Das ist wie Knöpfe abzählen: es geht - es geht nicht - es geht - es geht nicht. Aber Else hat zu viele verschiedene Blusen und Jacken, jeden Tag kommt sie zu einem anderen Ergebnis. Jeden Tag versucht sie es von neuem. Vor einer Woche, als sie zurück nach Hause kam und Herwarth mitten im Zimmer stand, konnte sie ihm nur wortlos in den Arm sinken. Und alles, was sie sich vorgenommen hatte, ihm zu sagen, war weggeschwommen in seinen Küssen. Wieviele Stunden sie so gestanden hatten, ineinander versunken, weiß sie nicht. In der Nacht war sie aufgewacht, hatte sich aufgesetzt und ihn ansehen müssen. Mit den Fingern der rechten Hand ist sie den Linien seines Gesichts gefolgt bis er die Augen aufgeschlagen hat. Da hat sie sich über ihn gebeugt, um hineinzuschmelzen in seine Umarmung, und, während sie sich von neuem in seinem Arm zurechtkuschelte, hat sie gesagt: wenn du das noch einmal machst, bringe ich dich um. Und er hat sie festgehalten und seinen Mund an ihr Ohr gelegt um zu flüstern: wenn du das noch einmal sagst, lasse ich mich scheiden. - So sind sie eingeschlafen, und die Welt war in Ordnung bis zum nächsten Morgen. Tagsüber ist das Mißtrauen grenzenlos. Keiner kann den anderen ansehen ohne Vorwurf. Kleinliche Streitereien und große Szenen lösen sich ab, und immer werden sie nur beendet, wenn einer seinen Mantel nimmt und das Weite sucht. Seit zwei Tagen ist Else nicht nach Hause zurückgekehrt. Sie hat Zuflucht gefunden bei Kete, die auf Tournee ist in Süddeutschland, und die ihr, als sie vor ihrer Abreise Else im Café sitzen sah mit verweinten Augen, ihren Wohnungsschlüssel in die Hand gedrückt hat, ohne ein Wort. Else hat lang auf den Schlüssel geschaut, dann ist sie aufgestanden, hat, den Schlüssel in der Hand, die Freundin umarmt, und ist fortgegangen. Seit zwei Tagen sitzt sie jetzt in dieser Wohnung und grübelt. Und kommt nicht vorwärts. Es ist wirklich wie Knöpfe abzählen. Gestern hat sie eine Karte an Paul geschrieben, der in einem Landschulheim in der Nähe Berlins ist: Uns geht es allen gut. Dir doch sicher auch. Gruß und Kuß, Mama. Die liegt jetzt vor ihr. Sie sollte sie zum Postamt bringen. Ihr Geld reicht gerade noch für Briefmarken. Aber dann? Muß sie zurück? Sie hat nichts dabei, nichts. Sie muß arbeiten, Geld verdienen. Ein neues Buch machen, einen Aufsatz veröffentlichen. Hier, das weiß sie, gelingt ihr das nicht. Und überhaupt, sie braucht schnell Geld. Sofort. Wen kann sie darum bitten? Wen fragen, ohne alles erzählen zu müssen? Die Berliner Freunde - unmöglich. Die, denen sie sich anvertrauen würde, haben selber nichts. Die Schwester? - Lieber nicht. Schwester und Schwager, so lieb sie sind, dürfen nur der allerallerletzte Notanker sein. Sie hat ja selbst einmal beschlossen, die Brücken zu brechen. Dazu steht sie. An wen sonst kann sie sich wenden? Wen gibt es, der überhaupt besser dasteht als sie? Und der ehrlich und stark genug ist, nein zu sagen, wenn er nicht helfen kann? Ach, wie oft hat sie in den letzten zwei Tagen um diese Antwort gegrübelt! Der Kopf ist ihr schon ganz leer. Sie ist doch alle durchgegangen, alle Freunde, alle Adressen. Es nützt nichts. Sie steht auf von dem Sofa, auf dem sie gelegen hat, steckt die Karte an Paul in ihre Tasche, greift nach ihrem Schal. Während sie ihn festbindet, sieht sie sich im Spiegel im Widerschein des matten Vormittagslichts: blaß. Unbewußt macht sie zwei Schritte auf ihr Bild zu, starrt sich an wie eine Fremde: kaum noch sehen können meine Augen, [1] - wie müde Wellen gleiten sie hin; - sie lockert den Schal um den Hals wieder, geht näher auf den Spiegel zu, hält den Atem an: das ist sie, wirklich, so sieht sie aus jetzt, so grau und sehnsuchtsvoll und: meine Sehnsucht taumelt wie eine sterbende Libelle, so zuckende Mundwinkel, so, als wäre alles, alles vorbei jetzt und sie wäre ans Ende der Welt gekommen, hoffnungslos und krank, wie viele andere vor ihr, wie Peter Hille damals vor Jahren, oder, Peter: halt, daß sie nicht an ihn gedacht hat bisher, wobei das doch ganz sicher der einzige überhaupt wäre, der nachempfinden könnte, Peter: Peter Altenberg! Blitzschnell wirbelt sie herum: das ist dte Idee, Peter Altenberg wird ihr helfen. Sie reißt sich den Schal ab, rückt sich einen Stuhl an den Tisch, auf dem seit zwei Tagen das Blatt für den Brief bereitliegt, den sie nicht schreiben konnte bis jetzt. Sie wird an Peter Altenberg schreiben. Er hat das selbst erlebt, er wird wissen, wie ihr zumute ist, er wird nichts fragen. Sie taucht die Feder ein und schreibt [2]: 2. Febr. 1910, und darunter, links davon: o, du lieber Peter A. Das macht sie ganz groß, wie ein Häuschen, das nur aus Dach besteht, mit einem rauchenden Kamin und Fenster und Tür als Gesicht mitten drinnen: du steckst so recht in deinem Namen drin, du könntest gar nicht anders mehr heißen, wie P.A. - auch diese Buchstaben wieder schnörkelig, dick, verspielt. Aber, fährt sie fort, ich habe dir noch etwas Wichtiges zu sagen, Du darfst es niemandem wiedersagen, auch Karl Kraus nicht, wenn er auch, (wie er von Dir spricht und Dich verherrlicht) nach zu urteilen, Dein allerbester Freund ist. Denk mal an Peter Altenberg, ich bin Else Lasker-Schüler und gehe schon acht Tage von Tür zu Tür betteln, aber die miserablen Bestien geben mir nichts. Plebejer sind es, wenn es noch Urbestien wären, aber so! Sie hält inne, kaut am Federhalter, und jetzt?? Peter Altenberg, der Wiener Dichter, der überall, außer bei Karl Kraus, als verschrobener, spinniger Außenseiter gilt, der, der die Welt verzauberte wenn man es ihm erlaubte, nein, der sicher ganz wirklich zaubern kann, ganz bestimmt, wenn er einen guten Tag hat, ihn um Hilfe zu bitten ist wie den Himmel beschwören. Sie schreibt: Und da ich hörte von einigen Wienern, daß Dirs auch mal so schlecht ergangen ist wie mir und Du auch jetzt gerade keine - nein: von keinen, von keinem goldenen Teller zu Abend ißt, so habe ich eben die Courage, es Dir zu sagen. Lieber Peter Altenberg, leihe mir 100 Mk also 50 und 50 Mk. Ich weiß nicht, wieviel Kronen das ausmachen, aber in Wien können es ja die Leute ausrechnen. Ja. Hundert Mark, einhundert Mark, das ist viel. Aber wenn einer die für sie auftreiben will, dann sicher Peter Altenberg. Daß sie an ihn nicht schon früher gedacht hat!! Er wird das einschätzen können. Hundert Mark. Wieviel Freiheit an so eine Summe gebunden ist, heute und morgen und nächste Woche, wahrscheinlich sogar Monate lang. Alle fälligen Rechnungen könnten damit bezahlt werden und viele, viele neue. Und die Miete über Wochen, Ach Natürlich muß sie trotzdem noch Geld verdienen so schnell wie möglich, denn zurückzahlen will sie es ihm schon. Er kann es ihr doch nicht schenken, wo er eigentlich kaum besser dran ist als sie selbst. Wenn sie nur bald wieder Vorträge halten könnte und Vorlesungen ihrer Gedichte; aber gerade jetzt ist da gar nichts in Aussicht. Ein festes Engagement sollte man haben, und nicht immer darauf angewiesen sein, daß irgendwer in irgendeiner Stadt sich an einen erinnert. Dabei schien das in der letzten Zeit schon ganz gut eingespielt, sie war in Dresden, hat zweimal hier in Berlin einen Abend gehabt, und jetzt in Prag, alles innerhalb von acht Wochen. Verdient hat sie natürlich nicht viel dabei, gerade genug, um alte Schulden abzuzahlen, und die neuen haben sich inzwischen wieder aufgetürmt. Nein, leben kann man davon nicht auf Dauer. Man müßte einen Vertrag haben, wenigstens für ein paar Wochen. Der Stoff würde ihr nicht ausgehen. Sie könnte ohne Schwierigkeiten die herrlichsten Märchenabende veranstalten. Davon träumt sie doch schon lange. Sie schiebt den Brief weg, greift nach einem neuen Blatt und beginnt zu zeichnen: ein Podest als Bühne, ein geraffter Vorhang zu beiden Seiten, in der Mitte ein kleiner Tisch, auf dem stehen rechts und links Kerzen. Ja, alles soll dunkel sein, geheimnisvoll, nur der Tisch wird vom Kerzenschein erleuchtet, gerade so viel, daß sie dabei lesen kann. Sie wird als Tino von Bagdad auftreten und ihre Erzählungen sprechen, nein singen, am besten auf Arabisch, weil das so schön klingt. Innahu gad marah alleija A alkahane fi sijab, [3] murmelt sie, jedes Wort ist eine Zauberformel, man muß es nur richtig betonen. Das Publikum wird entzückt sein. Cha macha laaaooo! Zwischendurch wird sie auf ihrer Flöte spielen und mit einer kleinen Handglocke läuten und mit geheimnisvoller dunkler Stimme erzählen und dem Klang der Worte nachsummen. Das wird etwas ganz Neues, so etwas war noch nie da. Sie strichelt das Blatt voll mit zauberhaften Zeichen, die gehören dazu. Schade, daß das Publikum die nicht sehen wird. Aber sie wird sich verkleiden, ganz orientalisch, mit einem langen Gewand und einem blauen Samtmantel und spitzen Schnabelschuhen und vielen Glitzersternen auf Gesicht und Hals, die strahlen dann auf durch den Kerzenschein. Und - ja, alles soll auf Arabisch sein. Sie muß jemanden finden, der ihre Erzählungen übersetzt, in richtiges Arabisch, obwohl: Arabisch versteht sowieso niemand, vielleicht kann sie es selbst machen. Auf die Stimme kommt es ja an in erster Linie und auf die Art des Vortrags. Sie wird das Publikum schon mitreißen. Sie schaut vor sich hin und hat schon alles im Kopf, wie es aussehen und ablaufen wird. Damit bekommt sie sicher ein festes Engagement: ein Abend mit Tino von Bagdad. Sie muß sich sofort an die Übersetzungen machen. Am besten wäre es natürlich, wenn sie in einem zweiten Teil dann alles auf Deutsch bringen würde, obwohl das nicht klingt. Aber als Zugeständnis an die Zuhörer, damit die überhaupt wissen, wovon sie erzählt. Oder vermischen, einmal Arabisch und dann wieder Deutsch, und dann wieder Arabisch. Und am besten wäre es, wenn sie noch einige ihrer Figuren aus den Erzählungen auf die Bühne brächte, wenigstens einen kleinen Neger. Der könnte am Vorhang sitzen und immer sehr effektvoll mit einem Glöckchen zwischen den Stücken läuten. Und er müßte einen Fez tragen und ein rotes Samtjäckchen und ganz rabenschwarz sein im Gesicht. Ha, sie wird eine Varieténummer [4] zusammenstellen, das ist besser, nicht nur einfach vorlesen. Märchenhaft wird der Abend allemal werden. Und die Vorstellung braucht ja nicht lange zu dauern, eine Viertelstunde vielleicht, und dann wird der Vorhang von dem kleinen Neger zugezogen werden und der ganze Saal wird in nächtliches Schwarz getaucht sein und die Pause wird unendlich lange sein, alles dunkel, bis die Leute anfangen, sich zu fürchten, und dann kann die nächste Nummer folgen. Sie wird immer begeisterter von dieser Idee, kann gar nicht mehr sitzenbleiben. Königlich schreitet sie im Zimmer umher und murmelt: Cha macha laaaooo, so wird es gehen. Innahu gad marah alleija...
Vor dem Tisch hält sie ein: da war doch noch etwas? Sie stützt sich auf die Tischplatte, überlegt. Ach so, der Brief. Der ist ja noch nicht fertig. - Ob sie ihn überhaupt losschicken soll? Vielleicht braucht sie das Geld von Altenberg ja gar nicht mehr? Ach, sicher ist sicher, wer weiß, wie lange es dauert, bis sie wirklich ein Engagement bekommt. Und sie kann ja auch nicht immer noch mehr Schulden machen. Schnell setzt sie sich wieder hin, schreibt: Lieber Peter Altenberg, siehst Du, ich habe nie Geld angenommen, aber ich möchte so gerne einmal etwas annehmen und das könnte ich nur von einem so königlichen Dichter wie Du »der« bist. Man ist so vierjährig, wenn man etwas annimmt, es ist genau so, als ob ich wieder ganz klein wäre und vor einem Schaufenster stände und ein großer Mann käme im carrierten, weiten Rock mit einem Knüppelstock und würde mir ein Schaukelpferd für 100 Mk. kaufen. Darauf reite ich durch die Welt in alle meine Luftschlösser, die ich zu Fuß in schäbigen Schuhen nicht mehr erreichen kann... Jetzt ist sie wieder ganz in ihrem Element. Woher das nur kommt, daß sie so leidenschaftlich gern Briefe schreibt? Das ist jedesmal wie direktes Gespräch: sie hat die Adressaten dann so nah, als säßen sie ihr gegenüber. Und als schaute sie ihnen mitten ins Herz. Manchmal reicht es, einen Menschen ein einziges Mal gesehen zu haben, wenn sie dann einen Brief schreibt, weiß sie alles. Peter Altenberg zum Beispiel: nie hast du jemanden kennengelernt, der so recht mit dir spielen könnte... Jetzt ist der Brief schon fürchterlich lang geworden, vier Seiten. Sie muß Schluß machen. Sie unterschreibt: Deine Tino, Else Lasker-Schüler. Dann überlegt sie: welche Anschrift soll sie ihm nennen? Wenn er ihr doch das Geld schicken soll. Hm. Es darf nicht verlorengehen, sie rechnet: eine Woche, zwei Wochen, dann wird sie sicher nicht mehr hier sein in Ketes Wohnung. Nein, das Beste ist doch, er schickt das Geld an ihre richtige Adresse. Sie wird wieder dorthin zurückgehen, sie muß ja auch arbeiten, und Herwarth, sie werden sich arrangieren müssen. Sie will ihn ja nicht verlassen. Also setzt sie ihren Absender noch dazu: Halensee-Berlin, Katharinenstr. 5 (Gartenhochpt.). Dann dreht sie das Blatt um, kritzelt auf den unteren Rand in ganz kleinen Buchstaben: Du mußt mir das Geld frankiert senden, ich habe gar nichts mehr, ich bin von Herwarth Walden fort, doch, nickt sie, irgendwie stimmt das ja auch, warum soll er es nicht wissen, das macht die Sache außerdem dringlicher, aber es klingt so dramatisch: ich bin von Herwarth Walden fort, so ohne weitere Erklärung kann man sich da ja alles mögliche zusammenreimen, also setzt sie dahinter: ich liebe einen Jongleur vom Cirkus Busch namentlich seinen Schimmel, der hat eine silberne Haut. Jetzt ist es gut. Jetzt nichts wie zum Postamt, und dann - dann will sie nach Hause und Herwarth von dem neuen Plan erzählen. Bevor sie die Tür aufschließt, atmet sie ein paarmal tief durch. Sie hat solches Herzklopfen. Da hört sie, daß drinnen Klavier gespielt wird. Ein gutes Zeichen ist das: wenn Herwarth Klavier spielt, ist kaum zu erwarten, daß er schlechte Laune hat. Auf Zehenspitzen geht sie durch den Flur in ihr Zimmer, läßt Tasche und Mantel fallen, zieht sich die Schuhe aus und schlüpft in die Brokatpantoffeln. Während sie vor dem Spiegel ihr Haar ordnet, läuft ihr ein Frösteln über den Rücken; kalt ist es hier. Er hat sich die Tage über also nicht in diesem Zimmer aufgehalten. Sie schaut sich um, es sieht alles genau so aus, wie sie es verlassen hat. Ob das beruhigend ist oder traurig? Wie sie so steht und jeden Gegenstand mit dem Blick abtastet, wird ihr ganz flau im Magen. Freude fühlt sich anders an. So leer ist sie sich lange nicht vorgekommen. Wahrscheinlich hängt das mit der Kälte zusammen, die von dem ungeheizten Ofen auszuströmen scheint. Gerade will sie sich umdrehen und zu Herwarth hinübergehen, als das Klavierspiel abbricht; jetzt hält sie inne wie ein ertapptes Kind, steht angewurzelt, starrt auf die offene Tür und kann nur noch ganz flach atmen. Sekunden dehnen sich zu Minuten, es passiert nichts, kein Laut kommt mehr aus dem anderen Zimmer. Das Ticken der Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trägt, dröhnt ihr drohend ins Ohr und wird nur vom Rauschen ihres Herzbluts übertönt. Lots Frau fällt ihr ein, genau so muß sie sich gefühlt haben in ihrer Erstarrung. Aber ob sie sich dieser Leere bewußt war, die Angst heißt? Else will dieses Nichts hinunterschlucken, aber es sammelt sich ihr kein Speichel im Mund. Sie preßt die trockenen Lippen aufeinander. Es ist qualvoll. Da - war das nicht -? Seine Stimme? Oder hat sie sich getäuscht? Der Kopf rauscht ihr so, und dieses gleichmäßige Ticken der Uhr, nein, kein Zweifel: das ist Herwarths Stimme, sanft, zart, fragend: Else? Mit einem Mal ist der Bann gebrochen, Else kann sich bewegen, einen Fuß vor den anderen setzen, schnellen Schritts auf seine Tür zugehen. Die wird im gleichen Augenblick von innen aufgerissen, und da steht er ihr gegenüber, hemdsärmelig, mit offenem Kragenknopf, Weste und Hosen zerknittert, ungekämmt, unrasiert, mit einem einzigen Blick hat Else ihn umfaßt und alles registriert, mehr Zeit bleibt ihr nicht, weil er sie schon zu sich hergezogen, die Arme um sie geschlossen hat. Tränen der Erleichterung weint sie auf seine Schulter, und wie sie sich an ihn klammert und festgehalten wird von ihm, ist alle ausgestandene Angst sinnlos geworden.
Es ist wie Knöpfe abzählen. Heute trägt sie eine Bluse mit ungerader Zahl. Weißt du, sagt sie, später, und fährt mit dem Zeigefinger an einer Blumenranke des Teppichs entlang, auf dem Bauch liegend neben ihm, der sie umfaßt hält, es darf so nicht weitergehen mit uns. Es kann so nicht weitergehen. Wir halten das beide nicht aus. Er drückt ihr sein Gesicht in die Schulter, hebt den Arm von ihrer Hüfte in die Luft und läßt sich seitlich zurückfallen, starrt gegen die Decke. - Ich meine, fährt sie fort, es ist diese Unsicherheit, diese ständige Geldnot auch, die uns kaputtmacht. Da bleibt doch gar kein Platz mehr, uns zu lieben, wenn wir immer nicht wissen, was am nächsten Tag sein wird. Sie stockt, dreht den Kopf, schaut ihm ins Gesicht. Er gibt ihr den Blick zurück, sagt aber nichts. - Was denkst du?, fragt sie. - Was denkst du?, er. - Daß wir etwas unternehmen müssen. - Einverstanden. Sehr einverstanden. - Er starrt wieder an die Decke: mach einen Vorschlag. Sie widmet sich von neuem dem Teppich, zieht mit dem Finger über die Linien seines Musters: ich hätte schon eine Idee. - Und die wäre? - Eine Art Theater. Oder Varieté. Soll ich's dir erklären? - Bitte doch darum. - Das klingt unerwartet scharf. Else hebt erschreckt den Kopf. Hat sie sich verhört? - Herwarth, sagt sie leise, beschwörend: es ist eine gute Idee. Und es wird hundertprozentig ein Erfolg. Er rührt sich nicht, schweigt. Da setzt sie sich auf, beugt sich über ihn, beginnt, wie ein Kind an den Knöpfen seiner Weste zu drehen. - Nun sag doch endlich, oder ist es so peinlich? - Peinlich? Keine Spur. Es ist nur noch nicht ganz fertig. Weil: eben ist mir noch eingefallen, daß das alles erweitert werden muß, da muß ja auch deine Musik mit hinein und - Meine Musik? - Jetzt holt er doch seinen Blick von der Zimmerdecke zurück, richtet die Augen hinter der Brille auf sie. - Ja, deine Musik. Paß auf: Stell dir vor, es soll eine Art Märchenabend werden, ein arabischer Märchenabend mit Tino von Bagdad. Eine dunkle Bühne, ganz dunkel bis auf ein paar Kerzen, die auf einem kleinen Tischchen aufgestellt sind, und vorne, am Vorhang, sitzt ein richtiger kleiner Neger, der hält eine Glocke, und auf dem Kopf trägt er einen Fez, und ich habe ein orientalisches Kostüm an, weit und lang, mit weiten, weiten Ärmeln, und Glitzersterne auf der Haut, und ich spreche arabisch meine Erzählungen, und du spielst Musik dazu, und nach jeder Erzählung läutet der Neger die Glocke, und auf der Bühne: irgend etwas muß da noch sein, Tonkrüge vielleicht, Wasserkrüge, du weißt schon, ganz viele, das vermittelt Atmosphäre, und deine Musik ist klagend und eintönig, bis sie davongaloppiert, und - vielleicht spielt Kete ja mit, die weiße Frau, sie sollte ein goldenes Gewand tragen, ganz glitzergolden, und jemand muß sie bedrohen, während deine Musik ganz dramatisch wird, und Kete kann vor Schreck kein Wort sagen, der Säbel kommt immer näher auf sie zu und alles ist eingehüllt in meine arabische Stimme bis - bis die Musik abbricht und die Kerzen verlöschen, und dann sitzen alle Leute angstvoll in Nachtschwärze und es geschieht nichts mehr, obwohl sie so sehr darauf warten, nichts, unendlich lange nichts, und erst wenn alle sich fürchten, geht das Licht an, und sie sehen, daß der Vorhang längst zu ist, und dann setzt das restliche Abendprogramm ein, als sei nichts geschehen. - Sie hält ein, schaut ihm gespannt ins Gesicht, wartet auf eine Reaktion. Nichts. Nur Schweigen. Bis sie es nicht mehr ertragen kann: - Was, was hältst du denn davon? Glaubst du nicht auch, daß wir damit unerhört viel Geld verdienen können? Wir können ein festes Engagement bekommen über Wochen, und dann reisen wir mit unserer Nummer durch alle Städte, durch ganz Europa. Und nach der Tournee sind wir reich genug, um mindestens zwei Jahre lang keine Schulden mehr machen zu müssen. Und wir können tun, was wir wollen in dieser Zeit. Herwarth, - ihre Stimme schnurrt um ihn herum, ihre Hände haben aufgehört, an seinen Westenknöpfen zu drehen, sie streicheln jetzt sein Haar und seine Stirn: sag doch bloß: ist das nicht eine großartige Idee? Er dreht ihr den Kopf zu, holt sie mit dem linken Arm zu sich herunter, küßt ihr schwarzes Haar. Seine Lippen sind weich, seidenweich: Hast du dir das alles eben gerade ausgedacht? Sie schüttelt den Kopf, läßt sich herabsinken auf seine Brust, da kuschelt sie sich ein: Nein, sagt sie, ein Teil davon ist mir schon heute morgen eingefallen. Aber das Beste, weißt du, das Beste finde ich dabei, daß das etwas ist, was für jeden von uns beiden paßt: du spielst Klavier, und du kannst immer etwas Neues erfinden, jeden Abend, und ich spreche Arabisch. Jeder spielt sich selbst. Und Kete wird hervorragend sein in ihrem goldenen Kleid, die allerschönste schweigende Frau, die je eine Bühne betrat, und - Gegenvorschlag, sagt er, ich mache jetzt einmal einen Gegenvorschlag. Sie liegt still, schließt die Augen, wartet. Da fährt er fort: ich habe mir nämlich auch etwas ausgedacht. Etwas, das ein wenig langfristiger sein wird, vielleicht auch etwas mehr Mühe macht. Vielleicht auch etwas weniger lukrativ klingt. Vielleicht aber etwas mehr mit uns zu tun hat, etwas mehr auch mit all den Leuten, die wir kennen. Sie hat sich losgewunden, sitzt wieder aufrecht neben ihm, sieht auf ihn herab, mit vorgeschobener Unterlippe. Was meinst du denn, scheint sie zu fragen: langfristiger, weniger lukrativ, dafür hat es mehr mit uns zu tun und Mit den Leuten, die wir kennen... ? Er stützt sich auf die Ellbogen: es ist nämlich, sagt er langsam, diesen Plan trage ich ja schon lange mit mir herum, und als Kraus da war und erzählt hat von Wien und von der Fackel, ist es mir klargeworden, daß es genau das ist, was wir hier auch machen sollten: eine Berliner Fackel nämlich, eine Zeitschrift, gleichgültig wie sie heißt, für alles das, was wir alle zusammen seit Jahren durchsetzen wollen auf kulturellem Gebiet und wofür uns bisher die Tore verschlossen geblieben sind, Malerei, Literatur, Theater, Musik - wir haben ja keine eigenen Publikationsorgane, und ich hab es satt, mir immer wieder den Kopf einzurennen bei diesen bürgerlich-etablierten Blättern. Die Erfahrungen, die ich bisher gemacht habe, reichen. Wir werden alles veröffentlichen können, was uns gut und wichtig erscheint, niemand wird Zensur üben, wir werden endlich einmal zusammenfassen und zusammenstellen können, was es tatsächlich gibt, nicht nur hier, in Berlin, sondern auch in anderen Städten, da bewegt sich doch wasl da sind doch Entwicklungen, wir haben es doch gar nicht nötig, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, uns mitleidig belächeln oder, wie meistens, uns totschweigen zu lassen. Weißt du, mit welcher Auflage Kraus arbeitet in Wien? Weißt du, daß er mit ein paar hundert Exemplaren angefangen hat und daß er innerhalb von zehn Tagen sage und schreibe dreißigtausend verkauft hat? Man hat ihm die Fackel aus den Händen gerissen, und so geht das seit über zehn Jahren. Das zeigt doch, daß da ein Bedürfnis ist nach Kunst, nach Information, nach einer ganz anderen Art von Kultur, als alle diese offiziösen Organe sie propagleren. Glaubst du denn, daß das in Berlin so viel anders ist? Es ist doch wirklich allerhöchste Zeit, daß wir endlich begreifen... Wie er dasitzt, hochaufgerichtet inzwischen, als trügen ihn seine Worte, Else sieht ihn an und schwankt zwischen Bewunderung und Enttäuschung: das sind so andere Wege, die seine Gedanken gehen. Das ist so ernst, was er hier entwirft, fast unheimlich, so voller Verantwortung, so leidenschaftlich auch. Aber das ist eine Leidenschaft, die aus ganz anderen Wurzeln kommt und in ganz andere Richtungen drängt als die ihre. Wie er so neben ihr sitzt, hier, mitten in seinem Zimmer, auf dem Teppich, wo sie eben noch in zärtlicher Umarmung gelegen haben, ist er ein ganz anderer, ein ganz fremder Mann, den sieht sie jetzt zum ersten Mal, den kennt sie noch nicht, der könnte, ja, der könnte sie fast begeistern. Wenn es nicht Herwarth wäre. Herwarth, der mit ihr spielt und zärtlich ist, wie er in ihre Gedichte eingeht, wie sie ihn findet, immer wieder. Der ihr zu Füßen liegt und der doch selbst so einmalig schöpferisch und unfehlbar in all seiner Originalität, seiner Kreativität sich einbringt. Der sie an der Hand hält, sie stützt, sie beschützt, sie bestärkt hat, immer, seit sie sich begegnet sind, der immer schon Wissende, trotz seiner Jugend zielbewußt an sich Arbeitende, der sich in sie hineinverlieren kann und doch gleichzeitig ihr roter Faden ist, nach dem sie sich ausrichtet, der sie mit sanftesten Händen umspielt und selbst nicht weiß, wo er hin will, wenn er sie leitet... Else sitzt da, und die Bilder in ihrem Kopf verschwimmen ineinander. Nein, vielleicht täuscht sie sich: etwas von dieser Entschlossenheit hat sie doch kennengelernt, wenn es ihm darum ging, eine einmal als richtig erkannte Spur zu verfolgen, hätte er sonst Strindberg veröffentlicht und Schickele und damit seine Entlassung provoziert? Hätte er sich nicht sonst dem Redaktionsdiktat gebeugt, als es um die Reklamenotizen ging? Hätte er jemals auf diesen von Anfang an aussichtslosen Prozeß gegen Nissen bestanden? - Sie seufzt: ist sie es, die ihn verkannt hat all die Jahre? Das kann doch nicht sein. Da muß doch irgendwo ein Fehler, eine Lücke sein.
Sie schrickt zusammen, als sie seine Hand an ihrem Ellbogen spürt. - Sag doch was, hört sie seine Stimme, bittend. Sie dreht sich zu ihm um, er hat die Beine unter sich gezogen, hockt auf den Fersen, jetzt legt er ihr die Hände auf die Schultern, sein Gesicht ist ganz nah, seine Augen hinter den Brillengläsern sind weit offen, sein Mund bittet um Nähe: mit dem Zeigefinger der rechten Hand berührt sie seine Lippen, die obere, die untere. Dann nimmt sie die Hand zurück, greift nach der seinen, die auf ihrer Schulter liegt. - Und, fragt sie, wo bist du? Wo, bei all dem, bist denn du?... Wie er sie abschüttelt, wie er sich von ihr abschüttelt, wie er aufsteht, die Hände in die Hosentaschen steckt, mit großen Schritten auf und ab geht, schließlich am Fenster stehenbleibt, sie sieht nur die Kontur seines Körpers, die schmalen Schultern und die durch die Hände in den Hosentaschen ausgebeulten Hüften, er dreht sich nicht um, starrt nach draußen, unendlich lang. - Wer, sagt er endlich und betont jedes Wort, daß es stehen könnte für sich selbst, glaubst du denn, daß ich eigentlich bin? Sie zuckt zusammen wie unter Peitschenknall. So ist das also. Aber sie will nicht kämpfen. Jetzt nicht, heute nicht mehr. Sie wartet. Und als die Pause zu lange dauert, als er sich immer noch nicht gelöst hat vom Blick aus dem Fenster, steht sie auf, geht zu ihm, bleibt hinter ihm stehen, legt ihm ganz sachte von hinten die Hände auf die Schultern, und wie er weiter so stehenbleibt, wie er nicht nachgibt, sich nicht umdreht, flüstert sie: wenn ich das wüßte, du, ich weiß es nicht. Weiß es wirklich nicht. Ich weiß nur, daß ich dich anders kenne, ganz anders. Und daß ich nicht immer in diese Ecke gedrängt werden will. Du - ihre Hände greifen fester an seinen Schultern - ich bin das nicht: wenn ich dich anders sehe, dann hat das nichts damit zu tun, daß ich dich umerziehen will. Ich will das nicht, wirklich, ich, ich bin nicht deine Mutter. Er dreht sich nicht um. Steht weiter so da, die Hände vergraben in den Hosentaschen, als wäre er allein. Und erst als ihre Hände von seinen Schultern fallen, sagt er, aber er dreht sich immer noch nicht um dabei, starrt weiterhin aus dem Fenster ins Leere: Du mußt endlich einsehen, daß ich einen andern Weg habe als du. - Das, sagt sie, während sie sich nun abwendet und auf die Türe zugeht, weißt du ganz genau, stimmt nicht. Dein Kopf sagt etwas ganz anderes als dein Gefühl. - Sie will gerade die Tür öffnen, um in ihr Zimmer zu gehen, als er vom Fenster her fragt: wie meinst du das? - Sie bleibt stehen, die Hand auf der Klinke, und flüstert: ich kann es nicht anders sagen. Alles was ich weiß, ist, daß du etwas ganz anderes sagst als du tust. Erklären kann ich das auch nicht. Ich fühle es nur. Und es tut mir weh. Und dir sicherlich auch. Dann drückt sie endgültig die Klinke herunter und geht durch die Tür, zieht sie von außen sorgfältig hinter sich zu, läuft in ihr Zimmer und wirft sich aufs Bett: es gibt nichts zu erklären. Kein Wort mehr würde mehr Klarheit schaffen. Es ist kalt um sie her, wie sie so daliegt und gegen die Decke starrt, aber Else merkt es nicht. Da war etwas in Herwarths Stimme, was in ihr nachklingt, und sie versucht jetzt, diesen Ton im Echo der eigenen Herztöne wiederzufinden. Sie seufzt: zehn Jahre, wie nichts. Plötzlich Zwischentöne, die in solcher Vertrautheit niemals Platz gehabt haben, Abstufungen ohne Brücken. Wenn sie es in Farben ausdrücken wollte: Türkisblau, das übergangslos in grellfremdes Zinnoberrot mündet. Den Augen tut das weh. Sie schließt sie, hält die zitternden Lider aufeinandergepreßt, deckt sie mit einer Hand ab. Der Schmerz soll nicht bis ins Innere des Kopfes vordringen. Aber da hämmert dieser eine Satz: Du mußt endlich einsehen, daß ich einen anderen Weg habe als du. Zinnoberrote Drohung, er kann das nicht gemeint haben. Aber Herwarth sagt nie, was er nicht meint. Sie hat das noch nie erlebt, daß er auch nur ein Wort zurücknehmen, einen Akzent anders setzen mußte nachträglich. Herwarth lügt nicht, er weiß sich genau auszudrücken, er verletzt nicht unwissentlich. Trotzdem: er hat sich geirrt. Er muß sich geirrt haben. Warum sonst hätte er ihr diese Frage nachgeschickt, als sie gerade das Zimmer verlassen wollte? Wie meinst du das? Weiß er wirklich nicht, daß da eine Unstimmigkeit ist zwischen seinen Worten und seinem Gefühl? Kann er die nicht sehen? Will er sie nicht sehen? Herwarth! Sie hat es gerufen, leise zwar, aber der Klang ihrer Stimme hat sie erschreckt. Sie beißt sich auf die Lippen, hält sich die Hand vor den Mund. Sie will nicht nach ihm rufen jetzt. Aber wie sie die Augen noch geschlossen hält, ist das schreckliche grelle Rot mit einemmal verschwunden, Türkis hat sich ausgedehnt zu hellblauen Rändern hin, wiegt vor ihr wie Wellen. Wie gut das tut. Sie liegt reglos, bleibt auch so, als sie hört, wie die Türe leise geöffnet wird. - Else, sagt er, dicht vor ihr stehend. Sie rührt sich nicht. Seine Hand schmeichelt auf ihrem Arm. - Else, jetzt muß sein Gesicht ganz nah sein - du. Sie wartet. Als seine Lippen die ihren berühren, streichelt sie seinen Kopf mit beiden Händen, gibt ihm den Kuß zurück. Die Augen hält sie immer noch geschlossen. - Du, sagt er, sich aufsetzend, schau mich doch mal an. Da wiegt sie den Kopf hin und her, ein ums andere Mal, nein, sagt sie, nein nein - ich will meine Augen nicht mehr öffnen [5] - wenn sie sich nicht mit deiner Süße füllen. Sie lacht glucksend und, weil sie weiß, was jetzt kommt, schaut sie ihm hinter halbgeschlossenen Lidern ins Gesicht. - Hör auf. Sein Gesicht verzieht sich in scheinbarer Strenge: ich will ernsthaft mit dir reden. Falls du dich herablassen könntest, mir anders als in Versen, die längst alle Welt in Händen hält, zu antworten. - Du bekommst neue, Liebster, wenn du Wert darauf legst. - Immer. Aber nicht jetzt. - Ist er plötzlich ernst? - Jetzt oder nie, sagt sie schmollend und setzt sich auf, legt den Kopf an seine Schulter, weil, wir müssen wirklich ernsthaft miteinander reden. Du hast vollkommen recht. - In der Pause, die nun entsteht, beobachtet sie ihn, wie er vor sich auf den Fußboden starrt. Schließlich legt er den Arm um sie, hält sie fest. - Ich wollte dir nicht wehtun vorhin, hörst du, sagt er leise, es war bloß: manchmal hast du eine Art zu überhören, was ich dir sagen will, die mich ratlos macht. Ich weiß dann gar nicht, ob ich mich wirklich so unklar ausgedrückt habe, oder ob du nur einfach mit deinen Gedanken ganz woanders warst, oder ob du dir gar nicht die Mühe machst, verstehen zu wollen, worum es mir geht. Er schweigt, räuspert sich, als wolle er von neuem ansetzen, wartet dann. Sie, das Gesicht an seiner Schulter, nickt: Ich habe dir doch von großen Sternen erzählt, [6] aber du hast zur Erde gesehen, Herwarth, es kam mir wirklich so vor. Siehst du, ich denke manchmal, ich habe schon alles irgendwann einmal aufgeschrieben. War es nicht so - ich habe dir von meinem Plan erzählt. - Und dann habe ich dir von meinem Plan erzählt. - Aber du hast mir mit keinem Wort gesagt, was du von meinem Plan hältst. - Weil ich es nicht einschätzen kann. Ich kann es mir nicht vorstellen. Und ich weiß auch gar nicht, ob ich es mir vorstellen will. Sie nickt traurig: Aber ich soll mir vorstellen können, wie das sein wird, eine Fackel für Berlin ins Leben zu rufen. Du, weißt du was: ich kann mir das vorstellen. Ich finde den Gedanken sogar großartig und wichtig und interessant und faszinierend und - ein bißchen größenwahnsinnig auch. Aber: du willst das Ganze leiten, du wirst dafür verantwortlich sein, du wirst hinter den Artikeln herlaufen und von morgens bis nachts nichts anderes mehr machen als diese Zeitung. Ich kenne dich doch. Und selbst wenn ich mitmache, wenn ich selbst schreibe und Artikel tippe und Kontakte herstelle und meinetwegen auch noch die Zeitungen austrage und verkaufe: leben werden wir davon nicht können. Anfangs nicht und später auch nicht. Er schaut sie von der Seite her an, dreht dann mit der Hand ihr Gesicht zu sich her, sieht sie voll an: wer sagt das denn? Wer sagt denn, daß es nötig sein wird, auch nur ein einziges Mal hinter einem Artikel herzulaufen? Es gibt doch jetzt, wo diese Zeitung erst nur als Idee existiert, schon genügend hervorragende Leute, die ihre Mitarbeit spontan zugesagt haben, die endlich unzensiert veröffentlichen wollen. Wir haben doch die letzten Tage von nichts anderem gesprochen, jetzt, als du nicht da warst. Da ist ein ungeheures Potential an guten Ideen, das kannst du mir glauben. - Mag sein - Else rückt von ihm ab, steht auf, geht durchs Zimmer, bleibt dann wieder vor ihm stehen: Trotzdem, mich erschreckt das. Ich sehe dich schon hinter Bergen von Papier begraben, zwischen denen ich mich nicht mehr durchwühlen kann bis zu dir. Er greift nach ihren Händen, hält sie fest: Aber wir werden doch zusammen arbeiten, du und ich. Jeden Tag. Sie kaut auf ihrer Unterlippe, überlegt: vielleicht ist es das, was mir nicht gefällt daran. So eine Zeitung ist schließlich etwas, was man nicht einfach für ein paar Wochen in die Ecke stellen und vergessen kann. Es wird darauf hinauslaufen, daß wir praktisch nur noch die Zeitung machen können. Da wird kein Raum mehr sein für anderes. Du siehst es ja an Kraus. - Kraus ist alleine. Er war immer mehr oder weniger allein. Sie schluckt. Wie auch immer, sagt sie dann leise, es ist eine wahnsinnige Verantwortung, die du da übernehmen willst. Sie wird dich erdrücken. Und mit deiner Musik ist es vorbei dann. Du wirst überhaupt keine Zeit mehr haben, noch Musik zu machen. Er zieht sie zu sich herunter, bis sie wieder neben ihm sitzt. Baby, sagt er, ich kenne dich ja gar nicht wieder. So voller Sorge, als wenn es darum ginge, den Kanzler zu stürzen und die Regierung zu übernehrnen. Und dabei wollen wir doch schreiben, veröffentlichen, ein bißchen kräftiger ins Kulturleben eingreifen als bisher, den Bürgern zeigen, woher der Wind weht. Und natürlich werden wir auch Geld verdienen dabei. Nicht gleich, weil wir ja mit Schulden anfangen müssen, aber - wir haben jetzt so lange mit Schulden gelebt, da schaffen wir das auch noch ein paar Monate länger. Du, das ist doch eine gute Sache, Mißerfolg ist überhaupt nicht möglich bei dem, was wir alle können und im Kopf haben. - Du bist so überzeugt... Er lacht: Natürlich bin ich überzeugt. Von dir, von mir, von Blümner, von Friedländer, von Kraus natürlich, von Peter Baum, von Loos, von Kurtchen, mein Gott, das sind doch alles Namen, die als einzelne schon die Welt erschrecken können. Und dann die Maler erst. Wir können jede Nummer von einem anderen Genie illustrieren lassen. Er legt ihr die Hände auf die Schultern, schaut sie an: Jetzt sag doch endlich, daß du auch überzeugt bist. Du, wenn du schon nicht - wenn wir schon selbst nicht daran glauben, wie sollen wir denn dann andere von uns überzeugen wollen? Sie schüttelt den Kopf: das ist es nicht, Herwarth, das weißt du doch. An dem, was wir alle wollen und können, zweifle ich doch gar nicht... - Aber? - Aber ich würde lieber nur einfach mitarbeiten, verstehst du. Einen Essay beisteuern oder ein Gedicht, das ist etwas anderes, als alles am Leben zu erhalten, verantwortlich zu sein dafür, daß die Sachen redigiert werden und rechtzeitig in der Druckerei sind, daß die Druckerei bezahlt wird, daß die Zeitungen verkauft werden, daß das nächste Heft steht, daß Leserbriefe beantwortet und Abonnements abgerechnet werden, daß - Da hält er ihr die Hand vor den Mund: wenn du jetzt nicht sofort aufhörst damit und sagst, daß wir, weil wir diese Zeitung für wichtig und notwendig halten, all diese Probleme ohne die kleinsten Schwierigkeiten meistern werden, muß ich mich doch von dir scheiden lassen. - Aber, sagt sie, halb lachend, halb empört, darauf will ich doch hinaus, daß wir uns ganz sicher werden scheiden lassen müssen, wenn wir all diese Probleme nicht in Griff kriegen sollten. Mehr nicht und weniger nicht, Herwarth Walden. Und ich habe keine Lust, mich von dir scheiden lassen zu müssen. Nicht wegen einer Zeitung. Und auch sonst nicht. Lieber arbeite ich mich tot. Er drückt sie fest an sich: es wird nicht nötig sein. Oder aber wir gehen beide kaputt dabei. Seine Stimme ist jetzt ernst: wir schaffen es, ganz sicher. Sie sitzt mit hängenden Schultern und ist plötzlich ungeheuer müde. Er, straff und hellwach, zieht seine Uhr, springt auf - ich müßte längst fort sein. Ich komme schon wieder zu spät. Ich habe eine Verabredung im Café mit einem dir nicht unbekannten österreichischen Maler. [7] Er macht wirklich großartige Portraits. Ich bin genauso begeistert wie du. Er will mitmachen bei der Zeitung. Komm doch mit. Sie schüttelt den Kopf: nicht gleich. Ich muß mich ein wenig hinlegen erst. Außerdem ist mir kalt.
Sie hat es nicht wahrgenommen die ganze Zeit über. Jetzt, da die Anspannung nachläßt, dringt die Kälte durch die Haut. Sie schüttelt sich, steht auf, will auf den Ofen zugehen. Er hält sie fest: Wenn du versprichst, daß du nachkommst später, darfst du dich auf das Sofa in meinem Zimmer legen und ich decke dich zu. Magst du? Sie nickt und geht mit ihm, läßt sich in eine Wolldecke wickeln und lächelt ihm zu, wie er ihr, bevor er die Tür von außen zuzieht, noch einmal winkt. Während sie ihn im Flur seine Sachen zusammensuchen hört, streifen Sätze ihres Gesprächs wieder an ihr vorbei. Eigentlich ist sie viel zu müde, um über alles von neuem nachzudenken, aber plötzlich sitzt sie doch aufrecht mit kerzengeradem Rücken und hocherhobenem Kopf. Herwarth, ruft sie, Herwarth, bist du noch da? Er steckt den Kopf durch einen Türspalt, den Hut hat er schon auf. Hast du es dir anders überlegt? fragt er. Sie springt auf, läuft auf ihn zu, bleibt aber halben Wegs stehen. was hast du vorhin gesagt, fragt sie jetzt: den Bürgern zeigen, woher der Wind weht? Er nickt überrascht: Ja, warum? Ist es nicht so? Doch, lacht sie, natürlich. Nur: das wird ein Sturm sein müssen, glaubst du nicht auch? - Hm. Ja. - Er weiß nicht, worauf sie hinaus will, kann auch nicht deuten, warum ihre Augen so strahlen, ist eigentlich mit seinen Gedanken auch schon fort, im Café, wo er selbst längst sein sollte, sein wollte. - Herwarth! - Ihre Stimme reißt ihn zurück: das ist es doch, oder? Ein Sturm. Wir müssen einen Sturm entfachen, jede Woche neu, mit unserer Zeitung. Wir sollten sie so nennen, programmatisch. Sturm. [8] DER STURM. Was hältst du davon? - Wie sie dasteht mitten im Raum und zu ihm herüberlacht, den rechten Arm halb erhoben vors Gesicht und mit Daumen und Mittelfinger lautlos schnalzt, eine Siegergebärde, selbstbewußt, fröhlich, und er, besiegt wie so oft, kann eigentlich nur noch die Arme nach ihr ausstrecken, auf sie zugehen, sie fest, festhalten. Ohne dich, flüstert er ihr ins Ohr, würde das sicher ein sehr unechter Sturm. Aber mit dir verspricht er das glänzendste Programm, das je auf ein Publikum gekommen ist. Die Idee ist fabelhaft. Ich muß sie sofort weitergeben an alle, ob sie's hören wollen oder nicht. Er ist so schnell draußen jetzt, daß Else es erst bemerkt, als die Wohnungstür ins Schloß fällt. Da nickt sie vor sich hin, dreht sich auf den Fersen um und kehrt zurück aufs Sofa, unter die Wolldecke, die sie bis über die Schultern hochzieht, und im nächsten Moment schläft sie schon.
Als sie aufwacht, zwei Stunden später, ist es dunkel. Von der Straße her fällt ein karger Lichtstreifen durchs Fenster quer über den Teppich. Else beobachtet, wie er sich verwischt, wenn die kahlen Äste des Baums vor dem Fenster sich bewegen. Sie liegt auf der Seite, zusammengerollt, hat die Wolldecke fest um sich gewickelt, unter der es mollig warm und gemütlich ist, und versucht, die einzelnen Gegenstände im Zimmer)enseits des Lichtscheins auszumachen. Sie erkennt Tischbeine und den davor stehenden Stuhl, ahnt auch den Klavierhocker, obwohl der sich vom dunklen Holz des Flügels gar nicht abhebt, die Wände steigen schwarz auf ins Nichts, Begrenzungen sind nicht auszumachen. Wenn jetzt ein Stern hereinfiele, denkt sie, hier, mitten auf den Teppich, ein fünfzackiger, silbern blinkender Stern, der würde Licht verbreiten, flimmerndes, aufstrahlendes, und wenn jemand in der Tür stünde, würde er mich sehen, auf dem Sofa, und vielleicht würden in meinem Haar lauter kleine Sternchen blinken aus den Lichtreflexen des großen Sterns. Vielleicht wären meine Augen wie dunkle Sterne und nur ich selbst ein Schattengewächs darunter...? Und wenn dieser jemand zu mir kommen würde, würde er die Strahlen durchschneide n mit seiner Gestalt, die sich zwischen den Stern und mich schieben würde, und die Reflexe in meinen Augen, in meinem Haar wären unterbrochen. Ich würde nichts widerspiegeln als Schatten, wäre selbst vom Licht abgeschnitten, und wenn ich die Hände ausstrecken würde, wüßte ich nicht, ob ich damit die Gestalt wegschieben wollte aus dem Lichtschein oder ob ich nach ihr greifen wollte. Es würde auf den Besucher ankommen, es zu deuten, und ich würde mich fügen, nein, wahrscheinlich wurde ich enttäuscht sein: was auch immer er tun würde, ob das eine oder das andere, ob er wegtreten würde aus dem Licht oder ob er sich zu mir beugen würde, ich wäre immer enttäuscht. Enttäuscht, daß nur eine der beiden Möglichkeiten umgesetzt würde. ich will immer alles, und alles zugleich. Und nie begegnet mir jemand, der genau wie ich alles zugleich wünscht und umsetzen will. Vielleicht, wenn Herwarth - ja, höchstens Herwarth: Herwarth und Peter Hille. Eigentlich ist Herwarth in manchen Dingen ganz ähnlich wie Peter Hille war. [9] Ein Jünger, ohne es zu wissen. Hub sie schreckt auf, stützt den Kopf in die Hand, da haben die Äste vorm Fenster sich wieder bewegt und die Blumenranken des Teppichs haben begonnen, sich ineinander zu verschlingen, tanzen in zarter Umarmung aber mit dämonischem Grinsen. Das ist ja zum Fürchten. Sie schüttelt die Decke von sich, steht auf, reckt sich, gähnt. Als Kind hat sie sich gefürchtet zu solchen Gelegenheiten, nicht vor der Dunkelheit, aber vor dem, was sich da an Gnomen und hexerischen Gestalten oft in ihrem Zimmer bewegt hat. Nicht immer hat sie den Mut gehabt, mit ihnen zu spielen. Vorsichtig macht sie einen kleinen Schritt nach vorn, bleibt neben dem Lichtstreifen stehen, der ist jetzt wieder ruhig und mit geraden Kanten gar nicht gespenstisch, da wippt sie auf die Zehen, läuft in der Pose einer Spitzentänzerin mit ausgebreiteten Armen an seinem Schattenriß entlang bis dorthin, wo er sich in der Zimmermitte im Dunkeln verliert, und mit einem tiefen Knicks schwingt sie sich hinüber in die dunkle Hälfte des Raums, läßt die Arme sinken und tastet sich auf leicht aufgesetzten Füßen durch bis zur Tür. In ihrem Zimmer braucht sie nur wenige Handgriffe, dann brennt die Lampe über dem Tisch und die Kerze vor dem Spiegel. Die Kälte kriecht ihr schnell wieder unter die Kleider, aber sie will ja gar nicht bleiben, sie muß )a ins Café. Den Sturm feiern mit allen, die an ihm mitarbeiten wollen. Sie öffnet ihren Schrank, holt eine weite, dunkelblaue Bluse aus ihm hervor und zieht sich mit schnellen Bewegungen um. Dunkelblau ist auch das Tuch, das sie sich wie einen Turban um den Kopf schlingt. In dem Kästchen auf der Konsole vorm Spiegel findet sie lange Ohrringe aus rotem Glas, die sie sich ansteckt, und über der Stirn befestigt sie eine halbmondförmige Brosche aus mattsilber schimmernden Straßdukaten. Jetzt noch einen Hauch von dem lila Puder über die Wangenknochen und mit dem schwarzen Fettstift einen dicken Strich in die Augenhöhlen, eine Fingerspitze voll Rot auf die Lippen verteilt und einen winzigen goldenen Tropfen von Ketes Theaterschminke zwischen die Augenbrauen getupft, schön sieht sie aus, wie aus einem Märchen aus tausendundeiner Nacht aufgetaucht, das ist sie: Else LaskerSchüler. Sie lächelt ihrem Spiegelbild zu: nicht verraten, flüstert sie, heute abend: der Sturm wird gefeiert, und ich will die Königin sein, damit sie alle schwelgen können in ihren guten Vorsätzen und ihrem Traum von den großen Siegen über Bürgerlichkeit und kaiserliche Kulturpolitik, wir machen das schon. - Und haucht mit geschürzten Lippen ein shalom in den Spiegel, bevor sie die Kerze löscht mit demselben Atemzug, sich umdreht und Mantel und Schal greift und mit großen Schritten zur Zimmertür schreitet, wie eine Königin wirklich, deren Kammermädchen gerade Ausgang haben und die sich trotzdem zu helfen weiß. Der Auftritt ist wie erwartet und doch nicht ganz so, daß Else über den Empfang glücklich ist. Die Freunde, die dicht gedrängt am Tisch sitzen, begrüßen sie lautstark und mit hocherhobenen Gläsern, Else bekommt selbst eines in die Hand gedrückt und muß mit anstoßen, aber während sie noch im Stehen einen großen Schluck Rotwein trinkt und dann mit lächelndem Mund das Glas zurück auf den Tisch stellt, spürt sie deutlich, wie ihr geschminktes Gesicht tatsächlich zur Maske wird, wie eine kalte Hand ihr ans Herz greift und ihr Lächeln gefrieren läßt. Gesenkten Blicks setzt sie sich auf den Stuhl, den Peter Baum zwischen den seinen und den von Dr. Friedländer geschoben hat, nein, sie kann die Augen nicht heben, nicht sofort jedenfalls, sie hat nicht damit gerechnet, daß alles so weitergehen würde wie bisher, wie immer: ihr gegenüber sitzt Herwarth, eingerahmt von zwei jungen, ihr unbekannten Frauen, tizianrot die eine, blondgelockt die andere, die haben unschuldige Kinderaugen alle beide und volle Lippen und rote Wangen wie Mädchen vom Lande, und Else fühlt sich alt und verbraucht und, trotz des Beifalls, den die Freunde ihr zollen, überflüssig und fehl am Platz. Es ist Enttäuschung, die sich in ihr ausbreitet, die läßt sich nicht mit Rotwein hinunterschlucken. lhr ist, als wenn das Gerüst, das sie heute nachmittag gemeinsam mit Herwarth gezimmert hat, mit dem ersten Schritt, den sie jetzt ins Café gesetzt hat, in sich zusammengebrochen sei, und die Ahnung in ihr, daß doch jede Anstrengung vergebens sein wird, daß jede Bemühung ihrerseits, Herwarths Sache auch zu der ihren zu machen, nicht mehr dazu beiträgt, den Riß, der sich zwischen ihnen eingegraben hat, auf Dauer zusammenzukitten, macht sie stumm. Sie hört nicht, was da rechts und links von ihr gesprochen wird, nickt mechanisch das eine oder andere Mal, und als Peter Baum nach ihrer Hand greift und sie mit brüderlicher Geste auf den Tisch legt und festhält, läßt sie es geschehen und kann ihm doch nur einen kurzen Blick zuwerfen, damit ihr nicht die verständnisvolle Spiegelung in seinem Gesicht die Tränen in die Augen treibt. Während in ihr noch Enttäuschung und Mutlosigkeit ihr Spiel treiben, dringt Herwarths Stimme an ihr Ohr, so leise und liebevoll, daß ihr ein Erschrecken zwischen die Schulterblätter rieselt und sie den Kopf heben und zu ihm hinübersehen muß. - Else, sagt er, kannst du einen Moment zuhören? Ich möchte dich bekanntmachen. Darf ich dir diese beiden jungen Damen vorstellen? Wir haben uns heute nachmittag kennengelernt, während ich hier mit Kokoschka plauderte, und weil sie so entsetzlich neugierig waren und so überaus erpicht darauf, die berühmte Dichterin Else Lasker-Schüler einmal von Angesicht zu Angesicht vor sich zu haben, habe ich sie eingeladen zu bleiben und sich hier unserem Kreis anzuschließen. Hier rechts von mir - er neigt den Kopf zu dem blondgelockten Landkind - siehst du Fräulein Linde Schonemann, Tänzerin, die nächste Woche in Leipzig ihr erstes Engagement antreten wird, und auf meiner anderen Seite sitzt ihre Schwester Paula, die sie begleitet, als Anstandsdame sozusagen. Und beide wollen jetzt auf der Durchreise herausfinden, was es mit dem Berliner Kulturkampf auf sich hat. - Else nickt: Dazu sind Sie in guten Händen bei meinem Mann, sagt sie, aber es klingt kein bißchen freundlich. Wie sollte es auch, wo sie doch den Blick, mit dem Herwarth die tizianrote Schönheit an seiner Seite immer noch umfangen hält, wie einen Säbelhieb quer durch ihr Inneres ziehen fühlt? - Sie haben wunderschönes Haar, fährt sie dann aber doch fort mit echter Überzeugung, das dürfen Sie niemals offen tragen hier in Berlin, sonst fallen die Wölfe über Sie her, um sie zu zerreißen, und die Krähen hacken Ihnen die Augen aus, und überhaupt würde man Sie als Hexe verbrennen, bevor Sie wüßten, wie Ihnen geschieht. - Sie wartet, wie sich in den Gesichtern der beiden Schwestern Schreck und Ungläubigkeit einen Kampf zu liefern beginnen, dann fährt sie fort mit weichdunkler Stimme: ich könnte Ihnen viele Geschichten erzählen, nicht nur von symbolischen, sondern auch von tatsächlichen Hexenverbrennungen. Berlin ist ein Dschungel an Grausamkeiten. Es gibt keine Männer, die einem Diamanten schenken. Fast keine )edenfalls. Und auf Mord sind wir hier alle eingestellt. Das stimmt doch, Peter, oder? Sie dreht den Kopf zu ihm, der immer noch ihre Hand auf dem Tisch festhält und jetzt bedächtig zu den beiden jungen Damen hinübernickt. Sein spitzer Bart macht die Bewegung des Kinns zu einer dämonischen Geste. - Alle, sagt er, und besonders wenn Eifersucht im Spiel ist. Und irgendwer hat immer Grund zur Eifersucht unter Künstlern, nicht wahr? - Er wirft die Frage zurück zu Else, die ihn ansieht mit weiten ernsten Augen, daß niemand, der sie nicht gut kennt, unterscheiden könnte zwischen Spiel und wirklicher Überzeugung. - Ich habe eine Pistole, [10] sagt sie, die ist klein und silbern und extra für Menschen, die ich hasse. Und ich bin inzwischen gut im Treffen: ich stürze ins Zimmer, und es dauert keine fünf Sekunden, bis das Magazin leer ist und ich die Türe wieder hinter mir zugezogen habe. Die Pistole habe ich in meine Tasche gesteckt, und wenn ich aus dem Haus gehe, bin ich so ruhig, daß niemand auf die Idee kommt, daß oben eine durchlöcherte Leiche darauf wartet, gefunden zu werden. Und weil ich immer aus jedermann einsichtigen Gründen töte, haben die Richter bisher stets ein Auge zugedrückt. - Sie greift nach ihrem Glas, lehnt sich zurück und schaut über den Rand ihres Glases mit samten sanften Augen auf Herwarth, wie er dasitzt und mit den Fingern auf den Tisch trommelt, ohne nach rechts und links zu sehen. Die beiden Damen zu seinen Seiten starren ehrfurchtsvoll zu ihr herüber, sprachlosunschlüssig und nicht sicher, ob sie sich ein Lächeln abringen dürfen. Da ergreift Else noch einmal das Wort und sagt in beruhigendem Ton: Sie brauchen nicht zu erschrecken. Freilich, für jemanden, der unsere Berliner Verhältnisse nicht von innen kennt, klingt das alles sehr theatralisch. Aber das ist es nicht. Sehen Sie, ich töte nur, wenn man mich betrügt. Ich hasse es eben, hintergangen zu werden. Das ist doch ganz natürlich, oder? Wie siehst du das, Herwarth? - Der hört auf, auf den Tisch zu trommeln, hebt den Kopf und schickt ihr einen gewollt gelangweilten Blick. Dann wendet er sich an Linde, die Tänzerin, und sagt: Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft, Sie kennen den Spruch, nehme ich an? Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. - Aber als er sehen muß, daß es ihm nicht gelingen wird, mit dieser Bemerkung die Unbefangenheit seiner Nachbarinnen wieder herzustellen und ein neutraleres Gespräch in Gang zu bringen, wendet er sich an den neben Else sitzenden Friedländer, der amüsiert zugehört hat und sich gerade eine neue Zigarette ansteckt: Glauben Sie wirklich, daß wir es in vier Wochen schaffen werden? - Daß wir was in vier Wochen schaffen werden? - Else fragt es, obwohl ihr augenblicklich klar ist, daß nur vom STURM die Rede sein kann. - Die erste Nummer, bestätigt Friedländer. Doch, warum sollten wir das nicht schaffen? Außerdem - es ist Ihr Projekt, und Sie haben schon ganz andere Sachen innerhalb von vier Wochen auf die Beine gestellt. Ich sehe da keine Schwierigkeiten, vorausgesetzt daß eine Druckerei gefunden wird, die erst einmal auf Kredit arbeitet. - Aber das ist doch gerade das Problem. Wer gibt uns schon Kredit? - Else schüttelt den Kopf: Vier Wochen, das ist viel zu kurzfristig, Herwarth. In der Zeit kann keiner von uns auch nur annähernd so viel Geld verdienen, daß wir damit arbeiten können, bei den Schulden, die wir alle haben. Und wenn wir dann unsere ganze Kraft in die Zeitung stecken, bleibt sowieso keine Zeit mehr übrig, um irgendwo sonst noch nebenher Geld zu verdienen. Das ist ganz unmöglich, Herwarth, vier Wochen nur noch. Reicht es denn nicht, wenn wir irgendwann im Sommer damit anfangen, im Juni oder Juli, es ist doch gar nicht so eilig? - Sie merkt schon während sie spricht, daß ihre Worte an ihm abperlen wie die Regentropfen auf ihren Lackstiefeln. - Entweder schnell oder nie, sagt er, die Zeit ist reif jetzt. Und erfahrungsgemäß wird es uns im Juni oder Juli kein bißchen besser gehen finanziell als momentan. - Aber wenn ich doch erst einmal die Varieténummer angefangen habe, Herwarth, wenn wir nur ein paar Wochen damit auftreten, dann sind wir doch saniert. - Sie schaut ihn bittend an, aber er ist nicht bereit, sich einfangen zu lassen. - Ich habe dir doch schon heute nachmittag gesagt, was ich mir davon verspreche. - Er nimmt sein Glas und trinkt es mit einem einzigen großen Schluck leer. - Welche Varieténummer? mischt Friedländer sich ein. Else wendet sich ihm zu: Wissen Sie, das möchte ich Ihnen in Ruhe erzählen, nicht jetzt. Herwarth hat so gar kein Ohr dafür. Sind Sie morgen vormittag hier? Dann komme ich und weihe Sie in meinen Plan ein. Weil jetzt, ich glaube, jetzt möchte ich nach Hause gehen. Bringst du mich nach Hause, Herwarth? - Der sitzt da, sieht durch sie hindurch und sagt, ohne zu überlegen: nein, ich glaube, ich bleibe noch, falls es dich nicht stört. - Es stört mich aber. Doch, wirklich, ich will jetzt nicht alleine nach Hause, ohne dich. Bitte, Herwarth, laß uns zusammen gehen. Es ist mir wirklich wichtig jetzt. - Er seufzt, zieht seine Uhr: Also gut, sagt er dann, es ist ja auch schon spät. Gehen wir also. - Er reicht den beiden Damen, die immer noch schweigsam neben ihm sitzen, die Hand und rät ihnen, eine Droschke zu nehmen für den Rückweg zum Hotel. - Und morgen vormittag, sagt er, es bleibt dabei, daß ich Sie abhole gegen elf Ulir, und dann wir werden es einfach vom Wetter abhängig machen, was wir unternehmen, nicht wahr? - Else sieht das Strahlen in den Augen der beiden, deshalb kann sie zum Gruß nur ganz kurz nicken, Friedländer und Baum gibt sie die Hand, bis morgen, sagt sie, gegen Mittag dann, und ich bin ungeheuer gespannt, ob Ihnen der Plan gefällt, und dir auch Peter, du kennst ihn ja auch noch nicht. Ich bin todsicher, das wird eine erfolgreiche Unternehmung, auch wenn Herwarth keine Spur von Sympathie dafür entwickeln kann... und dann läuft sie zur Tür, wo er schon auf sie wartet, und hängt sich bei ihm ein, wendet noch einmal quer durch den Raum grüßend den Kopf und läßt sich von Herwarth nach draußen ziehen, als wäre nicht sie diejenige gewesen, die unbedingt nach Hause wollte, sondern er. Sie gehen schweigsam, knirschenden Schnee unter den Füßen und sonst keine Geräusche um sie her. Nach langen Minuten endlich sagt Herwarth: sag mir wenigstens, daß du jetzt zufrieden bist. - Wieso? Womit soll ich denn zufrieden sein? - Else weiß von nichts. Herwarth seufzt, sagt aber nichts dazu. Sie gehen schweigend weiter, Else hat seinen Arm losgelassen und die Hände, genau wie er, in die Manteltaschen vergraben. Als sie die Straße überqueren, greift sie wieder nach seinem Arm, versucht, ihn zum Laufen zu animieren. Komm, rennen wir um die Wette. Wer zuerst daheim ist. - Er schüttelt sie ab: laß mich. - Was hast du denn? Nichts. - Zu Hause dann, sie haben die Mäntel aufgehängt und Pantoffeln angezogen, sagt er, während er eine Zigarette aus dem Päckchen klopft: Machst du mir noch einen Kaffee, bitte? Ich muß noch arbeiten. - Sie, im Flur stehend: ich dachte, wir wollten schlafen gehen, du, und mit einer Wendung auf ihn zu, als wolle sie ihm die Arme um den Hals legen: das war das doch, warum ich wollte, daß du mitkommst. Der Kampf in seinem Gesicht, dann ein unwirsches Kopfschütteln: dann mache ich mir den Kaffee eben selber. Aber... das kannst du doch gar nicht. - Und, sich gegen die Küchentüre lehnend, leise: wenigstens als Kaffeeköchin brauchst du mich noch. - Da schreit er: hör auf, hör endlich auf damit. Du weißt ja gar nicht, was du sagst. - Die Tür zu seinem Zimmer knallt zu, und Else steht im Rahmen der Küchentüre und starrt ihm hinterher. Wenn doch nicht alles so schwer wäre. Sie greift nach dem Wasserkessel und setzt ihn auf die Herdplatte. Das Feuer im Herd brennt schnell. Else steht am Fenster und haucht Gucklöcher in die Eisblumen. Ein Guckloch, um in die Zukunft zu sehen. Sie reißt sich hoch, läuft in ihr Zimmer und kommt dann mit einem Block und einem Bleistift zurück. Sie sitzt am Küchentisch, und in ihrem Kopf hämmert immer nur der eine Satz: du hast mich nicht mehr lieb [11]. Noch vor wenigen Monaten hätte sie diesen Satz höchstens gedacht, voller Zweifel, aber nie so bestimmt, daß sie ihn hätte aufschreiben können. Jetzt steht er da, dieser Gedanke, unverhüllt, und sie denkt ihn weiter: ist es nicht so, daß du kaum mehr weißt, wie das einmal war zwischen uns? Wie wir auch anders sein konnten, glücklich und jung und unzertrennlich und mit tausend Plänen? Heute stehst du vor mir wie ein Fremder, siehst mich an, als hättest du mich nie anders gesehen: du erinnerst dich gar nicht mehr an mich. Und ich, fassungslos, möchte mich in deine Arme werfen und spüre nur Abwehr und weiß gar nicht, wo ich hin soll mit meiner Liebe. Und fühle mich von Tag zu Tag älter und verbrauchter, und dann kommst du an und bist auch nicht mehr derselbe und streckst die Hand aus nach einem )ungen Mädchen, das dich anhimmelt und mit dem du vergessen kannst, nein, mit dem du deine eigene Jugend noch einmal erleben kannst. Deine Jugend, die du mit mir verbracht hast, mit mir, der Alten, Verrückten, die sich abgenutzt hat in diesem Leben. Sie legt den Kopf in den Nacken, träumt in die Eisblumenfenster hinein: Und wie du kamst! Blau vor Paradies; Mein Herz, schreibt sie, will ich schminken, wie die Freudenmädchen die welke Rose ihrer Lende röten: ja, so hat sie sich gefühlt heute abend im Café, als hätte sie ein geschminktes Herz, als hätte sie sich herausgeputzt wie ein Freudenmädchen - da war sie wie weggeblasen, die Freude an der Verkleidung, an Puder und Schminke im Gesicht, mit diesen beiden jungen Mädchen gegenüber, eine frischer und rosiger als die andere, und mit Herwarth in ihrer Mitte, diesem freundlichen, zuvorkommenden Herwarth, der mit geistreichen Sätzen um sich warf und den sie selbst so liebt, daß sie ihn nicht teilen will mit irgendwelchen hergelaufenen Möchtegerntänzerinnen, pah, wenn er wenigstens Geschmack hätte! Gegen eine Affaire mit Niveau würde sie sich doch nicht sträuben. Das kennt sie doch selbst, daß man sich verlieben kann, ständig neu, in Flammen stehen und ganz aufgewühlt sein von einem intelligenten, faszinierenden Menschen. Aber im Gegensatz zu Herwarth weiß sie, daß das die wirkliche Liebe nicht berührt, dieses Gefühl, zu jemandem zu gehören. Nein, sie hat bei all ihren Verliebtheiten doch nie daran gerüttelt, daß es Herwarth ist, mit dem sie zusammenlebt, daß er ihr wichtiger und wertvoller ist als die anderen Männer, die ihr Herz für einen Flügelschlag lang in Unordnung bringen können, sie hat ihn nie vergessen über all dem anderen, hat ihn nicht ignoriert oder behandelt wie ein lästiges altes Möbelstück, das wohl oder übel an seinem Platz steht, obwohl es eigentlich nicht mehr so richtig zur sonstigen Einrichtung paßt.
Sie schreckt auf: das Kaffeewasser, es kocht ja längst! Mit schnellen Handgriffen brüht sie Kaffee auf, stellt zwei Tassen und die Kanne auf ein Tablett und bringt es hinüber in Herwarths Zimmer. Dort brennt nur die kleine Lampe auf dem Schreibtisch, und Herwarth selbst liegt ausgestreckt auf dem Sofa und ist eingeschlafen. Else stellt das Tablett auf den kleinen Tisch, der vor dem Sofa steht, gießt Kaffee in eine Tasse, kniet sich dicht neben seinem Kopf auf den Teppich und hält ihm die Tasse mit dem dampfenden Kaffee unter die Nase. - He, sagt sie, der Kaffee ist fertig. - Er schlägt die Augen auf, blinzelt: Hast du ihn doch gemacht? - Er nimmt ihr die Tasse aus der Hand, richtet sich zum Sitzen auf. - Du bist lieb, sagt er, manchmal. Und, während er merkt, daß der Kaffee noch zu heiß ist und die Tasse wieder auf den Tisch zurückstellt: Manchmal hasse ich dich. Besonders wenn - Wenn? Besonders wenn ich immer nach deiner Pfeife tanzen muß und wenn du Szenen machst, weil ich anders will als du. - Mache ich das? Elses Frage klingt echt verwundert. Den Blick, mit dem er sie ansieht, weiß sie nicht zu deuten. Sie nimmt die Kanne, um sich selbst auch Kaffee einzugießen. - Du, er streckt die Hand aus, berührt ihre Schulter, greift dann aber wieder nach seiner Tasse: wir sollten ein Abkommen treffen. Irgendeine Art Regelung, die es uns möglich macht, miteinander auszukommen, ohne einander einzuengen. - Else, auf den Fersen hockend, hält die Tasse mit beiden Händen und konzentriert sich mit den Augen auf den dampfenden schwarzen Kaffee. Sie weiß, was er jetzt sagen wird. Sie will es nicht hören. In ihrem Kopf hämmert es wieder: du hast mich nicht mehr lieb... Langsam stellt sie die Tasse zurück, steht auf. Nicht jetzt, bitte, flüstert sie, laß uns morgen darüber reden, ja? Ich bin zu müde jetzt für ein solches Gespräch. Morgen, in Ruhe, beim Frühstück, bevor du deine beiden Damen in ihrem Hotel aufsuchst, um Fremdenführer zu spielen. Aber nicht mehr heute nacht. - Sie beugt sich zu ihm, haucht ihm einen Kuß auf die Stirn: ich muß jetzt wirklich schlafen, und geht mit müden Schritten in ihr Zimmer.
Schreibblock und Bleistift holt sie sich noch aus der Küche, wo sie sie liegengelassen hat vorher, dann fängt sie an, sich mit langsamen Bewegungen auszuziehen. Als sie den Schmuck zurück in sein Kästchen legt, mustert sie ihr Spiegelbild mit fremdem Blick: nein, so übertrieben aufgeputzt, wie sie sich gefühlt hat, war sie doch gar nicht gewesen. Das ist doch nichts Verwerfliches, sich mit Kleidung und Schminkfarben zu verwandeln, dieses Spiel, mit den Möglichkeiten zu spielen. Das kann doch nur kleine Geister stören! Was ist da nur in sie gefahren vorhin, daß sie selbst nicht mehr an die Echtheit ihres Spiels glauben mochte? Sie weiß sich keine Antwort darauf, sieht sich im Spiegel dastehen in dem weißen Seidenhemd, dessen Träger ihr über die Schultern gerutscht sind, ja, mager ist sie geworden in diesen letzten Jahren; mit den von Männern begehrten weiblichen Formen kann sie nicht aufwarten... Ob es das ist, was Herwarth nach anderen Frauen schauen läßt? Sie schüttelt den Kopf, das kann nicht sein. Er war es doch, der sie bestärkt hat, als sie noch schwankte, ob sie sich von ihrem langen, aufgesteckten Haar trennen sollte oder nicht, er hat sie doch immer so gemocht, extravagant und anders als die übrigen Frauen, wenn sie nur wüßte, was ihn)etzt solch mädchenhafte Madonnenbilder begehren läßt! Traurig zieht sie die Schultern hoch. Du hast mich nicht mehr lieb... Sie klettert ins Bett unter die Decke, rückt nach hinten an die Wand, sitzt mit hochgezogenen Knien, liest wieder, was sie vorhin geschrieben hat. Auf einem neuen Blatt beginnt sie noch einmal: Ich bin traurig: Deine Küsse dunkeln auf meinem Mund. Du hast mich nicht mehr lieb. [12] Und wie du kamst! Blau vor Paradies; mein Herz gaukelte um deinen süßen Brunnen. Nun muß ich es schminken, wie die Freudenmädchen die welke Rose ihrer Lende röten. Alt ist der Mond geworden. Die Nacht wird nicht mehr wach. - Du erinnerst dich kaum an mich. Wo soll ich mit meinem Herzen hin? Der Kopf sinkt ihr auf die Knie, zusammengekauert sitzt sie im halbdunklen Winkel, wie um dem Schmerz, der in ihr zuckt, zu verwehren, nach außen zu dringen. Irgendwann löst die Müdigkeit sie aus der eigenen Verklammerung, Schlaf macht ihre Atemzüge gleichmäßig und ruhig. Sie merkt nicht, wie Herwarth die Lichter löscht und sich an ihre Seite legt. Erst morgens, mit dem Geräusch des Streichholzes, mit dem er sich seine erste Zigarette ansteckt, schreckt sie hoch, sitzt mit wildem Haar und unruhigen Augen im fahlen Licht und schaut auf ihn herunter, wie er neben ihr liegt, lang ausgestreckt, und Rauchringe gegen die Zimmerdecke bläst. - Ich habe an Kraus geschrieben, gestern abend. - Seine Stimme kommt von weither. - Meinen Besuch angemeldet. - Sie hat die Hände neben sich aufgestützt, die Träger ihres Hemdes sind wieder von den Schultern gerutscht, mit schräggeneigtem Kopf lauscht sie dem Klang seiner Worte nach. Es dauert, bis ihr Inhalt sie erreicht. Da fährt sie hoch: du willst nach Wien? - Ja. - Wann? - Nächste Woche, denke ich. - Aber bis dahin... - Was: bis dahin? - Bis dahin, dachte ich, können wir anfangen mit der Variet~nummer. Es muß doch schnell gehen. Er schüttelt den Kopf, angelt mit dem einen Arm neben sich auf dem Boden nach seiner Brille, setzt sie umständlich auf. - Du wirst ohne mich spielen müssen. - Aber das geht nicht. Das weißt du doch ganz genau. Ohne deine Musik Sie unterbricht sich, schluckt: ich will das nicht ohne dich machen. Es geht doch auch um deine Zukunft. Zusammen können wir viel mehr Leute anziehen damit, und dann, Herwarth, wir können bestimmt mindestens zwei Jahre lang von einer einzigen Tournee leben. - Er dreht sich ihr zu, streckt einen Arm nach ihr aus und sieht sie mit einem schweigenden Lächeln an, das alles und nichts bedeuten kann. - Was denkst du? fragt sie. - Ich denke, daß ich gestern nachmittag der Meinung war, wir hätten uns darauf geeinigt, daß wir eine Wochenzeitung, die DER STURM heißen soll, herausgeben werden. Und daß ich, bevor die erste Nummer erscheint, noch einmal zu Kraus fahre, um mich mit ihm über Möglichkeiten und Probleme, die er bei seiner Arbeit an der Fackel kennengelernt hat, zu besprechen, ist doch eigentlich nur eine logische Folgerung, oder? Sie nickt seufzend: du bist davon also durch nichts abzubringen? - Nicht, bevor ich es ausprobiert habe. - Du wirst dich kaputtmachen. - Wir werden sehen. Plötzlich richtet er sich auf, umschlingt sie mit beiden Armen und drückt sein Gesicht an ihre Schulter. Sie hält ihn fest, beginnt ihn hin- und herzuwiegen, wie sie das sonst oft bei Paul macht. Warum fühlt sie sich jetzt wieder so stark? Wie können die Zweifel und Anfechtungen der letzten Tage so spurlos untertauchen? Sie streichelt ihm die blonden Strähnen aus der Stirn, nimmt sein Gesicht zwischen die Hände, küßt ihn lange und zart. - Es ist schon etwas Seltsames mit uns beiden, flüstert er, als sie sich wieder von ihm gelöst hat, wenn das Leben an sich nur einfacher wäre... Aber so? - Er rückt ab von ihr, sitzt jetzt auf der Bettkante und, als er gerade aufstehen will, fragt sie. Was hast du eigentlich damit gemeint gestern, mit dieser Regelung, von der du gesprochen hast? - Er dreht den Kopf zu ihr zurück, und jetzt ist wieder dieser ironische Zug um seinen Mund, als er sagt: das weißt du doch, oder? Sie schüttelt den Kopf. - Ich will wieder mehr Herwarth Walden und weniger der Mann von Else Lasker-Schüler sein. - Du meinst, ich soll dir nicht in deine diversen Affairen hineinreden? - Ihre Stimme ist ganz leise, aber klar und ohne versteckte Tränen, und auch ohne Groll. - Das auch. Ich brauche Bewegungsfreiheit, genau wie du. Nicht nur für Affairen, auch für das, was beruflich zu tun sein wird. - Wenn ich mir nur sicher sein könnte, daß uns das beiden wirklich weiterhilft. - Da steht er auf und beginnt, seine verstreuten Kleidungsstücke zusammenzusuchen. Und während er sich Hemd und Hose überzieht, sagt er, ihr den Rücken zudrehend: Das Bedürfnis nach Sicherheit ist ein sehr bürgerliches, findest du nicht auch? Mit Sicherheit im Pücken wird keiner von uns beiden so leben können, wie er es eigentlich will. - Else beobachtet ihn genau, wie er sich bückt, um sich die Socken hochzuziehen. Jede dieser Bewegungen kennt sie auswendig. Wenn nur diese Vertrautheit nicht wäre, vielleicht wäre dann alles viel einfacher? Aber wenn er Sätze sagt wie den eben, dann kann sie gar nichts dagegen anbringen. Er hat ja recht. Sie atmet tief durch, dann wirft sie die Decke mit einem Schwung von sich und steht auf. - Ich weiß, sagt sie, nur: manchmal bin ich nicht ganz so konsequent wie du. Und jetzt, wo wir uns in den sieben mageren Jahren zu befinden scheinen, fällt es mir zwischendurch eben wirklich schwer, mich nicht nach einem Heim, in dem der Tisch gedeckt und das Bett frisch überzogen ist, zu sehnen. Das, das verstehst du doch auch, oder? Er zieht nervös an seiner neuangezündeten Zigarette: Schon, aber Jammern bringt uns auch nicht weiter. Und irgendwie glaube ich eben fest daran, daß wir es schaffen. - Er wartet im Sessel, bis sie fertig angezogen ist, dann verlassen sie gemeinsam die Wohnung, um im Café zu frühstücken.
Tage voller Unruhe und ungeduldiger Betriebsamkeit folgen, Else hat viel zu tun, den Varietéplan zu konkretisieren. Gemeinsam mit Kete, der Freundin, entwirft sie ein Stück, das >Der Fakir< heißen soll, der ist, lange bevor sich wirklich Auftrittsmöglichkeiten abzeichnen, in aller Munde. Else ist überzeugt davon, daß sich ihr unter Herwarths Einfluß alle Türen öffnen werden dafür. Während sie um seine Zusage kämpft, ihm immer und immer wieder die Aussichtslosigkeit ihrer finanziellen Lage vor Augen hält und vor dem durch das Zeitungsprojekt mit Sicherheit auf sie zukommenden völligen Ruin warnt, flüchtet sie sich wie ein kicherndes Schulmädchen in Liebesgedichte, die sie stolz Herwarth zeigt, ihm aber nicht widmet. So soll es doch auch sein, nicht wahr? Schwärmereien bleiben nur solange wirklich harmlos, als sie offen zugegeben und nicht dem Ruch von Heimlichtuerei und Betrug ausgesetzt werden. Herwarth soll sich ein Beispiel an ihr nehmen! Gedichte, die sie an die >Schaubühne< gesandt hat, fordert sie empört zurück, als dort ein hämischer Kommentar erscheint, der sich mit Waldens Ehrenbeleidigungsklage gegen Nissen beschäftigt und seine und Kraus' diesbezügliche Veröffentlichungen in der >Fackel< zum Anlaß für unschöne Hetztiraden nimmt: das STURM-Projekt scheint sich herumgesprochen zu haben, und jetzt fühlt man sich wohl veranlaßt, dem neuen Konkurrenten schon vorher den Wind aus den Segeln zu nehmen: Die Solidarität unter Künstlern hat bisweilen allzu enge Grenzen... Im Schwanken zwischen Zuversicht und sicherer Verzweiflung muß Else sich eingestehen, daß sie auch in diesen Tagen nur Luftschlösser gebaut hat. Als wieder einmal nichts sich vorwärtszubewegen scheint, fährt Herwarth nach Wien, Else in einem wahren Schlamassel von Ängsten und Hoffnungen zurücklassend. Auch daß er ihr versprochen hat, nicht allzulange fortzubleiben, hilft da nicht. Sie flüchtet sich zu Peter Baum, mit dem sie stundenlang in Wuppertaler Platt herumalbern kann, um dann plötzlich und ohne Übergang wieder wie ein gefangenes Tier im Zimmer herumzustreichen, sich an Tisch und Stühlen zu stoßen, alles, was sie in die Hand nimmt, fallenzulassen. Mit dieser Fahrigkeit übertrifft sie bald alles, was vorher von ihr bekannt war. Ruhig ist sie nur an den Tagen, an denen Baum bei ihr auftaucht, nachdem er sie vergebens im Café gesucht hat, und ihr mit brüderlicher Geste die Opiumpfeife ansteckt. Dann sitzen sie auf ihrem Bett und bauen verschworen an einer mit heiteren Bibelgestalten bestickten Welt, durch die Karawanen von bunten Dromedarherden an den heiligen Fluß ziehen und Knaben und Mädchen sich in sternfunkelnden Nächten auf den Dächern der Kalifenpaläste mit Palmwedeln Kühlung fächeln. Aber oft gestattet sie sich jetzt solche Ausflüge nicht, zu traurig wird sie jedesmal, wenn sie von dort zurückkehrt in die Ungewißheit der Berliner Februartage.
Eines Nachmittags, als sie sich fast allein im Café befindet, Herwarth wird in den nächsten Tagen zurückkehren, und weil sie so gar nicht weiß, was er da an Ideen und Anregungen aus Wien mitbringen wird, entschließt sie sich zu einem Brief an Karl Kraus. [13] Wenn Herwarth schon dort ist, um sich Rat zu holen, ist es doch nur vernünftig, Kraus auch von ihrer Sicht der Dinge zu unterrichten. Kraus ist viel realistischer als Herwarth, der vergißt sicher über seinen ganzen Plänen zu erwähnen, daß es ihnen in erster Linie darum gehen muß zu überleben. Ganz davon abgesehen, daß ein neues Blatt im Berliner Zeitungswald sowieso von Anfang an ein Verlustgeschäft darstellen wird. Auch wenn es noch so scharfzüngig gehalten und von noch so hervorragenden Leuten geschrieben ist. Wenn er ihn wenigstens dazu bringen könnte, die Sache in Ruhe anzugehen, aber so, als Verzweiflungstat gleichsam, kann das doch gar nicht gelingen!
Anton hat ihr einen Kaffee gebracht mit einem Extrastück Zucker, das steckt sie sich zwischen die Lippen wie einen Zigarettenstummel, während sie mit großen Schriftzügen zu schreiben beginnt:... Sie haben den meisten Einfluß auf Herwarth. Bitte sprechen Sie ihm doch heute noch zu (ohne ihm von meinem Brief zu sagen), daß er nur uns helfen soll zu spielen und dann mit mir ziehen, sich einmal zwei Jahre ausruhen soll. Ich werde ja so leicht verdienen, im wirklichen Sinne eine Spielerei wird es sein. Mein Schaustück dauert fünfzehn Minuten und eine Herrlichkeit es zu spielen. Herwarth muß sich ausruhen. Die Qual ist schrecklich, die wir ausstehen; vor einigen Tagen waren wir beide das Leben so satt, wir dachten daran nie mehr den Tag zu erleben. Ich kann Ihnen nicht sagen, lieber Herzog, wie schrecklich erbärmlich wir leben und es gibt nur eine Rettung, mein Spiel. - Sie steckt sich das Zuckerstück ganz in den Mund, lehnt sich zurück.
Doch, Kraus weiß von dieser Idee. Schon als er letzten Monat in Berlin war, hat sie ihm einen ganzen Abend lang über Auftrittmöglichkeiten für Tino von B agdad erzählt. Und seitdem das in ihrem Kopf konkretere Formen angenommen hat, hat sie ihm auch davon geschrieben. Aber ob er überzeugt ist? Sie spült den restlichen Zucker mit einem Schluck ihres Kaffees hinunter, taucht die Feder wieder neu in die schwarze Tinte und fährt fort: F. Pfemfert sagt, mit meiner Nummer sei viel - sie unterstreicht es zweimal Geld herauszuschlagen. Er versteht die Varietésache, zumindest war Franz Pfemfert einer der ersten gewesen, dem sie von ihren geplanten Märchenabenden berichtet hat, kurz nach Weihnachten schon, und er hat sie seit damals ermutigt, doch ein richtiges zusammenhängendes Stück zu entwerfen, es mache gar nichts, wenn den Zuschauern der tiefere Sinn verborgen bleibe, hat er gesagt, je mehr Fragen am Schluß da seien, desto größer der Effekt. Und Varieté ist Effekt, und nichts sonst... ) darum, fährt sie fort, sagte ich es am Abend auch immer wieder. Hätte Herwarth sich bekümmert, dann hätte ich Stellung. - Sie nickt vor sich hin. Auch wenn das bitter klingt, aber es ist doch schließlich die Wahrheit. Mit seinen Beziehungen! Ein Wort von ihm hätte genügt, aber er dreht und windet sich ja, seitdem sie ihn um seine Mitarbeit bittet. Davon hat er Kraus sicher nichts erzählt bisher. Und sie will doch wirklich nur das Beste für ihn. Also schreibt sie weiter: Dann kann er immer Klavier spielen; für mein Geld bin ich sogar so noble, es geht so weit, daß er leben mag wie er will in jeder Beziehung... (Stimmt das etwa nicht? Wenn sie sogar gegen seinen Vorschlag, Regelungen für das tägliche Zusammenleben zu treffen, nicht revoltiert hat? Und Kraus weiß ja Bescheid, nicht erst seit Herwarth bei ihm in Wien ist und ihm sicher mit mokantem Lächeln über ihre, Elses, Eifersuchtsszenen erzählt hat, durch die er sich so bevormundet fühlt angeblich.) Das, setzt sie hinzu, hört sich alles romantisch an - aber nur eine Weile ist so ein Notkampf anständig durchzumachen. Es geht alle Arglosigkeit verloren... Sie steckt die Feder ins Tintenglas zurück, schiebt den Briefblock beiseite und betrachtet ihre Hände: sie hat die Fingernägel heute morgen bunt lackiert, golden, türkisfarben und rot, alles durcheinander in unregelmäßiger Reihenfolge. Jetzt sehen die Finger aus wie mit Edelsteinen besteckte Tanzmädchen. Sie läßt sie über die Tischplatte hopsen, lächelt zu ihren sanften Bewegungen. Und an ihrem Mittelfinger, der Ring mit dem roten Glasstein, der von Straßsplittern eingerahmt ist - lächelt der nicht zurück über so viel Übermut? Sie hält ihn sich vors Gesicht, seufzt: sie wollte schon gern übermütig sein von morgens bis abends, wenn nur nicht... Wenn ich alleine mit Herwarth wäre, nimmt sie den Faden im Brief wieder auf, dann ginge die Sache bis ins Ungewisse - (für mich ist es eine Beruhigung, eher kommt ein Kamel durchs Schlüsselloch als ein Reicher ins Himmelreich) - aber für meinen Paul denken Sie sich ich bin ganz tot vor Unruhe. Ich muß mir eine Existenz gründen, und ich bitte Sie, verehrter Herzog, Herwarth zuzusprechen, seine Sache aufzugeben, bis ich das nötigste verdient habe. Das Ausruhn tut ihm nötig. Ich habe sicher Geldglück, da ich keins in der Liebe habe.
So. Mehr kann sie dazu nicht sagen. Viele, viele Grüße, schreibt sie noch, von Tino von Bagdad, dann faltet sie das Blatt schnell zusammen, adressiert ein Kuvert und, während sie es zuklebt, winkt sie mit den Augen Anton, der gerade an ihrem Tisch vorbeigehen will, heran, um noch eine Tasse Kaffee bei ihm zu bestellen, auf Rechnung, versteht sich.
Der Nachtzug, mit dem Herwarth Walden aus Wien wiederkommt, ist eben eingefahren. Mit großen Schritten geht Else den Bahnsteig entlang, hat den Kopf hochaufgereckt, um mit den Augen das Gewühl der Wartenden und Ankommenden zu überfliegen. Da, wenige Waggons weiter vorne, das ist Herwarth, wie er die Stufen herabspringt, den kleinen Koffer in der rechten Hand, eine Zigarette im Mund. Die nimmt er jetzt, da er stehenbleibt, um sich umzusehen, in die andere Hand, bläst den Rauch mit einem Kopfschütteln von sich, als sei er ihm lästig. Er hat sie noch nicht gesehen, und Else stockt einen Augenblick, steht verborgen hinter einer Gruppe sich begrüßender Menschen, schaut: daß die Leute immer behaupten, er hätte einen zu großen Kopf... Sie hat ihn nie so gesehen. Eine hohe Stirn hat er, und weil sein blondes Haar ihn wie eine Mähne umflattert, und vielleicht auch weil er es immer abgelehnt hat, Bart zu tragen, springen seine Gesichtszüge stärker in die Augen als bei anderen Männern. Sie mag das, auch seine unruhigen Bewegungen, auch diese zigarettenrauchende Nervosität, die ihm stets den Anschein, er sei eben auf dem Sprung zu neuen Eroberungen, gibt. Jetzt hat er sich dem Ausgang zugewendet, will eben fortgehen, da springt sie hervor, wirft sich ihm mit geöffneten Armen entgegen. Das tiefe Lachen, mit dem er sie auffängt: Du hast mich also doch nicht vergessen! Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, sieht sie von der Seite her an und läßt die Augen noch einmal im Kreis wandern: weißt du, sie sehen doch anders aus, die Leute hier, als in Wien. Ist dir das auch schon aufgefallen? - Sie gehen langsam, er spricht über die sich in Äußerlichkeiten ausprägenden Unterschiede zwischen wilhelminisch und habsburgisch geprägten Bourgeois, das slawische Element dort, das proletarische hier, Künstler ausgenommen, sagt er, da kannst du sein, wo du willst, die kennst du heraus. - Am Ausgang bleiben sie stehen, während sie sich nach einer Droschke umsehen, schlägt er vor: laß uns doch erst noch in Ruhe eine Tasse Kaffee trinken, nach Hause oder ins Café kommen wir noch früh genug. - Er lacht sie an, schräg von der Seite: eigentlich sollte ich dich ins Kempinski einladen zur Feier des Tages, nur: ich habe leider meine Brieftasche vergessen... Sie nehmen ein kleines Restaurant in einer Seitenstraße, sitzen an einem weißgedeckten Tisch am Fenster und entschließen sich für eine Flasche Rheinwein. Er beugt sich zu ihr über den Tisch, hält ihr sein Glas entgegen: Auf dich, auf uns und auf den Sturm, den wir über Berlin werden brausen lassen in den nächsten Jahren. - Sie hat es gewußt, hat die Frage nach seiner Entscheidung, die ihr in den letzten Tagen so sehr das Herz abgedrückt hat, schon gar nicht mehr gestellt, jetzt kann sie nur wortlos ihr Glas heben. Sie hört ihm zu, wie er erzählt von diesen Tagen in Wien, wie Kraus ihm Mut gemacht hat, wie sie sich als Verbündete gefühlt haben, je mehr sie über das Sturm-Projekt gesprochen haben, wie sicher er jetzt weiß, daß er diese Zeitung herausgeben wird, daß sie der Markstein sein wird für eine neue Richtung, daß sich andere Wege durch sie werden erschließen lassen nach und nach, die Künstler Europas, der ganzen Welt sollen ein Zentrum finden im Sturm, vielleicht wird man Ausstellungen organisieren können, Auktionen, Vortragsabende, er glüht, strahlt vor Unternehmungslust. - Weißt du, sagt er schließlich, als ihm auffällt, daß sie ihm so schweigsam gegenübersitzt, es kann wirklich nicht in erster Linie darum gehen, daß wir selbst unser Schäfchen ins Trockene bringen. Die Geschichte der Kunst zeigt es so deutlich, daß Künstler, die anfangen, für sich selbst zu arbeiten [14] und nicht mehr für die Kunst, versagen. Es ist mehr als ein bürgerlicher Topos, daß der, der Kunst wirklich lebt, sich nicht gut verkauft und arm ist. Man kann sich eben nicht der Kunst bedienen. Du kannst als Künstler keine wirtschaftlichen Forderungen stellen. - Sie schüttelt den Kopf, aber er läßt jetzt keine Einwände zu. Wenn du mit Kunst reich werden willst, mußt du Massenprodukte herstellen. Damit beugst du dich dem herrschenden Geschmack. Aber wahre Kunst ist Trieb, ohne Berechnung. Kunst muß als Kunst gesehen werden und Leben als Leben. Und wir Künstler müssen beides sehen: wir dürfen uns weder um des Lebens willen von der Kunst abwenden, noch dürfen wir uns der Kunst wegen vom Leben abwenden. Weil das Leben nämlich die Kunst braucht. Was wir tun müssen, ist, der Kunst Raum im Leben zu verschaffen, der Kunst, nicht den Künstlern, verstehst du? Er lehnt sich zurück, hält eine neue Zigarette zwischen den Fingern, raucht schweigend. Else, ein wenig in sich zusammengesunken, spielt mit den herunterhängenden Kanten der Tischdecke, wickelt sie um die Finger, läßt sie wieder los, faltet sie kunstvoll zu einem Fächer zusammen, bis ihr Weinglas ins Rutschen zu kommen droht. Da legt sie die Hand um seinen Stiel, wischt mit der anderen die Tischdecke glatt. Trotzig sagt sie: du mußt mir keinen solchen Vortrag halten, Herwarth Walden. Wer bin ich denn? Glaubst du, ich sehe das auch nur in einem Komma anders als du? - Sie möchte noch mehr sagen, möchte ihm sagen, daß sie sich trotzdem zerrissen fühlt in dieser Einsicht, daß niemand da ist, der ihr das Schulgeld für Paul schenkt, daß sie nicht auf Dauer von zusammengeliehenem Geld leben kann, daß sie sich manchmal so elend fühlt unter diesem ständigen Druck, daß ihr die blauen Seiten des Künstlerseins vor den Augen verschwimmen, aber sie zuckt die Schultern: auch er weiß das, nein, sie muß es ihm nicht noch einmal erzählen. Sie trinkt ihr Glas leer, hält es ihm hin; und als er ihr wieder eingegossen hat, fragt sie zaghaft: und wann also erscheint die erste Nummer des Sturm? Er zieht die Augenbrauen hoch: das weißt du doch, in der ersten Märzwoche, wie besprochen. Als die Flasche leer ist, hat Else einen Schwips. Sie lacht und torkelt ein bißchen, als sie die Straße entlang zum Droschkenstand gehen. Es ist schon, es ist schon ein gutes Gefühl, neben jemand zu gehen, der so genau weiß, was er will. Sie ist richtig fröhlich, als sie sich in seinen Arm hängt. Keine Frage, sie wird mit ihm gemeinsam diesen Sturm entfachen.