Dezember 1909

Limonade -
Kanonade
Ha: Schokolade.
Ich weiß gar nicht mehr weiter. Doch:
Nomade.

Nomade,  - was ist das Mama, gibt es das Wort?
Ja, Päulchen, das gibt es. Ein Nomade ist ein Mensch ohne Heimat, der herumzieht und nirgends lange bleibt. Sie sitzen in dem großen Sessel am Fenster, eng aneinandergekuschelt im trüben Nachmittagslicht und spielen das Einwortspiel [1], das Else selbst als Kind so geliebt hat.
Erzähl mir mehr, Mama, von den Nomaden. Hast du schon mal einen gesehen? Es gibt ganze Nomadenvölker, die wandern durch die Wüste, immer weiter durch Hitze und Sandstaub, von einer Oase zur anderen. Alles, was sie besitzen, haben sie auf Kamele geladen, Zelte und Kochgeschirr und Decken und Tücher und Kleider und Schmuck. Und wenn sie an einer Oase angekommen sind, feiern sie nächtelang Feste. Ihre schönen Frauen tanzen tiefverschleiert unter dem Millionensternenhimmel und ganz, ganz spät nachts, wenn alle schon auf ihren Teppichlagern eingeschlafen sind, hört man noch die traurigen Nachtlieder ihres goldfarbenen Wächters. Die Kamele sind ganz eng aneinandergerückt, weil es so kalt ist nachts, fürchterlich kalt, man kann sich das gar nicht vorstellen, denn tagsüber ist es ja immer zum Verbrennen heiß. - Woher weißt du das, Mama, das alles, von den Tänzerinnen und von dem Wächter und von den Kamelen und daß es dann nachts so kalt ist? Das hat mir mein Väterchen erzählt, Paul, als ich viel kleiner war als du. Damals konnte ich gar nicht genug davon bekommen, alle diese wundersamen Geschichten, und besonders die von Joseph mit dem lammblutenden Rock und seinen Brüdern. - Die kenne ich, Mama, ja, die ist schön. Bist du aber nie da gewesen? Ach, sie nimmt ihn fest in den Arm und drückt ihn an sich und über seinen Kopf hinweg suchen ihre Augen zum Fenster hinaus durch den grauen Nachmittag - hundertabertausendmal bin ich durch Bagdad gelaufen und habe meine Paläste besucht. Im Traum, Paul, weißt du, nur - ihr Blick kommt zurück zu seinem aufmerksam fragenden Gesicht, da reibt sie ganz sacht ihre Wange an seinem Schwarzhaar - sie sind alle zerfallen,  [2] diese Paläste, fürchte ich. Es ist niemand da, der sich um sie kümmert, und manchmal denke ich, daß sogar die Hirten sich davongemacht haben und daß meine Schafe jetzt höhnisch in der Sonne verdorren. Aber dann - sagt sie schnell mitten hinein in seine erschreckten Augen - dann seh ich in einer anderen Nacht, daß das nur ein böser Traum war, und daß der große Scheich auf dem Dach seines Palastes steht und zu den Sternen betet, daß ich doch zurückkommen möge. Und die Sklaven rollen schon rote Teppiche aus und die Häuser sind geschmückt und die wunderschönen Töchter des Volkes haben sich mit Blumen bekränzt und - Nimmst du mich mit, Mama, dorthin? Aber natürlich, mein Kind. Dann bekommst du seidene Kleider, und um den Hals hängt dir der große Elefanten-Orden [3], und mit der ledernen Peitsche streichelst du das Eselchen ganz sanft zwischen den Ohren, dann läuft es genau dorthin, wohin du willst. Und alle Kinder werden sich vor dir verbeugen und dir Geschenke bringen. Dann sind wir reich. Dann bist du Bulus Mohammed Hassan und sprichst arabisch. Und du bist die Königin von Bagdad und ich beschütze dich. Ja, Päulchen. Und du beschützt mich. Wann fahren wir denn? Vielleicht, vielleicht - ich weiß nicht. Wann sollen wir denn fahren? Morgen. - Morgen? Da müssen wir aber erst einmal nachsehen gehen, ob unsere Elefanten gut genug gefüttert sind für diese weite Reise. - Mit Elefanten willst du reisen, Mama? Können wir nicht Pferde nehmen, ganz wilde Pferde, die laufen schneller? - Hm. Ja, warum nicht? Warum nicht Pferde? Nur: wo können wir die denn hernehmen? Wir rauben sie, Mama. Wir machen einen Überfall auf einen Kutscher am Kurfürstendamm, dem spannen wir die Pferde aus, und dann schwingen wir uns hinauf und reiten davon. Wollen wir? Ja, Kind, aber, vielleicht ist es besser wenn wir warten bis es dunkel ist, was meinst du?
Er war aufgesprungen und mit wilder Gebärde über den Teppich getanzt. Jetzt steht er breitbeinig vor ihr mit unternehmungslustigen Augen: Ich weiß nicht, vielleicht, ach, Mama, werden wir dann auch Nomaden sein? Bestimmt, Kind, du und ich, wir werden immer Nomaden sein. Auch wenn wir nicht sofort in die Wüste reisen können, werden wir Nomaden sein. Immer. Auch hier, mitten in Berlin? Auch hier. Man muß es nur wollen.
Dann - er zupft an seinem Gürtel aus Muscheln, den er sich vorher zum Spiel umgebunden hat - dann müssen wir ja nicht unbedingt gleich heute abend den Kutscher überfallen, oder? Dann kann ich noch morgen mit Hedwig [4]zum Tiergarten gehen, das hat sie mir versprochen, heute früh, weil wir doch gewettet haben, daß ich schneller laufen kann als sie, und ich gewinne drei Murmeln wenn ich sie besiege. Und überhaupt - die Dampfmaschine, Mama, du weißt doch, Vater wollte mit mir doch zu einem Ladengeschäft gehen wo es Dampfmaschinen gibt, er hat gesagt, morgen hat er Zeit und - Mama, wir können vielleicht nächste Woche fahren, ja? Dann können wir noch alles erledigen, was wir uns vorgenommen haben. Aber - er kaut plötzlich an seiner Unterlippe: Weihnachten, Mama, gibt es in Bagdad auch Weihnachten? Ich glaube, dort ist jeden Tag Weihnachten, Paul, nur ganz anders. Ganz - weißt du: laß uns doch einfach noch über Weihnachten hierbleiben. Sonst bekommen wir ja aus Berlin gar keine Geschenke, wenn wir nicht da sind. Sie streckt die Arme nach ihm aus und er kommt auf sie zu, läßt sich umfassen und drücken. Komm, setz dich noch ein bißchen zu mir her. Erzählst du mir dann noch mehr? Von den Nomaden? Nein, er schüttelt den Kopf, lieber, lieber wie es war als du ein kleines Mädchen warst. Was du gespielt hast...
Ja, sagt sie und rückt ein bißchen zur Seite, damit er sich wieder neben sie setzen kann, weißt du, am allerliebsten habe ich ja in unserem Garten [5] gespielt, mit Walter Kaufmann und Alfred und Paul Stern und mit Pülle. Die kamen immer zu mir, weil unser Garten doch so wunderwunderschön war. Ein lebendiger Spielladen war das, mit grünerlei Bäumen und blühendbehangenen Sträuchern, und mit vielen bunten Blumen, Primeln, Vergißmeinnicht, Stiefmütterchen, Astern, Georginen. Und mit ganz zottigem Gras. Da plumpsten im Herbst die Kastanien hinein, und wir Kinder hoben die grünen Igel auf und brachten sie auf den eisernen, runden Tisch in der Laube, wo wir dann Markt spielten. Und Knallerbsen gab es da, diese milchigen Dinger, und Pülle ließ ab und zu eine zur Erde fallen und knallte sie mit dem Absatz auf. Wir wollten das nicht, und meine Freunde trampelten dann vor Wut auf die späten Beete und purzelten kopfüber in die Dornen der Rosenbüsche. Ja, weißt du, im Herbst war unser Garten immer unser gemeinsames Spielzimmer. Und Nüsse haben wir gesammelt, und Walter Kaufmann mit seinen neuen großen Vorderzähnen knackte sie auf für mich und spuckte die Schalen einfach in den Strauch zurück. Das waren geheimnisvolle Nüsse, sagten wir, und eine einzige von ihnen schmeckte uns besser, als eine ganze Tüte auf dem Jahrmarkt gekauft. Und eines Tages sahen wir, Walter und ich, noch eine herzige, rote Kirsche an unserem sauren Kirschenbaum hängen, oben am Gipfel, ganz hoch im Geäst. Wir wollten sie herunterholen und planten gerade - aber plötzlich flog eine Kohlmeise an uns vorbei und schon saß sie auf dem entblätterten Ast, blähte sich, lachte rund ihr gefiedertes Bäuchlein auf und speiste uns die Kirsche vor der Nase weg. Da haben wir uns aber geärgert... - Kann ich mir vorstellen. - Paul ruckt den Kopf nach oben, so ein Garten, sagt er, wenn wir nur auch so einen Garten hätten, so einen verwunschenen. Aber, sag mal, was hast du gespielt wenn du nicht im Garten warst oder wenn es geregnet hat? - Theater habe ich gespielt und Verkleiden, und meine wunderliebe Mama war mein dankbares Publikum. Ich war ja die Jüngste, weißt du, meine beiden Schwestern waren schon groß und die Brüder auch - Onkel Moritz? - Ja, Onkel Moritz, und Paul auch. Mein Lieblingsbruder war das, und er ist so früh gestorben, und deshalb heißt du jetzt Paul, weil ich brauche doch immer jemanden, den ich am liebsten habe und der Paul heißt.Und was noch? Was hast du noch gespielt? Was habe ich noch gespielt? Mit meinen Knöpfen habe ich gespielt, du weißt doch, die Knopfsammlung,  [6] die magst du doch auch. - Können wir mit den Knöpfen spielen, Mama, ja? Ich hole sie. -
Er geht zum Bett und legt sich der Länge nach auf den Boden, hebt mit dem einen Arm die dunkle Samtdecke hoch und angelt mit dem anderen nach der Wundertruhe im Puppenformat. Aus dunklem Holz ist die, mit elfenbeinernen Intarsien, und durch all die Jahre ist sie mitgewandert, schwer beladen mit dem Reichtum an großen und kleinen Knöpfen aus Elses Kinderzeit.
Komm, Mama, komm ans Fenster. Wir stellen sie hier auf deinen Schreibtisch, da können wir sie alle alle ansehen.
Else sitzt noch im Sessel, zurückgelehnt, und der schwarzhaarige Knabe, der sich jetzt über den Tisch beugt und mit behutsamen Fingern einen Knopf nach dem anderen aus der Schatzkiste holt, gegen das Licht hält und dann auf dem Tisch eine Reihe baut und noch eine, verrinnt ihr vor dem inneren Auge zu ihrer eigenen Gestalt. Da steht sie selbst zehnjährig, in Stiefeln und Hosen, wie sie sie trug, um mit dem Papa spazierenzugehen, das kurzgeschnittene Haar fällt ihr in die Stirn und dahinter wird wieder gerade ein Märchen geboren, ein Märchen, in dem der sternenbesäte Jett-Knopf, der Star ihrer Sammlung, als wundersamer einsamer Heiliger durch die Menge aus Holzknöpfen doch noch zum Himmelreich findet. Sie stehen aufgereiht wie Soldaten, schau - warum kommst du nicht, Mama da gibt sie sich einen Ruck und mit ein paar Schritten ist sie bei ihm, schaut ihm über die Schulter: den dort, den rosaroten da, oder die lila Knöpfe und die kleinen blauen, sie sind alle alle von meiner Mama, die hat sie für mich bestellt in den Knopffabriken, weil ich so furchtbar gern gespielt habe mit ihnen. Und den - jetzt hat sie ihn erspäht in der Menge, ihre Finger tasten sich an ihn heran, halten ihn hoch - sieh dir mal den an: das war mein Lieblingsknopf. Ich habe ihn Joseph von Ägypten genannt, ist er nicht wunderwunderherrlich? Schenkst du mir den? Ich schenke sie dir alle, sie gehören dir, du bist doch mein Kind... Dann gehören sie uns zusammen, Mama, und wir pakken sie immer wieder, wenn wir mit ihnen gespielt haben, in die Schatztruhe und schieben sie unters Bett. Das muß niemand wissen, nicht wahr? Das muß niemand wissen. Nur du und ich. Dann haben wir schon wieder ein Geheimnis, wir beide. - Hm. - Else hat nicht mehr zugehört. Joseph von Ägypten, der Sternenknopf, wird an die Spitze der Abteilung der himmelblauen Knöpfe gelegt, sie sieht über die Formation, ohne sie eigentlich wahrzunehmen. Magst du nicht spielen? Ich glaube, nein. Im Moment nicht. Bist du böse? Neinnein. Kann ich noch weiterspielen? Aber ja, mein Kind, spiel ruhig weiter.
Ist es die Erinnerung an die Kindheit, die ihr die Hände jetzt so zittern macht? Und dieses rasende Herzklopfen plötzlich, das Herz, das ihr so hoch in den Hals schlägt, und in den Ohren saust es und ein Kälteschauer jagt ihr durch den ganzen Körper, daß sie sich schüttelt.
Else steht hinter Paul, mit den Händen hält sie sich krampfhaft an der Lehne ihres Stuhls fest, sie hat die Augen geschlossen und atmet kurz, flach und heftig, aber der Schwindel weicht nicht, in ihrem Kopf dreht sich alles um und um, jetzt schwankt sie und - nein, sie kann sich nicht mehr aufrecht halten, das Kind und die bunten Knopfreihen auf dem Tisch sausen ihr entgegen, alles auf sie zu, und Paul mit entsetzten Augen: Mama! Mama, was ist los? Was ist dir denn? Warum bist du denn umgefallen? Sie liegt gekrümmt, das schwarze Meer, in das sie eingetaucht ist, das über ihr zusammenschlägt, ebbt ganz, ganz allmählich ab, jetzt streicheln die Wellen nur noch behutsam ihre Stirn, wie Kinderhände: Mama, sag doch was! Mama, Mama, mach die Augen auf, bitte. Hast du dir wehgetan? Mama... Die Wellen streicheln immer weiter, ganz sanft, nein, das sind gar keine Wellen. Else schlägt die Augen auf: tatsächlich, das ist Paul, das sind seine kleinen Hände, die da wellengleich an ihre Stirn rühren. Er hockt neben ihr auf dem Teppich und über sein Gesicht rinnen dicke Tränentropfen. Mama, bist du krank? Sie sieht ihn an und sein Schmerz dringt ihr durch und durch, aber sie kann nicht sprechen, schüttelt nur matt den Kopf. - Aber - jetzt schluchzt er - du bist doch hingeschlagen, mit dem Stuhl, du die Hände streicheln weiter, immer über die Stirn, über ihr Haar, und Else schließt die Augen wieder, kann sie noch nicht offenhalten, taucht noch einmal ein ins kalte schwarze Meer, es ist so fürchterlich kalt, ein Zittern läuft ihr durch den ganzen Körper, so kalt, und dann bewegt sie die Lippen, bewegt sie tonlos erst, es dauert noch lange bange Sekunden bis eine ganz kleine Stimme wieder aus ihr hervorflüstern kann: es ist gleich vorbei, Kind, gleich. Jetzt sieht sie ihn klar vor sich, hält die Augen gewaltsam offen: Päulchen, mußt nicht so erschrecken, es geht schon wieder, ich, ich war nur so schwach plötzlich, ganz schwindlig war mir, aber jetzt - sie stemmt sich mit den Händen hoch, setzt sich auf, jetzt ist es wieder vorbei. Das Kind hockt neben ihr mit blassem Gesicht. Sie versucht ein Lächeln, aber die Kälte weht sie noch immer so unheimlich von allen Seiten an, da preßt sie sich die Arme vor den Leib und stöhnt.
Mama, es ist doch gar nicht kalt hier. Du bist krank. Du mußt ins Bett und dich zudecken. Komm - Nein, nein, es wird ja gleich wieder besser. Ich muß nur eben meine Medizin nehmen, dann - Soll ich sie dir holen? Wo ist sie denn? Ich mach das gleich selber, Paul, wenn du mir aufhilfst, so, siehst du, jetzt geht es schon wieder. Du bist mein großer, starker Junge. Wenn ich dich nicht hätte! Die Medizin, Mama, sag mir doch, wo du sie hingestellt hast, dann bringe ich sie dir. Ich hab sie in der Küche, Paul. Aber ich gehe selbst, du, findest sie nicht. Ich habe sie versteckt. Die ist nur für mich.
Er schaut ihr nach, wie sie sich durchs Zimmer tastet, an den Möbeln entlang, vom Sofa zum Tisch zum Bett bis zum Türrahmen, wie sie Mühe hat, die Klinke zu drücken und durch die Tür zu gehen, die Tür bleibt offen und er hört ihren Schritt im Flur, schlurfend über dem Boden, dann die Küchentür, jetzt - jetzt steht er verloren im Zimmer und starrt auf den Stuhl, den sie mit sich gerissen hat im Fall. Er greift nach ihm, stellt ihn wieder auf und neben den Schreibtisch, wo er gestanden hat vorher. Er setzt sich darauf und schaut vor sich hin, über den Tisch hinweg, wo die Knöpfe liegen wie er sie aufgereibt hat zum Spiel, die roten und die braunhölzernen und die blauen mit dem großen Sternenknopf an der Spitze. Er streckt die Hand aus und schiebt sie zusammen, alle durcheinander. Nein, spielen mag er jetzt nicht mehr mit ihnen. Da stellt er sich wieder vor sie hin und fängt an, sie in die Truhe zu packen, bunt durcheinander, wie er sie gerade greifen kann. Else in der Küche hat ein Glas Wasser getrunken, hastig, es soll nicht wieder schwarz werden um sie her. Sie öffnet den Schrank, im oberen Fach schiebt sie, auf Zehenspitzen stehend, mühsam einen Stapel Teller beiseite, dahinter, die Finger tasten danach, findet sie den kleinen Karton. Sie stellt ihn aufs Fensterbrett, greift nach der Spritze. Die Hand zittert noch etwas, als sie sie aufzieht. Einen kurzen Moment hält sie sie gegen das Fenster, nach oben, drückt von unten her, bis an der Nadel ein Tropfen hervortritt, dann streift sie sich hastig den Ärmel zurück, setzt die Spritze an, wartet eine Sekunde bis ihr die Hand nicht mehr so zittert und drückt den Kolben fest und peinlich genau bis zum Anschlag, ah, sie stützt sich am Fensterbrett ab und schließt die Augen. Als sie sie wieder öffnet, sind Kälte und Schmerzen verschwunden. Sie legt den Kopf in den Nacken und atmet tief durch, einmal, zweimal. Es ist vorbei. Auch die Dunkelheit wird sie jetzt nicht mehr erreichen. Alles in ihr ist wohlig und weich, und auch um sie herum, es ist - es ist doch gar nicht so schrecklich und düster und kalt, eher türkis und hellblau glitzernd, warum, warum nur hat sie das vorher nicht gesehen? Sie legt die Spritze in den Karton zurück und schiebt ihn wieder ins Schrankregal hinter den Tellerstapel. Träumen möchte sie jetzt und - aber da ist ja das Kind. Paul, ruft sie, Päulchen, bist du noch da? Und mit sicheren Schritten geht sie zurück über den Flur und ins große Zimmer, wo Paul eben damit beschäftigt ist, die Schatztruhe mit den Knöpfen wieder unters Bett zu schieben. Hast du deine Medizin genommen? fragt er sie, noch auf dem Bauch liegend. Ja, Kind, ich habe sie genommen. Und jetzt - jetzt vergessen wir das, nicht wahr? Es ist jetzt alles wieder gut. Er schaut sie von unten her an, vergewissert sich mit einem prüfenden Blick, daß sie ihm nichts vormacht. Nein, es stimmt schon. Das ist wieder seine Mama, wie sie sonst auch immer ist, mit den großen Augen, die ihn so fröhlich anlachen können. Er steht schnell auf und umarmt sie. Mama, sagt er, weißt du was? Ich habe einen ganz fürchterlichen Hunger. Du nicht? Oh Gott. Else drückt ihn an sich. Das habe ich ja ganz vergessen. Natürlich hast du Hunger, du armes Kind. Wir haben ja überhaupt nicht zu Mittag gegessen. Und jetzt ist es schon gleich wieder Abend. Was machen wir denn da? Sie überlegt. Weißt du, sagt sie, wir haben nichts eingekauft. Und nur ein paar alte Kartoffeln sind da, die wir braten könnten. Am besten ist, wir gehen ins Café. Hast du Lust? Er nickt. Dann zieh dir eben deinen Mantel an und die Mütze. Und ich packe uns noch ein paar Stifte und ein bißchen Papier ein, das nehmen wir mit. Dann können wir uns Briefe schreiben im Café. Willst du?
Es dauert nicht lange, da laufen sie nebeneinander die Treppe hinunter zur Straße, und noch bevor die Haustür hinter ihnen ins Schloß fällt, haben sie sich an den Händen gefaßt und hüpfen abwechselnd einbeinig links und rechts unter den kahlen Winterbäumen zum Kurfürstendamm. - Jetzt bin ich ein Clown, Mama, ein besoffener Clown, guck, ich kann gar nicht mehr richtig mit zwei Füßen gehen, gar nicht geradeaus. Hier, um den Baum herum, du mußt mich festhalten, du bist ja selber ein Clown, mit deinen weiten Flatterhosen. - Also: einmal so herum und einmal so. Clowns sind wir, meinst du? - Ja, fehlen nur noch die roten Nasen. - Ach, die kommen schon. Deine ist schon ganz rot, von der Kälte. - Ja? Aber deine nicht. Du bist ganz blaß. - Das ist weiße Schminke. Clowns sind ja manchmal ganz weiß geschminkt. Und überhaupt, im Laternenlicht... - Guck mal, da vorne, da geht einer. Den nehmen wir mit, wollen wir? - Hm, ja. Wir lassen einfach die Hände nicht los. Vorsicht, jetzt! - Huch, wir haben ihn. Gib mir die Hand, Mama, wir schließen ihn ein. Wen haben wir denn da gefangen? - Vorsicht, keine Angst, wir sind nur die Clowns vom Kurfürstendamm, es passiert Ihnen absolut nichts, solange Sie... na, das ist aber eine Überraschung: Päulchen, das nenn ich einen guten Fang. Kennst du den, den wir da gekapert haben? Nicht? Das ist doch unser Freund Erich Mühsam [7]. Schau ihn dir gut an, der kann auch manchmal lachen. Hallo. Jetzt mußt du mit uns kommen. -
Sie haben den Herrn im dunkeln Mantel und seinen Spazierstock mit ihren Armen umschlossen und hüpfen auf und nieder und um ihn herum. Er scheint gar nicht verwundert über diesen Ansturm, verbeugt sich immer, wenn sie ihn einmal umrundet haben, ein wenig steif, wobei er seinen Stock fest aufstützt, dreimal, viermal, bis er sich doch nicht mehr gegen ein Lächeln wehren kann: Meine Dame, mein Herr, ich kapituliere. Und ich komme freiwillig mit. Ich nehme an, wir hätten sowieso dasselbe Ziel gehabt, stimmt's etwa nicht? - Ja. - Else hält ein und auch Paul bleibt stehen: wir wollten dich ins Café des Westens entführen, eigentlich, als unsere neueste Eroberung? -- Da legt er den linken Arm um Elses Schulter und den rechten um Paul, der sich gleich seinen Spazierstock greift und ihn wie einen Taktstock vor sich herschwingt, und sagt: Nur zu, solche Entführungsziele sind bei mir sehr beliebt. Vor allen Dingen wenn es draußen so kalt ist. - Och, sagt Paul, das merkt man ja gar nicht, wenn man hüpft. Hüpfen Sie doch mit uns weiter. Dann wird Ihnen bestimmt auch ganz schnell warm. - Langsam, junger Freund, laß uns erst mal über die Straße gehen. Oder: lauf doch schon mal voraus. Du kannst es ja doch nicht mehr erwarten. Ich kann nämlich nicht mithüpfen, weißt du, meine Beine machen da nicht mehr so mit. Da müßt Ihr schon etwas Geduld haben mit mir.
Paul sieht die Mutter an, die nickt ihm zustimmend zu, da hebt er den Stock vor sich hoch in den Himmel, so weit er ihn hinaufstrecken kann und kommandiert: vorwärts marsch und eins und zwei und eins und zwei. Und im blitzschnellen Stechschritt läßt er die beiden Erwachsenen hinter sich zurück. - Er wird sich doch nicht verlaufen? - Keine Sorge. Else lacht: den Weg kennt er gut. Sie hakt sich bei ihm unter. Erich Mühsam, sagt sie und ihre Stimme schwankt immer noch zwischen Clownerei und Ernst, wir haben uns lange nicht gesehen, nicht wahr? Da mußtest du uns ja nun einmal wieder ins Netz gehen. Wo haben wir denn so lange gesteckt? Ich habe schon fast geglaubt, du bist Berlin und uns allen untreu geworden. - Nicht die Spur. - Er schüttelt heftig den Kopf mit den wirren dunklen Locken und schaut durch die runden Brillengläser in einer Art komischem Ernst auf seine Begleiterin hinunter: Ich bin zwar inzwischen ganz nach München übergesiedelt, aber es treibt mich doch immer wieder zurück. Es sind zu viele und zu gute Erinnerungen, die ich immer wieder auffrischen muß. Und die Liebe, die Liebe ach, na, dir muß ich das ja nicht erklären. Aber: in München ist alles noch näher und noch weniger frei. - Keine neue Gemeinschaft?
Er schüttelt den Kopf: nicht daran zu denken. Politische Reaktion bis ins intimste Privatleben. Philister. Puritaner. Auch unter den Genossen. - Komisch, sagt Else und macht zwei Trippelschritte, um im Gleichschritt mit ihm gehen zu können, und ich war doch ganz fest überzeugt, daß Schwabing sich durch Freiheit in jeder Beziehung auszeichnet. Ist das nicht so? - Ach weißt du..., er hält an, bleibt stehen, und jetzt stehen sie sich gegenüber und er hält ihren Ellbogen fest, während sie zu ihm aufsieht, als wolle sie ihm die Worte von den Lippen ablesen, als er nach kurzem Stocken wieder anhebt: die Bohéme, die Künstler, das sind auch in München Kreise, in denen du dich wohlfühlen kannst. Hier wie dort Menschen, die die gesellschaftliche Nutzarbeit verweigern, vor denen der Bürger Hosenschlottern, [8] hat schon allein deshalb, weil er sich fremd fühlt und ausgestoßen. Da werden ein paar wenige besonders auffällige Exemplare gefeiert, damit man den Rest umso besser verhungern lassen kann. Und dann heißt es: Ja, die Bohemiens mit ihrer brotlosen Kunst, seht sie euch doch nur an: Verbrecher, Landstreicher, Huren. Das sind, du kennst das ja selbst, Charakterisierungen, die aus Äußerlichkeiten hergeleitet werden, von äußeren Symptomen wie Kleidung und Haarschnitt, puh. Kein Unterschied zur Berliner Gesellschaft. Nur schlimmer in dem Punkt, daß es in München auch innerhalb der eigenen Reihen brodelt. Du machst dir keinen Begriff, wie ich wieder ins Kreuzfeuer geraten bin wegen meiner Auffassungen über Liebe und Ehe...
Else senkt den Kopf. Eine Weile bleibt sie still. Mit der Spitze des rechten Fußes zieht sie einen Kreis um den linken Fuß herum, von vorne nach hinten und wieder zurück. - He, sagt er, was hast du? - Ich, ich - nichts. Es ist immer und überall dasselbe, scheint mir. Und ich bin mir nicht klar darüber, wie das kommt, aber ich selber denke heute so und morgen anders. Die Liebe, ach, und die Ehe, ich habe keine Theorie. Und du solltest auch keine haben, Erich Mühsam. Es ist sowieso alles viel zu - mühsam. Sie lacht: Herwarth sagt, daß das nicht geht, eine Theorie zu haben und sie ausfüllen zu wollen. [9] Daß man alles, wie auch die Kunst, erleben muß, und daß eine Theorie, die hinterher, also nachträglich, formuliert wird, überflüssig ist, und daß, ach, ich weiß nicht. Ich verliebe mich zwar andauernd, aber ich bin schrecklich eifersüchtig. Und nichts paßt zusammen. Er nickt, sagt aber nichts. Und Else schüttelt den Kopf und hakt sich wieder bei ihm ein, und sie gehen weiter, langsam, nachdenklich. Kurz vor der Eingangstür zum Café drückt sie seinen Arm noch einmal schnell und mit beiden Händen. weißt du noch, damals, mit Sankt Peter [10] und der neuen Gemeinschaft...? Und wir haben geglaubt, das könnte immer immer so weitergehen? Sie läßt seinen Arm los und geht vor ihm durch die Tür. Drinnen, vor dem Telefonhäuschen, von dem die Kaiserbüste majestätisch den Raum zu überblicken scheint, bleibt sie stehen, wartet, bis er wieder neben ihr ist. - Und Paul? sagt sie, ah, da - schau, er ist hier wirklich wie zu Hause. Paul sitzt am großen Tisch bei Kete Parsenow [11] und Rudolf Blümner, hat Mühsams Spazierstock quer über den Tisch gelegt und vor sich einen Teller mit Bratkartoffeln und Ei. Kommt ihr endlich, sagt er bevor er sich eine Kartoffel in den Mund steckt, ich habe Anton schon gesagt, daß ihr noch Stunden braucht, und da hat er mir inzwischen schon mal zu essen gebracht. Ihr, ihr - ihr seid aber wirklich entsetzlich langweilig und hinter dem Mond. Findest du? fragt Else und zieht sich einen Stuhl dicht neben ihn. Ja, schau, der Erich und ich, wir gehören ja auch schon recht zum alten Eisen. Und ihr auch, wahrscheinlich, lacht sie zu den Freunden am Tisch, die zur Seite gerückt sind und ihr Gespräch unterbrochen haben, um sie und Mühsam zu begrüßen.
Stunden später, Else hat Paul, viel zu spät, wie immer, nach Hause und in ihr großes Bett gebracht, nachdem sie sich halb im Scherz, halb im Schmerz von den Freunden losgerissen hat, setzt sie sich noch einmal an ihren Tisch am Fenster. Die Kerze vor dem Wandspiegel flackert und vor sich, auf dem Tisch, hat sie den siebenarmigen Leuchter aufgestellt, den sie aus dem Elternhaus mit hinüber gerettet hat durch all die Jahre, da ist es hell jetzt in diesem Lichtkreis, der gerade bis zum Fensterbrett reicht, und sie legt sich ein Blatt zurecht und nimmt den Federhalter zur Hand. Einen Brief muß sie noch schreiben, [12] jetzt, in Ruhe,  nach all den Aufregungen, vorher kann sie nicht einschlafen, es ist zu wichtig.
8. XII.1909 schreibt sie in die obere rechte Ecke, schwungvoll und fein zugleich, dann legt sie die Feder beiseite und lehnt sich zurück. Die Hände vor sich auf der Tischkante sitzt sie und schaut in die Kerzen. Daß es manchmal so schwer ist anzufangen? Mit der linken Hand tastet sie hinter den Leuchter bis ihre Finger auf etwas Hartes treffen, sie hält inne, fühlt mit den Fingerspitzen, streichelt, tastet, streichelt, die andere Hand, die aus Stein, [13] die da liegt, kalt und doch weich. Sie schließt die Augen, um sich das Bild dessen, dem diese Hand aus Stein gehört, zu vergegenwärtigen, dieses junge Gesicht, schmal, mit einem Mund, der wie in spöttischem Lachen nach unten gezogen ist, die Lippen aufeinandergepreßt. Er ist einsam, durchzuckt es sie, ja, seine Liebe ist ja begraben, [14] fern von ihm, er hat sie wahrscheinlich nicht einmal leben können, Jahre ist das schon her jetzt, und er, er ist doch noch gar nicht alt, aber es wird nicht mehr lange dauern, da wird er bitter. Doch, sein Mund sieht heute schon so aus, als ob er nur noch bitter, nur noch ernsthaft und kein bißchen mehr selbstvergessen sein könnte, vierunddreißig ist er vielleicht oder fünfunddreißig, und schon längst einer der gefürchtetsten Schriftsteller seiner Stadt. Wenn er kommt, im Januar, ob auch Berlin vor ihm zittert? Zu wünschen wäre es, pah, er wird sich schon richtig einzuführen wissen.
Lieber Herzog von Wien, schreibt sie, dann weiß sie nicht mehr weiter. Hinter das Wien zeichnet sie einen Punkt, kein Ausrufungszeichen, er soll die Pause spüren, die sie jetzt wieder machen muß, denn es ist ihr noch immer zu schwer, einfach drauflos zu schreiben. Über dieses kurzgeschnittene Haar, das ihm vorne in Fransen in die Stirn fällt, möchte sie einmal streicheln. Mit den Fingerspitzen fühlen, was sich da verbirgt in diesem Kopf. Die Augen lachen ja viel intensiver als der Mund, und diese Brille, die er sich auf die schwungvoll-gerade Nase klemmt, sie kennt sie zu gut aus der Nähe, so ist auch Herwarths Brille, ach, Herwarth, die Brille, die Augen, dieser Sarkasmus - nein: keine unnötigen Ähnlichkeiten aufbauen. Es ist schon so schlimm genug... All diese Freunde.
Else beugt sich wieder über das noch so leere Blatt, sie taucht die Feder ein und schreibt:  [15] Ich habe Dr. Blümner wo anders untergebracht, er liegt nun im Fach auf einer Redaktion und harrt der Druckerschwärze. - Er soll nicht denken, daß es ihr nur darauf ankommt, ihre eigenen Gedanken bei ihm veröffentlicht zu sehen. Er ist sowieso so zuverlässig freundschaftlich und hilfsbereit zu ihnen allen in seinem Einsatz und seiner Parteinahme, das ist großartig und wahrscheinlich überhaupt niemals jemals wiedergutzumachen. Er versteht einfach, worum es geht. Sicher kann er auch Gedanken lesen.
Mir geht es schlecht, schreibt sie jetzt, - denn wozu solch einem Freund Theater vorspielen? - Ich weiß nicht mich zu finden, ich habe die Seite, meine Bibelseite verloren ob ich nun Jussuf oder der Mann im Feuerofen bin, ja das kann ich nicht sagen. Und, ohne zu unterbrechen, fährt sie fort: Abends sitze ich meist im Café da ist Ruhe, da drehen sich gleichgestimmt mit der ruhigen Freude alle Herzen große und kleine, manchmal verlieben wir uns auch Auge in Auge um auszuruhen. Schade immer wenn der Tag kommt oder jemand auf seine ausgelöste Uhr sieht - schrecklich unkünstlerisch, die Zeit muß sich totlachen.
Sie dreht den Kopf halb zur Seite, schickt einen schnellen Blick nach hinten zum Bett. Er schläft, ist bis über den Kopf eingewickelt in die dicke Decke, nur ein ganz klein wenig schwarzes Haar liegt da auf dem Kissen, sie möchte hinlaufen und darüberstreicheln, aber sie bleibt sitzen wo sie ist. Ich lüge, denkt sie, da hinten liegt mein Sohn und schläft, und ich sitze hier und schreibe, daß es mir schlecht geht. Ich verleugne ihn, nein, ich verleugne mich, es ist alles so banal im Grunde, und so leicht zu beheben, das Kind, was wäre ich ohne das Kind?
Jetzt ist sie doch aufgestanden, auf Zehenspitzen zum Bett gegangen, mit hängenden Armen steht sie da und schaut auf das Büschel schwarzes Haar zwischen Decke und Kissen.
Päulchen, flüstert sie, Liebling, kleiner Schatz. Und ganz ganz behutsam klettert sie auf das Bett, kniet vor diesem Kissenberg, und wie sie nicht wagt, sich zu rühren, sieht sie ihn wieder vor sich, wie er heute Abend, mit dem Stock in der Hand so stolz fortmarschiert ist, und hört seine Stimme: und eins und zwei und eins und zwei. Und da streckt sie ganz schnell die Hand aus und streicht nun doch über diesen Haarschopf und weiß nicht, ob sie nicht lieber jetzt die Decken beiseiteschieben und sich in diese Wärme mit hineinkuscheln soll. Aber sie hält sich zurück, reißt sich fast gewaltsam hoch und steht im selben Moment wieder neben dem Bett, dehnt sich, dreht sich, geht die paar Schritte auf den Spiegel zu und schaut nun durch ihn auf das schlafende Kind hinter sich. Da steht sie, minutenlang in der Lichtinsel, die die Kerze um sie herum verbreitet, bis sie, ohne den Kopf zu bewegen, sich wieder selbst ins Auge faßt: so ist es eben, immer dies Hin und Her, hier das, was sie verfolgen muß mit ihren Verbündeten, mit ihren Freunden, mit ihren Leidenschaften und Träumen, dort das, was sie nicht von sich weisen will, was sie stark macht und was ihr Stärke abfordert, wo sie gebraucht wird und geliebt wird, bedingungslos, und was ihr schlechtes Gewissen macht, heute und jetzt und immer schon. Zweigeteilt, sie, janusköpfig. Sie schaut sich ins Gesicht, blaß, mit so glänzenden Augen, dann dreht sie sich um und geht wieder zum Schreibtisch, setzt sich vorsichtig und schreibt:
Aber dankbar bin ich Ihnen, lieber Herzog von Wien, für alles Gute an uns, doch, das ist es ja auch: sie muß es ihm doch schreiben, muß ihm sagen, wie sehr er ihr hilft, wie er ihnen allen hilft in diesen wirren Tagen des Streits, wenn er die Erklärungen veröffentlicht in seiner Zeitung, wenn er selbst das Wort ergreift in diesem Kampf gegen die öffentliche Meinung, die nur deshalb die öffentliche sein kann, weil da Geld und ein Titel und Macht dahinterstecken, während Herwarth und alle die Freunde sich die Finger blutig schreiben können, auch wenn sie noch so im Recht sind.
Und plötzlich muß sie daran denken, wie sie heute abend, als sie schon vor dem Café standen, weil sie Paul ja nach Hause bringen wollte, diesen Mann auf der anderen Straßenseite vorbeigehen gesehen hat, ganz ruhig, und wie es sie durchzuckt hat, daß das kein anderer sein konnte als der gehaßte, gefürchtete Nissen, der Herwarth, wenn der Prozeß nicht bald beendet sein würde, auf dem Gewissen haben würde, ach, nicht nur Herwarth, sie auch, ihr ganzes Leben hatte sich doch verändert in diesen Monaten seither, und diese müßigen Streitereien, die ständig zwischen ihnen entstanden und die immer nur um das eine sich drehten: Nissen, Nissen, Nissen, und was Nissen aus der ganzen Geschichte machen würde. Und sie sieht sich da stehen neben Erich Mühsam, der sich gerade von ihnen verabschieden will, weil sein Weg ihn jetzt in die andere Richtung führt, und sie sieht sich in plötzlich aufflammender wilder Wut nach seinem Stock greifen, um über die Straße auf diesen Mann zu stürzen, und sie fühlt wieder, wie Mühsam sie festhält und sie nicht freigibt, wie er auf sie einspricht und sie ganz fest am Arm hält bis, ja, bis der da drüben im Dunkeln verschwunden, einfach untergetaucht ist, und wie sie dasteht, mit dem Stock in der Hand und Mühsams Griff fest an ihrem Arm spürt und wie er auf sie herunterschaut und halb lachend, halb ärgerlich sagt: in dieser Gesellschaft bekommst du dafür Gefangnis nicht unter einem halben Jahr, also, überleg dir wenigstens, ob du dich wirklich für so lange Zeit aus dem Gefecht ziehen lassen willst.
Jetzt schreibt sie ganz schnell: ich hatte Mühsam seinen Stock abgenommen draußen und wollte Nissen verhauen, aber Mühsam sagte, das gebe 6 Monate und so müde bin ich nicht. Nein, sie schüttelt sich, sie hat vorerst wirklich noch andere Pläne: Am 14. spreche ich in der Finkenschaft hier, auch ein Gedicht darin Sie vorkommen - vielleicht sie hat wieder sein Bild vor sich, dieses altklug-junge traurig-überhebliche Gesicht, vielleicht, schreibt sie, sag ich das auch nur um Ihnen etwas Schönes zu sagen. Lieber Herzog - sie zögert wieder, aber nur kurz, denn es ist gut so jetzt, was sie geschrieben hat, wird er verstehen, also taucht sie die Feder zum letzten Mal ein: ich grüße Sie, und da Sie die Sterne so lieben, schenke ich Ihnen diese. Tino von Bagdad. Und kreuz und quer und überall, bis ihr die Tinte versiegt, werden Sterne über den Brief verteilt.
Sie liest noch einmal von Anfang an, ja, genau so sollst du es haben Karl Kraus, Herzog von Wien, du mit dem spöttischen Mund, den ich küssen möchte und der mir nie, nie nah genug sein wird. Gleichgesinnter, Freund in der Ferne, Erhabener, durch die Macht deines Wortes Herrschender.
Sie schraubt das Tintenglas zu, bläst die Kerzen im Leuchter aus, eine nach der anderen. Jetzt hat sie nur noch das Licht im Spiegel, vor dem Spiegel. Sie öffnet das Fenster einen Spalt, atmet tief die kalte Winternachtluft ein. Der Luftzug streicht übers Papier, bläht es eine Sekunde lang hoch, läßt es sich wieder glattlegen. Else überlegt, ob es so liegenbleiben kann, dann faltet sie es doch zusammen, steckt es in ein Kuvert, sie schraubt noch einmal das Tintenfaß auf, taucht die Feder hinein, schreibt die Adresse. Und weil sie auch noch eine Briefmarke findet, trotz der Dunkelheit auf dem Tisch, klebt sie sie auf den Umschlag und läuft mit ihm schnell, ohne sich lang nach einem Mantel, nach einem Schal umzusehen, zur Tür hinaus und auf die Straße und weiter zum Café, wo sie den Brief dem Kellner Anton zustecken will, der ihn, zuverlässig wie er ist, weiterbefördern wird. Das Café und die Freunde und Herwarth - ach.