An den Anfang meiner Überlegungen möchte ich zwei Behauptungen stellen:
Erstens: Man kann auch heute noch einen Menschen zutiefst verletzen, wenn man z. B. bei einem Besuch in seiner Wohnung anmerkt, daß es dort einiges gibt, was dem Kitsch zuzurechnen ist.
Zweitens: Man kann auch heute noch einen Menschen zutiefst beglücken, wenn man bei einem Besuch in seiner Wohnung anmerkt, daß es dort Dinge gibt, die von erlesenem Kunstgeschmack zeugen.
Diese denkbaren Verletzungen, wie auch die positiven Anmutungen, können durch ästhetische Urteile ausgelöst werden, obwohl heute fast alle für sich geltend machen, im Zeitalter ästhetischer Aufgeklärtheit zu leben. Man weiß nämlich um die Historizität ästhetischer Normen - gerade im 20. Jahrhundert - und man weiß um die Subjektivität ästhetischer Urteile, gerade seit den 70er Jahren. Doch dessenungeachtet gibt es einerseits noch immer große Berührungsängste vor dem, was man Kitsch nennt, und es gibt andererseits einen starken Wunsch nach der Berührung dessen, was man Kunst nennt - auch wenn nicht immer klar ist, was das eigentlich ist.
Für den Kitsch allerdings scheint eines ganz sicher: er ist auch heute noch das andere der Kunst, das Negative also im ästhetischen Wertsystem. Er ist dies nicht nur auf der Ebene des ästhetischen Urteils, also dort, wo die Kunst schön ist und der Kitsch zwangsweise häßlich oder eine Spur zu schön. Er ist dies vor allem auf der Ebene des ethischen Urteils, auf der dem Kitsch das Böse und Verlogene zugeschrieben wird und der Kunst das Wahre und Gute. Diese Urteile beziehen sich einerseits auf die ästhetischen Objekte und andererseits auch auf die Menschen, die sich mit ihnen umgeben. Obwohl im zwanzigsten Jahrhundert niemand mehr davon ausgehen kann, daß die Kunst gut, wahr und schön ist, hält man wohl unbeirrt an der Tatsache fest, der Kitsch sei böse, unwahr und von falscher Schönheit, auch wenn diese drastischen Worte heute kaum mehr benutzt werden. Meinen ersten beiden Behauptungen möchte ich nun zwei andere entgegensetzen:
Noch immer kann man einen männlichen Menschen durchaus damit verletzen, wenn man ihm mitteilt, er habe das Denkvermögen und die ästhetischen Fähigkeiten einer Frau.
Und: Noch immer kann man einen weiblichen Menschen durchaus damit beglücken, wenn man ihm mitteilt, er verfüge über das außergewöhnliche Denkvermögen und die ästhetischen Kompetenzen eines Mannes.
Im folgenden möchte ich diese vier Behauptungen modifizieren und miteinander in Beziehung setzen, um zu prüfen, ob ein sich aufdrängender Analogieschluß seine Berechtigung hat.
Wende ich mich zunächst noch einmal dem Kitsch zu.
Seit seiner begrifflichen Existenz - also etwa seit 1875 (das Phänomen selbst ist zumindest partiell seit dem Mittelalter bekannt) - gibt es eine Vielzahl von Publikationen, in denen der Kitsch über verschiedenste Merkmale und Urteile ausgewiesen wird (auf diese Diskussion möchte ich hier nicht weiter eingehen - ich habe dies an anderer Stelle getan; vgl. Lit.). Was ich hier aber noch einmal aufgreifen möchte, ist die Diskussion der ästhetischen und ethischen Urteile im Zusammenhang mit dem Kitsch.
Eine kurze Zusammenstellung von Zitaten aus der Literatur von 1920 bis 1960 möge in Erinnerung rufen, was wohl jeder irgendwann einmal im Rahmen seiner Geschmackserziehung über den Kitsch erfahren hat. Ich zitiere:
"Kitsch ist: die Phrase in der Kunst. Und nicht einmal die große Phrase, sondern
die kleinliche, widrige und schleimige, die Lüge" (Karpfen 1925, S. 9).
Ein zweites Zitat, das wohl bekannteste:
"Wer Kitsch erzeugt, ist nicht einer, der minderwertig Kunst erzeugt sondern er ist ein ethisch Verworfener, er ist ein Verbrecher, der das radikal Böse will" (Broch 1955, in: Dorfles, S. 76).
Diese beiden Zitate sollen die Art der Sprache und des Denkens über Kitsch aufzeigen. Eine kurze Zitatcollage - eine Art Wörterbuch des Kitsches, zusammengestellt aus Büchem, die allesamt von Männern verfaßt sind - möge die Berührungsängste und die Argumentationsrichtung noch deutlicher darlegen:
"Kitsch ist das Falsche, die Verrücktheit und das Böse im System der Kunst. Er ist eine Nichtigkeit, eine Täuschung und eine Krankheit. Er ist neurotisch, dekadent und entartet. Er ist das immer Unpassende, Deplazierte; ist voll billiger Effekte, ausgestattet mit einem verführerischen Sog. Als unsauberer Genuß stellt er eine Gefahr dar, löst im reinen Menschen Scham aus, ist lasterhaft und vulgär, sowie ein Zeugnis niederer Gesinnung. Seine Äußerungsformen sind voller Beliebigkeit, belangloser Muster, sind bloßer Schein, enthalten Überflüssiges, manchmal auch Maßlosigkeit und peinliche Kontraste" (vgl. dazu Kämpf-Jansen in: Barta u.a., S. 324 ff.).
Um einen Analogieschluß zu versuchen, möchte ich an dieser Stelle wieder den Faden zum Geschlechterdiskurs aufgreifen. Ich zitiere zur Denkfähigkeit und zur Frage der künstlerischen Begabung der Frau auch hier kurze Textpassagen aus historischen Werken, die vermutlich weitgehend bekannt sind, denen man sich aber mit unterschiedlichsten Erkenntnisinteressen immer wieder neu zuwenden muß.
Lemiroir schreibt 1806 in "Weibliche Kunst" - einem der frühesten Texte, die sich explizit mit dieser Fragestellung befassen:
"... aus dem Weibe ... kann alles gebildet werden; dem Wachse gleich, das an der Wärme seine Form verändert, geben sie biegsam den Eindrücken der Liebe nach... . So hätte sicher auch mancher einfachen, unbemerkten Hausfrau, ihrem dichterischen Gemüthe nach, eine gute Künstlerin und hingegen ... aus mancher glänzenden Künstlerin eine stille, einfache Hausfrau gebildet werden können" (S.74).
Schopenhauer schreibt 1851 in "Über die Weiber":
"Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt. ...mit mehr Fug könnte man das weibliche Geschlecht das unästhetische nennen. Weder für Musik noch Poesie noch bildende Kunst haben sie wirklich und wahrhaftig Sinn und Empfänglichkeit; sondern bloße Äfferei zum Behuf ihrer Gefallssucht ist es, wenn sie solche affektieren und vorgeben. Das macht, sie sind keines rein objektiven Anteils an irgend etwas fähig, und der Grund hiervon ist, denke ich, folgender. Der Mann strebt in allem eine direkte Herrschaft über die Dinge an, entweder durch Verstehn oder durch Bezwingen derselben. Aber das Weib ist immer und überall auf eine bloße indirekte Herrschaft verwiesen, nämlich mittels des Mannes "(S. 676; vgl. auch Stein, S. 192).
Möbius schreibt 1900:
"Jedoch sieht man ohne Schwierigkeit, daß die große Mehrzahl der weiblichen Maler der schöpferischen Phantasie ganz entbehrt und über eine mittelmäßige Technik nicht hinauskommt: Blumen, Stilleben, Portraits. ... Der Mangel an Vermögen zu kombinieren, d.h. in der Kunst der Mangel an Phantasie, macht die weibliche Kunstübung im großen und ganzen wertlos "(In: Stein, S. 229).
In "Die Frau und die Kunst" schreibt Scheffler 1908:
"Da die Frau also original nicht sein kann, so bleibt ihr nur, sich der Männerkunst anzuschließen. Sie ist die Imitatorin par Excellence, die Anempfinderin, die die männliche Kunstform sentimentalisiert und verkleinert, die nach Goethes Wort "keiner Idee fähig ist", und das Wissen und die Erfahrung des Mannes als ein fertiges nimmt und sich damit schmückt - sie ist die geborene Dilettantin"(S. 45).
Ein Zitat aus dem Jahr 1928, einer Zeit also, in der die ersten massiven Emanzipationsbewegungen der Frauen gesellschaftlich wahrgenommen wurden, könnte vielleicht auch aus heutiger Zeit stammen. In seinem Buch "Die Frau als Künstlerin" schreibt Hildebrand:
"Die neue Stellung des Weibes und seine innere Umbildung spiegeln sich mit am auffälligsten im Bereich der Kunst ... . Die Frau beginnt zu wagen, betritt neugiervoll und tatenlustig jedes ihr bislang verwehrte Gebiet männlichen Gestaltens, versucht sich in Architektur, Wandmalerei, Bühneninszenierung, Plakat ... usw. usw.
Trotz unverhoffter Steigerung der Selbständigkeit bewahrheitet sich dennoch die alte Erfahrung auch jetzt: Die Kunst der Frau begleitet die Kunst des Mannes. Sie ist die zweite Stimme im Orchester "(S. 108).
Und ein letztes Zitat zur Frau allgemein, das hier für unzählige andere stehen soll:
"Was liegt dem Weibe an Wahrheit! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als die Wahrheit - seine große Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit" (Nietzsche, S. 160; vgl. auch Stein, S. 199).
Die Tendenz der hier direkt oder indirekt ausgesprochenen Urteile über weibliche künstlerische Fähigkeiten ist deutlich: die Frau ist aufgrund ihrer "natürlichen" Bestimmung nicht in der Lage, originär zu sein - sie hat ein von Natur aus willensschwaches, wie Wachs formbares Ich, das nur von männlicher Hand geführt zu einigermaßen akzeptablen ästhetischen Produktionen gelangt. Auf der anderen Seite aber wird die Frau durchaus als willensstarkes Wesen angesehen, nämlich dort, wo sie erotisch aktiv als Vamp, femme fatale, als Eva oder Hure die Kunst der Verführung des Mannes ausübt.
Ausgestattet an dieser Stelle meiner Überlegungen mit all den Einschätzungen im Kopf, die ein historisches Weiblichkeitsbild bestimmt haben, möchte ich nun einen Analogieschluß vornehmen. Zunächst einmal auf der Ebene der Sprache: Ich zitiere die Textcollage, die ich zum Kitsch zusammengestellt habe, noch einmal, indem ich ein einziges Wort austausche: Ich ersetze das Wort "Kitsch" durch das Wort "Frau". So heißt es dann nicht mehr: "Der Kitsch ist das Falsche, die Verrücktheit, und das Böse im System der Kunst", sondern:
"Die Frau ist das Falsche, die Verrücktheit und das Böse im männlichen System. Sie ist eine Nichtigkeit, neurotisch und dekadent. Sie ist das immer Unpassende, Deplazierte, ist ausgestattet mit einem verführerischen Sog, stellt eine sittliche Gefahr dar, ist lasterhaft und vulgär. Andrerseits sind ihre Äußerungsformen voller Beliebigkeit, belanglos und oft nur bloßer Schein. Sie enthalten Überflüssiges, sind manchmal voller Maßlosigkeit (Hysterie) und peinlicher Kontraste (Impulsivität)."
Dies ist die eine Ebene.
Der Analogieschluß kann außer auf der Sprachebene noch auf der Ebene der Denkstruktur vollzogen werden. Hinter beiden steht das gleiche System. Es ist ein schlichtes dualistisches bzw. polares System männlicher und weiblicher Eigenschaften einerseits, der Eigenschaften von Kunst und Kitsch andrerseits.
Im System der männlich - weiblichen Zuschreibungen werden so für den Mann z.B. geltend gemacht: der Logos, (das Wort also und die Fähigkeit des Denkens wie die Macht der Definition), gegenüber der Materie (also dem Sein) des Weibes, die Kultur des Mannes gegenüber der Natur des Weibes, die künstlerische Genialität gegenüber dem Dilettantismus. Die antithetische Denkfigur für Kunst und Kitsch bedeutet in diesem System für die Kunst: Innovation, Originalität, die Aura des Einmaligen, Wahrheit usw. gegenüber der Redundanz, der Banalität, der Massenhaftigkeit und des falschen Scheins von Kitsch.
Eine entscheidende Korrektur des dualistischen Systems - vor allem im Zusammenhang mit dem Geschlechterdiskurs - ist allerdings an dieser Stelle notwendig: die Denkfigur suggeriert nämlich, daß es zwei Bereiche sind, die - ähnlich wie das Symbol von Yin und Yang - ineinandergreifen und so zur Einheit gleicher Teile werden. Doch dies ist ein Trugschluß: Was wie ein zur Harmonie gekommener Zusammenschluß gleicher Teile aussieht, ist in Wahrheit ungleich. Über den entscheidenden Aspekt der Wertigkeit wird das System nämlich streng hierarchisch bzw. dichotomisch - so steht Logos über Materie, Kultur über Natur usw.. Diese Art des Denkens in dualistischen, hierarchisch geordneten Systemen besteht bis heute fort.
Ich möchte diese erste Passage mit einem Zitat von Renate Berger beschließen: "Nichts trennt die Geschlechter so wie das Diktat ihrer Ergänzung" (S. 7 1).
Weibliche kulturelle Identität und männliche Zuschreibungen
Vor dem bisher entfalteten argumentativen Hintergrund möchte ich an einzelnen Beispielen Muster der ästhetischen Sozialisation von Frauen zeigen. Sie sollen deutlich machen, in welcher Doppelläufigkeit weibliche kulturelle Identität entsteht. Einerseits wird sie über die Erwartungshaltung des Mannes bzw. seinen voyeuristischen Blick geprägt, und andrerseits erproben Mädchen und Frauen davon weitgehend unabhängig eigene Verhaltensweisen und Produktivitäten. Bei den Abbildungen beziehe ich mich bewußt fast ausschließlich auf aktuelle Postkarten - sie sind es, die meines Erachtens zur Zeit das widerspiegeln, was an kulturellen Trends und Sichtweisen in unserer Gesellschaft virulent ist.
Ästhetisches Verhalten im Sinne traditioneller Weiblichkeitsmuster:
weibliche Produktivität und leichte Muse
- Die Programmierung eines weiblichen Lebens um 1835 oder Anweisungen zu angemessenen Formen weiblichen, ästhetischen Verhaltens im Umgang mit den schönen Dingen.
- Der fotografische männliche Blick auf ein Mädchen spielt mit der erotischen Erwartungshaltung und prägt Koketterien. Als historischer Blick findet er seine Fortsetzung in den Bildern von R. Hamilton u.a. bis heute.
- Ein sechsjähriges Mädchen malt sich selbst - ohne Koketterien und erotische Versprechen.
- Anmut, Grazie und Schönheit als tragende Säulen weiblicher Existenz und ihre millionenfachen Leitbilder in der Kunst und den Massenmedien.
- Frauen wollen den ästhetischen Erwartungen entsprechen und schön sein. Der Mut, ästhetische Muster - und sei es nur probehalber - zu durchbrechen, fällt schwer. Die Künstlerin Annegret Soltau zeigt mit ihrem Häßlichkeitsbild, wie wichtig es ist, Gegenentwürfe zu formulieren.
- Das zentrale weibliche Sehnsuchtsmotiv - "die leidenschaftiche Liebe" - ist immer wieder Thema der trivialen Bilderwelten (Postkarte nach einer Abbildung aus dem Band 77 der bibliophilen Taschenbücher).
- Diese Plastik wurde, u.a. in der Ausstellung "Liebe - Dokumente aus unserer Zeit" 1980 in Darmstadt gezeigt.
- Weibliche Innenräume und männliche Außen-Welten oder die Ästhetik des Wartens: die unzähligen Bilder von wartenden Frauen an den Fenstern ihrer Lebensräume oder in romantischer Landschaft haben nur einen Sinn und ein Ziel - den Mann (die angegebene Postkarte ist die vierte aus einer Serie ähnlicher Motive).
- Ein aktives und produktives weibliches Warten und Alleinsein in all den Ambivalenzen von Bedrohung und Konstanz, Ruhe und Auflösung, Geborgenheit und Fremdsein.
- »Hochzeit - der schönste Augenblick im Leben einer Frau« - Von klein auf leben wir mit den trivialen Märchenbildern und ihrem großen Versprechen : ... bis daß der Tod euch scheidet.
- Der kritisch-realistische Blick bzw. die individuelle Interpretation einer Künstlerin: "Die Braut".
Die Bilder haben u. a. Aspekte verdeutlicht, die ich hier noch einmal in Beziehung zu meinen eingangs formulierten Überlegungen setzen möchte.
Die Nähe der Frau zum Kitsch
Die Nähe der Frau zum Kitsch ergibt sich historisch aus ihrer gesellschaftlichen Rolle. Die Frau hat offiziell noch immer ihren Platz in der Privatheit des gesellschaftlichen Lebens, während der Platz des Mannes in der beruflichen Öffentlichkeit liegt. So ist es die Frau, die zuständig ist für das Glück, die Gemütlichkeit, Geborgenheit und Harmonie des häuslichen Lebens - von der Hochzeit und Geburt des ersten Kindes an bis zum Tod des Gatten. "Schmücke dein Heim", "Liebe Mann und Kind" und "Übe deinen Körper in Anmuth und Grazie" - dies waren historisch und sind auch aktuell die Eckpunkte der Figur, in die ein weibliches Lieben eingeschrieben ist.
Längst bevor wir uns als Frauen aktiv eigene Bilder von uns entwerfen können, haben fremde Bilder uns bereits definiert. Es sind die Bilder von weiblicher Schönheit, von erfüllter bzw. sehnsuchtsvoll unerfüllter Liebe, einem glücklichen Leben als Ehefrau und Mutter sowie einem schönen Heim.
"Die weibliche Suche nach Identität ist der Geschichte vom Wettlauf zwischen Hase und Igel nachgebildet. Der Igel - das Deutungsmuster des Mannes - ist immer schon da" (Heintz, S. 110). Auch wenn wir uns noch so mühen - wir tragen diese Bilder ein Leben lang in uns, und es scheint so, als könnten wir uns nicht gegen sie wehren.
Frigga Haug hat z. B. in ihrer Untersuchung über die Tagträume von Frauen mit Erschrecken festgestellt, daß selbst politisch engagierte und beruflich erfolgreiche Frauen sich ohne Ausnahme in ihren Tagträumen auf die gleichen bekannten Muster reduzieren. Auch für sie sind Schönheit, erotische Macht über Männer, das Warten auf den Märchenprinzen und die Hochzeit in Weiß die Versatzstücke ihrer Sehnsuchtswelten (vgl. Haug 1985). Aber die Tatsache, daß wir Frauen der Tendenz nach eine große Nähe und Affinität zum Kitsch haben, ist doch eigentlich nur folgerichtig. Es kann ja überhaupt nicht verwunderlich sein, wenn Frauen aus ihrer bedrückenden Realität fliehen und sich in geträumten und ästhetisch vergegenständlichten Fluchtwelten aufhalten.
»Der Vorwurf, Kitsch modele die Welt lügnerisch und gleißnerisch nach seinem falschen Bilde, mißachtet jenes legitime Bedürfnis nach einer Realität, nicht wie sie ist, sondern wie sie sein sollte und die der Kitsch aus alten Versatzstücken und überlieferten Requisiten zusammensetzt. Nicht Schlechtigkeit spricht ja aus der kitschigen Verschönerung der Welt, sondern das Unvermögen, aus der Realität selber Schönheit zu begründen« (Ueding, S. 65).
Was eigentlich eher verwundern müßte, ist der Zynismus, mit dem Männer diese reduzierten kulturellen Räume, die den Frauen zugestanden wurden, auch noch als Kitsch diffamieren, denunzieren und bekämpfen oder andrerseits als Nichtigkeit, Nettigkeit o. ä. schlicht übersehen bzw. zumindest öffentlich ignorieren (Privat kann man/n es sich schon mal leisten, dies ganz schön zu finden, und eine einzelne besondere Frau läßt sich auch schon mal öffentlich hervorheben, denn eine einzelne ist - und war es auch historisch nie - bedrohlich). Doch auch dies ist, wie die bisherigen Ausführungen zeigen konnten, genau genommen wiederum nur folgerichtig.
Die Kitsch-Kunst-Diskussion und der Geschlechterdiskurs 1990
Stagnation oder produktive Veränderungen?
Die Kitsch-Kunst-Diskussion wie auch der Geschlechterdiskurs sind heute auf einer Ebene angelangt, auf der neue, produktive Denk- und Verhaltensräume längst ausgelotet sind. Mit einem offenen Kunstbegriff, wie ihn z. B. Werner Hofmann oder auch Josef Beuys immer wieder reklamiert haben, ließe sich das dichotomische System von Kunst und Kitsch bzw. Trivialem aufbrechen. Und: mit offenen, traditionell nicht vordefinierten Begriffen von Mann und Frau, wie sie nicht nur in der feministischen Diskussion der letzten zwanzig Jahre immer wieder vorgetragen wurden, hätten sich die festgefügten Verständnisse der Geschlechterrollen längst verändern lassen. Theoretisch-analytisch gibt es hier kaum mehr etwas zu entwerfen, was nicht bereits von Männern wie von Frauen gedacht ist. Die Hoffnung, daß sich andere Verständnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen ausbilden, hat sich allerdings für die Kunst-Kitsch-Diskussion wie auch für den Geschlechterdiskurs in den letzten Jahren weitgehend als Utopie herausgestellt. Die Euphorie der ausgehenden 70er Jahre ist vorbei. Geblieben ist die Erkenntnis, daß veränderte Einstellungen und andere Verhaltensmöglichkeiten eine Umwertung traditioneller Werte voraussetzt. Dies ist ein langer Prozeß. Die Zielvorstellungen rücken nur dann näher, wenn es immer mehr Menschen und insbesondere immer mehr Frauen gibt, die so etwas wie ein historisches Gedächtnis verkörpern, die ungeheuer wach die gesellschaftlichen und kulturellen Prozesse verfolgen, sich mühsam erlangtes Terrain nicht gleich wieder aus Unachtsamkeit oder falscher Sicherheit entziehen lassen, wie es sich gerade heute in vielen Bereichen zeigt. Nur von diesen Frauen gibt es viel zu wenige. Manchmal habe ich sogar den Eindruck, daß Männer sich der notwendigen Diskussion eher stellen als Frauen. Frauen verschließen sich häufig den feministischen Erkenntnissen und Forderungen sehr viel vehementer als Männer und möchten in den traditionellen Mustern verharren.
Vom möglichen Widerspruch individueller Erfahrungen und allgemeiner Theorien
Die allgemeinen Maximen, die analytisch-abstrakten Setzungen und theoretischen Generalisierungen müssen immer wieder in Beziehung gesetzt werden zu den tatsächlichen Erfahrungen einzelner Menschen. Die individuellen Erfahrungen sind nämlich sowohl in der Kitsch-Kunst-Kontroverse als auch im Geschlechterdiskurs in vielem völlig konträr zu dem, was sich auf der Ebene der Verallgemeinerung darstellt. Auf der persönlichen Ebene ist nämlich in der Regel das, was auf der allgemeinen als Kitsch deklariert wird, keineswegs Kitsch. Dort sind es Erinnerungsstücke, Geschenke, die im Leben der Menschen wichtige Funktionen erfüllen und besondere Bedeutungen haben (vgl. Selle/Boehe in ihrem Buch "Leben mit den schönen Dingen"). Das Besondere daran ist, wie eigene Untersuchungen gezeigt haben, daß allerdings kaum jemand diese Dinge mit dem Wort "Kitsch" bezeichnet. Dem eigenen Verständnis zufolge ist Kitsch nämlich immer das, was der andere hat. Auch im Geschlechterverhältnis leben viele Frauen und Männer längst nicht mehr das, was in allgemeinen Geschlechterrollen vordefiniert ist.
Worauf wir uns zukünftig sicherlich generell einstellen müssen, ist, da verschiedene Systeme - fertig vordefinierte und experimentell-offene, im ästhetischen Bereich wie im Bereich der Geschlechterverhältnisse - in ihren verschiedenen Stadien nebeneinanderher existieren werden. Widersprüche und Ambivalenzen werden sich also nicht auflösen lassen, aber vielleicht stabilisiert sich eines Tages die Fähigkeit, Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten und sie an ihren produktiven Nahtstellen zu nutzen.
Nachtrag
Ich möchte abschließend noch ein authentisches Ereignis zu dem hier nur skizzenhaft angesprochenen Thema "Frau und Kunst" anmerken. Eine junge Künstlerin beteiligt sich 1989 an einem europäischen Grafik-Wettbewerb, der in Frankreich ausgeschrieben wurde. Sie erhält von der Kommission einen Preis zugesprochen. Überglücklich fährt sie nach Frankreich, um ihn im Rahmen einer Feierstunde abzuholen. Sie meldet sich, wie vereinbart, vorher bei den Mitgliedern der Kommission, die in einem verabredeten Raum auf sie warten. Sie tritt ein, stellt sich vor und sieht die Gesichter der versammelten Männer erstarren. Sie spürt, daß etwas nicht in Ordnung ist und hört jemanden leise sagen: "Das ist ja eine Frau!" Sie versteht plötzlich, daß ihr etwas ungewöhnlicher Vorname als männlich gelesen wurde und sie deshalb in den Genuß des Preises gelangt ist. Doch in großer Würde und Selbstverständlichkeit nimmt sie den Preis entgegen - so, als gäbe es dieses Mißverständnis nicht. Die meisten jungen Künstlerinnen wären über das Erschrecken, daß sie als Gattungswesen "Frau" nicht gemeint sind, in Panik geraten. Diese Künstlerin konnte souverän sein, weil sie im Rahmen ihrer Akademieausbildung in Kassel in einem zweijährigen Projekt mitgearbeitet hat, in dem weibliche Studierende mit all dem Wissen und den Verhaltensmöglichkeiten ausgestattet wurden, die eine Künstlerin heute braucht, um sich als Frau in einer von Männern geprägten und von Männern dominierten Kultur durchzusetzen.