice: Essays, Reviews, Interviews, Paul Schlueter (Hg.), Knopf, New York 1974, S. 9, 11, 20.

Historiker/innen und Kritiker/innen sehen das 20. Jahrhundert meist als Dystopie, sowohl hinsichtlich der Realität als auch der Literatur. Trotz der offensichtlichen Berechtigung einer solchen Ansicht haben die jüngsten utopischen Romane von Frauen diesen Pessimismus widerlegt, indem sie nämlich überzeugende positive Alternativen anboten. So präsentiert die jüngste Literatur die erste bewußte Artikulation weiblicher Vorstellungen über die »gute Gesellschaft«.[1] Trotz ihrer Bedeutung wurde diese Literatur kaum beachtet, weder in bezug auf die Neuerungen innerhalb der utopischen Tradition noch auf Zukunftsvoraussagen. Beispielsweise beklagen Frank und Fritzie Manuel in ihrem gründlichen und wohldurchdachten Band »Utopian Thought in the Western World« den gegenwärtigen Mangel an utopischer Inspiration. Heutzutage, so schreiben sie, »beobachten wir die verschiedensten Wege, zu Raumkolonien zu gelangen, genetische Menschenbanken zu schaffen und gleichzeitig eine Armut an Gedanken, Phantasien, Wünschen, Utopien. Die Wissenschaft kann uns bis auf winzigste Details ausmalen, wie eine Raumkolonie in einem hohlen Kometen oder Asteroiden eingerichtet werden kann. Doch wenn es darum geht zu beschreiben, was die Leute dort sollen, lassen die damit befaßten Männer lediglich Vorstädte wiedererstehen — mit Gartenklubs etc. — in einer neuen schwerelosen Umgebung.«[2] Natürlich betrachten die Manuels dabei die Männer - denn beim genauen Lesen jüngst erschienener Utopien von Frauen schält sich ein viel originelleres Bild heraus.[3]
Statt immer gigantischere Technologien in den Bereichen von Produktion, Konsum und Kriegführung benutzen die von Frauen entworfenen Gesellschaften die Wissenschaft als Werkzeug zur Verbesserung der Lebensqualität. In der utopischen Welt von Marge Piercy beispielsweise werden langweilige Schmutzarbeiten von Maschinen erledigt; jedes Kind spielt mit ausgefeilten kleinen Lerncomputern; Computer unterstützen die Kommunikation und helfen dem Gedächtnis. Die medizinische Technik und die Gentechnologie sind extrem fortschrittlich. Dennoch bauen die Menschen keine Bomben, keine riesigen Industrieanlagen, keine Einkaufszentren.[4] Sie geben der Erziehung und Bildung, der individuellen Entwicklung, der Gleichberechtigung den Vorzug. Sie bauen Einrichtungen, die sowohl das Individuum als auch das Gemeinwesen fördern. Zwischenmenschliche Beziehungen werden als das Höchste angesehen und zeichnen sich durch Offenheit und Experimentierfreude aus. Das einzig bedeutende soziale Tabu lautet: niemanden zu verletzen. Der von Frauen erfundene utopische Lebensstil ist vielfältig, doch immer von einem Respekt für die Natur begleitet, und viele Bürger/innen bleiben »nah an der Scholle«, sowohl literarisch als auch in Wirklichkeit.
Ganz typisch für diese Utopien ist der Vorrang natürlicher Zyklen zur Regulierung sozialer Gebräuche und Institutionen. Die Grundereignisse menschlichen Lebens: Geburt, Wachstum, Sexualtrieb und schöpferische Kraft, Altern und Sterben werden voll ausgeschöpft. Dieser Anerkennung natürlicher Zyklen wohnt ein Respekt für den Prozeß und nicht das Produkt inne. Daher ist die theoretische Basis für die utopische Spekulation verwandelt. Die gute Gesellschaft wird nicht länger als statisches Ideal gesehen — die perfekte Organisation, die dem Kopf entspringt und streng nach Gesetzen geregelt wird. Platos »Staat« ist der Urtyp eines derart statischen Ideals. Sokrates wollte die Dichter verbannen, deren Kräfte das erreichte Ziel zu unterwandern trachteten. In Plutarchs Beschreibung eines utopischen Sparta verläßt der Gründer Lykurg den Staat mit der Order, daß nichts bis zu seiner Rückkehr verändert werden dürfe.
»Die beste soziale Ordnung« für Frauen ist aber dynamisch. Die unvermeidlichen Veränderungen des Lebens werden weder verneint noch heruntergespielt, um mehr zu produzieren oder anzuhäufen. Jeder Lebensabschnitt wird mit gleicher Ehrfurcht betrachtet, von gemeinsamen Ritualen begleitet und gefeiert. Die Anerkennung der Veränderungen macht toleranter und offener für die menschliche Entwicklung, läßt uns menschliche Begegnungen entspannter betrachten und gewährleistet mit Sicherheit eine anpassungsfähigere politische Struktur. Die gute Gesellschaft lebt also nur, solange sie beständig neu bewertet, überholt und durchdacht wird, geprüft auf die Verantwortung gegenüber Individuum und Gemeinwesen. In den meisten dieser von Frauen geschaffenen Welten begleitet die Kunst — seien es Tanz, Musik, Geschichtenerzählen oder Multi-Media-Ereignisse — die Zeiten bedeutender Veränderungen. Frauenutopien unterscheiden sich in der Tat deutlich von den Utopien der Männer, schon allein dadurch, daß sowohl Veränderungen als auch Kreativität eine bedeutende Rolle spielen.[5]
Gerade der Beitrag von Doris Lessing zu diesem Genre ist davon geprägt: »Canopus im Argos: Archive.« Die besonderen sozialen Prioritäten, die feministische Utopien auszeichnen, die Bedeutung der Kunst und die allem zugrundeliegende Theorie der Veränderlichkeit kennzeichnen alle Bände dieser Romanfolge. Besonders eindrucksvoll ist Lessings Studie der Prozesse individuellen und sozialen Wandels im Zusammenhang mit utopischen und dystopischen Spekulationen. Der erste Roman dieser Serie »Shikasta« zeigt dies ganz deutlich. Gleich zu Anfang des Buchs gibt der Haupterzähler Johor seine relative Unwissenheit trotz seines hohen Alters und seiner langen Dienstzeit bei einer der fortschrittlichsten Gesellschaften des Universums zu. Die Sicherheit jeglicher Wahrheit zweifelt er an und sagt: »Die Dinge verändern sich. Nur dessen können wir sicher sein.«[6] Durch das ganze Buch zeigt sich der Wandel im unterschiedlichen und wechselnden Gleichgewicht gegensätzlicher Kräfte.
Die gegensätzlichen Kräfte sind sowohl mystisch als auch realistisch. Obgleich das Hauptaugenmerk der Erzählung auf den Planeten Shikasta gerichtet ist, treten andere mächtige Galaxien im Kampf darum auf. Canopus, das wohlwollende galaktische Reich, und Puttiora, die böse Galaxie, wechseln ständig die Kontrolle über Shikasta und seine Bevölkerung. Innerhalb dieses archetypischen Kampfes zwischen Gut und Böse finden viele kleinere Schlachten statt. In der Entwicklung der Geschichte erfahren die Lesenden, daß Shikasta unsere Erde ist und daß
Lessing nichts anderes tut, als unsere Geschichte aus einer völlig neuen Perspektive zu erzählen. Der archetypische Kampf wiederholt sich Dutzende Male in zunehmend realistischeren menschlichen Konflikten.
Lessings Einsichten hängen nicht nur von der weisen Dialektik ihrer Philosophie ab, sondern auch von der Art ihrer Darstellung — ihrem Stil. Shikasta ist ein radikal experimentelles Buch, das in einer Reihe unterschiedlicher Erzählweisen daherkommt. Johors Erzählung wird oft unterbrochen, zunächst durch die Stakkatoberichte des canopäischen Chronisten, dann durch die Tagebücher, Briefe, Erinnerungen verschiedener Individuen, die auf Shikasta leben. Die Lesenden werden mit so unterschiedlichen Standpunkten wie der offenen, mitleidsvollen Perspektive Johors konfrontiert, den unpersönlichen Berichten und Befehlen der canopäischen Chroniken und dem rührenden Tagebuch der jungen Rachel Sherban, die sehr menschlich spricht. Gerade an einen Standpunkt gewöhnt, werden wir plötzlich völlig anders angesprochen. Die Erzählweise ist so diskontinuierlich und zwingt die Lesenden, ihr Verständnis anzupassen, Gefühle immer wieder zu ändern. Natürlich ist Diskontinuität charakteristisch für unsere Kultur, und collageartige Schreibstile sind Mode. In Shikasta jedoch bringt Doris Lessing die Gedanken und Stile des 20. Jahrhunderts in neue Formen. Es sind Erweiterungen des menschlichen Bewußtseins, die mit Hilfe veränderter Zeitfolgen und Perspektiven die Lesenden verwirren.
Vieles in Shikasta dreht sich um die bestechlichen Menschen — mit anderen Worten: die politischen, sozialen, umweltbedingten Probleme unserer Zeit. Der Aufenthalt in Rohanda — Shikasta vor seiner Degeneration — ist so kurz wie schön. Das Fortschreiten der Zeit, das uns auf uns selbst zurückwirft, in unsere gegenwärtige Welt, geschieht langsam, so wie ein unscharfes Bild langsam scharf eingestellt wird. Nach und nach erkennen wir, wie Johor den Zweiten Weltkrieg beschreibt oder genau die Umweltprobleme der achtziger Jahre. Die Einzelheiten von Gemetzeln, Hungersnöten und schlechter politischer Führung werden schrecklich realistisch.
Rohanda wird zurückgelassen, doch überraschenderweise bleibt Utopia bestehen. Es bleibt nicht als Mittelpunkt der Geschichte, sondern in einer erstaunlichen Umdrehung der traditionellen utopischen Literatur als die Perspektive, die von den erzählenden Stimmen dargestellt wird. Die canopäische Perspektive, die Johor am meisten benutzt, prägt die Ansicht der Lesenden über die Geschichte. Die aus den Archivberichten stammende canopäische Perspektive transzendiert die lineare Shikasta-Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fallen zusammen. Bei den Lesenden entsteht der Eindruck, als ob sie einzeln durch unzählige saturnalistische Ringe sich dem eigenen Planeten genähert hätten. Jeder Ring steht für eine neue zeitliche oder räumliche Linse für das Zentrum Shikastas. Während wir die Stimmen der canopäischen Chronisten, Johors Berichte und die Erzählungen der anderen hören, sehen wir uns selbst und unsere Gesellschaft in neuem Licht und müssen behutsam, doch beständig Änderungen vornehmen. Während dieses Prozesses fangen wir an, das Wesen der Utopie zu verstehen, was darin besteht, nicht irgendein anderer Ort, eine andere Zeit zu sein, sondern die Fähigkeit, etwas neu und frisch zu sehen — in einer erweiterten, ja transformierten Sicht.
Da das neue Sehen einen zentralen Platz in Lessings Utopien einnimmt, ist zu erwarten, daß auch Künstler/innen einen wichtigen Platz beanspruchen können. In »Shikasta« drückt sich die Kunst oft in Gesängen aus, die Gesänge sind ein wichtiges Bindeglied zwischen der Vergangenheit und künftigen utopischen Visionen. Während der »Gesang« also in der gesamten Canopus-Reihe wichtig ist, befaßt sich das zweite Buch »Die Ehen zwischen den Zonen Drei, Vier und Fünf« ausführlich mit der Kunst, denn hier ist der Erzähler zugleich »Liedermacher«.
Mittelpunkt der Erzählung Lusiks ist die Geschichte von Al.Ith, der wunderschönen Königin der Zone Drei — ein entzük-kendes, feministisches Utopia. Das Erzählen wird langsam genauso wichtig wie die Abenteuer Al.Iths. Die Handlungen sind schnell zusammengefaßt. Zu Beginn des Buchs, so berichtet der Erzähler, soll Al.Ith den König der militaristischen und verachtenswerten Unterwelt der Zone Vier, Ben Ata, heiraten. Diese Befehle kommen von den »Versorgern«, die erstaunlich mysteriöse Figuren bleiben, deren Autorität niemals angezweifelt wird. Im Verlauf des Romans lernt Al.Ith Ben Ata lieben, lehrt ihn einiges über die weibliche Natur und die Verantwortung für ein Königreich. Sie selbst jedoch leidet unter dieser Liebe, weil sie plötzlich Eifersucht und Besitzdenken kennenlernt, die ihr vorher in Zone Drei noch völlig fremd waren. Schließlich verliert sie den Mann und auch den Sohn, um die sie sich so gesorgt hatte. Ihr Schicksal scheint in der Entfremdung von beiden Welten zu bestehen, doch finden sich geheimnisvolle Hinweise eines Aufstiegs zu Zone Zwei als Entschädigung für ihr tiefes Leid.
Der Roman ist in vielerlei Hinsicht paradox: Die einst glückliche Al.Ith muß zu ihrer Entwicklung ihre Autonomie verlieren; die friedliche und sinnesfreudige Zone Drei muß Unzufriedenheit und Kriegsvorbereitungen durchleben, damit sie überhaupt lebendig bleibt, und schließlich müssen auch die Lesenden in der Bindung an Al.Ith und Ben Ata erkennen, daß der Gesang, die Geschichte von Al.Ith am wichtigsten ist.
Lusik besingt Al.Iths Heirat in einer Weise, die an andere traurige Hochzeiten erinnert. Er zeichnet Trauerszenen — die Königin in dunklem Blau, das Haar offen, untröstlich. Die Beerdigungsstimmung dieser Hochzeit erinnert an Persephones Heirat mit dem Gott der Unterwelt. Ein Nachhall dieses Mythos, der Abstieg Inannas und sogar die Herabkunft Christi werden durch die symbolische Darstellung der Geschichte Al.Iths heraufbeschworen. Al.Iths früheres Selbst stirbt, sie verliert ihre Freude und Leichtigkeit. Doch während ihre Identität sich im Leid verändert und sie allen bekannten Zonen fremd wird, befreit sie ihr Volk zum Wachstum. Wie Inanna, Persephone und Christus vor ihr bringen Al.Iths Tod und Wiederauferstehung (Herabkunft und Rückkehr) dem Land Fruchtbarkeit und ihrem Volk die Erlösung.
Die Einsichten und Erkenntnisse, die diese Geschichte von Abstieg und Wiedergeburt bergen, sind weit komplexer als die meisten Interpretationen christlicher Mythen. Christus steigt herab, leidet, stirbt und wird wiedergeboren, um die Menschheit zu retten, doch anscheinend nicht den Himmel selbst. Lusiks Erzählung von Al.Iths ähnlichem Herabsteigen und Leiden erlöst nicht nur die niederen und pervertierten Welten von ihrer Korruption, sondern auch Utopia von seiner Perfektion. Denn die Krankheit des Herzens in der lieblichen Zone Drei, so erfahren wir vom Sänger, ist die ruhige Selbstzufriedenheit. Diese Welt hatte die niederen Welten und somit auch Zone Zwei vergessen. Die Leute in Zone Drei litten zwar nicht mehr, hatten aber auch keinerlei Streben mehr. Doch wenn Al.Ith von Zone Vier zurückkehrt, erlöst sie das insulare Utopia. Wieder erkennt sie die Basis allen Wissens, daß alles miteinander verbunden und verwoben und alles eins ist.[7] Gegen Ende des Romans erkennen die Lesenden durch Lusiks Erzählung, daß eine lebendige Utopie Veränderung und Interaktion mit anderen Kräften braucht, um nicht zu einer nutzlosen Idee und unfruchtbar zu werden.
Während des Geschichtenerzählens verändert sich auch der Künstler, denn er erfährt die transformierende Kraft der Imagination. Er wird zur eigenen Geschichte. Lusik meditiert über dieses Phänomen in folgender Weise:

Ich bin nicht nur ein Chronist der Zone Drei, ich bin es nur teilweise, denn ich teile auch Al.Iths Stellung als Herrscherin, insoweit ich über sie schreiben und sie schildern kann... und so halte ich hier nur fest: Al.Ith war die Zone Zwei, während sie im Gras saß und von der Zone Zwei träumte, wenn auch nur in der unbestimmtesten und undeutlichsten Weise. Ihre Vorstellung von diesen reinen, aus dem Feuer geborenen Wesen brachte sie ihnen näher; und als sie an uns, die Chronisten dachte, war sie wir... und so stelle ich hier in dieser Fußnote zu Al.Iths Gedanken meine Behauptung auf und belasse es dabei: Al.Ith ist ich, und ich bin Al.Ith und jeder von uns ist, was er denkt und sich vorstellt. (Die Ehen, S. 243/244.)

 

Die Erkenntnis, daß Erzähler und Erzählung eins sind, daß die Kunst sogar Leben schaffen kann, bringt ein scharfes Bewußtsein der Gefahren mit sich, aber auch der positiven Möglichkeiten einer solchen Vorstellung. Denn wie die Kunst die wunderbaren Bilder einer besseren Welt entwerfen kann, so kann sie auch Alpträume menschlicher Erfahrungen heraufbeschwören. Diese Tatsache hat Plato ja so verwirrt. Doch während diese erste Utopie die Dichter noch verbannen wollte, die über etwas anderes als über das Wahre, Schöne, Gute berichten wollten, feiert Lessings Dichter die ganze Kraft der Kunst. Lusik sagt:

Wir Chronisten haben allen Grund, uns zu fürchten, wenn wir uns den Teilen unserer Geschichte (unserer Natur) zuwenden, die mit dem Bösen, dem Verworfenen und Umnachteten zu tun hat. Was wir beschreiben, werden wir. Wir beschwören es sogar herauf — ich habe es voll Schaudern gesehen. Der unschuldigste Dichter kann über Häßlichkeit und über Mächte schreiben, die er nur aus seiner Phantasie kennt — und sie in sein Leben bringen... Und doch liegt darin ein Geheimnis, das ich nicht verstehe: Ohne den Stachel des Anderen, des — ja sogar — Bösartigen, ohne die schrecklichen Kräfte der Kehrseite von körperlicher und geistiger Gesundheit und Vernunft, geschieht nichts, kann nichts geschehen... Das sehr Hohe muß von dem sehr Niedrigen ergänzt, ... sogar genährt werden. (Die Sirianischen Versuche, Archive III, 1985, S. 144.)

Lessings Künstler stellt so den dialektischen, dramatischen Fluß des Lebens dar, den notwendigen Abstieg und folgerichtigen Aufstieg, wie er sich symbolisch in Al.Iths Heirat und ihrem Umzug nach Zone Zwei ausdrückt. Die Lesenden erkennen aber auch, daß nur die Kunst so etwas anvisieren und ausdrücken kann, indem sie solch verwirrenden Transformationen Bedeutung verleiht. Ohne den Gesang gäbe es nur Leid. Die Veränderlichkeit menschlicher Erfahrungen ist unausweichlich, und die Kunst ermöglicht uns, harte Wahrheiten zu ertragen und sie in gute zu verwandeln. Ganz gewiß passiert dies in Lessings dynamischer utopischer Vision, in der die Kunst die Veränderungen leicht macht und ihnen Bedeutung verleiht.
Lessings dritter Roman »Die Sirianischen Versuche« befaßt sich mit dem Thema der Veränderung in der Erziehung des Erzählers, des Sirianers Ambien II. Obgleich die sirianische Galaxie über Puttiora und Shikasta steht, sind die Sirianer an stures Denken gebunden, wie Ambien langsam und leidvoll erkennt. Die Worte reichen nicht für einen individuellen oder sozialen Wandel aus; man lernt durch harte Erfahrungen und die Kraft der Kunst. Gegen Schluß des Romans hat Ambien eine reiche ästhetische Erfahrung, die das Zentralthema der notwendigen Transformation symbolisiert. Das Kunstmedium ist das Bild — Bilder der Shikasta-Gesellschaft und des canopäischen Raumschiffs. Tatsächlich lenkt der canopäische Kristall Ambiens Aufmerksamkeit auf das sich offenbarende Bild Shikastas:

Ich schwebte in der Nähe des wachsamen Kristalls und bemerkte wieder einmal, wie die Ränder des Kontinents zu hohen Gebirgsfaltungen gepreßt und gedrückt worden waren; ich sah die weiten Wüsten und bemerkte, daß die endlosen Wälder früherer Zeiten verschwunden waren. Dann entdeckte ich, daß sich mir ein außergewöhnlicher Anblick bot: Über den ganzen Kontinent spannte sich ein Gitter, ein Netz aus völlig gleichmäßigen Rechtecken. Ich sah eine Karte; das Diagramm einer bestimmten Denkweise... eine Art des Denkens, ein Gedankensystem wurde sichtbar gemacht — das Bewußtsein der nordwestlichen Randzonen, das Bewußtsein der Weißen Eroberer! Der Vielfalt, den Verändemngen und Unterschieden des Kontinents, dem Fließen, den Bewegungen und den Veränderungen der Erde — die so lebendig waren wie die Luft darüber - allerdings in einer anderen Zeitdimension — war der Stempel der Starrheit aufgedrückt... Ich hatte es vorher nicht bemerkt... Ich hatte gesehen, wie das Wachstum und die Entfaltung der Materie, des Kontinents sich in den Konturen der Oberfläche und der Verteilung von Wasser und Vegetation ausdrückte. Doch jetzt stellte sich zwischen mich und die Sprache von Wachstum und Veränderung dieser gebieterische Stempel, das Zeichen, das Gitter, das Netz, die Prägung.[8]

Ambien lernt hier, was alle Lesenden feministischer Utopien verstehen müssen. Eine bessere Gesellschaft kann nur mit Wachstum, Vielfalt und Wandel erstehen. Wenn es denn das größere Ganze gibt, dem alles Leben zugehört — wie die meisten Frauenwelten behaupten —, dann scheint dessen einziges Gesetz, wie Johor uns bereits gesagt hat, das Gesetz des unvermeidlichen Wandels zu sein.
Ambiens Vision eines vergitterten, versteinerten Shikasta kontrastiert mit einem anderen Bild: dem flexiblen und schönen Symbol der canopäischen Gesellschaft, dem Raumschiff oder Kristall. Ambien untersucht auch dieses Bild genau:

Ich ließ meine Blicke müßig und unbestimmt über den Kontinent gleiten und erinnerte mich an die anderen Zustände und Verwandlungen, in denen ich ihn gesehen hatte, als der canopäische Kristall herabschwebte und vor mir in der Luft lag. Er befand sich in der gebräuchlichsten Form; er sah wie ein Kegel aus. Eine Spitze deutete nach unten auf die bezaubernden von der blauen Luft umgebenen Wolken dieser Atmosphäre. Es war ein wundervoller Anblick, und ich genoß ihn, als der Kristall sich langsam weiterbewegte; ich folgte ihm, ich verstand die Lektion nicht, denn das vermutete ich darin —, sondern sah nur zu... Der Kristall verwandelte sich in ein Tetraeder... und dann in eine Kugel... jetzt zog er sich in die Länge und wurde ein Tropfen Flüssigkeit im Augenblick des Fallens. Der vollkommene glitzernde Kristalltropfen glich sich dadurch dem Druck der Atmosphäre an, paßte sich der Luftströmung an. Mein Führer änderte seine Gestalt von neuem, zeigte, wie sie sich ändern, fließen und anpassen mußte, denn all die Bewegungen und Veränderungen der Atmosphäre, in der wir wie in einer Flüssigkeit schwammen, formten diese Kugel, diesen Stab, Streifen, dieses Band... Wie viele Formen nahm mein bezaubernder Führer an, während wir in den Strömungen der oberen Luftschichten von Rohanda dahinglitten - wie er sich entwickelte, anpaßte und glänzte! (Die Sirianischen Versuche, S. 353.)

Die neuen, wunderbar verschiedenen Romane von Doris Lessing verwirren uns wie der canopäische Kristall mit ständig wechselnden Bildern verschiedener Welten. Die Kraft ihrer Kunst erlaubt uns einen Blick auf die verschiedensten Utopien; ihre Erkenntnis der menschlichen Natur und ihre Anerkennung der Unvermeidbarkeit des Wandels garantieren uns, daß wir nirgends steckenbleiben.