Januar 1910

Kaltnasser Schneesturm verstärkt ihr den Druck des Körpers, als Else sich gegen die schwere Haustüre stemmt, peitscht hinter ihr in den Flur.  Sie hastet die Treppe nach oben, atemlos steht sie, während unten die Tür ins Schloß fällt, vor der dunkelbraun gestrichenen Wohnungstür, an der es kein Namensschild gibt.  Mit vor Kälte halberstarrter Hand zieht sie die Glocke, lauscht nach dem schüchternen Klang, dann lehnt sie sich mit geschlossenen Augen gegen den Türrahmen, die Hand, die noch am Glockenzug festhält, reißt diesen heftig nach unten, einmal, noch einmal.  Die Glocke schrillt durchs Haus.  Else laufen die Schneeregentropfen übers Gesicht wie Tränen, naß ist sie durch und durch und innen und außen fiebrig heiß und schauerlich kalt zugleich.  Ein Schütteln läuft ihr durch die Knochen, der Arm sinkt an ihrer Seite herab, sie möchte sich ihm nachfallen lassen bis auf den Fußboden, zusammengekauert sitzen hier vor der Tür, hinter der immer noch nichts sich regt.  Mit einer letzten Anstrengung greift sie noch einmal nach dem metallenen Strang, zieht ihn zu sich herab, und während sie den Kopf nach dem Glockenton hebt, würgt sich aus ihrer Kehle ein Schluchzen, mit dem sie nun endgültig in sich zusammensinkt auf die Schwelle, den Kopf in die Hände vergraben auf den Knien.  Sie hört nicht, wie innen nun endlich ein leichter Schritt sich nähert, wie die Tür geöffnet wird, hockt einfach da wie ein Häufchen Elend mit abgewandtem Gesicht und weint. 
- Else! - Da dreht sie den Kopf, und mit einer Wendung des ganzen Körpers streckt sie die Arme aus, läßt sich umfangen und vom Boden hochzerren, taumelnd steht sie, fest an den Freund gelehnt, es ist, als wäre das Haus ein schwankendes Schiff, und die Wellen, die es hin-und herschütteln, kämen von innen her, aus Else heraus, und es scheint gar nicht vorbeizugehen. - Komm, sagt er und hält sie ganz fest und führt sie wie eine Blinde in die Wohnung hinein, zieht die Tür hinter sich zu und steht dann mit ihr im Arm im dämmrigen Flur zwischen den Zimmern: Mein Gott, Else, ich dachte, du seist noch in Prag.  [1]
Sie schüttelt den Kopf, reden kann sie noch nicht, und er hilft ihr aus ihren nassen Sachen, nimmt ihr die Mütze vom Kopf, wickelt ihr den Schal vom Hals, zieht ihr die Arme aus dem Mantel.  Sie läßt es mit sich geschehen wie ein gehorsames Kind, steht da, noch etwas schwankend, und schaut auf die Fußspitzen, auf das fleckig-durchtränkte Leder der silbergrauen Stiefeletten.  Zieh die auch aus, sagt er, der ihrem Blick nachgefolgt ist, ich geb dir ein Paar dicke Socken.  Du holst dir ja den Tod so.  Und als sie noch zögert, sich nicht rühren zu können scheint, bückt er sich und öffnet ihr die Schuhe, streift sie ihr ab und schiebt sie beiseite.  - Komm, sagt er noch einmal, greift nach ihrer Hand und zieht sie ins Zimmer, hier drinnen ist es warm.  Setz dich dahin in den Sessel zum Ofen, ich bring dir die Socken und eine Decke zum Einwickeln.  Und ein Taschentuch auch.  - Er geht noch einmal über den Flur in das andere Zimmer.  Als er zurückkommt mit der Decke über dem Arm und einem Paar Wollsocken in der Hand, und Else immer noch dasteht, wo er sie hingestellt hat, und blicklos vor sich hinstarrt, schüttelt er den Kopf und brummt sie an: Nun mach dich mal vorwärts, dort hinüber, da, in den Sessel sollst du dich setzen, wie kann ich dich denn zudecken, wenn du dastehst wie eine Salzsäule? - Und schiebt sie vor sich her, drückt sie hinunter in die Plüschpolster, legt ihr die Decke über von den Schultern bis hinunter zu den Fußspitzen, bückt sich dann aber und zieht ihr erst noch die Wollsocken über die Füße.  So, sagt er und schaut sie von unten herauf an, jetzt mußt du nur noch aufhören zu weinen.
Aber da ihr Gesicht noch immer keine Reaktion zeigt, steht er auf und schlurft mit einem Kopfschütteln in die Küche, von wo er schnell wieder zurückkehrt, in jeder Hand ein Wasserglas randvoll mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.  Das ist Goldwasser, sagt er, während er ihr eines der Gläser unter die Nase hält, riech mal, das wird dir helfen.  Und er setzt es ihr an die Lippen, ganz vorsichtig, bis sie den duftenden Inhalt des Glases berühren, und Else schluckt, einmal, zweimal, und dann muß sie fürchterlich husten.  Er hält das Glas in sicherem Abstand und, während er mit verschmitztem Blick beobachtet, wie sie sich schüttelt und beim Husten ganz rot wird im Gesicht, nimmt er aus dem anderen Glas einen tiefen Zug, schluckt und stößt genüßlich mit offenem Mund den Atem aus: ahh.  So, jetzt nimm dein Glas mal selber und trink noch ein bißchen nach, einen ganz kleinen Schluck wenigstens, das hilft, sag ich dir, gegen alles, gegen Kälte und gegen Weltschmerz und hier.  Er reicht ihr das Glas in die ausgestreckte Hand, die sie unter der Decke hervorgezogen hat und nickt ihr aufmunternd zu.  Und Else trinkt, nippt erst noch vorsichtig, dann schluckt sie mutiger den Inhalt des Glases bis über die Hälfte weg.  - Puh, sagt sie und reißt Augen und Mund auf, das brennt ja wie Feuer, und japst nach Luft und lacht.  - Na also.  - Er zieht sich einen Stuhl zu ihr her setzt sich ihr gegenüber: mußt ja nicht alles auf einmal trinken, wenn du nicht willst, aber, wie gesagt: beste Medizin von ganz Berlin, kannst du mir glauben.  Sie hält das Glas auf der Sessellehne und schüttelt den Kopf: nicht gegen alles, Peter, nicht bei mir.  - Und da hat sie schon wieder Tränen in den Augen und wird vom Schluchzen geschüttelt wie in einem Krampf.
Mädchen, er rückt an sie heran, legt ihr die Hand auf die Knie, wartet.  Es dauert, bis es in ihr wieder abebbt, lange Minuten, wo er nur schweigt und ihre Knie streichelt und sie beobachtet.  Als sie endlich zur Ruhe gekommen ist wieder und mit hängenden Schultern und vornübergebeugt sitzt, ohne ihn anzusehen, zieht er seine Hand von ihren Knien zurück, trinkt noch einen Schluck aus seinem Glas, räuspert sich und bittet sie dann: Nun sag mir doch endlich, warum du nicht mehr in Prag bist, vielleicht verstehe ich dann alles andere ja ohne große Erklärung. Die Art, wie sie ihn ansieht, so, als wäre er gar nicht da, als würde sie ihn zumindest nicht erkennen, macht ihm die Situation nun doch etwas unheimlich.  So in Schmerz getaucht hat er sie lange nicht gesehen. Sie wischt sich mit dem Handrücken über die Augen, schüttelt mit einer Kopfbewegung das Haar aus der Stirn und sagt mit tonloser Stimme: du wirst es nicht glauben, Peter, du wirst es nicht glauben, es ist so infam, so undenkbar infam, ich, ich kann es immer noch nicht fassen. Da hat ihr das Weinen wieder die Gewalt über die Stimme genommen, aber dieses Mal reißt sie sich zusammen, schnaubt die Nase in das von ihm bereitgelegte Taschentuch, nimmt einen Schluck aus dem Goldwasser-Glas, richtet sich kerzengerade auf und sagt dann, zittrig noch aber schon mit entschlossenem Unterton: du mußt mir versprechen, daß du es niemandem weitersagst, auch nicht deiner Frau.  Ehrenwort, das geht niemanden etwas an, Peter Baum, nur du darfst es wissen, weil du mein Freund bist und weil ich - ach - sie sinkt in sich zusammen - weil, ich bin doch ganz allein. Sie lehnt sich zurück, mit den Augen tastet sie sich an den grauen Stuckornamenten der Zimmerdecke entlang, schweigt, sitzt mit aufeinandergepreßten Lippen. Er beobachtet sie, wartet.  Mit der rechten Hand streicht er sich seinen spitzen Bart, gleichmäßige Bewegung von den Wangenknochen bis zur Bartspitze, immer von neuem.  Die Straßengeräusche übertönen das Prasseln der Regenschneetropfen gegen das hohe Fenster nicht, es ist, als hätte das Wetter draußen einen Schutzwall um dieses Zimmer gebaut, in dem sie sitzen neben dem Kachelofen, alte Freunde, Vertraute von Jugend an.  Es gibt Leute, die halten sie für ein Liebespaar.  Daß es nicht so ist, Peter Baum hält in der streichelnden Bewegung an seinem Bart inne, deckt sich für eine Sekunde die Hand über die Augen: seine Schuld ist es nicht.  Als er den Kopf wieder hebt und zu Else hinüberschaut, treffen sich ihre Blicke. - Ich hatte so ein schlechtes Gefühl da in Prag, murmelt sie, die ganze Zeit über schon.  Es war richtig grotesk: ich hätte noch mehr Lesungen machen können, die Leute waren so freundlich und interessiert, ich glaube, sie haben verstanden, was ich ihnen erzählte, wirklich, du, ich mußte die ganze Zeit daran denken, daß ich noch vor meiner Abfahrt vom Görlitzer Bahnhof aus an Kraus eine Karte [2]* geschrieben habe, ich sei auf dem Weg nach Theben: ich wußte doch, daß ich ihn nicht mehr in Berlin treffen würde, wenn ich zurückkäme, aber ich war gar nicht traurig wegzufahren, weil ich, naja, mir war, als führe ich in wärmere, hellere Gegenden.  Und dann kam ich an, und alle waren so nett zu mir, aber schon nach dem ersten Abend dachte ich, ich könnte nicht länger bleiben.  [3]  Hatte ständig das Gefühl, daß hier in meiner Abwesenheit irgend etwas ganz Fürchterliches passieren würde, konnte mich gar nicht mehr einlassen, und, also, du siehst ja: ich bin zurückgefahren.  Habe nicht telegraphiert vorher.  Das war der Fehler.
Sie hält inne, zieht die Beine unter sich auf den Sessel, starrt dann auf ihre Knie. Baum, in die Pause hinein will er nichts fragen, steht auf und geht zum Schrank neben dem Fenster, öffnet ihn, holt Pfeife und Tabaksbeutel hervor.  Mit drei Fingern greift er in den hinein, hält den Tabak gegens Licht, als wolle er ihn auf Echtheit hin prüfen.  Dann dreht er sich zurück ins Zimmer, und, während er beginnt, seine Pfeife zu stopfen, kommt er wieder zu Else und setzt sich umständlich auf seinen Stuhl.  Er weiß ja, was sie erzählen wird.  Er drückt mit dem Daumen den Tabak im Pfeifenkopf fest, nimmt die Pfeife zum Mund, saugt am Mundstück.  Dann steht er noch einmal auf, sucht auf dem Tisch, der in der Mitte des Zimmers steht, nach Streichhölzern.  Er zündet die Pfeife an, bevor er sich wieder setzt. Als Else jetzt weiterspricht, ist ihre Stimme fest wie immer.  - Gestern abend, sagt sie, ich bin ziemlich spät erst angekommen, bin ich gleich ins Café gegangen vom Bahnhof aus.  Ich dachte, ich würde Herwarth da wohl am ehesten treffen.  Er war aber nicht da, und niemand wußte, wo er war, Kurtchen auch nicht und Antori nicht und niemand.  Ich habe gewartet.  Sie hebt ihr Glas in Augenhöhe, streckt es dann von sich gegen den Freund: hast du noch mehr davon?Er nickt, nimmt das Glas und steht auf - Nein, sagt sie, bleib da.  Es hat Zeit. Er steht vor ihr, unschlüssig. - Ich möchte auch noch einen Schluck, sagt er dann und geht auf die Tür zu, ich kann ja die Flasche holen. In der Küche wischt er sich mit dem Handrücken über die Stirn.  Daß es so schwer ist.  Daß er ihr nicht helfen kann.  Daß er nichts wünscht, als ihr diesen Schmerz lindern zu können.  Er nimmt die Flasche vom Fensterbrett, wo er sie hingestellt hat vorhin, zieht den Korken ab, setzt sie an den Mund.  Wahrscheinlich geht es ihm gerade nicht besser als ihr. Peter, sagt sie, als er wieder da ist und die Gläser für sie beide vollgeschenkt hat, es war der furchtbarste Abend, an den ich mich erinnern kann.  Ich saß da und wartete, und weil ich immer zittriger wurde, habe ich ein Glas Rotwein nach dem anderen getrunken.  Alle am Tisch waren so entsetzlich gut gelaunt, und ich habe ihre Witze gehört und sie nicht verstanden und mitgelacht. 
Irgendwann hat Kurtchen mir eine Droschke bestellt, und ich weiß nicht einmal mehr, wie ich in die Wohnung gekommen bin.  Nur, als ich da war und alles so dunkel und Herwarth immer noch nicht zu Hause, ich muß mich völlig vergessen haben.  Heute morgen bin ich aufgewacht, da lag ich auf dem Boden in seinem Zimmer vor dem Flügel, und als ich in die Küche gehen wollte, um Wasser zu trinken, war der ganze Flur voller Scherben, unser ganzes Geschirr, verstehst du, alle meine geliebten Goldrandtassen: kaputt.  Und als ich im Schrank nach meiner Spritze suchte [4], ich konnte sie nicht finden.  Er hat sie mir weggenommen und - sie schlägt die Hände vors Gesicht, weil sie jetzt doch wieder vom Weinen geschüttelt wird - er ist fort, Peter, Herwarth ist fort. Daß es so schwer ist. Baum nimmt die Pfeife aus dem Mund, legt sie neben seinen Stuhl, steht auf, geht zu ihr.  Mit den Armen drückt er sie an sich.  Wein nur, sagt er, verdeck nochmal, wein! Ich kann ja verstehen, daß dir danach ist. Aber in seinem Kopf arbeitet es andersherum.  Er kennt Else, kennt ihre Gefühle und ebenso die Szenen, die sie braucht.  Er muß jetzt vorsichtig sein mit ihr. - Peter, schluchzt sie, das ist das Ende.  Ich fühl mich so betrogen.  Das ist eine solche Gemeinheit.
Alle haben gesagt, sie wüßten nicht, wo er ist. . . Und, fragt er, weißt du es denn?Da nimmt sie den Kopf hoch, von einer Sekunde auf die andere hört sie auf zu weinen: ja, sagt sie, stell dir vor, ich weiß es.  Ich habe ihn nämlich heute morgen gesehen, als er zu seinem Friseur ging, wo er sich immer rasieren läßt.  Ich habe gewartet auf ihn, neben dem Blumengeschäft, aber so, daß er mich nicht sehen konnte.  Und er war nicht allein.  Er ist die Straße herunterspaziert gekommen wie ein verliebter Pennäler, engumschlungen mit ach, - sie sinkt wieder in sich zusammen, ihre Stimme wird vom Weinen verschluckt: es ist ja auch nicht wichtig, ich will diesen Namen gar nicht aussprechen müssen, das war eine Freundin von mir [5], weißt du, eine Freundin es ist, es ist - so - un-glaub-lich. . . Der Schmerz hat sie wieder überwältigt, sie windet sich in Tränenqualen, und während Baum sie umfangen hält und sie liebevoll an sich drückt, stammelt sie: Und das Schlimmste, weißt du, ist, daß er mir nie ein Wort davon gesagt hat.  Kein Sterbenswort. [6] Nichts.  Und ich fahre weg für ein paar Tage, und er hat nichts Eiligeres zu tun als. . . Plötzlich rafft sie sich hoch, und Peter Baum erschrickt über diesen unheimlichen Glanz, den ihre tränennassen Augen bekommen haben und über das, was er sie jetzt sagen hört mit einer ganz fremden Stimme, deren Härte er bisher nicht gekannt hat: ich bringe sie um.  Ich bringe sie um, alle beide. Mit der Hand streichelt er ihr übers Haar, drückt seinen Kopf gegen ihren.  Daß es so schwer ist! Und als sie schweigt, sagt er leise und wiegt sie dabei wie ein Kind, das gefallen ist und sich das Knie blutig geschlagen hat: mach das nicht.  Es würde dir leidtun.  Mach es nicht, bevor du nicht mit ihm gesprochen hast. Sie hört ihm gar nicht zu. - Ich bringe sie um, murmelt sie ein übers andere Mal.  Ich bringe sie um. Da schweigt er, hält sie nur fest, wiegt sie in seinen Armen. Es ist still um sie her.  Der Sturm draußen hat nachgelassen.  Kein Laut von außen, keiner innen.  Bis sie sich aus seiner Umarmung befreit, mit beiden Händen an den Kopf faßt und wimmert: mein Kopf, mein Kopf.  Wie mit lauter Nadeln. . .  Sie sitzt vornübergekrümmt, hält ihren Kopf mit beiden Händen fest: ich werde wahnsinnig. Er steht auf, faßt sie am Arm. Leg dich ins Schlafzimmer, sagt er, ich lauf eben um die Ecke zum Doktor.  Der kennt dich doch, oder?Sie nickt. Kein Problem.  Komm. Er hilft ihr hoch, stützt sie auf dem Weg in das andere Zimmer, deckt sie zu, als sie auf dem Bett liegt.  - Ich bin gleich wieder da. Als Else die Tür hinter ihm zuschlagen hört, setzt sie sich auf.  Mit flackernden Augen sieht sie um sich, wartet.  Dann sinkt sie stöhnend zurück.  Alles in ihr ist zum Zerbersten angespannt.  Sie wühlt den Kopf ins Kissen.  Wenn es da nur nicht so fürchterlich stechen würde! Wenn sie diesen Schmerz nur einfach vergessen könnte. Sie wirft sich herum, kneift die Augen zu.  Das helle Winterlicht, das zum Fenster hereinfällt, schmerzt auch.  Alles schmerzt.  Sie zieht sich die Wolldecke über den Kopf.  Nein, das geht auch nicht, da erstickt sie ja.  Wo er nur bleibt? Ob er den Doktor nicht angetroffen hat und ihn jetzt irgendwo suchen muß? Wenn er zurückkommt ohne das Linderung versprechende Päckchen? Wenn er nur zurückkommen würde. . .  !Sie kennt diese Angst, die da in ihr hochgekrochen kommt, kennt sie gut, seit vielen Jahren.  Sie lebt ja mit ihr, so lange sie denken kann.  Es gibt nur ein Mittel, das hilft.  Und das, was Herwarth bloß mit den Spritzen gemacht hat? Ob er nein, nicht daran denken.  Es ist schon so alles schlimm genug.  Aber zuzutrauen wäre es ihm, jetzt, wo er sowieso entschlossen ist, sie zu verlassen, daß es ihm völlig gleichgültig ist, was aus ihr wird.  Daß sie nicht leben kann ohne die Spritze, weiß er genausogut, wie daß sie nicht leben kann ohne ihn.  Daß sie nur ohne die Spritze leben kann, wenn sie nicht ohne ihn leben muß. . .  Aber das ist ihm ja wohl jetzt alles egal.  Er wird sie verlassen und sie soll sie vor die Hunde gehen?
Jetzt sitzt sie wieder aufrecht im Bett, das Stechen im Kopf ist vergessen für einen Moment, auch die zitternden Hinde: das würde euch so passen, murmelt sie hinter geschlossenen Zähnen, ha! Denkt bloß nicht, daß ihr mich so leicht loswerdet.  Da irrt ihr euch ganz gewaltig.  So einfach geht das nicht.  Nicht mit mir. Sie läßt sich wieder hintübersinken, bedeckt die Augen mit beiden Händen.  Noch lebe ich.  Ha freut euch bloß nicht zu früh! Sie wälzt sich auf die Seite, zieht die Decke bis ans Ohr.  Und als Peter Baum, der zurückgekommen ist, die Tür öffnet, schläft sie. Er macht die Tür leise wieder zu, steht im Flur und überlegt.  Er sollte wohl besser schnell noch einmal nach unten gehen zum Kaufmann, Brot holen und Milch, vielleicht auch Kaffee und, ja, eine neue Flasche Goldwasser könnte nicht schaden, der kleine Rest, der geblieben ist, reicht nicht mehr weit.  Oder ob er nicht lieber überhaupt etwas mitbringen soll für ein richtiges, warmes Essen? Es ist ja nicht abzusehen, wie lange sie schläft, und ob sie dann Lust haben wird, mit ihm ins Café zu gehen? Vielleicht ist es besser, sich auf einen Tag zu Hause einzustellen, ganz in Ruhe.  Er wird den Herd in der Küche anheizen und auch das Feuer im Kachelofen im Zimmer nicht ausgehen lassen, daß es ganz warm ist überall.  Daß man vergißt, wie draußen Schnee und Regen durch die Straßen peitschen.  Ja, so wird er es machen, das ist wohl das beste, jetzt, solange Else schläft, zum Kaufmann und alles heranholen, was sie brauchen werden, und dann, wenn sie aufwacht, hat er vielleicht das Essen schon fertig und sie können sich ins Zimmer setzen und er zieht seine Geldbörse aus der Manteltasche, öffnet sie und hält sie sich vor die Augen.  Daß es immer so dunkel ist in diesen Fluren! Er tritt in die Türe zur Küche, schaut sich den Inhalt der Geldbörse an.  Pfennige! Es wird nicht reichen.  Aber er hat die Rechnungen beim Kaufmann aus den letzten Tagen bezahlt, im Notfall kann er anschreiben lassen.  Hinter der Küchentüre findet er die Einkaufstasche.  Die nimmt er, und als sein Blick aus dem Fenster fällt mitten hinein in den Schneeregenschauer, der die Hinterhofkonturen fast verschluckt, schlägt er sich den Mantelkragen hoch, duckt sich mit hochgezogenen Schultern ganz hinein in dieses dunkelbraune Tuchmonstrum, kneift die Augen zusammen und verläßt mit gebeugtem Kopf noch einmal die Wohnung. Als Else aufwacht, weiß sie erst gar nicht, wo sie ist.  Kalt ist ihr.  Mit den Händen tastet sie neben sich. 
Das fühlt sich so fremd an, kalt und leer und fremd.  Sie hebt den Kopf, bemüht sich, die Augen offen zu halten, sich umzusehen.  Das ist doch nicht ihr Bett, nicht ihr Zimmer! Der Kopf sinkt ihr wieder ins Kissen, alles um sie her dröhnt.  Nein, das sind Nadeln, die auf sie einstechen, tausende.  Und warum ist es so dunkel? Man kann ja kaum etwas erkennen.  Sie schließt die Augen von neuem, wartet, daß der Schmerz weniger wird.  Nein, schreit sie plötzlich, nein, nein! - Mit den Händen hält sie den Kopf umklammert, sitzt da in diesem fremden Bett und es tut alles so weh.  Else! hört sie eine Stimme von irgendwoher, ganz nah klingt die, Else.  Sie dreht den Kopf, alles wankt um sie herum, aber da steht ja Peter Baum, steht neben ihr und streckt seine Arme aus, drückt sie an sich.  - Else, Mädchen.  - Sie läßt sich festhalten von ihm, jetzt weiß sie auch wieder, wo sie ist, das ist sein Zimmer, sein Bett, und er hat sie zugedeckt und ist weggegangen, bevor sie eingeschlafen ist, und jetzt ist sie wieder wach und er auch wieder da, und hinter ihm durch die Tür kommt so ein merkwürdiger Geruch, so ein Geruch, der so gar nicht in dieses Zimmer, in diese Wohnung paßt: Peter, sagt sie, was machst du? Was riecht denn hier so seltsam? - Seltsam? Das ist. . .  ich koche.  - Du kochst? D u kochst? Das muß ich sehen.  - Sie hat sich schon freigemacht aus seinem Arm, steht neben dem Bett, aber nein, es ist zum Wahnsinnigwerden, dieser Kopfschmerz.  Mit einem Aufstöhnen klappt sie wieder in sich zusammen, kauert auf dem Bettrand.  - Bleib sitzen, sagt er, warte einen Augenblick.  Ich habe dir doch dein Morphium besorgt vorher, konnte es dir bloß nicht geben, weil du ja eingeschlafen warst inzwischen. Ist es sehr schlimm? fragt er, als er wieder hereinkommt, das Päckchen mit der Spritze und der Ampulle in der Hand, und sich neben sie auf die Bettkante hockt.  - Hier, soll ich, oder willst du lieber selbst?
Else hat das Päckchen schon in der Hand, ohne ein Wort zu sagen, reißt sie die Papierhülle ab, ihre Hände, die erst noch zittern, werden ganz ruhig als sie mit der Spritze hantiert, mechanisch-routinierte Bewegungen.  Er beobachtet sie, wie sie die Spritze senkrecht nach oben hält, den Kolben drückt von unten her bis da Widerstand spürbar ist.  Er sieht, wie sie einhält als an der Nadel ein kleiner Tropfen hervortritt, wie sie den Ärmel am linken Arm hochschiebt und traumwandlerisch-sicher die Stelle findet, wo sie die Nadel ansetzt, wie sie ohne zu zögern die Nadel ins Fleisch drückt und mit dem rechten Daumen den Kolben nachschiebt, wie sie die Hand mit der Spritze sinken läßt und den Kopf beugt, mit dem Kinn auf der Brust dasitzt und zwei-, drei-, viermal tief durchatmet.  Da ist ihm so beklommen in der Brust, und er sitzt da und wagt kaum zu atmen, bis sie den Kopf hebt und ihn mit einem zittrigen Lächeln ansieht und mit weit offenen dunklen Augen.  - Das war. . .  in letzter Minute, sagt sie und drückt seinen Arm, du hast mich gerettet.  Und in ihrem Blick ist nun wieder der Kinderschalk, und da kann auch er wieder tief Luft holen.  - Aber kalt ist mir immer noch, puh, schaurig kalt, schüttelt sie sich und springt auf die Füße mit einem Schwung, der ihn überrascht.  Komm, sagt sie, jetzt will ich sehen, was du da machst in der Küche.  - Sie greift nach seiner Hand und zieht ihn hoch und zusammen gehen sie über den Flur. - Das riecht ja, sagt sie und reckt die Nase in die Höhe, als wenn du ein ganzes Schwein braten würdest. - Hm, macht er und nimmt den Deckel von einem der Töpfe, schau selbst: das ist Kohl, und das sind Würste, die habe ich angebraten vorher, und die liegen jetzt da drin und warten, daß wir sie essen.  Und da, in dem hinteren Topf, kochen Kartoffeln.  Die sind aber bald fertig.
Else steht vor dem Herd und schaut in die Töpfe, und wie sie den Freund da so eifrig erklären bört, ist sie ganz gerührt und bekommt nasse Augen. - Das hast du alles gemacht, ganz alleine? fragt sie und schluckt.  Das ist ja, Peter Baum, du bist phänomenal! Was du alles kannst. . . Warum hat sie jetzt dieses Kratzen im Hals, das sich nicht wegschlucken läßt? Sie legt ihm die Hand auf den Arm und er schaut auf sie hinunter, wie sie da neben ihm steht und immer zwischen den Töpfen auf dem Herd und ihm hin- und herschaut. - Ich kann's gar nicht glauben, murmelt sie.  Das ist ja wie - wie - wie zu Hause bei Muttern. - Hm, macht er wieder und schiebt sie von sich weg: nun geh mal rein ins Zimmer und setz dich an den Ofen, daß dir wieder warm wird, und ich bleib eben noch hier und passe auf die Kartoffeln auf.  Und wenn die weich sind, sag ich dir Bescheid, und dann nimmst du drüben die Teller aus dem Schrank und stellst sie auf den Tisch, und ich bringe alles hinüber und dann werden wir ja sehen, ob's auch schmeckt wie bei Muttern. Else steht im Türrahmen und will noch etwas sagen, aber dann schluckt sie es hinunter und geht wie ein folgsames Kind in das große Zimmer der Wohnung, wo sie gesessen haben vorher, als sie ihm ihr Herz ausgeschüttet hat.  Sie sperrt die Schranktüre auf und holt die Teller hervor, die mit den blauen Blütenranken darauf, und stellt sie auf den großen Tisch in der Zimmermitte, und aus der Schublade holt sie Messer und Gabeln und legt alles zurecht und rückt und schiebt, aber es will ihr nicht gefallen.  Seufzend stellt sie alles wieder ineinander, nimmt die geblümte Decke vom Tisch ab und legt eine weiße, die sie im Schrank gefunden hat, auf.  Auf Zehenspitzen kann sie auch den Kerzenleuchter, der oben auf dem Schrank steht, erreichen.  Der muß genau in die Tischmitte, und hinter ihn kommt der große Topf mit der Zimmerlinde, die auf dem Fensterbrett ihren Platz hat.  Das sieht nun aus wie ein kleiner Altar mitten in üppigem grünen Gebüsch.  So mag es angehen.  Teller und Silberbesteck davor sind nun viel festlicher gestimmt und die blauen Blütenranken im Porzellan heben sich prachtvoll aus dem glänzenden Weiß des Tisches.  Else steht sinnend davor, jetzt fehlen nur noch die Gläser.  Aus zartem Kristall müßten sie sein, aber die gibt es nicht hier, nicht im Schrank, nicht in der Küche.  Einfache Wassergläser, nun gut, und daneben doch wenigstens zwei von diesen zierlichen Kaffeetassen, über die rote Blumen gestreut sind wie auf einer Frühlingswiese.  Else hat oft schon Kaffee aus ihnen getruriken hier, an diesem Tisch, und knüpft gute Erinnerungen an sie.  Was fehlt noch? Kleine Löffelchen und die Zuckerdose und eine große Kelle für die Schüssel mit Würstchen und Kohl.  Jetzt die Kerzen angezündet, oh, wie die funkeln vor den samtigen Lindenblättern, als gälte es, ein Fest zu begehen.  Andächtig steht sie und bewundert ihr Werk und fühlt sich selbst ganz weich jetzt und eingesponnen in die Ruhe des auf das Mahl wartenden Tisches.  Mit Kinderaugen beobachtet sie den Freund, wie er die dampfenden Schüsseln auf das weiße Tuch setzt, und es stört sie gar nicht, daß Kohlgeruch von ihnen ausströmt und derb-freundliche Würste obenauf liegen und nicht zarter Spargel und flambierte Filets Gaumenfreuden versprechen.  - Du bist ein Künstler, Peter, sagt sie ehrfurchtsvoll, sogar kochen kannst du.  - Der wehrt ab: Künstler, nicht die Spur.  Aber du: Wie du das wieder hingezaubert hast, hier, mitten in dieser heruntergekommenen Wirtschaft, wirklich gezaubert.  - Er streicht sich über seinen Bart, wie er das immer tut, wenn er nicht weiter weiß, dann dreht er sich um und holt aus der unteren Schrankschublade zwei blütenweiße Servietten, die er zu Dreiecken faltet und neben die Teller legt.  - So, sagt er, die gehören dann auch noch dazu.  - Und dann rückt er ihr einen Stuhl zurecht, und sie setzen sich vor ihre Teller, und Else läßt sich von ihm auftun, Kartoffeln und Kohl und Würste. - Ich hoffe, es schmeckt dir, murmelt er, auch wenn ich dir bloß solche proletarische Kost bieten kann, die gar nicht in diesen festlichen Rahmen paßt, den du da geschaffen hast. 
- Else nickt heftig, und, während sie mit der Gabel eine Kartoffel zerteilt, fängt sie an zu erzählen: zu Hause, weißt du, das schönste Essen war immer das zum Versöhnungstag. [7]
Ein herrlicher Tisch war das, mit weißem Damast, und so friedlich und blumengeschmückt.  Aber es war alles zusammen, was uns so festlich stimmte, der Tag und der wunderhübsche Tisch und das hervorragende Essen.  Vater und Mutter war der Versöhnungstag das Wiegenfest der Judenheit.  Die Kerzen wurden schon im Dämmern des Vorabends angezündet, und wir saßen rund um den Tisch, nicht wie eine Familie gerade, aber wie eine kleine Welt für sich, Länder, einig an dem Tage Gottes.  Ich war die jüngste und durfte immer neben meiner angebeteten Mama sitzen.  Ich fühlte mich wie das ewige Leben neben ihr.  Ich kann gar nicht daran zurückdenken, ohne daß meine Augen sich halbblind schließen. Sie läßt die Gabel sinken und lehnt sich zurück, traumt in die vom Kerzenschein grüngolden schimmernden Blätter der Zimmerlinde: Zuerst bekam ich stets mein geheiztes Tellerchen gefüllt, dann mein Vater, der liebte Markklöße; er hat heimlich die Zahl kontrolliert, die mit dem schaufelnden Suppenlöffel in die verschiedenen Teller erbarmungslos verschwanden, da war er selber immer wieder wie ein großes Kind.  Er hätte es nicht bemerkt, wenn die Markklöße aus Mehlpappe geknetet worden wären. Sie lacht glucksend, dann greift sie wieder nach der Gabel und fängt an zu essen, kleine Happen, die sie genüßlich kaut.  - Es schmeckt herrlich, du, sagt sie zwischen zwei Bissen, genausogut wie damals, als es Filet gab nach der Suppe, garniert mit Gemüsen, und Mirabellenkompott, das wir zwei Kinder, mein Vater und ich, so leidenschaftlich gerne mochten.  Und der Plumpudding erst, der wurde flammenumzüngelt von der Bedienerin durch die Tür gebracht: Plumpudding mit Feuer und Weinsauce! Meine Mutter liebte diese illuminierte Speise zum Nachtisch, und ich war unsagbar stolz auf dieses vornehme, gefährliche Gericht.  Aber das gehört eben alles einer Zeit an, die nur noch in der Erinnerung wahr ist. Baum nickt.  Daß wir sie haben, diese Erinnerungen, sagt er bedächtig und schiebt seinen Teller von sich weg, ist wohl ausschlaggebend für das, was wir heute aus diesem ganzen Gewirr von Unsicherheiten und Ängsten machen können.  Wahrscheinlich hast du recht: es ist letztlich gleichgültig, ob da Kartoffeln und Kohl auf dem Teller liegen oder Trüffel.  Der Tisch, wie du ihn geschmückt und aufgebaut hast, sagt mehr über dich als das, was du ißt.  Das ist so, auch wenn's banal klingt. Er steht umständlich auf, faßt sich an die Stirn: ich hab ganz vergessen, den Wein mitzubringen. 
Und Kaffeewasser muß ich auch aufsetzen. Als er zurückkommt, hat Else aufgehört zu essen.  Sie hat ihren halbleeren Teller zusammen mit dem anderen Geschirr ans äußerste Tischende geschoben, nur noch die Gläser und Kaffeetassen stehen jetzt da. - Nanu, fragt er verwundert, bist du schon fertig?Statt einer Antwort hält sie ihm ihr Glas entgegen. - Worüber ich die ganze Zeit nachdenke, sagt sie, als er ihr Rotwein eingießt, das heißt, was mir aufgefallen ist vorhin, als du sagtest, daß du angefangen hättest, für uns beide Essen zu kochen, ist, daß sich da in mir sofort wieder dieses Gefühl von klein sein und schutzbedürftig und unendlich froh sein, sich aufgehoben zu fühlen und beschützt und behütet, breitgemacht hat, daß ich hätte weinen mögen.  Es war, als wäre ich dreißig Jahre zurückgestürzt in einer Sekunde, und ich war krank und hatte Fieber und Mama saß an meinem Bett und legte mir ihre wunderkühle Hand auf die Stirn und fütterte mich mit Kuchen und Pfefferminztee.  Und gleichzeitig sah ich mich, wie ich mich schlecht fühle manchmal heute, und wie ich dann allein bin und ganz auf mich gestellt, weil Herwarth immer so viel zu tun hat und mir ganz hilflos gegenübersteht und ja nicht einmal weiß, wie er Tee kochen soll. . .  Und daß er das nicht kann und daß er es aber auch nicht lernen kann, obwohl wir uns doch lieben -ist das nicht - Sie läßt den Satz unbeendet, trinkt schnell einen Schluck Wein, um das Zittern in der Stimme damit hinunterzuspülen.  Die Kerzenflammen schimmern rotgolden durch den Wein hindurch und brechen ihren Lichtschein auch an den bunten Glassteinen von Elses vielen Fingerringen. Baum sieht das und greift nach ihrer Hand, dreht sie so, daß die Ringe auffunkeln im Widerschein der Kerzen.  Zart streicht er mit dem Daumen darüber, legt Elses Hand dann auf den Tisch und hält sie fest. Ich verstehe, was du meinst, sagt er, das ist die Glaskugel, die gesprungen ist und die du in der Hand hältst immer noch, und du kannst nicht vergessen, daß sie einmal ganz war und wundersames Licht barg, und auch wenn du jetzt in ihr neue Welten siehst, und auch wenn du weißt, daß du dieses Licht aus der alten Welt gar nicht mehr ertragen könntest, macht dich der Verlust traurig.  Die Erinnerung daran kannst du nicht vergraben.  Und weil von der neuen Welt auch immer wieder Splitter abbröckeln und du deinen Platz in ihr gar nicht so fest besetzt hältst, wie du es gern möchtest, scheint dir die Zauberkugel und das, was sie von der alten Welt in sich trägt, wie die eigentliche, unerreichbare Heimat. Sie schweigen.  Dann zieht Else ihre Hand aus der seinen fort, greift wieder nach dem Glas, hebt es in Mundhöhe.  Heimat, sagt sie, bevor sie es an die Lippen setzt, ist etwas Einmaliges.  Es gibt keinen Ersatz für Heimat.  Alles, was später kommt, ist unwichtig im Vergleich zu dem Platz, zu dem du gehörtest als Kind.  Alle neuen Plätze können gegeneinander ausgetauscht werden. - Wie meinst du das?- Mutter und Vater werden nie von anderen Menschen zu ersetzen sein. [8] Trotzdem: wer von uns hätte nicht schon einige Menschen zu gleicher Zeit geliebt?
Und die Zeit der Liebesfinsternis im Herzen. . .  Ich begreife immer noch nicht, daß man nicht an der Folge stirbt.  - Er nickt.  Wie sie dasitzt, beide Hände um das Glas gelegt.  Als halte sie die Glaskugel.  Als fänden ihre Augen in dem funkelnden Wein prophetische Wahrheiten. Sie dreht ihm den Kopf zu, schaut ihm ins Gesicht. - Es muß etwas damit zu tun haben, murmelt sie, daß Liebe etwas anderes ist als Heimat.  Du glaubst zwar, Heimat zu finden, aber der Heimat gegenüber wirst du nie gleichgültig, und in der Liebe geschieht das so oft.  Augen, die mir Heimat schienen, verschließen sich plötzlich auf ewig.  Das ist wie - ja, du kennst das sicher, ein bleierner Morgen der Gleichgültigkeit, der rücksichtslos über deinem Leben aufgeht.  In deinem Herzen ist es kühl und dunkel, wenn die Liebe vorbei ist.  Aber die wirkliche Heimat bleibt immer in deinem Herzen, und wenn du keine Mutter mehr hast, in deren Liebe sich Himmel und Erde verklären, wünschst du dir sehnlichst einen guten Freund, eine gute Freundin.  -Jetzt ist sie es, die nach seiner Hand sucht: einen Freund, so wie du einer bist, ein Stück Heimat.  Das ist etwas ganz anderes, verstehst du, irgendwie, irgendwie viel vertrauter, viel weniger Kampf, viel unverbrüchlicher. Er weiß nichts zu antworten. 
Die Tränen, die er wieder in ihren Augen sieht, schnüren ihm den Atem ab.  Er muß an sich halten, um sie jetzt nicht in die Arme zu nehmen, ihr Gesicht zu küssen, ihr die Unsinnigkeit solcher Unterscheidungen klarzumachen. - Der Kaffee, sagt er rauh, das Wasser kocht sicher längst. Er steht auf, geht zur Tür, nachdenklich-langsam. - Ich muß darüber nachdenken, murmelt er und hält die Hand zögernd auf der Klinke fest, bevor er die Tür öffnet und hinausgeht. Else ist aufgesprungen und zum Fenster gelaufen.  Unter den Stößen von Büchern und beschriebenem Papier, die auf dem Fensterbrett liegen, sucht sie ein leeres Blatt und einen Bleistift.  Damit setzt sie sich wieder an den Tisch und wirft, ohne weiteres Nachdenken, ein paar Zeilen aufs Papier.  Daß ihr das plötzlich so klar ist! Sie schreibt und nickt, liest, streicht ein Wort, ersetzt es durch ein anderes, so, ja, genau so, das ist es.  Sie läßt den Bleistift auf den Tisch fallen und geht mit schnellen Schritten, das Blatt in der Hand haltend, in die Küche. - Hör zu, sagt sie, ich habe es aufgeschrieben.  Einmal die Version für den Freund, für dich, und einmal die für den Geliebten, für - sie schluckt, heftet die Augen auf die Zeilen, atmet tief durch:[9] Ich möcht mich unterhalten
Mit dir von abends bis früh. 
Komm! alles ist wieder beim alten;
Ich langweil'mich nämlich wie nie. 
Ich liebe das Meer, das nasse,
In seinem Paradebett,
Und bist du nicht bei Kasse,
Ich pumpe dir das Billett. Sie lacht: sag bloß nicht, daß das gequält klingt.  So ist es doch, oder? Mit uns beiden.  - Und das andere:Ich möchte ewig schweigen
Einen Tod und ein Leben lang,
Wie in den Saiten der Geigen
Noch ungespielter Gesang. 
Ich liebe die blauen Blumen
Im hohen Zittergras
Und deine blaue Seele
Unter blauem Glas. Verstehst du? Das ist der Unterschied: mit dir bin ich eingequasselt, wir sind uns viel zu nah, um schweigend ineinander zu verschmelzen, und gleichzeitig müssen wir uns auch hörbarer mitteilen, als das zwischen Liebenden der Fall ist.  Eines ist nicht wie das andere, und nie kommt beides zusammen. Ganz atemlos hält sie inne. 
Baum, mit der dampfenden Kaffeekanne in der Hand, steht vor ihr mit gesenktem Kopf, starrt ein Loch in den Fußboden.  - Komm, sagt sie und nimmt ihn am Arm, bevor du sie fallen läßt.  Laß uns Kaffee trinken.  Du glaubst gar nicht, wie gut ich mich fühle jetzt, wo ich das endlich mal zu Papier gebracht habe.  Und du bist schuld! Du bist wirklich der beste aller allerbesten Freunde.  Ich möchte noch viel mit dir reden. Sie sieht nicht, wie er den Kopf bedenklich hin- und herwiegt.  Und er geht, mit den Augen auf die randvolle Kaffeekanne konzentriert, vor ihr her.  Sie kommt ihm an der Tür zuvor, macht sie für ihn auf und verbeugt sich mit großartiger Gebärde: Bittesehr, Monsieur, der Teppich ist ausgerollt. Später, als es draußen längst dunkel geworden ist, sitzen sie wieder beim Kachelofen.  Baum hat ein kleines Tischchen herangerückt, darauf steht eine bauchig-geschwungene Lampe, die ruhiges Licht um sich verbreitet.  Else, in den Sessel gekuschelt, mit angezogenen Beinen, hat ein Buch auf dem Schoß, das sie vorhin nach langem Suchen aus dem Regal genommen hat.  Sie hat, nachdem sie kreuz und quer darin geblättert hat, ein Kapitel gefunden, bei dem sie jetzt lesend ver-weilt.  Baum sitzt über den Tisch gebeugt und schreibt.  In der linken Hand hält er eine dicke Zigarre, an der er ab und an heftig zieht.  Pfeife und Tabaksbeutel liegen auf einem Tellerchen vor ihm.  Es ist leise im Raum und behaglich.  Auch draußen scheint alles beruhigt.  Regen und Schnee prasseln nicht mehr gegen die Scheiben. Daß es doch immer so sein könnte! Else hat ihr Buch sinken lassen und schaut auf den Freund.  Ruhe, Konzentration, Arbeit, wie gut ihr das tut.  Aber ihre Gedanken huschen aus diesem friedlichen Kreis: wo er jetzt ist? Was er tut? Ob er sich amüsiert, weil sie nicht da ist, oder ob man es ihm erzählt hat, daß sie schon zurück ist aus Prag, daß sie im Café war gestern abend, ob er sie sucht, reuevoll vielleicht oder voll schlechten Gewissens? Sie seufzt.  Baum hebt den Kopf, sieht sie aufmerksam an.  - Kann ich heute nacht hier schlafen? fragt sie.  - Natürlich, brummt er, meine Frau ist diese Woche in Kolberg, bleib solange du willst.  - Er bläst eine Rauchwolke gegen sie, schüttelt den Kopf: dumme Frage.  - Ich werde mich in deinen Teppich einrollen, sagt sie. Das wirst du nicht tun, er.  Du schläfst drüben, und ich baue mir hier ein Bett.  Es sei denn, daß es dir drüben zu kalt ist.  Wenn dir das nichts ausmacht. . . 
Er schreibt noch zwei Worte, dann legt er den Federhalter beiseite, lehnt sich zurück, pafft seine Zigarre: Hast du dir schon überlegt, wie das weitergehen soll? Ich meine: später.  Jetzt, die nächsten Tage ist das ja kein Problem.  Aber: du meinst das doch nicht ernst, daß du dich von ihm trennen willst, oder?Die Frage hängt im Raum.  Minutenlang.  Dann zuckt Else die Achseln: wenn ich das wüßte. Sie lehnt den Kopf an die Sessellehne, schließt die Augen.  Sie sieht sich vor einem großen Spiegel stehen in himmelblauen weiten Hosen, wie sie sich dreht und wendet, auf- und abgeht, und Herwarth, hinter ihr im Sessel, einen Stapel Zeitungen auf den Knien, hat schon die fünfzehnte Zigarette geraucht, mit einem halben Blick hinter den dicken Brillengläsern zu ihr herüber, wie er sagt: schön siehst du aus, meine himmelblaue Königin.  Und dann, wie er die Uhr zieht, aufspringt - komm, wir müssen uns beeilen.  Der Standesbeamte hat vielleicht noch mehr zu tun.  - In London war das, in einem Hotel bei Kensington Gardens. 
Jahre ist das her.  - Und auch das, zurück in Berlin, verheiratet jetzt, wie sie am Tiergarten an dem Haus vorbeigehen, in dem sie vor Jahren ihr Atelier gehabt hatte, mit Paul, der auf seinen kleinen Beinchen an ihnen vorbeiläuft, weil sie stehengeblieben sind, um zu den Fenstern hinaufzusehen, und wie Herwarth mit ein paar schnellen Schritten hinter Paul herläuft, ihn mit beiden Händen hochhebt bis über den Kopf und sagt: hier, Päulchen, schau, an diesem Haus wird einmal eine Gedenktafel angebracht werden für deine Mutter: hier hat die Dichterin Else Lasker-Schüler entdeckt, daß sie fliegen kann.  Oder: wie er neben ihr hergeht an dem Abend, an dem sie im Verein für Kunst zum ersten Mal ihre Gedichte vorlesen will vor Freunden und Fremden, wie er sie ansieht von der Seite und sie nach seiner Hand fassen muß, weil ihr das Herz so stark klopft, wie er stehenbleibt mitten auf der Straße und mit dem Arm in den Himmel deutet: da oben, Else, alle Diamanten, die du da hängen siehst, heute abend gehören sie dir: schling sie dir um den Hals, und den großen, dort, steck ich dir ins Haar, du weißt schon. . .  Du weißt schon: wie oft hat er ihr das gesagt und sie hat genickt.  Du weißt schon. - Ich will mich nicht von ihm trennen, flüstert sie, wie könnte ich, nach all dem und nach all diesen Jahren? Und ganz schnell, in einem plötzlichen Entschluß, schwingt sie die Beine vom Sessel: ich will nach Hause gehen, Peter, sofort. Er schaut zu ihr hoch, wie sie dasteht, entschlossen entweder, sagt sie, ich bin in einer Stunde wieder da, dann hat es eine Katastrophe gegeben und du mußt mich vor der Polizei beschützen, oder aber ich bin sofort wieder da, dann war niemand zu Hause, oder - wenn ich nicht wiederkomme, Peter, dann kannst du beruhigt ins Café gehen und dich umhören, was sich die Welt so erzählt.  Aber auf jeden Fall treffen wir uns da morgen mittag, und dann erzähle ich dir, was passiert ist.  Willst du? Er kann nur nicken.  Halten, das weiß er, läßt sie sich sowieso nicht.
Ich bring dich nach Hause, sagt er, drückt die Zigarre aus und steht auf.  Und auf dem Rückweg gehe ich im Café vorbei.  Da findest du mich, falls du mich brauchst, oder willst du lieber meinen zweiten Schlüssel mitnehmen? Sie schüttelt den Kopf. Dann stehen sie voreinander, unschlüssig, aber er legt ihr den Arm um die Schulter, und so gehen sie beide durchs Zimmer, zur Garderobe im Flur, wo Else sich bückt nach ihren Schuhen, wo sie sich gegenseitig in ihre Mäntel helfen und sich die Mützen auf dem Kopf zurechtrücken.  - Komm, sagt sie, und kann gar nicht erwarten, daß er von außen den Schlüssel im Schloß umgedreht und ihn abgezogen und in die Manteltasche gesteckt hat.