Fahrt Frankfurt/M. - Kassel, Oktober 1989. Von der Buchmesse zum Bahnhof. In Kassel werde ich am späten Nachmittag die Veranstaltung "vier Schriftstellerinnen lesen ihre Texte" moderieren. Wir haben telefonisch und brieflich abgesprochen, wer woraus wie lange liest, ich habe ihre Bio-Bibliographien samt unveröffentlichten und veröffentlichten Texten. Es lesen Berit Knorr, Sabine Stange, Bianca Döring, sie kennen sich seit Jahren aus der Kasseler Schreibwerkstatt. Berit Knorr, lyrische Kurzprosa, die Jüngste mit Jahrgang 63; Bianca Döring, Gründerin der Werkstatt, macht auch Musik, Theater, Performance, ihre erste Erzählung heißt "das unschlüssige Zerreißen der Erdoberfläche"; Sabine Stange war in der Frankfurter VS-Frauengruppe seligen Angedenkens, hat kürzlich ein Modellprojekt "Literatur in der Psychiatrie" abgeschlossen, "Blanker Wahnsinn." Als vierte Anna Rheinsberg, sie kenne ich seit ihrer Spinatwachtelzeit. Eine von ihr herausgegebene Anthologie trug den Titel "unbeschreiblich weiblich" (Rowohlt 1981). Sie liest aus "Herzlos. Kerlsgeschichten" (1988).
Vor mir die Unterlagen, sitze und fahre ich in außerirdischer Atmosphäre in einem dieser InterRegio Großraumabteile mit aufgelockerter Sitzordnung, in kaltsüßen Farbtönen gestylt. Im ansonsten leeren Raum nur noch ein Reisender, und zwar direkt neben mir. Ich wechsle den Platz, bereite mich innerlich auf die Veranstaltung vor. Lese Anna Rheinsbergs "Wolfsgeheul" (Rückblick auf zehn Jahre Frauen-schreiben), um daraus zu zitieren. In Bremen unterhielten wir uns zuletzt über second-hand-Läden.
Meine Gedanken gleiten zum Thema der Veranstaltungsreihe ab, zum Plakat, auf dem steht: "weibliche Identität, nichts Halbes, nichts Ganzes." Unter nichts Halbes seh ich das Wort Ästhetik. Nichts Halbes, Ästhetik. Unter nichts Ganzes steht Arbeit. Schreiben ist unsere Arbeit, aber die Lesung steht unter Ästhetik. Was ist überhaupt Identität? Die Identität der Schreibenden? Der Brockhaus 1988 sagt (Psych) "die in sich und in der Zeit als beständig erlebte Kontinuität und Gleichheit des Ich", während das Plakat aussagt, das weibliche Ich erlebe sich weder halb noch ganz. Und was die weibliche Ästhetik sei, drei Fragezeichen, eine Fangfrage, ein Netz aus vielen Fäden. Ich verwirre mich in Gedanken über Form und Inhalt, den Stoff, aus dem die Texte sind, ein vielfach zersplittertes weibliches Ich, die Frage der Spiegelung, währenddem breitet Stoff sich weiter aus, in seiner Doppelbedeutung (typisch weiblich), und ich notiere:
Machen wir uns nichts vor: Es hängt davon ab, wie sie aussieht. Für sie selbst hat das Aussehen übrigens eine andere Bedeutung, als der andere meint. Ein Spiegel mit Flecken. Daraus entstehen Mißverständnisse. Passen die Füße, die Schuh, in denen der Text fußt, zum Ganzen? Gefällt uns heute die Farbe der Socken, das Muster der Strümpfe?
Findet sie eine Struktur?
Eine Rolle spielt auch, ob der Stoff weich, fließend oder fest ist, ob er kratzt, sich warm oder kühl anfühlt, zu schweigen von der Farbe, vom Muster. Eher selten begegnet weibliche Identität uns im karierten Hemd, ein großgeblümter Seidenkimono ist ihr verwandter.
Ich spreche vom "unbeschreiblich-weiblichen" Text. Es gibt ihn kaum von der Stange zu kaufen, nein, stunden- und tagelang muß man die einschlägigen Kaufhäuser nach Sonderangeboten durchstreifen, um ihn zu finden, um schließlich im second-hand-shop Großmutters schönste, kaum verschlissene Bluse zu ergattern. Die Sprache fällt auseinander, zerfällt in tausend Worte. "Ein Flamingo, eine Wüste." Sie werden gedreht, zerrissen, gewendet, aufgedröselt, gezwirnt und gesponnen, aus alten Flicken zusammengesetzt.
Und was treibt derweil ihre Identität? Die verselbständigt sich, läuft davon. Ihre Unbeständigkeit ist beständig. Hastig stolpert sie durch ihre Jahre oder dreht sich Jahrzehnte im Kreis und steht still. Was ist los? Ist sie ganz selbstlos ihr Selbst losgeworden?
(Zitat Berit Knorr). "Sie verschwimmt im Durcheinander, fast geht sie zu irgendwem und bittet um Worte." Es ist wahr. Sie fällt schon bei Lebzeiten aus dem Bild, das nicht sie selbst gemalt hat. Doch sie rappelt sich hoch, wenn nicht sie, dann die nächste, und schon läuft sie wieder, auf bröckelndem Fundament, um den nächsten Raum, den nächsten Baum, die nächsten Menschen zu entdecken... die nächste Grenze, den nächsten Kreis.
Zur Lesung von Bianca Döring, Berit Knorr, Anna Rheinsberg, Sabine Stange;
Oktober 1989
P.S.
Den Text las ich statt einer Einführung. »Warum machst du nicht öfter sowas;« frage Anna. Heute wirkt der Text hermetisch, die Kasseler Schreibwerkstatt hat sich aufgelöst. 1990 erschien Bianca Dörings erstes Buch: »Ein Flamingo, eine Wüste« bei Suhrkamp.