Ah, war das ein Tag, gestern!
Else steht mit einer Gruppe von Freunden auf einer Brücke des Landwehrkanals, wo sie angehalten haben in dieser lockenden Vorfrühlingssonne, deren Reflexen sie jetzt im Wasser nachschauen; blinkender Fluß unter ihnen, lautlose Wellen, da, noch dort hinten vor der Biegung funkelt es Grüße zurück, auf Nimmerwiedersehen. Else, weit vornübergebeugt, sucht ihr Spiegelbild unter sich. Mit dem einen Arm angelt sie nach hinten, ihre Hand greift den Mantelärmel des ihr Nächststehenden, zieht an ihm, bis sein Besitzer neben ihr übers Geländer gebeugt steht, dann weist sie mit dem Zeigefinger auf ihre beiden im Wasser sich zueinander wellenden Gesichter - schnell, schau, hier im Fluß schwimmen wir ganz ineinander - und bleiben trotzdem rein dabei. Ist das nicht wie im Märchen? - Sie wendet sich ihm zu, legt eine weiche Hand an seine Wange, immer wenn sie ihn sieht, hat sie das Gefühl, ihn streicheln zu müssen, nicht nur mit Blicken, dieses zarte Gesicht, diese strahlenden Augen, dann schwebt sie, und alles rundherum verwandelt sich in zartgoldene Träume. Er greift nach der Hand, die ihn streichelt, zieht sie an seinen Mund, küßt ihre Finger. - So schön hast du lange nicht ausgesehen, du strahlst ja richtig vor Glück. Sie tritt einen Schritt zurück, betrachtet ihn nachdenklich: nein, sagt sie dann und schüttelt den Kopf, Glück ist das, glaube ich, nicht. Bloß Erleichterung. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß das alles so gut abgelaufen ist. Sogar Herwarth hat nichts daran auszusetzen. Sie greift nach seiner Hand, zieht ihn mit sich: du, die haben uns einfach hier vergessen, haben sich heimlich aus dem Staub gemacht, und wir haben das gar nicht gemerkt! - Sie lachen beide und machen große Schritte, um die Freunde, die, ins Gespräch vertieft, weitergegangen sind, wieder einzuholen. - Als die ersten Exemplare fertig waren, erzählt sie, wir waren in der Druckerei, Herwarth und Kurtchen und Blümner, und Friedländer kam dann auch noch, und dann mußten die Blätter noch gefaltet werden, und wir haben alle mit ganz zittrigen Händen dagestanden und gelesen, als könnten wir's nicht bereits Zeile für Zeile auswendig, was da steht, weißt du, es ist ja schon ein seltsam neues Gefühl, es dann als Zeitung noch einmal in der Hand zu haben... Sie muß Luft holen, so atemlos ist sie geworden beim Erzählen und Gehen. Jetzt haben sie die anderen auch fast wieder eingeholt, Herwarths schmächtige Gestalt in der Mitte zwischen Blümner und Baum auf der einen Seite und Loos und Kraus, die extra zur Feier des Sturm aus Wien gekommen sind [1], auf der anderen, und ein paar Schritte hinter ihnen Paul Zech mit seiner schwarzlockigen Eroberung, so, wie sie sich heute morgen im Café getroffen haben, sind sie aufgebrochen, eine Stunde nur, hat Else gebettelt und den sich sträubenden Herwarth von seinem Stuhl hochgezogen, er geht nicht gern spazieren, alle Welt weiß das, aber Else hat die Freunde auf ihrer Seite gehabt dieses Mal, bei diesem Wetter, das sei ja gerade als wolle der liebe Gott seine Freude ausdrücken über die erste Sturm-Nummer. Und er hat sich gefügt, eine Stunde und keine Minute länger, hat er gesagt, und jetzt marschiert er fast im Stechschritt vorneweg, kann es einfach nicht erwarten, wieder an seinen Schreibtisch zu kommen. - Er ist auch erleichtert, sagt Else aus ihren Gedanken heraus, Herwarth meine ich, das siehst du ja schon daran, daß er hier mit uns spazierengeht, obwohl er - sie lacht glucksend und drückt die Hand des Freundes - bestimmt überhaupt nichts wahrnimmt von diesem blauen Himmel und der Sonne. Gestern, als einer der Drucker sagte, jetzt hoffe er bloß noch, daß dieser Sturm sich möglichst schnell über ganz Berlin ausbreite, hat Herwarth gesagt: die Güte der Leistung [2] ist ihre Gestaltung und nicht ihre Verwertung. Das ist - weißt du, er war wirklich zufrieden. Aber ich glaube, für die Verbreitung müssen wir anderen sorgen. Herwarth sitzt ja in Gedanken schon über den nächsten Nummern. Du, sagt sie und bleibt stehen, hast du Zeit heute abend? Peter Baum und ich wollten nämlich, wir haben uns gedacht, wir tragen die Zeitungen aus. In alle Cafés und Restaurants, und wenn wir zu dritt wären, dann kämen wir schneller voran. - Was hältst du denn davon, wenn wir uns jemanden suchen mit einem Wagen, der uns durch die Stadt fährt, und dann stecken wir sie in die Briefkästen? In bestimmten Straßen wenigstens? - Sie sind beide begeistert von diesem Vorschlag, lachen sich an wie Kobolde, und Else, mit einem schnellen Blick nach vorn, zu den Freunden, nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände: du bist ein Freund, ein Ritter, ein Gralsprinz, aber das gehört nicht hierher.
Die Aktion wird ein voller Erfolg. In den Cafés und Künstlertreffs reißt man ihnen die Zeitung aus den Händen, überall wohin sie kommen, sehen sie Köpfe hinter erhobenen Sturm-Blättern zusammengesteckt, das raschelt und tuschelt und debattiert, und wenn sie auftauchen mit neuen Zeitungsstapeln unterm Arm, werden sie freudig empfangen. Jeder möchte selbst eines dieser ersten Exemplare besitzen. Jetzt zeigt es sich, daß Herwarth Waldens Name doch für viel mehr Menschen schon ein Begriff ist, als sie sich das zu erhoffen wagten. Seine Experimentierfreudigkeit und sein außergewöhnliches Gespür für das Echte, das ihn hocherhobenen Hauptes schon manchen Skandal provozieren ließ durch die Unbedingtheit, mit der er sich für bislang unbekannte Künstler eingesetzt hat, haben sich herumgesprochen und lassen jetzt, mit dem eigenen Organ, neue Akzente erwarten. Daß Karl Kraus' Name auf der ersten Seite prangt, ist ebensowenig verwunderlich, wie daß der von Walden protegierte René Schickele zu dieser ersten Nummer einen Artikel über Berlin geliefert hat. Man liest, wiegt den Kopf und ist angetan. Elses Portrait von Peter Baum, das ihr in liebevoll-spitzbübischer Heiterkeit zu einer Huldigung ganz besonderer Art gelungen ist, läßt doppelt aufhorchen - ein Dichtwerk in Prosa ist es, das zeigt, daß die Zauberkünste, die ihrer Sprache Leuchtkraft geben, nicht angewiesen sind auf Märchenlandphantasien, um das Beschriebene herauszuheben aus dem unübersichtlichen Großstadtgeschehen, ja, man sieht es schon mit den ersten Zeilen, auch ihre Alltagsprosa kennt keinen Alltag, und ihr eigener träumerisch-weitsichtiger Blick eröffnet dem Leser, der ihr zu folgen bereit ist, eine Unzahl neuer Gesichtsfelder. Und dann, sie hat ja geschrieben am Schluß ihres Essays: Die Wochenschrift Sturm wird Peter Baums neuestes Werk bringen, das spielt zur Rokokozeit und ist in geblümter Seidensprache geschrieben... das ist keine bloße Vorankündigung, wie man sie zu überlesen gewohnt ist, das ist ein Versprechen. Das läßt einen warten, auf mehr von Else, auf mehr von Peter Baum. - Ich finde ja sowieso, sagt Else und schaut herausfordernd in dem kleinen Lokal umher, in das sie mit Peter Baum und ihrem Gralsritter Tristan eingekehrt ist, nachdem sie zuletzt noch an die hundert Zeitungen in - ausgewählte! wie sie Herwarth gegenüber betont hat Briefkästen gesteckt haben, also, ich finde ja sowieso, daß dieses Portrait des Dichters Peter Baum mit Abstand der einfühlsamste Text ist, der sich in der ganzen Zeitung findet. Sie hat es sehr laut gesagt, blinzelt den Freunden zu und fährt fort: von Männern wie Kurtz, Loos, Friedländer, Karl Kraus oder René Schickele und wer da sonst noch alles versammelt ist in diesem Sturm, erwartet man ja eh nur das Brillanteste, aber dieses Dichterportrait ist ein wahres Bilderbuch, findet ihr nicht auch? Wenn ich seinen Roman und die Novellen nicht längst kennen würde, ich würde sofort in die nächste Buchhandlung laufen und sie mir holen... ein wetternder Weihnachtsbaum, der seinen Schmuck abgeschüttelt hat, da möchte man doch am liebsten die Adresse von diesem Peter Baum wissen und nachsehen gehen, ob er nicht noch ein paar Geschenke in seinen Schatztruhen verbirgt! - Sie faltet die Zeitung, die sie aufgeschlagen hatte, zusammen und legt sie neben sich auf den Tisch. Dann nimmt sie ihre Tasche und fängt an, nach ihrem Portemonnaie zu suchen. - Ich bin so hungrig, klagt sie, wir sollten etwas essen. Den ganzen Abend auf den Beinen, und so viel Geld haben wir eingenommen... Wollen wir? - Leider sind die Schatztruhen des Dichters Peter Baum ziemlich leer. - Aber ich lade euch ein, selbstverständlich, alle beide. Herwarth wird nichts dagegen haben, und ich will ihm das Geld natürlich zurückgeben, sobald ich es eingespielt habe mit dem Fakir. Das ist kein Problem, wirklich nicht. Sie rutscht mit ihrem Stuhl näher an den Tisch heran, schiebt unternehmungslustig die Ärmel ihrer dunklen Bluse zurück, legt die Unterarme auf den Tisch. Mit um Einverständnis bittendem Blick wendet sie sich dann dem neben ihr sitzenden jungen Mann zu: Mein Ritter? Der nickt, und sein schmales Gesicht erscheint ihr ganz unirdisch strahlend. So hell wie du, schießt es ihr durch den Kopf, blühen die Sträucher im Himmel. - Sie kann ihre Augen gar nicht lösen von ihm. Was er denkt, jetzt, da er so ruhig an diesem Tisch sitzt neben ihr, kann sie nicht erraten. Vorher, auf den Straßen, mit dem Stapel Zeitungen unterm Arm, ist er herumgesprungen wie ein junger Hund, ein herrliches Spiel scheint es ihm gewesen zu sein, in diesem Hauseingang zu verschwinden und in jenem, Sturmbotschaften in honorablen Briefkästen zu hinterlassen. Jetzt ist er wieder der, den sie mit Tristan vergleicht [3] und mit einem Gralsprinzen, einer, der Unschuld und Arglosigkeit sich bewahrt in den Kämpfen, die ihm abgefordert werden, in die er gerät, weil er auf der Suche ist, sie hat ihn durchschaut nach den ersten Zeilen, die sie von ihm gelesen hat, er hat Saiten in ihr berührt, die nun immer von neuem klingen, wenn sie ihn nur sieht, Worte muß sie dafür nicht finden. Ein Ausspruch Herwarths fällt ihr dazu ein: Die gefühlsmäßige Aufnahme setzt [4] die Ausschaltung der Erfahrung durch den Verstand voraus. Das hat er ihr geantwortet, als sie ihm von Tristan berichtete und davon, daß sie eigentlich gar keinen Anhaltspunkt dafür hat, daß sie ihn so sieht. Ganz kurz über die Schulter hat er das gesagt, und dann hinzugefügt: du kennst das doch von deinen Gedichten, von deiner Kunst überhaupt, warum soll es sich denn im Leben anders verhalten? Diese kurzen Momente des gegenseitigen Verstehens sind es, das weiß sie inzwischen, die sie an diese Liebe glauben lassen, bei allem, was sich an täglichen Mißverständnissen zwischen ihnen abspielt. Jetzt sitzt sie da, gefangen in den unergründlichen Augen des Gralsprinzen, und muß daran denken, wie sie sofort ein Gedicht für ihn geschrieben hat, kaum daß sie ihn einige Stunden lang von ferne im Café beobachtet hatte, das war lange, bevor sie auf ihn zuging - und wie sie es Herwarth gezeigt hat und ihn aufgefordert hat zu raten, für wen hier im Raum es geschrieben worden sei. Wie er sich umgesehen hat unter all den Leuten, die sich an diesem Nachmittag im Café drängten, viele unbekannte Gesichter waren dabeigewesen, und wie er doch ohne Zögern mit seiner Zeitung genau auf den Richtigen gezeigt und sich zu ihr gebeugt hat: soll ich dich mit ihm bekannt machen, er ist selbst Dichter? - Und sie hat erschrocken den Kopf geschüttelt und gar nicht gewußt, warum diese Scheu so plötzlich über sie gefallen war. Wie ein Kind hat sie sich gefühlt, das man über verbotenen Leckereien ertappt, und sie hat das Blatt Papier mit dem Gedicht umgedreht und angefangen, auf seine Rückseite ein Gewirr von Köpfen zu zeichnen, alle durcheinander, wie sie sie um sich herum beobachten konnte. Tristans Kopf war nicht dabei gewesen. - Das alles läuft wie ein Film durch ihren Kopf, bis sie bemerkt, daß der Ober auf einen Wink Peter Baums inzwischen eine Speisekarte vor sie hingelegt hat, in die hinein sie sich jetzt vertieft mit überängstlicher Aufmerksamkeit. Da gibt es Hirschragout mit Preiselbeeren, Kasseler und Sauerkraut, Rinderfilet mit Erbsen, Schmorbraten in Zwiebelsauce, Wachteln, Rebhühner, Täubchen und sogar Weinbergschnecken, jungen Spargel, Blattspinat, aber auch Kohlsuppe oder Erbswurst, je länger sie liest, desto weniger weiß sie, was sie haben möchte. Schließlich, nachdem sie aufgepaßt hat, daß die Freunde eine gute Wahl getroffen haben, bestellt sie sich ein Omelette mit Zucker und Mirabellenkompott und fühlt sich reich wie eine Königin. Solche Auswahl! Man wird ja schon vom Lesen der Speisekarte satt! Sie ißt langsam, nascht mit der Gabel einen Happen Blattspinat, ein wenig Zwiebelsauce von den Tellern der Freunde, hmmm, köstliches Menü. So soll es sein, ab und zu. Tagelang hält sie es sonst aus ohne warmes Essen, eine Scheibe Brot oder eine Handvoll Nüsse zwischendurch, mehr braucht sie nicht. Viel Kaffee, ein paar Gläser Wein, auch einmal ein Cognac, je nachdem, mit wem sie trinkt, nein, diese Kosten, die anfallen für leibliche Bedürfnisse, sind es nicht, die ihr Kopfzerbrechen machen. Geraucht wird sowieso nur in Gesellschaft, und das Geld für ein Opiumpfeifchen ab und zu oder für die Letzter-Retter-in-Not-Spritze weiß sie ebenso heimlich zu beschaffen wie es ausgegeben werden muß. Das ist kein Laster, dessentwegen sie schlechtes Gewissen hat. Wenn man bedenkt, was andere unnötigerweise in Kochtöpfe stecken... Sie freut sich, wie es den Freunden schmeckt. Viel öfter möchte sie sie einladen können! Es würde ihr nichts ausmachen, sie alle freizuhalten, alle, die sie kennt und die sich ebenso schlecht verkaufen wie sie selbst, sie würde nicht darauf sehen, daß ihr der größere Teil bliebe. Sie ist eine Spielernatur, und der einzige Grund, warum sie versucht, Überblick über ihre Schulden zu behalten, ist ihr Junge. Wenigstens der soll nicht darunter zu leiden haben, daß seine Mutter den Schritt aus gesicherten bürgerlichen Verhältnissen fort und hinein in diese Existenz der Bohemiens getan hat. Er leidet auch nicht, das weiß sie. Viel zu verständig ist er, mit seinen zehn Jahren, als daß er nicht erahnte, daß dieses Leben, wie sie es ihm nun bietet, besser oder wenigstens zufriedenstellender - ist als das wohlbehütete Aufwachsen im bürgerlichen Familienkreis. Mit Köchin und Kindermädchen und einer Mutter, die entweder matronenhaft bedächtig den geregelten Ablauf jedes einzelnen Tages vom halbdunklen Salon aus überwachte, oder - und das wäre wohl mehr ihr Schicksal gewesen - hinter zugezogenen Vorhängen an ihrer Migräne zu leiden hätte, unfähig, sich um Mann und Haushalt und Kindererziehung zu kümmern. Else stochert in ihrem Omelette. Ganz so eindeutig, das weiß sie, sind diese Alternativen nicht. Hat sie nicht schon manche Nacht voller unruhiger Träume verbracht, in denen ihr die eigene Kindheit, die lieben Gesichter der Eltern, erschienen sind, dieses Traumparadies von Nestwärme und Geborgenheit, das sie eigentlich hätte vorbereiten müssen auf ein ähnliches Leben? Sie hat schon schlechtes Gewissen, daß sie selbst es dazu nicht gebracht hat. Nicht sich selbst gegenüber, aber wegen Paul. Hat man ihr nicht alles mitgegeben, was ein kleines Mädchen nur bekommen kann, um selbst einmal fähig zu sein, Glück und Zufriedenheit, Harmonie und Lebensfreude, gut abgesichert durch ein respektabel zu führendes Haus, comme il faut, an die ihr liebsten Menschen weiterzuleiten? Sie hatte doch gar keinen Grund zu diesem Ausbruch! Die Eltern, denkt sie manchesmal, wären sehr unglücklich, wenn sie vom selbstverschuldeten Schicksal ihrer jüngsten Tochter wüßten. Sie wären nicht böse, nein, dazu haben sie sie ja von Anfang an viel zu sehr als eigene Persönlichkeit behandelt, ihr viel zu wenig Formen aufgezwängt. - Else muß nur an die ungeliebten Schulbesuche denken, die die Eltern ihr schließlich, in Berücksichtigung (oder in Vorschützung?) ihrer Krankheiten erlassen haben - nein, nein, die Eltern wären traurig, sie so zu sehen, wie sie jetzt lebt in Berlin. Manchmal, wenn sie nach Hause geht, nachts, drückt sie sich ganz eng an den Hausmauern entlang, im Schatten der Wände, damit sie sie nicht sehen, die beiden, Vater und Mutter, von ihren himmlischen Plätzen aus, und sich sorgen. Sorgen würden sie sich, wie es weitergeht, mit ihr, mit Paul, und der Vater würde den Kopf wiegen, daß sie nicht bei ihrem Kind ist täglich. Und sie kann ihn doch nicht bei sich behalten, wenn er immer schon nach zwei Wochen spätestens wieder anfängt zu husten und ganz blaß wird, ganz durchsichtig. Alles, was sie tun kann für ihn, ist doch wirklich, dafür zu sorgen, daß er nicht infiziert wird von dieser Stadt, daß er nichts schlucken muß von der Hektik ihres Lebens und dem Rauch, den die Schornsteine verströmen, daß er aufwächst in einer Atmosphäre, die ihn Kind sein läßt und die ihm erlaubt, sich zu entwickeln, körperlich und geistig. Daß sie selbst nicht auf dem Land leben kann - das würden sie verstehen, alle beide, Vater und Mutter. Und daß sie mit Lasker ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet hätte, daß sie zu etwas geworden wäre, was weder die herzliebe Mama noch der bewunderte, gute Papa für richtig und gut hätten befinden können, weiß sie, hätten sie ihr nie bestritten. Und daß alles so gekommen ist wie es gekommen ist, da hat der liebe Gott, von dem ihr der Papa so viele Geschichten erzählt hat, sicher seine Hand mit im Spiel gehabt. Und die Mama, wenn sie Herwarth gesehen hätte, sie hätte ihn sicher ins Herz geschlossen, ohne daß Else auch nur mit einer zaghaften Bitte darum vor ihr hätte auftauchen müssen.
Else legt die Gabel zurück auf den Teller, schiebt ihn weg von sich. Es ist ihr gar nicht aufgefallen, daß sich da ein lebhaftes Gespräch entsponnen hat zwischen Peter Baum und dem Gralsritter, daß die beiden längst fertig sind mit ihrem Essen und nun über ihren leeren Tellern mit Messer und Gabel diskutieren, witzig sehen sie aus, als müßten sie sich mit Macht zurückhalten, nicht aufeinander einzustechen mit ihren Waffen; über Sprache sprechen sie, über Dichtkunst, wie sollte es anders sein, und darüber, daß sich das Publikum viel leichter mit einem Prosatext einfangen läßt als mit Poesie, und daß es beim Prosaschreiben nicht darum gehen kann, möglichst hohe Verkaufszahlen im Kopf zu haben, sondern eben die Sprache, die dichterische Sprache, was von zu vielen Dichtern vergessen würde, ach, sagt Else, hört doch auf, ich weiß gar nicht, warum ausgerechnet ihr beide euch darüber streitet, ihr seid doch beides Dichter, echte Dichter. Und zu viel verkauft von seinen Texten hat bisher auch noch keiner von euch beiden. Sie sehen sich an, alle drei, und müssen ganz ungeheuerlich anfangen zu lachen, weil Else nun auch rioch ihre Gabel ergriffen hat und genauso wild wie die beiden vorher damit in der Luft herumfuchtelt, und wie sie so sitzen und sich gar nicht mehr einkriegen können, weil immer, wenn zwei aufgehört haben zu lachen, der dritte wieder losprustet und die beiden anderen mitreißt von neuem, da sind sie schon wieder fort, die traurigen Gedanken, die ihr durch den Kopf geschwebt sind vorher. So ist es eben im Leben - tatsächlich eigentlich wenig, vor dem man sich ängstigen muß. Aus dem Portemonnaie, in dem sie die Einnahmen aus dem Verkauf der Zeitung mit sich trägt, bezahlt Else die Rechnung, und dann läßt sie sich von den Freunden nach Hause bringen, sie hat gar keine Lust mehr auf einen Besuch im Stamm-Café, obwohl sie von dort sicher die ersten Sturm-Erfolgsmeldungen mitnehmen könnte - sie will jetzt nach Hause, zu Herwarth, und ist erstaunt und ratlos, als sie ihn nicht, wie erwartet, an seinem Schreibtisch vorfindet, über Texte gebeugt, in Arbeit versunken
Nein, die Wohnung ist dunkel und leer und kalt. Und nachdem sie den Rest des Abendertrags auf Herwarths Schreibtisch geschüttet hat, hat Else nun doch keine Lust zu bleiben. Sie zieht den Mantel gar nicht erst aus, sondern läuft gleich wieder nach draußen, in die Nacht hinein, es ist ja nicht weit zum Café. Sie wird ihn schon finden. Sie findet alle möglichen Leute, aber nicht Herwarth, nicht Kraus oder Loos. Als sie sich gegen Morgen endlich verabschiedet - die Ober haben schon ganz kleine Augen und wedeln mit ihren Servietten zum wiederholten Mal über die leeren Tische, aber sie sind es gewöhnt von den Künstlern, daß sie bleiben bis andernorts die Fabrikarbeiter schon wieder zur Morgenschicht unterwegs sind - als sie sich leise an der leeren Portiersloge vorbei ins Haus zurückschleicht, um keinen Lärm zu machen im Treppenhaus, als ihr dann vor der Wohnungstür der Schlüsselbund aus der Hand gleitet und rasselnd und klirrend zu Boden fällt und Else sich seufzend nach ihm bückt, als sie die Wohnungstür endlich geöffnet und wieder hinter sich zugezogen hat, da weiß sie es schon, ohne nachsehen zu müssen: er ist nicht da. Die Türen zum Flur sind offen, wie sie waren, als sie fortgegangen ist, und durch die unverhüllten Fenster blinzelt zaghaft die Dämmerung herein, so zaghaft, als wäre sie selbst nicht ganz sicher, ob es nicht noch ein wenig zu früh ist.
Else, hellwach, bückt sich zum Ofen und stochert in der kalten Asche. Sie wird sich ein Feuer anzünden, sich dick vermummt in die Sofaecke zurückziehen und zusehen, wie es von draußen her allmählich Tag wird im Zimmer. Sie liebt diese Morgenstunden und das Gefühl, daß es nicht darauf ankommt, wann man in Schlaf fällt, wann man erwacht. Nie fühlt sie sich dem Universum verbundener als wenn sie das Gefühl hat, ihrem eigenen Rhythmus folgen zu können, jeder von außen aufgedrängten Strukturierung entglitten zu sein. Mit Naturerlebnis hat das wenig zu tun, sie muß nicht durch morgentaufrische Wiesen streifen, um die Schöpfung Gottes in sich widergespiegelt zu fühlen, schon der schmale Streifen Himmel, den sie vom Fenster aus sehen kann, reicht aus, um ihr das unendliche Sternenheer vor Augen zu führen, wie es jetzt langsam erblaßt vor den nachdrängenden Wolken der Dämmerung. Und der Wechsel der Jahreszeiten wird ihr an den Ästen und Zweigen des Baums vor ihrem Fenster genauso deutlich, als würde sie ihn von einem Aussichtspunkt in hügeliger, waldreicher Landschaft aus beobachten. Sie leidet mit ihrem Baum, im Winter, wenn sein abgetragenes, buntscheckiges Kleid in der Rumpelkammer [5] unterm Schnee zu vermodern beginnt und er sich nicht zu schützen weiß vor Sturm und Kälte, und sie freut sich mit ihm, wenn die Natur ihm dann im Frühling aufs neue eine noch tausendmal reichere Ausstattung zukommen läßt als im Vorjahr, aber sie hat nie den Wunsch verspürt, die Stadt zu verlassen. Es ist, als hätte sie in sich einen Baum, einen Pfad gefunden, dessen Sprache sie versteht und selber zu sprechen weiß, und nun kommt es ihr nicht mehr darauf an, dem Häusermeer, dieser kreisenden Weltfabrik Berlin zu entfliehen. In ihr selbst liegt das Material, das sie braucht. Nicht, daß die Liebe zu Berlin, zu allen großen Städten, ihre Liebe zu Wiesen und Wäldern ausschließen würde, viel zu gern sammelt sie auf ihren Spazierwegen alle die blühenden Spielsachen, die die Natur da verstreut, Eicheln, Kastanien, Beeren, Gräser, Muscheln, aber zum Dichten und Zeichnen braucht sie vor allen Dingen sich selbst; sie braucht Freundschaften, sie braucht Liebe, dann kann sie sich auf die Reise begeben, und ihre Worte fangen an zu blühen. Und für diese Reise wiederum reicht ihr ein ruhiges Eckchen, ein ungestörter Platz im Café, eine Dämmerstunde auf dem Teppich in ihrem Zimmer. Als sie sich vom Feuermachen wieder aufrichtet und Mantel und Mütze, die sie noch gar nicht abgelegt hat, aufs Bett wirft und eben nach einem langen türkischen Schal greifen will, der sich im Armsessel vor ihrem Schreibtisch zusammengerollt hat, fällt ihr Blick auf ein Blatt Papier, das zu Boden gefallen ist. Sie hebt es auf und betrachtet die fremde Handschrift, richtig, sie hat es selbst mitgebracht, gestern abend. Es ist ein Gedicht, das ihr Schickele anvertraut hat mit der Bitte, es zu lesen und ihr Urteil darüber abzugeben. - Warum er es ihr und nicht Herwarth zeigen wolle, hat sie ihn gefragt, und er, schüchtern, hat etwas gestottert von der Gleichheit von dichterischen Visionen und daß es ihm wichtig sei zu erfahren, ob sie, die selbst eine ganz andere Sprache spreche als er, hier mit ihm einig wäre oder nicht. Sie ist geschmeichelt und gerührt gleichzeitig gewesen, hat das Blatt eingesteckt und gesagt, sie werde, weil sie sich wirklich damit beschäftigen wolle, das Gedicht jetzt nicht sofort ansehen, sondern wenn ihr der Sinn danach stehe. Jetzt, da sie es in der Hand hält, beginnt sie sofort noch im Stehen zu lesen und, einmal zu Ende gekommen, dreht sie das Blatt wieder um und liest nochmal von vorne:
Abschwur [6]
Ich schwöre ab:
jegliche Gewalt,
jedweden Zwang,
und selbst den Zwang,
zu andern gut zu sein.
Ich weiß:
ich zwänge nur den Zwang.
Ich weiß:
das Schwert ist stärker
als das Herz,
der Schlag dringt tiefer
als die Hand,
Gewalt regiert,
was gut begann,
zum bösen.Wie ich die Welt will,
muß ich selber erst
und ganz und ohne Schwere werden.
Ich muß ein Lichtstrahl werden,
ein klares Wasser
und die reinste Hand,
zu Gruß und Hilfe dargeboten.Stern am Abend prüft den Tag,
Nacht wiegt mütterlich den Tag.
Stern am Morgen dankt der Nacht.
Tag strahlt.
Tag um Tag
sucht Strahl um Strahl.
Strahl an Strahl
wird Licht,
ein helles Wasser strebt zum andern,
weithin verzweigte Hände
schaffen still den Bund.
Sie muß an Sascha denken, sieht ihn vor sich auf einer schmalen Pritsche liegend, leere Wände anstarren, das vergitterte Fenster, das diesen Märztag gar nicht bis zu ihm vordringen läßt, ein Lichtstrahl werden, ein klares Wasser und die reinste Hand, zu Gruß und Hilfe dargeboten... weit verzweigte Hände schaffen still den Bund: wenn er hier wäre, wenn er dies lesen könnte wenigstens, er wüßte, daß er nicht vergebens ausgezogen ist. Daß das, was er zum Leben bringen wollte, nicht abgetötet worden ist, weil man ihn schachmatt gesetzt hat, ein Hoffnungsschimmer wäre ihm solches Gedicht. Sie wird Schickele bitten, es Sascha schicken zu dürfen. Gleich, es muß nicht erst gedruckt werden. Die Herren von der Zensur werden es nicht verstehen und durchlassen. Sie ist sich ihrer Sache ganz sicher, möchte sich am liebsten sofort aufmachen, Schickele wachklingeln. Ach, es ist ja erst sechs vorbei, die Zeiger ihrer kleinen Uhr stehen noch weit voneinander abgewendet. Nein, bei aller Begeisterung, das geht nicht. Wie spät es jetzt bei Sascha ist? Ob er selbst es weiß? Ob man ihm sein Essen schon hingeschoben hat, ob er überhaupt zu essen bekommt heute? Ob er krank ist? Ob er wenigstens ab und zu Menschengesichter zu sehen bekommt, andere Mitgefangene, nicht nur die stumpf-dumpfen Visagen des Aufsichtspersonals, oh, sie wird ihm Bilder schicken, Zeichnungen, die wird man ihm nicht vorenthalten; dann hat er etwas, was ihn ablenkt von diesen engen Mauern, sie wird ihm einen Palast malen und [7] - Sie sinkt auf ihren Schreibtischstuhl, sitzt da in fiebriger Erregung und findet doch keinen Anfang. Sechs Uhr vorbei war es eben? Und Herwarth ist immer noch nicht zu Hause?? Das kann doch nicht an Kraus und Loos liegen, die sind doch sicher längst in ihren Hotelzimmern, und Herwarth, ein Frühaufsteher wie er, ein Arbeitstier, der braucht zwar nicht viel Schlaf, aber ganze Nächte schlägt er sich selten um die Ohren. Irgend etwas stimmt da nicht. Ungeduldig schiebt sie ihren Stuhl zurück, springt auf, läuft wie gehetzt durchs Zimmer. Hin und zurück und wieder hin zur Türe, hinaus in den Flur, in die Küche, in Herwarths Zimmer, dort zum Fenster, keine Spur von ihm zu sehen, sie wendet sich ab, kaum daß ihre unruhigen Augen die Straße abgesucht haben, hält vor dem Flügel inne, schlägt mit zwei Fingern Tasten an, wie das klingt, das ist ja zum Wahnsinnigwerden! Voller Verbitterung wirft sie den Deckel zu, fährt zusammen vor dem lauten Knall, erschrocken greift sie nach einem Buch, das oben auf dem Flügel liegt, aufgeschlagen, hält es unschlüssig in der Hand, wirft es dann voller Verachtung gegen das Sofa. Sie trifft die Lampe, die auf dem Tischchen davor steht, die schlägt klirrend zu Boden, der Glasschirm liegt in Scherben, das hat sie nicht gewollt. Bestürzung drängt ihr Tränen aus den Augen, sie kniet auf dem Boden, sammelt Scherben auf, weinend. Aber sie ist zu zornig gleichzeitig, mit einer großen Scherbe zieht sie eine dicke Kratzspur in die Tischplatte einmal, zweimal, das gräbt sich ein ins Holz, hin und her, oh, sie kann gar nicht mehr innehalten, wütend wendet sie sich jetzt gegen ein Kissen, das liegt da voller Unschuld, als sei nichts geschehen, sie hackt mit der Scherbe auf seinen Bezug ein, nichts, keine Spur, wirklich: die Unschuld, vom Lande! Da rennt sie in die Küche, kommt mit einem dicken Küchenmesser wieder, und, während ihr die Tränen über die Wangen rinnen und sie laut vor sich hinschluchzt, sticht sie auf das Kissen ein, in die Polster des Sofas wieder und wieder, das hinterläßt tiefe Schnittwunden, Seegras blutet daraus hervor, oh, das ist ja schauerlich, wie nach einem Krieg! Else hält mitten in einem neuen Schwung ein, läßt das Messer zu Boden fallen, wirft sich mit dem Oberkörper aufs Sofa, breitet die Arme darüber und beginnt mit den Händen, seine Verwundungen zu streicheln. Ihr Mund flüstert sinnlose Koseworte, die unverständlich in ihrem Weinen untergehen, sie hockt da und streichelt und tröstet und wird allmählich selbst wieder ruhiger. Es ist ja nichts, es ist ja nichts, murmelt sie vor sich hin, aber als sie sich umdreht und die Lampe auf dem Boden liegen sieht und die Scherben und das Messer, da überkommt sie von neuem alles Unglück dieser Welt, und sie läßt sich mit dem ganzen Körper zu Boden sinken und weint haltlos in den Teppich, kann auch nicht aufhören, als Herwarth plötzlich vor ihr steht, im Mantel, Zeitungen in der Hand, und, mit einem Blick in die Runde, ironisch-leise fragt: wolltest du das mit dem Amoklaufen jetzt auch einmal selbst ausprobieren? Da weint sie nur noch heftiger, und wenn er sich auch zu ihr bückt und ihren Kopf streichelt, aufhören kann sie jetzt nicht. Nein, sie will gar nicht, daß er sie streichelt, daß er sie tröstet, daß er hier ist und so tut, als hätte er selber mit all dem nichts zu schaffen, als sei er immer nur derjenige, der alles ins Lot brächte, der ihre Unarten und Entgleisungen zurechtböge. Ruckartig reißt sie den Kopf hoch, setzt sich auf.
Faß mich nicht an, schluchzt sie wütend, faß mich bloß nicht an, sonst Sie greift sich das Messer, das neben ihr auf dem Boden liegt, hält es drohend gegen sein Gesicht. Mit einem Griff hat er das Messer in der Hand, wirft es durch die offene Tür in den Flur. Er hält ihr Handgelenk fest, schaut ihr ruhig in die Augen. Du, sagt er mit ganz leiser Stimme, die jetzt keine Spur mehr ironisch klingt, nicht. Das bist doch gar nicht du, du bist doch nicht dein Amokläufer. Du, und einen Menschen umbringen... ? Er schüttelt den Kopf, läßt ihr Handgelenk los: Mach das bitte nie, nie wieder, hörst du? Sie sieht die Szene entsetzlich klar plötzlich: das verwüstete Zimmer, sie mittendrin auf dem Boden, weinend, um sich schlagend, Herwarth im Mantel, wie er ihr das Messer entwindet, sie festhält, und dann dieses fast drohend ruhige: mach das bitte nie, nie wieder, hörst du? - Und wenn doch? fragt sie trotzig. Er antwortet nicht, steht auf, klopft an seinen Hosenbeinen. Dann bückt er sich nach den Zeitungen, die er fallengelassen hat vorhin, nimmt sie in die Hand, rollt sie zusammen. - Ich gehe jetzt irgendwohin frühstücken, sagt er, und ansonsten: wenn ich nach Hause komme, dann brauche ich Ruhe zum Arbeiten, verstehst du? Du weißt selbst, daß da jetzt in der nächsten Zeit mehr anfallen wird als jemals zuvor. Ich muß diese Ruhe haben und bitte dich, dich darauf einzustellen. Andernfalls - Er sagt nicht mehr, was andernfalls seiner Meinung nach geschehen wird, aber er muß es auch nicht sagen. Als er schon längst das Haus verlassen hat, friert Else immer noch unter der Eiseskälte seines Blicks, seiner Stimme. Die nächsten Tage vergehen in emsiger Geschäftigkeit. Kein Wort mehr wird über diese Szene verloren.
In Nr. 2 des Sturm erscheint Elses Essay über den Amokläufer, [8] fast ist es, als würden beide, Else und Herwarth, sich jetzt nachträglich amüsieren darüber, daß sie, kaum daß sie das Manuskript für die Zeitung fertiggestellt hatte, selbst diesen Anfall von besinnungsloser, sich an keinem greifbaren Anlaß festmachender Wut bekommen hat. So ist das Leben eben - unberechenbar. Wie um wieder gutzumachen, stürzt Else sich in ein doppeltes Maß an Aktivitäten. Nicht nur, daß in ihrem Kopf die Gedanken sich zu poetischen Blüten entwickeln, die sie kaum Zeit hat, aufs Papier zu bringen, sie quillt über vor Einfällen für den Sturm, für die eigenen Vorhaben. Jede Woche ist sie mit der Neuausgabe des Sturm unterwegs, verkauft, sammelt Abonnenten, bittet um Spenden. Tagelang klappert sie Berlin ab, um ihren Fakir endlich ins Engagement zu bringen, ihre Begeisterung ist ansteckend, doch: die Künstler können sich schon vorstellen, daß sie Publikum anziehen kann. Aber wen auch immer sie fragt von den zuständigen Herren, da hat sie kein Glück. Verlangt sie zuviel? Sie will auf einen festen Vertrag hinaus, garantiertes Einkommen, garantierte Spielzeit, und sie hat noch nicht einmal selbst die Kostüme oder die Grundausstattung für die von ihr geplante Bühnendekoration. Man scheut das Risiko, man fürchtet den Skandal, kann er ausbleiben bei diesem stadtbekannten Paradiesvogel? Else redet mit Engelszungen - es ist alles zwecklos. Nichtsdestotrotz läßt sie keine Gelegenheit verstreichen, um von neuem vorstellig zu werden. Wenn sie selbst abends in Theater geht - die Ibsen-Stücke haben es ihr angetan, und ihre Begeisterung für die Künstlerinnen des Schauspiels ist grenzenlos - versäumt sie nicht, den Direktor von ihrer Idee zu unterrichten, sie will ja lieber Varieté, aber, wer weiß? Daß die Wupper auch immer noch nirgends fest in Vertrag genommen wurde, nagt noch zusätzlich an ihr. Von viel zu vielen Menschen hat sie Lob dafür bekommen, die können sich doch nicht alle irren! Nein, die Sterne des Theaterhimmels sind ihr nicht gut gesinnt in dieser Zeit, aber sie will ihr Glück zwingen. Sie wird nicht ablassen, wird immer und immer wieder die Klinken putzen, es muß doch zu schaffen sein! Wenn sie nach Hause kommt, ist sie müde, erschöpft und oft mutloser, als sie zugibt. Dann greift sie sich Papier und Stift, und es gelingen ihr großartige Träumereien. Über wen oder was auch immer sie schreibt, immer ist sie selbst mit dabei, bringt sich ein mit ihrer ganzen Person, macht deutlich, daß sie hier mit dem eigenen Maßstab mißt, deshalb schafft sie es auch, echte Begeisterung überströmen zu lassen auf den Leser. Die Subjektivität ihrer Schriften ist ihr Markenzeichen. Ist das nicht überhaupt das einzige, was du guten Gewissens veröffentlichen kannst, ein Stück von dir selbst? Bleibst du denn wirklich echt, wenn du versuchst, dich ängstlich fernzuhalten von dem, was du ausdrücken willst? Ha, was sie mit Worten beschwört, was sie umtanzt wie ein Schleiermädchen mit wiegenden Hüften, was sie mit gefalteten Händen ans Licht hebt, das ist doch nichts anderes als der Schein, der aus ihrem Herzen auf die sie umgebenden Menschen, auf die Dinge fällt, soll sie ihr Herz dabei aussparen? In den Portraits, die sie zeichnet als Bilder oder als Wortbilder, ist ihr Blick scharf und liebevoll zugleich. Manchmal zögert sie, sie zu veröffentlichen. Wird der Beschriebene ihre Seiltänzereien auch nicht mißverstehen? Dann ist es Herwarth, der sie beruhigt. Er, dessen eigene Sätze so oft bissig und hart klingen, hat ein gutes Gehör für Mißklänge. In ihren Spielen findet er keine. Adolf Loos, der Wiener Architekt, wird unter ihren Händen zum Gorilla, aber zu einem mit sanft hängenden Lidern, [9] dessen runde, hellbraune Augen aus einem anderen Denken greifen, ein gefährlicher, reißender Geist, falls man sein Mißfallen heraufbeschwört. Ein handgreiflicher Philosoph, dem die Verschnörkelung der Architektur ein eitler Greuel, ein verwirrtes Knäuel ist, den er rücksichtslos löst.
Und Else: die Wände meiner Rast sind auch die Wände meiner Last, schreibt sie, sind mit mir verwachsen, aufgewachsen. Meine Behausung gleicht mir auf ein Haar. Darum springe ich gerne aus meiner Haut mal, am liebsten in das mir vermählte Zimmer. Ist sein Bewohner auch meist nicht in seiner Hauptperson anwesend, sein Heim aber spricht für ihn. Kühlritterblau empfängt mich das Tapetengesicht. Ich setze mich vor den Schreibtisch... Über den Flügeldeckel kehren Lieder heim und legen sich auf die Tasten hingezaubert sitzt ja ihr Schöpfer auf dem runden Stuhl und spielt. Ich denke an meine Prinzessinnenzeit... Ich hasse die Tische, Stühle, Sessel und so weiter... Ich helfe dir räumen, Loos, aber wehe dir, wenn ich nach Wien komme, und du sitzt nicht auf einem australischen Urwaldast zurückgezogen hinter Gedanken tausendgittrig. - Sie kann es nicht lassen: wenn sie auch über einen anderen spricht, sie muß von sich erzählen. So ist das nun einmal. Aber sie beschließt, erst Loos' Einverständnis zur Veröffentlichung einzuholen, sie hat ihn zu gern, als daß sie ihn mit diesem Essay hinterrücks überfallen möchte. Das wäre Verrat an der Freundschaft, an der Bruderliebe. Das ist fast so schlimm wie Brudermord. Kains Augen sind nicht gottwohlgefällig - [10] durch Kains Leib führen die Gräben der Stadt - und er wird seinen Bruder erschlagen... Daß ihr die Bibelgleichnisse doch ständig durch den Kopf summen! Sie muß sie einmal zusammenstellen. Da ist noch so viel, was in ihr gräbt aus der Kinderzeit, was sie nicht losläßt, was sie begleitet. Ob Paul einmal, wenn er erwachsen ist, wenn er sein eigenes Leben führt, auf einen solchen Schatz aus seiner Kindheit wird zurückgreifen können? Sie wiegt den Kopf, selbst als Mutter kannst du nicht vorhersehen, was Wurzeln schlagen wird von dem, was dir selbst wichtig war weiterzugeben. Paul, sie hat ihn lange nicht gesehen. Er wünscht sich, daß sie ihn besuchen kommen in Drebkau, jetzt, um die Ostertage. Sie hat mit Herwarth darüber gesprochen, will fahren und doch wieder nicht, sie schwankt zwischen der Sehnsucht nach dem Kind, die sich paart mit mütterlicher Verantwortung, und ihrem Entschluß, jetzt, in diesen Wochen, definitiv den Grundstein zu legen für eine finanzielle Absicherung ihrer weiteren Zukunft. Wie die Dinge jetzt stehen, kann sie nicht einmal für einen einzigen Tag aus Berlin fort. Wenn alles so weitergeht wie bisher, muß sie Paul früher oder später zurückholen. Momentan lebt er dort auf Freundschaftskredit, der ihr von der Leiterin dieser Institution ohne Zögern eingeräumt worden ist, einer warmherzigen, großzügigen Dame, deren unkonventionelle Pädagogik Else ebensosehr bewundert wie ihre Art, die ihr anvertrauten Kinder an der eigenen Geistes- und Herzensbildung teilhaben zu lassen. Else kommt gut mit ihr aus, fühlt sich ihr freundschaftlich verbunden, nicht nur aus Dankbarkeit für ihren Paul. Wen auch immer sie kennenlernt, weist sie auf Schloß Drebkau hin. Bis nach England zu Jethro Bithell singt sie ihr Loblied, es könnte doch sein, daß er Freunde hat, die für ihr Kind genau solche Umgebung suchen! - Aber jetzt, sie hat das Gefühl, wenn sie jetzt wegfährt aus Berlin, dann verpaßt sie möglicherweise die einzige Chance, die sich ihr in dieser ausweglosen Zeit bieten könnte. Festmachen kann sie dieses Gefühl nicht an konkreten Ereignissen...
Nachdem die vierte Nummer des Sturm erschienen ist, fährt Herwarth alleine. Die Knopfabzählsituation: wir gehören zusammen, du verläßt mich, wir gehören zusammen tägliches Zweifeln und Schwanken. Jetzt, da sie Herwarth bei Paul weiß, hat sie fast schlechtes Gewissen, daß sie ihr Gedicht >Ich bin traurig< unbedingt im Sturm hat abdrucken lassen müssen. Herwarth hat ihr nur einen unergründlichen Blick zugeworfen, als sie es ihm noch gebracht hat. Kein Wort darüber hat er verloren. Er hat es zu den vier anderen Gedichten genommen, kommentarlos, als handle es sich bei dem angeredeten Du um eine ihm unbekannte Person. Über die biblischen Gestalten, auch über Sascha, die in den anderen Gedichten von ihr besungen werden, hatten sie lange gesprochen, es war ein gutes Gespräch gewesen, ganz zufrieden war sie, daß dieses Mal im Sturm gleich vier ihrer Gedichte erscheinen sollten. Und eigentlich weiß sie gar nicht, warum sie dann auch noch >Ich bin traurig< vorgeschlagen hat. Es war, als müßte sie sich offenbaren auf diese Weise, als hätte das, was da nun als Gedicht fertiggestellt war, größere Ernsthaftigkeit, tiefere Bedeutung als alles, was sie Her-warth sonst von sich erzählt. Er muß es erfühlt haben. Wahrscheinlich war er zu betroffen, um sich direkt dazu äußern zu können? Wenn er zurück ist, wird sie ihn fragen.
In der Zwischenzeit will sie all die Splitter und Steinchen, die sie zu einem bunten Mosaik für Karl Kraus zusammengesucht hat, auf dem Papier vereinen. Sie hat es sich schon so lange vorgenommen und ist bisher doch immer wieder davor zurückgeschreckt, es ist, als fürchte sie, ausgerechnet ihn, der selber so unübertrefflich treffsicher seine Worte zu setzen weiß, nicht genau genug erfassen zu können. Oder ihm Wahrheiten zu sagen, die er auszusprechen nicht verzeiht? Sei's darum, sie will es versuchen. An Herwarths Schreibtisch setzt sie sich, auf dem herrscht weniger Unordnung als auf ihrem. Und bevor sie noch richtig bequem sitzt, weiß sie auch schon, wie sie anfangen wird: Im Zimmer meiner Mutter (da ist sie oft hingeflüchtet, wenn sie mit sich selbst bei ihren Spielsachen nichts anzufangen wußte, das war f ast so wie heute, wo sie nicht an ihrem eigenen, sondern an Herwarths Schreibtisch arbeiten will) hängt an der Wand ein Brief [11] unter Glas im goldenen Rahmen. Oft stand ich als Kind vor den feinen pietätvollen Buchstaben wie vor Hieroglyphen und dachte mir ein Gesicht dazu, eine Hand, die diesen wertvollen Brief wohl geschrieben haben könnte. Darum auch war ich Karl Kraus schon wo begegnet in meinen Heimatjahren... So einfach geht das, wenn erst einmal der Anfang gemacht ist. Die Worte purzeln ihr aufs Papier, als könnten sie's nicht mehr erwarten, endlich aufgereiht nebeneinander zu stehen. Karl Kraus wird ihr zu einer langen, langen Geschichte, die sie ganz atemlos aus der Feder schüttelt, ohne Pause, fast ohne Luftholen dazwischen. Hinterher fühlt sie sich stolz und erleichtert. Sofort muß sie es Kraus mitteilen: so prachtvoll, ich bin nur bang, [12] Du könntest beleidigt sein, aber... beleidigender wie Ad. Loos ist es nicht. Es muß so bleiben, ich kann ja nicht für, ich bin ja immer ganz besoffen, wenn ich schreibe.
Zwei Tage lang hält dieses Hochgefühl an.
Dann, am Morgen des dritten Tages, schon als sie die Augen aufschlägt, ist ihr, als sei über Nacht der Himmel eingestürzt, als läge er jetzt wie eine Last zentnerschwer auf ihr. Sie kann sich gar nicht bewegen, so drückt die Bettdecke sie in die Matratze. Sie schließt die Augen, wartet. Es geht nicht vorbei. Rote Kreise tanzen vor ihr, das ist Feuer, das sie einschließt, es brennt in ihrem Kopf, und irgend etwas drückt ihr die Luft ab. Stirbt sie? Liegt sie schon in einem Sarg? Ist sie tot? Es kostet sie unendlich viel Kraft, die Augen wieder zu öffnen, da - da ist es vorbei, wie ein Spuk verschwunden, sie kann den Kopf bewegen, die Arme, die Beine, und mit Staunen stellt sie fest, daß es wirklich nur die geblümte Decke ist, unter der sie liegt, nichts über ihr, was zusammengebrochen ist, was sie begräbt. Das flaue Gefühl im Magen bleibt, und entsetzliches Herzklopfen hat sie noch, als sie jetzt in der Küche aus dem Porzellankrug Wasser in die Waschschüssel gießt. Sie taucht die Hände hinein, hält sie auf dem Boden der Schüssel, bis sie sie vor Kälte nicht mehr spürt, dann preßt sie sich die nassen Finger gegen Stirn und Augen. War das ein Traum eben? Im Kopf ist ihr immer noch ganz schummrig, und dieses Herzklopfen... als wenn irgend etwas Entsetzliches geschehen wäre. Was kann es nur sein? Mit einem Handtuch reibt sie sich das Gesicht trocken, die Hände. Auf hölzernen Beinen stakst sie zurück in ihr Zimmer, als sie die auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücke zusammensucht, zittern ihr die Finger. Wie lange sie braucht, um sich anzuziehen! Ein schrilles Läuten läßt sie zusammenschrecken. Sie fährt herum, starrt auf die Tür. Wieder das Läuten. Und noch einmal, es hört gar nicht auf. Aber es ist nicht die Türglocke. Da rast sie los. Das ist ja das Telefon, das auf Herwarths Schreibtisch steht. Sie vergißt immer, daß es da ist. Herwarth hat es einrichten lassen, weil er doch jetzt den Sturm herausgibt und meint, erreichbar sein zu müssen. Wenn es nur nicht so fürchterlich laut wäre! Else greift nach dem Hörer, aber gerade als ihre Hand ihn berührt, hört das Läuten auf. Sie hält sich den Hörer ans Ohr. Da ist nur noch fernes Tuten. Ärgerlich stößt sie die Luft aus, wirft den Hörer zurück auf die Gabel. Daß man sie so erschrecken muß! Beide Hände preßt sie gegen ihr klopfendes Herz. Das hat ihr gerade noch gefehlt, jetzt pocht es, als wollte es ihr aus der Brust springen. Sie steht und wartet. Als sie sich umdrehen will, um wieder zurück in ihr Zimmer zu gehen, schrillt das Telefon von neuem. Sie reißt den Hörer an sich, schreit fast: Hallo? - Am anderen Ende eine Frauenstimme. Ob Herwarth nicht da ist? - Nein. - Wann er wiederkommt? Vielleicht morgen. - Wieso morgen. Er hätte doch gestern gesagt, er sei heute den ganzen Tag zu erreichen. - Herwarth? Gestern? Das muß ein Irrtum sein. Herwarth ist vor drei Tagen nach Drebkau gefahren. - Aber gestern Abend war er doch in der Konditorei Josty. Herwarth? In der Konditorei josty? Das ist nicht wahr, schreit Else ins Telefon, Sie lügen! Sie könne ja Paula Richter fragen, mit der sei er jedenfalls zusammen weggegangen. - Else fällt der Hörer fast aus der Hand, zwei-, dreimal schnappt sie nach Luft, dann faucht sie in die Sprechmuschel: das ist eine Verleumdung, eine ganz gemeine. Sie, Sie - wer sind Sie denn überhaupt? Was erlauben Sie sich? Sie sollten sich schämen, nicht nur meinen Mann, sondern auch meine Freundin die Stimme bricht ihr, sie kann nicht weiterreden. Aber auf der anderen Seite ist längst eingehängt worden. Die Leitung ist tot.
Else sinkt in sich zusammen. Paula Richter, nein, das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein. Vor Wochen, im Januar, sie hat das Bild wieder ganz deutlich vor Augen, Herwarth, wie er mit Paula so verliebt die Straße entlanggegangen ist, wie sie sie gesehen hat, die beiden, aber seither, Herwarth hat ihr doch geschworen, daß das vorbei sei, noch vor ein paar Tagen hat er ihr auf ihre drängenden Fragen gesagt, er habe Paula nicht mehr gesehen seit dieser Geschichte, ein Abenteuer wäre es gewesen für ihn, und für Paula auch, nichts von Dauer, keine Sekunde hätte er daran gedacht... Sie wischt sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Das ist doch alles erfunden und erlogen! Da hat sich jemand mit ihr einen üblen Scherz erlaubt. Sie kann ja, ja, sie kann ja Blümner anrufen. Falls Herwarth wirklich schon aus Drebkau zurück sein sollte, dann weiß Blümner das bestimmt. Sie findet die Nummer von seinem Büro, läßt sich mit ihm verbinden. Guten Morgen, nein, seine Stimme klingt nicht anders als sonst auch. Freundlich, zauberhaft ruhig. Else fällt ein Felsen von der Seele. Ob er wisse, wo Herwarth stecke? - Jetzt, im Moment? Nein. Sei er denn nicht zu Hause? Er habe ihn, Blümner, doch vor einer halben Stunde angerufen, um mit ihm etwas über den Druck der nächsten Sturm-Nummer zu besprechen. Das müsse er dann wohl vom Café aus gemacht haben. Ob Else denn schon da nachgefragt habe? Oder in der Druckerei? - Else schluckt, stottert. An die Druckerei habe sie gar nicht gedacht. Doch, gut möglich, daß er dort sei. Sie wolle gleich einmal anrufen. - Ob etwas passiert sei? Nein, nein. Es sei eigentlich nicht so wichtig. Sie hoffe, ihn nicht von einer dringenden Arbeit weggerufen zu haben. - Da sind wieder die Feuerkreise. Die Last über ihrem Herzen... es ist also doch wahr. Der eingestürzte Himmel, heute morgen... Ah, wie das tanzt vor ihren Augen! Und sie rennt sich die Füße wund, um endlich ein Engagement zu bekommen, um Geld zu haben, um Herwarth zu helfen! Ah! Und er? Mit Paula Richter! Und läßt sie denken, er sei noch in Drebkau bei Paul! Keine Andeutung, nicht die leiseste Andeutung, es ist nicht zu fassen. - Aber sie weiß, was sie zu tun hat. Er soll sich wundern. Sie ist so wütend, so wütend!
Mit Riesenschritten eilt sie in ihr Zimmer, an ihren Schreibtisch. Mit einer Handbewegung fegt sie alles, was darauf liegt, zu Boden. Dann zieht sie ein neues weißes Blatt Papier aus der Schublade, greift nach dem Federhalter. Herwarth, schreibt sie, wie gemein du bist, wie erbärmlich klein. Mich in dem Glauben zu lassen, es sei alles gut zwischen uns. Wenn ich dir nur noch Lügen wert bin, sollst du künftig darauf verzichten, deinen Sturm mit meinem Namen zu schmücken. Ich habe noch nie mich verkauft, nur um mich gedruckt zu sehen. Auch du bildest da keine Ausnahme. Es gibt keine Paradiese mehr zwischen uns, es ist deine Schuld, und ich liege zerstört unter deinem Tritt. Man wird dich zur Rechenschaft ziehen, und die Welt und der Himmel werden auf meiner Seite stehen. Schwungvoll unterschreibt sie. Dann, während sie das Blatt zusammenfaltet, kommt ihr eine Idee: Rasch holt sie sich einen neuen Bogen aus der Schublade und schreibt an Karl Kraus: [13] Sehr werter Herzog, bitte lesen Sie durch und senden Sie mir im inl. Couvert zurück sofort bitte. Ich bin so wütend, ich bin so wütend, ich habe schon alle Stühle alle Tische Bettlehne Schrank tot geschossen mit meiner Pistole. Die Art, wie ich belogen wurde von Anfang an, ist so grenzenlos. Bitte schicken Sie mir wieder. Wenn H. Brief hat, werde ich ruhig. Darin steht alles. Ich sagte immer alles, auch die Schwärmerei damals zu Oskar Kokoschka und alles. Er heimlich. - So. Jetzt geht es ihr schon ein wenig besser. Wenn Kraus erst weiß, wie man mit ihr umgeht hier, wird er Herwarth zur Rechenschaft ziehen, ganz bestimmt.
Ob Herwarth ihren Brief zwei Tage früher oder später bekommt, ist nicht so wichtig. Wichtiger ist ihr im Moment, daß er dieses Mal nicht ungeschoren davonkommt. Kraus wird für sie Partei ergreifen, das steht fest. Mit ihm an ihrer Seite braucht sie sich nicht vor Herwarths schweigender Mißachtung zu fürchten. Sie wird ihn zum Kampf fordern. Und er wird sich stellen müssen. Sie springt auf, zieht sich hastig den Mantel an, greift nach ihrer Tasche. Bloß schnell den Brief zur Post bringen. Ob sie Kraus zwischenzeitlich schon ein Telegramm schicken soll? Ihren Zorn erst einmal in Kurzfassung loskabeln? Es kann nicht schaden, beschließt sie, wenn Kraus sofort Bescheid weiß. Sie läuft fast durch die Straßen, atemlos kommt sie vor dem Postamt an, genauso atemlos verläßt sie es schon wenige Minuten später wieder. Jetzt bleibt ihr nur noch eines zu tun: sie muß zur Druckerei, ihren Beitrag für die nächste Sturm-Nummer zurückziehen. In dieser Zeitung hat ihr Name künftig nichts mehr verloren.