Einleitung

»Zum Erstaunen mancher unter uns,« bemerkten die Veranstalterinnen der vierten Kunsthistorikerinnen-Tagung, sei die Frage nach feministischer Kunst und weiblicher Ästhetik ungebrochen virulent.[1] Das ist sicher auch dem Umstand zu verdanken, daß sich - betrachtet man Silvia Bovenschens Essay von 1976 als Initialtext[2] seit fünfzehn Jahren zunehmend verschiedene Kontexte am Diskurs beteiligt haben: einzel- und interdisziplinäre Frauenforschung einerseits, künstlerische Praktiken und Kunstkritik andererseits und last but not least feministische Politikansätze. Ihrer aller vernehmbares und kontroverses Engagement hat es bisher erfolgreich verhindert, daß die Frage nach weiblichen Repräsentationsformen in Kunst und Alltagskultur weder auf einen Streit akademischer Fachkompetenzen noch auf das kampagnetaugliche Kriterium "feministisch/antifeministisch" reduziert wurde.
Ohne Zweifel wirkte die PornO-Kampagne als Argumentbeschleuniger. Die eindeutige Absicht aber, einen Konsens unter Frauen (für den strafrechtlichen Zugriff auf "frauenerniedrigende" Bilder) herzustellen, evozierte eine Fülle von in jeder Hinsicht vieldeutig ausgedachten - gesprochenen und phantasierten - Imaginationen um Sexualität - und zwar von Frauen. Sie waren reich bebildert.[3]
Inzwischen geht es weniger aufregend-aufgeregt zu. Der Schußlinie von Suggestivfragen und Entweder-oder-Antworten entgangen, gewinnt der Diskurs um ästhetische Fragen langfristige Aktualität. Das dokumentiert eine kaum noch überschaubare Anzahl von Texten zur Thematik.[4] Sie widmen sich in unterschiedlichsten Versionen der Frage, wie Weiblichkeits- und Männlichkeits-Bilder mit gesellschaftlichen Konfigurationen in Geschichte und Gegenwart verwoben sind. "Über Bilder hinaus sind die Kon-Texte, in denen sie produziert, gesehen, vermittelt und tradiert werden, von Belang".[5]
Eine so verstandene Ästhetik-Debatte bleibt in mehrfacher Hinsicht aktuell und kontrovers: Konsens wird zunächst einmal finden, daß die ästhetische Organisation sprachlicher und praesentativer Symbole um Männlichkeit und Weiblichkeit nicht mehr als "nur"-kulturelles Phänomen abgetan werden kann, sondern - längst zum Politikum geworden ist. Das ist keine Erfindung der Frauen(bewegung): poststrukturalistische Kritik hat DAS BILD zum Skandal erklärt bzw. den/unseren gesellschaftlichen Zustand der Ununterscheidbarkeit von "Realität" und medial hergestellten Bildwelten. Feministische Argumente aber reklamieren demgegenüber: dieser Vorgang ist in die Geschichte der Frau längst eingeschrieben als unübersehbare Spur - allerdings nicht als postmoderne anonyme Systematik, sondern als durch patriarchale Macht organisierte "Simulation", in der die Frau, weil sie zum stereotyp ausgestatteten Imaginationsobjekt des Mannes wurde, ihre Identität verlor.
Das führt zur zweiten Aktualität: der problematorische Kern in der Diskussion um weibliche/männliche Ästhetik ist ein Begriff von Identität und ein Konzept des Subjekts, also jenes umstrittenen Gegenstandes, nach dem die europäische Philosophiegeschichte jahrhundertelang auf der Suche war.
Spätestens hier allerdings scheiden sich die GeisterInnen (erneut): während eine Position auf Subjekt- und Identitätskonzepte in identifikatorischer Absicht nicht verzichten will und pointiert fordert, das authentische weibliche Subjekt - mithilfe von feministischer Kunst und Wissenschaft - zu kreieren, insistiert eine andere darauf, traditionelle Subjektvorstellungen und jede identifikatorische Festschreibung, auch die in Konzepten von Männlichkeit und Weiblichkeit, als obsolet zu verabschieden.
Damit ist ein weiteres, gleichbleibend aktuelles Moment berührt: die Auseinandersetzung mit den Kulturwissenschaften selbst, in denen männliche und weibliche Identitäts- und Subjektvorstellungen erfunden werden. Ihr wissenschaftlich-methodisch lange verbindlicher Kanon ist durch die Frauenforschung in einer Fülle von Einzelstudien kritisch unter die Lupe genommen worden. Im Ergebnis wurde deutlich, daß z.B. Kunstinterpretation und -geschichtsschreibung in einem Maße von historisch relativen, geschlechtsspezifisch männlichen Imaginationen von Männlichkeit und Weiblichkeit durchzogen sind, daß von wissenschaftlicher Objektivität und allgemein gültigem Instrumentarium nicht länger die Rede sein kann.
Das Ensemble der Texte des vorliegenden Sammelbandes ging davon aus, daß Heterogenität bezüglich thematischer Aspekte, kultureller Bezugsfelder, methodischer Ansätze und repräsentierter Textsorten dem "Stand der Dinge" am ehesten gerecht wird. Er enthält:

  • - einen Text, der sich mit dem in jede Ästhetikdiskussion hineinwirkenden französischen feministischen Denkansatz auseinandersetzt (Rendtorff);
  • - literarische Texte: metaphorisch, fiktiv, transitorisch (Chotjewitz-Häfner, tax, Morrien);
  • - je eine Gruppe von Texten zu Literatur (Schulz-Jander, Wilde-Stockmeyer), Alltagsästhetik (Kämpf-Jansen, Wichmann-Scholpp), Film (Sykora, Hein) und bildender Kunst (Petzinger, Laun, Below, Schade).

Sie alle zeigen, daß kein Aspekt der Frage nach der weiblichen Ästhetik überholt ist, sondern alle gleichzeitig präsent bleiben: Ausgrenzungsmechanismen und Rezeptionswiderstände gegenüber Künstlerinnen im Kulturbetrieb (Petzinger, Below, Laun, Schulz-Jander); Bedingungen und Widersprüche künstlerischer Produktivitä/Kreativität von Frauen (Laun, Schulz-Jander, Wichmann-Scholpp, Below); Kritik zentraler kunsttheoretischer Kategorien: Genie, Oeuvre, Kunst als
Kult (Laun, Schade); filmische und literarische Motive: Geschlechtertausch, Doppelgänger, Fremde, Selbstinszenierung (Wilde-Stockmeyer, Hein, Schulz-Jander, Sykora); Kritik der Kritik: weibliche Normierungsversuche einer weiblichen Ästhetik Mein, Schade, Laun).
Das Ensemble der Texte sperrt sich gegen eine disziplinierte Systematisierung. Jeder Beitrag enthält thematische Mehrfachbezüge und unterscheidet sich durch Intention, Perspektive, Darstellungs- und Sprachstil. Alle zusammen ergänzen, kommentieren und widerstreiten einander. Die Texte sprechen im Verbund.
Hamburg, im Mai 1991     
Renate Morell

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Einleitung