Ob der Vogel, der fliegt, weiblich oder männlich ist, darüber wollen manche nicht nachdenken; andere finden, daß die weiblichen Vögel sich sanft, freundlich und anheimelnd bewegen und nicht so kräftig und hoch fliegen wie die männlichen Vögel; auch sagen sie, daß ein weiblicher Vogel mannfliege und ein männlicher Vogel fraufliege, obwohl sie finden, daß es zwischen beiden Flügen einen himmelweiten Unterschied gebe und die Luft eigentlich ihr Element sei und schließlich, daß man sich nicht mehr wie ein Vogel fühle, sondern zum Fliegen selbst werde ― traum-wandlerisch, vogelfrei. Wenn die Vögel selbst gefragt werden, sagen sie dieses alles auch oder nichts. (...)
Ruth Weber aus: Alles stroomt
1. Über die Sozialisation
Ein fester Bestandteil des Unterrichtsprogramms in vielen Frauengruppen ist unsere Sozialisation zur Frau. In welchem Moment unseres Lebens, unseres Sozialisationsprozesses wird uns klar, daß wir eine Frau sind und eine andere Stellung einnehmen als Männer? Diese Frage beantwortet jede Studentin für sich selbst. Der Moment, als ich vergewaltigt wurde, sagt eine Studentin, da kam ich nicht mehr drumherum. Andere gehen weiter zurück in ihre Jugend. Als ich entdeckte, daß ich nicht Ministrant werden durfte. Als mein Bruder weiterlernen durfte und sie mich auf eine Haushaltsschule schicken wollten. Als ich in einen sehr hübschen Jungen in der Klasse verliebt war und ihm heimlich ein Geschenk zusteckte. Das kam heraus, und meine Eltern sagten, als Mädchen dürfe ich das nicht tun, ich müsse warten, bis ein Junge mir ein Geschenk mache. Als meine Mutter krank wurde und ich als älteste Tochter einer großen Familie selbstverständlich ihre Aufgaben übernehmen mußte und jeder es ganz normal fand, daß ich von der Schule abging. Als mein Vater mir beibrachte, einen Fahrradschlauch zu flicken, weil ich doch nicht immer einen Mann in der Nähe hätte, woraufhin ich ihn fragte, warum meine Brüder nicht die Dinge lernen müssen, die sie nicht können, und er antwortete: die finden immer eine Frau. Als sie sagten, mach' das Buch zu und tu' etwas Nützliches, mein Bruder aber nie im Haus zu helfen brauchte. Aber eine andere Studentin nennt nicht ein einzelnes Ereignis. Sie schreibt: »Sind einschneidende Erlebnisse wesentlicher als die unaufhörliche Flut von Informationen, die wenig Aufsehen erregt? Ich denke eher, daß vielleicht das Letztere wichtiger ist. So war meine Sozialisation zur Frau eine Aneinanderreihung von Signalen, die in eine bestimmte Richtung wiesen. Ob es die Schule war, die Kirche, die Nachbarschaft oder wer auch immer, mir wurde bewußt, daß von mir als Mädchen andere Dinge erwartet wurden als von Jungen.«[1]
Dieses Kapitel handelt von der Sozialisation zur Frau und zum Mann. Nach einigen einleitenden Anmerkungen zur Verdeutlichung der verwendeten Begriffe befasse ich mich mit dem ersten Mißverständnis, dem wir begegnen können, wenn wir danach fragen, was unter »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« verstanden wird. Ich spreche von den Mythen, die diese Begriffe umgeben: der Mythos der Polarität, des Sich-Ergänzens, und von dem der Gleichwertigkeit.
Danach beschreibe ich die wichtigsten Richtungen in der Sozialisationstheorie. Die Psychoanalyse erwähne ich nur kurz, da ich mich im dritten Teil ausführlicher damit befasse. Ich gehe dann auf die Lerntheorie ein, die kognitive Entwicklungstheorie, den Einfluß des Marxismus und später des Feminismus. Dann komme ich zur Praxis. Wie sieht unsere Sozialisation in Wirklichkeit aus? Was passiert von dem Moment der Geburt an, welchen Einfluß haben Erwartungen der Umwelt, wie reagieren Eltern auf Mädchen und Jungen? Von dem beinahe noch geschlechtsneutralen Baby verändern sich Kinder zu Jungen und Mädchen. Sie fangen an, sich im Sprachgebrauch zu unterscheiden und in der Weise, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Sie lernen, was Sexualität in dieser Gesellschaft bedeutet, aber nicht auf genau die gleiche Art. In der Kindheit wird schon die Grundlage für die späteren Unterschiede im Sexualerleben gelegt. Und nicht nur zu Hause findet der Sozialisationsprozeß statt. Einen wichtigen Einfluß hat auch die Schule und besonders die Lehrkräfte. Den zweiten Teil beende ich mit einer wichtigen Frage. Wie kommt es, daß Mädchen in einem bestimmten Augenblick, in der Pubertät oder in der Studienzeit weniger leisten als Jungen? Haben sie Angst, sie könnten versagen, oder etwa Angst, erfolgreich zu sein? Frauen, die sich weiterentwickeln, stecken in einem Dilemma: Wenn sie ihre Intelligenz zeigen, findet man sie »unweiblich«; wollen sie als Frau weiterhin akzeptiert werden, tun sie besser daran, mit ihrer Intelligenz nicht allzu sehr zu glänzen. Ein altes Vorurteil wirkt weiter. War es nicht Jan Volkers, der einmal in einem Interview sagte, er hoffe, daß die Brüste seiner Freundin nicht verschrumpeln, als sie beschloß, ihr Studium wieder aufzunehmen? Weiblichkeit, als Anziehungskraft auf Männer verstanden, paßt nicht zu intellektueller Entwicklung, nicht zu einer Karriere, glauben Männer. Glauben Frauen. Und damit droht ein Vorurteil Wahrheit zu werden.
Was ist Sozialisation?
Unter Sozialisation verstehe ich den gesamten Prozeß, bei dem wir lernen, ein Teil dieser Gesellschaft zu werden, bei dem wir uns die Werte und Normen und Sitten dieser Gesellschaft zu eigen machen, bis sie Bestandteil unserer Persönlichkeit geworden sind. Ein Großteil dieses Sozialisationsprozesses ist die Sozialisation zur Frau oder zum Mann. Sozialisation ist also ein breiterer Begriff als Erziehung, denn er umfaßt mehr als die bewußten Versuche der Eltern oder Lehrer, Kindern Manieren beizubringen oder das Sprechen. Auch unbewußte Einflüsse gehören dazu: das Beispiel der Eltern, die Erwartungen der Lehrer. Und ferner gehören auch die nicht speziell zu unserer Erziehung gedachten Dinge dazu: die von den Medien verbreiteten Bilder, der Inhalt unserer Sprache, die Machtverhältnisse um uns her.
Obwohl die ersten Jahre unserer Sozialisation sehr wichtig sind ― denn da wird z. B. die Geschlechtsidentität festgelegt, das Gefühl, ein Mädchen oder ein Junge zu sein ― ist die Sozialisation damit nicht beendet. Immer von neuem werden andere Erwartungen an uns gestellt, sei es als Heranwachsende oder älterwerdende Person, ständig von neuem müssen wir uns den Rollen anpassen oder Widerstand leisten. Wenn Kinder zur Schule gehen, wird etwas anderes von ihnen erwartet als zuhause; wenn sie in die Pubertät kommen, beginnt eine andere Phase, oder wenn sie eine Anstellung finden oder heiraten (wenn sie heiraten) oder Kinder kriegen usw. In diesem Sozialisationsprozeß gibt es Brüche, Übergänge, die mit Konflikten einhergehen können. Und angesichts der Tatsache, daß der Sozialisationsprozeß von Männern teilweise anders verläuft als der von Frauen, sind diese Brüche nicht gleichzeitig. Um dem Schluß vorzugreifen und Beispiele zu nennen: Jungen werden zu einem früheren Zeitpunkt unter Druck gesetzt, sich nicht mädchenhaft zu verhalten, während Mädchen einen längeren Zeitraum haben, sich jungenhaft zu verhalten. Aber sobald Mädchen in die Pubertät kommen, ist das oft abrupt vorbei, und sie werden um so stärker auf ihre zukünftige Rolle als Frau hingewiesen.
Ein großer Bruch für junge Männer tritt auf, wenn sie heiraten, und ein innerer Kampf über die Freiheit, die sie bisher als Junggeselle gewohnt waren, kann entstehen. Bei Frauen kommt es wieder zu einem neuen Bruch, wenn sie Mutter werden und sich ihr Leben einschneidend verändert. Wenn wir von Sozialisation reden, sollten wir also klar erkennen, worüber wir reden, sofern wir sagen, daß Kinder zum Mann oder zur Frau erzogen werden.
Money und Ehrhardt unterscheiden zwischen Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle.[2] Die Geschlechtsidentität ist das Gefühl, das Bewußtsein, ein Mann oder eine Frau zu sein. Die Geschlechtsrolle umfaßt das Verhalten, das jemand zeigt, »weibliches« oder »männliches« Verhalten. So ist die Geschlechtsidentität die Privaterfahrung der Geschlechtsrolle und die Geschlechtsrolle die äußere Manifestation, die öffentliche Äußerung der Geschlechtsidentität. Oft wird zu der Geschlechtsidentität auch noch die sogenannte sexuelle Vorliebe gezählt. So gingen frühere Sexualwissenschaftler wie Havelock Ellis davon aus, daß echte lesbische Frauen eine männliche Geschlechtsidentität haben müßten und diese auch die Ursache dafür sei, sich von Frauen angezogen zu fühlen. Das brachte ihn in Schwierigkeiten, als er erklären mußte, was dann »weibliche« Frauen zur Homosexualität triebe, und er zog es dann lieber vor, dieses Pseudohomosexualität zu nennen.[3]
Wir lernen alles zur gleichen Zeit: Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle. Und wir werden auch meist kräftig in Richtung Heterosexualität geschubst. Aber das braucht nicht zu bedeuten, daß wir dieses Knäuel bei allen auf dieselbe Art antreffen. Es ist zum Beispiel möglich, eine ausgesprochen weibliche Geschlechtsidentität zu haben, auf andere Frauen zu fliegen und eine Mischform aus »weiblichem« und »männlichem« Verhalten zu zeigen, je nach Situation, in der sich jemand befindet. Es ist notwendig, zwischen diesen Begriffen zu trennen, wenn wir anfangen, von der Veränderbarkeit unserer Sozialisation zu Frauen und Männern zu sprechen. Die Geschlechtsidentität sitzt erwiesenermaßen sehr tief: Alle Versuche von Therapeuten, nach dem Alter von achtzehn Monaten ein als Junge erzogenes Kind sich doch noch als Mädchen fühlen zu lassen oder umgekehrt, mißglückten.[4] Die sogenannte sexuelle Vorliebe ist, wie sich zeigt, bei vielen Menschen etwas flexibler. Es gibt sexuelle Bedürfnisse, die stark fixiert sind, anscheinend schon in frühester Kindheit, aber wir wissen inzwischen auch, daß sich viele Menschen nicht so einfach unter dem Titel heterosexuell oder homosexuell einordnen lassen. Kinsey fand schon 1948 heraus, daß 46% der von ihm befragten Leute sowohl sexuelle Erfahrungen mit Gleichgeschlechtlichen gemacht hatten als auch mit dem anderen Geschlecht.[5] Er teilte Menschen noch auf in soundsoviel Prozent hetero und soundsoviel Prozent homo.
Nun wissen wir, daß es für große Gruppen von Menschen eine noch größere Flexibilität gibt, wenn der Zwang zur Anpassung abnimmt. Dieselben Menschen können unter unterschiedlichen Umständen und zu verschiedenen Zeiten ihres Lebens mit Menschen beiderlei Geschlechts Liebesbeziehungen eingehen oder sexuelle Erfahrungen machen.
Die Geschlechterrolle, das »männliche« oder »weibliche« Verhalten, ist am stärksten zu beeinflussen. Wir können zu diesem Zeitpunkt feststellen, welche großen Veränderungen diese erfährt. Geschlechtsrollen hängen nachweislich eng mit der Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen zusammen; angesichts der Tatsache, daß die Arbeitsteilung durch ökonomische Veränderungen und unterschiedliche historische Phasen des Produktionsprozesses anders aussehen kann, verschieben sich auch die Geschlechtsrollen. Was für die eine Generation noch als typisch männliches Verhalten galt, eine Frau, die eine Hose trägt, eine Zigarette raucht und ihr eigenes Geld verdient, kann für die folgende Generation schon eine Variation des Themas moderne Frau sein.
Männersozialisation
In diesem Buch möchte ich mich ausdrücklich nicht nur mit der Sozialisation von Frauen befassen, sondern auch mit der der Männer. Die präfeministische Sozialisationstheorie machte entweder kaum einen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen oder ging implizit davon aus, daß das Kind ein Junge ist. Das hat sich verändert. Gerade in der Frauenbewegung interessieren wir uns seit Jahren für den Sozialisationsprozeß von Mädchen. So ging die Italienerin Belotti in ihrem Buch bereits vor zehn Jahren der Frage nach: »Was geschieht mit kleinen Mädchen?« Sue Sharpe schrieb in England »Just like a girl« und Ursula Scheu in der Bundesrepublik: »Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht«. Ursula Scheu rechtfertigt in ihrem Vorwort, warum sie sich nur mit Mädchen beschäftigt:
»Wir werden nicht als Mädchen (oder Junge)geboren ― wir werden dazu gemacht! Was heißt das? Es heißt, daß Kinder vom ersten Tag an systematisch in eine Geschlechterrolle gedrängt und zu Wesen deformiert werden, die wir >weiblich< oder >männlich< nennen. Dieser Prozeß engt beide ein. Das Mädchen aber wird noch stärker als der Junge in ihren potentiellen Fähigkeiten beschränkt, in ihrer Autonomie gebrochen und real benachteiligt. Deshalb beschäftigt sich dieses Buch in erster Linie mit Mädchen ― mit Jungen nur insoweit, als der Vergleich von Mädchen- und Jungenerziehung wesentlich für das Verständnis des >Drills zur Weiblichkeit< ist.« (S. 7.)
Ich stimme Scheu darin zu, daß die Sozialisation von Mädchen größere Beschränkungen zur Folge hat und zur Aufrechterhaltung der Unterdrückung von Frauen beiträgt. Aber heben wir die Ungleichheit auf, indem wir uns nicht mit der Sozialisation von Jungen befassen? Ich empfinde das als ein Mißverständnis. Es impliziert, daß Frauen das Problem sind und sich in erster Linie, bzw. allein an der Frauensozialisation etwas ändern muß. Indessen gehe ich davon aus, daß gerade die Männersozialisation dazu führt, daß uns auf unserem Weg zur größeren Freiheit so viele Männer als Gegner begegnen: Männer, die Angst vor selbständigen Frauen haben; Männer, die das Gefühl haben, kein richtiger Mann zu sein, wenn sie nicht dominieren können; Männer, die Sex und Sexismus nicht voneinander unterscheiden können. Wenn wir über die Fragen größere Klarheit haben, warum es Männer gibt, die Frauen mißhandeln oder verachten, warum so viele Männer so unsicher sind, daß sie keine starken Frauen neben sich ertragen können, dann können uns diese Antworten bei der Frage, wie wir die bestehenden Machtverhältnisse verändern, nur weiterbringen. Oder noch krasser ausgedrückt: Unsere Versuche, die Welt zu verändern, gelingen nicht, wenn wir nur uns selbst als veränderbare Wesen ansehen und bei Männern akzeptieren, daß sie nun einmal so sind.
Daß in diesem Buch vergleichsweise mehr von Frauen als von Männern die Rede ist, hat keine grundsätzliche sondern eine praktische Ursache. Über die Sozialisation von Frauen/Mädchen ist mehr geschrieben worden, und obwohl die klassische Sozialisationstheorie nachweislich in Wirklichkeit von Jungen handelt, zeigt sie doch wenig Genaues darüber, wie Jungen zu Männern sozialisiert wurden.
Klassen- und andere Sozialisation
Obwohl der auffallendste Unterschied zwischen Menschen der zwischen Frauen und Männern ist, laufen wir doch nicht als Barbiepuppen oder J.R.'s durch die Welt. Die Wirklichkeit ist glücklicherweise vielseitiger und nuancierter. Sozialisationstheorie handelt von großen Linien, sie ist eine Schwarzweißzeichnung, mit der man die Regeln begreifen kann, bevor wir nach Ausnahmen suchen. Aber Sozialisation ist nicht nur Geschlechtssozialisation, auch wenn wir uns in diesem Buch hauptsächlich damit befassen werden. Auch Klassenhintergründe spielen mit eine Rolle. Unsere Erziehung hängt unmittelbar mit der künftigen Berufsperspektive zusammen (eingeschlossen unterbezahlte Frauenarbeit, Hausarbeit). Die Sozialisation von Mädchen aus der Mittelschicht bekommt andere Akzente als die von Mädchen aus der Arbeiterklasse oder bäuerlicher Abstammung. Wenn Eltern erwarten, daß ihre Tochter einen Mann aus der Mittelschicht heiratet, werden sie stärker den Schwerpunkt auf die Ausbildung legen als Eltern, die erwarten, daß ihre Tochter eine Ehe eingeht, in der sie mit dem ganzen Bücherwissen doch nichts anfangen kann.
Es gibt in den verschiedenen Schichten der Bevölkerung noch ziemlich unterschiedliche Auffassungen und Vorstellungen über das Wesen von »Männlichkeit« und »Weiblichkeit«. Vielleicht gilt in der Mittelschicht ein Topmanager oder Politiker, der kaum körperliche Arbeit verrichtet, als Spitze der Männlichkeit, während in der Arbeiterklasse der physisch starke Mann mehr das Ideal verkörpert. (Mit einer bestimmten Nivellierung, weil Jungen aller Schichten dieselben Fernsehprogramme sehen.)
Auch ethnische Unterschiede spielen eine Rolle, weil viele Vorstellungen über Weiblichkeit und Männlichkeit durch die Umstände eines Landes historisch bestimmt sind und durch Menschen, die in ein anderes Land ziehen, mitgebracht werden. Es gibt auch einen Unterschied in der Zeitspanne, in der wir leben. Die heute älteren Menschen haben den Krieg miterlebt. Wie sie durch den Krieg gekommen sind, kann ihre Sozialisation mitgeprägt haben. Und dann gibt es alle möglichen individuellen Unterschiede: So macht es erwiesenermaßen z. B. etwas aus, ob das Mädchen eine Mutter gehabt hat, die außer Haus arbeitete oder nicht, oder ob es einen Vater gab, wie viele Brüder und Schwestern jemand hatte oder ob sie die Jüngste oder die Älteste war.
Es gibt auch nationale Unterschiede. Das zeigt sich an der Sozialisationstheorie. So ist Belottis Buch eindeutig in Italien geschrieben worden und von der im südlichen Europa verbreitete-ren Macho-Kultur, dem Gockelverhalten von Männern, gefärbt. In der Einführung zur britischen Ausgabe »Little Girls« weist Margaret Drabble auf diese Unterschiede hin (S. 8): »Während in Italien Jungen länger nackt herumlaufen und stolz auf ihren Pimmel sein dürfen und Mädchen schon sehr früh >Scham< lernen, dürfen Jungen in England ebenso wenig wie Mädchen nackt herumlaufen, und Masturbation ist tabuisiert.« Während italienische Mädchen schon sehr früh lernen, sich weiblich zu verhalten, gibt es in England eine Mädcheninternatskultur, Mädchen lernen reiten, Hockeyspielen und werden ermutigt, Sport zu machen. Auch wenn das vor allem Beschäftigungen der besseren Stände sind: die Bilder schlagen sich in Kinderzeitschriften und Fernsehserien nieder. Das hat Einfluß auf die Sozialisation zum Mädchen oder Jungen. Und auch wenn damit noch lange nicht gesagt ist, daß britische Männer weniger sexistisch sind als Italiener, sieht das typisch männliche Verhalten doch anders aus.
2. Männlichkeit und Weiblichkeit
Die Kluft zwischen Stereotyp und Wirklichkeit
Was meinen Leute, wenn sie von männlichen Eigenschaften reden oder wenn sie behaupten, daß Frauen fürsorglicher seien als Männer? Im letzten Abschnitt haben wir bereits zwischen biologisch und kulturell bestimmtem Geschlecht unterschieden. Aber beides ist schwer auseinanderzuhalten, denn in der Wirklichkeit laufen keine Frauen und Männer herum, die nicht einen Sozialisationsprozeß hinter sich haben. Sexus und Geschlecht gehören in der Praxis zusammen. Es besteht eine ziemlich große Kluft zwischen den Eigenschaften, die als »männlich« oder »weiblich« gelten und dem tatsächlichen Verhalten von Frauen und Männern.[6] Diese vermeintlichen Eigenschaften nennen wir Stereotype. Wenn wir uns eine populäre Fernsehsendung anschauen, sehen wir ihre Wirkung: Der harte, entschiedene Mann, der nur auf Macht und Herrschaft aus ist, gegenüber der zickigen, falschen oder der sanften und hilflosen Frau, die von dem Helden ständig aus schwierigen Situationen gerettet werden muß. In Wirklichkeit aber gibt es keine Eigenschaften, die nur zu Männern oder nur zu Frauen gehören: Die Wirklichkeit ist nämlich komplexer. Fransella und Frost zeigen eingehend auf, daß es zwischen dem, was Menschen als ideale Frau oder idealen Mann ansehen, und dem, wie sie selbst empfinden, einen Unterschied gibt. Die meisten Männer sahen sich selbst als weniger »männlich« als das Ideal, die meisten Frauen gaben an, sie hätten weniger weibliche Eigenschaften als die ideale Frau.[7] Und bei vielen Frauen gibt es zwischen dem, wie sie sich selber sehen, dem, wie sie sein möchten (Ideal), und dem, wie sie ihrer Meinung nach für Männer sein sollten, einen Unterschied.[8] Aber obgleich es die Stereotypen von Frau und Mann in Wirklichkeit kaum gibt, haben diese Bilder doch eine Wirkung. Sie nehmen Einfluß darauf, wie Frauen und Männer sich selbst und sich gegenseitig beurteilen,[9] und sie wirken weiter in den Gehirnen der Wissenschaftler.
In den fünfziger und sechziger Jahren hat es viele Untersuchungen über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gegeben. Es wurde eine Skala erfunden, mit der das Maß an »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« bestimmter Personen gemessen werden konnte, die sogenannte MW-Skala.[10] Aus den Unterstellungen, die in dieser Skala stecken, können wir Tresemers [11] Meinung nach erkennen, wie sich stereotypes Denken über »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« in der Wissenschaft niederschlägt und offenbar sogar noch von Wissenschaftlern bestätigt wird. Die Skala basiert auf Fragen wie: welche Eigenschaften gehören mehr zu Frauen als zu Männern und umgekehrt. Die Ergebnisse kann man voraussagen. Männer werden prozentual als aggressiver bezeichnet, energischer, als die mit der größeren Selbstbeherrschung. Frauen werden als fürsorglicher bezeichnet, unsicherer, eitler. Diese unterschiedlichen Eigenschaften werden statistisch erfaßt; die Eigenschaften, bei denen Männer im Verhältnis mehr Punkte erzielen, werden männlich genannt, die Eigenschaften, bei denen Frauen mehr Punkte erzielen, weiblich. Eigenschaften, die Frauen auch haben, nur eben vergleichsweise weniger, wie Energie und Aggression, werden so zu männlichen Eigenschaften, wodurch der Anschein erweckt wird, als seien sie Frauen wesensfremd. Die Skala ist zudem so konzipiert, daß Männlichkeit und Weiblichkeit derart dargestellt werden, als seien die Eigenschaften jeweils genau entgegengesetzt. Wenn Männer hohe Werte für Entschiedenheit erzielen, dann ist Unsicherheit also eine weibliche Eigenschaft. Ferner wird davon ausgegangen, daß Männlichkeit durch die ganze Gesellschaft hindurch dasselbe bedeutet, obgleich unschwer zu erkennen ist, daß Männlichkeit für Punks etwas anderes bedeutet als für Topmanager. Und schließlich wird davon ausgegangen, daß Männer, die hohe Werte in »männlichen« Eigenschaften erreichen, jederzeit, ihr ganzes Leben lang, dasselbe Verhalten zeigen werden. So entsteht das Bild eines feststehenden Typus, der in zwei Hauptarten unterteilt wird
Der Mythos der Polarität
Sandra Bern [12] hat inzwischen nachgewiesen, daß einige Grundannahmen der MW-Skala nicht stimmen und Individuen sowohl hohe Werte in »männlichen« Eigenschaften als auch in »weiblichen« erreichen. Der Weiblichkeitsgrad eines Individuums sagt demnach noch nichts über den Männlichkeitsgrad aus. 27% der Frauen und 34% der Männer erzielten gleich hohe Werte sowohl in »Männlichkeit« als auch in »Weiblichkeit«. Diese nannte Bern androgyn.[13] Während allgemein angenommen wird, daß die Menschen, die am stärksten dem Stereotyp eines echten Mannes oder einer echten Frau entsprechen, in dieser Gesellschaft am weitesten kommen müßten, wurden Indizien dafür gefunden, daß gerade androgyne Menschen es weiter brachten und vergleichsweise intelligenter waren als die Menschen, die stärker dem Geschlechtsstereotyp entsprachen.
Maccoby [14] hat nachgewiesen, daß Jungen, die sich stark mit der männlichen Geschlechtsrolle identifizieren, vergleichsweise weniger intelligent und kreativ sind als ihre Altersgenossen, die das nicht tun. Harford [15] fand heraus, daß ein hohes Maß an »Männlichkeit« bei erwachsenen Männern mit einer geringeren Selbstakzeptanz und einem hohen Grad an Angst und neurotischem Verhalten Hand in Hand geht.
Williams [16] zufolge klagten Frauen mit einem hohen Maß an »weiblichen« und »männlichen« Eigenschaften vergleichsweise weniger oft über psychische Beschwerden und hatten das Gefühl, ihr eigenes Leben besser im Griff zu haben als Frauen, die lediglich in »Weiblichkeit« hohe Werte erreichten. Letztere waren vergleichsweise ängstlicher als ihre androgynen Schwestern.[17]
Und für beide Geschlechter haben Spence, Helmreich und Stapp nachgewiesen, daß hohe W- und M-Werte mit einem hohen Selbstwertgefühl Hand in Hand gehen. (Gefolgt von den Menschen mit einem hohen Männlichkeitswert, dann denen mit einem hohen Weiblichkeitswert und den Menschen, die in beiden Bereichen ganz hinten lagen.[18] )
Die schon von Freud gehegte Vorstellung, Passivität, Abhängigkeit und eine fürsorgliche Einstellung seien gesunde weibliche Eigenschaften und starkes Selbstbewußtsein, Selbstsicherheit bei Frauen ein Zeichen von Neurose, stellte sich als falsch heraus. Viele Therapeuten und Ärzte gehen jedoch noch immer davon aus.
Der Mythos der Komplementarität
In vielen Mythologien und Ritualen finden wir das Bild vom ganzen Menschen wieder, der sich in zwei Teile aufteilt, in eine Frau und einen Mann, beide unvollständig, die einander suchen werden, um wieder eine Einheit zu bilden. Daß Männer und
Frauen, wie sie sich in dieser Gesellschaft entwickelt haben, unvollkommen und unvollständig sind, der Meinung sind auch viele feministische Autorinnen. Daß die beiden Geschlechter einander allerdings so wunderbar ergänzen, ist erwiesenermaßen ein ziemlicher Irrtum. Nicht umsonst hat Dorothy Dinnerstein als Symbole für die unvollständigen Geschlechter die Meerjungfrau und den Minotauros gewählt.[20] Versuch doch mal, ein Halb-Stier-Halb-Mann-Wesen mit einem Halb-Frau-Halb-Fisch-Wesen zusammenzufügen: Es wird nichts. Und auch Rubin zeigt in ihrem Buch: »Intimate Strangers« auf, daß Frauen und Männer mit ihren unterschiedlich ausgeprägten Bedürfnissen und Ausdrucksfähigkeiten zwar in heterosexuellen Beziehungen einander suchen können, aber sich nicht unbedingt finden. Unverständnis, unerfüllte Bedürfnisse, Kommunikationsstörungen, das ist schon etwas anderes als der Traum von Mann und Frau, die zusammenrücken, um gemeinsam ein Ganzes zu werden.
Gerade auf sexueller Ebene, ein Gebiet, von dem in unserer modernen Mythologie geglaubt wird, hier fänden und ergänzten die Geschlechter einander auf besondere Weise, ist die Wirklichkeit enttäuschend. Die meisten Menschen glauben, das schönste Paar bestehe aus einer »weiblichen« Frau und einem »männlichen« Mann. Wie sich aber zeigt, wird die beiderseitige Lust am Sex durch die Unterschiede eher behindert als gefördert. Und so haben jene heterosexuellen Paare, die viel von ihrem Leben miteinander teilen und einander verstehen, viel mehr Spaß an der Sexualität miteinander. Wo die Segregation der Geschlechter am größten ist, gaben die meisten Frauen, aber auch Männer an, kaum Spaß am Sex zu haben.[21] Logisch, wenn wir bedenken, woraus sich das Stereotyp »Männlichkeit« zusammensetzt, nämlich aus dem Nicht-Zeigen von Gefühlen, dem Nicht-Zärtlich-Sein-Dürfen. Wenn wir das zu dem Stereotyp »Weiblichkeit« addieren, das aus abwartendem Verhalten, gefühlsmäßiger Abhängigkeit und Unsicherheit besteht, kommt dabei wenig Aufregendes heraus. Spaß an der Sexualität und Selbstsicherheit gehen für Frauen nachweislich Hand in Hand.[22] Außer im Film kann bei der Kombination »echter« Mann und »echte« Frau nicht viel Schönes herauskommen.
Aber es geht nicht nur um den Mythos der Komplementarität. Auch der Mythos, demzufolge die beiden Geschlechter zwar verschieden, aber dennoch gleich sind, stellt sich als falsch heraus.
Der Mythos von der Gleichwertigkeit
Mit den vermeintlich »weiblichen« und »männlichen« Eigenschaften hat es noch einiges mehr auf sich. Ein tief in unsere Kultur eingedrungener Gedanke ist, daß Frauen und Männer vielleicht verschieden sind, aber einander gleichwertig. Wenn wir ein wenig unter die hübsche Schicht ideologischer Tünche schauen, bleibt von dieser Gleichwertigkeit allerdings wenig übrig. In einer inzwischen klassischen Untersuchung erforschten Rosenkrantz et al bei 154 Menschen, welche Eigenschaften sie als typisch für einen durchschnittlich männlichen Mann und eine durchschnittlich weibliche Frau ansehen.[23] Es war vorherzusehen: Die typische Frau plaudert gern, benutzt kein Schimpfwort, ist taktvoll, nimmt ihr Äußeres wichtig und ist nett, ruhig, hat ein Bedürfnis nach Sicherheit und kann gut ihre Gefühle äußern. Der typische Mann ist aggressiv, unabhängig, gefühllos oder zumindest gut im Verbergen seiner Gefühle, objektiv, nicht so schnell aus der Ruhe zu bringen, nicht leicht zu verletzen, willensstark, weint nicht und ist voller Selbstvertrauen. In einer zweiten Untersuchung von Broverman et al [24] wurden diese Listen einer Gruppe von Ärzten, Psychologen und Psychiatern vorgelegt. Die eine Gruppe wurde gebeten, die Eigenschaften zu nennen, die ihrer Meinung nach zu einem gesunden normalen und angepaßten Menschen gehören. Die zweite Gruppe wurde gebeten, die Eigenschaften für einen gesunden, normalen und gut angepaßten Mann zu nennen, und die dritte für eine gesunde, normale und angepaßte Frau. Und siehe da: Jene Eigenschaften, die als positiv für einen gesunden Menschen bewertet wurden, stimmten größtenteils mit dem eines gesunden Mannes überein, hingegen mußte eine gesunde Frau alle möglichen Eigenschaften besitzen, die bei einem Menschen unerwünscht waren. Für eine gesunde Frau gehört es sich, untertänig und abhängig zu sein. Für einen gesunden Menschen ist das höchst unerwünscht. Kurz, ein doppeltes Wertesystem, bei dem Frauen eine widersprüchliche Aufgabe zu erfüllen haben. Wenn sie als Mensch anerkannt werden wollen, besteht die Gefahr, daß sie als unweiblich gelten, um aber als Frau anerkannt zu werden, müssen sie Eigenschaften entwickeln, die bei einem normalen erwachsenen Menschen tadelnswert sind. Wenn Frauen sich so verhalten, wie es in dieser Kultur gesellschaftlich gewünscht und als erwachsen empfunden wird, besteht das Risiko angezweifelter Weiblichkeit. Aber wenn sie sich entsprechend der vorgeschriebenen weiblichen Art verhalten, akzeptieren sie den Status einer Minderjährigen.
Männliche Eigenschaften haben in dieser Gesellschaft einen höheren Status. Und nicht nur das. Sogenannte männliche Eigenschaften haben außerdem einen höheren Status, wenn sie bei Männern angetroffen werden. Wenn Jungen und Mädchen verbal das gleiche aggressive Verhalten zeigen, wird das Mädchen »zickig« genannt. Ein Mann ist willensstark, doch wenn eine Frau das gleiche Verhalten zeigt, ist sie »herrisch«.[25] Zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit als Stereotyp und als Wirklichkeit besteht zwar eine ziemlich große Kluft. Aber Stereotype verstärken die bestehende Dichotomie (Zweiteilung) und somit die dazugehörige Hierarchie. Sie wirken als Verhaltensvorschriften, als Maßstab für gewünschtes Verhalten, was den Umgang mit diesen Begriffen erschwert. Wenn wir von weiblichem Verhalten sprechen, in welchem Maße reden wir dann über wirklich nachweisbar weibliches Verhalten und in welchem Maße über das, was Menschen gelernt haben »weiblich« zu nennen?
Ich mache jetzt einen großen Schritt. Ich möchte untersuchen, wie wir zu Männern und Frauen sozialisiert worden sind. Welche Theorien stehen uns dabei zur Verfügung?
3. Die Theorie der Geschlechtssozialisation
Ungefähr im Alter von vier oder fünf Jahren beginnen Kinder deutlich zwischen Mädchen- und Jungenspielen zu unterscheiden. Und sie entscheiden sich in der Mehrzahl für das eigene Geschlecht als Spielpartner/innen. Wie kommt das? Es gibt verschiedene Ansätze, das Phänomen Geschlechtssozialisation zu erklären. In diesem Kapitel gehe ich kurz auf die verschiedenen Sozialisationstheorien ein. In den meisten vorfeministischen Sozialisationstheorien wurde der spezifischen, auf die beiden Geschlechter ausgerichteten Erziehung kaum Beachtung geschenkt. Und auch heute ist in manchen Erziehungsbüchern noch immer automatisch von Kindern die Rede, so als gäbe es nur Jungen. Die Autoren sind sich dessen meist noch nicht einmal bewußt, es zeigt sich erst zwischen den Zeilen. Andere Bücher haben eigens ein Kapitel über geschlechtsspezifische Sozialisation und dort ist dann auf einmal von Mädchen die Rede. Heißt das nun, Jungen werden nicht geschlechtsspezifisch erzogen? Sind nur Frauen ein Geschlecht, während Männer den Menschen symbolisieren? Einige Theorien beziehen sich allerdings ausdrücklich auf die Persönlichkeitsentwicklung von Frauen und Männern. Es sind die psychoanalytische Theorie, die Lerntheorie und die kognitive Entwicklungstheorie. Und obwohl marxistische Sozialisationstheorie selten etwas besonderes über Geschlechtssozialisation hervorgebracht hat, leistete sie doch einen Beitrag zur späteren feministischen Theoriebildung, insofern werde ich auch auf sie eingehen.
Psychoanalyse
Der erste Psychologe, der sich fragte, wie Männlichkeit und Weiblichkeit entsteht, war Freud. In der Psychoanalyse wird die Identifikation des Kindes mit dem Elternteil des gleichen Geschlechts betont. Diese Identifikation findet statt, wenn das Kind den genitalen Unterschied entdeckt. In dem Moment entwickle das Mädchen einen »Penisneid« und der Junge »Kastrationsangst«, und auf welche Weise sie diese im »Ödipuskomplex«[26] verarbeiten, bestimme, was für eine Frau oder ein Mann später aus ihnen werden wird. Eine indirekte »Biologie-ist-Schicksal-Theorie«. Es ist nicht die Biologie an sich, die bestimmt, daß Männer Männer und Frauen Frauen werden. Die Entdeckung des genitalen Unterschiedes innerhalb der Konstellation der Vater-Mutter-Kind-Beziehung führt dazu.
Obwohl die psychoanalytische Theorie einen großen Be-kanntheitsgrad erreicht hat, wurde vieles dieser Theorie empirisch widerlegt oder zumindest in Zweifel gezogen. So ergaben Untersuchungen, daß Kinder schon lange vor dem Alter, in dem sie nach Freud den genitalen Unterschied entdecken, sich ihres Geschlechts bewußt sind.[27] Eine Entdeckung, die außerdem nicht auf der ganzen Welt auf dieselbe Art stattfinden kann, wenn wir an Völker denken, bei denen alle Kinder nackt herumlaufen, oder an Familien, wo der Geschlechtsunterschied nicht entdeckt werden kann, weil es nur Mädchen oder nur Jungen gibt.[28]
Von dem darin enthaltenen Werturteil, daß das Sehen eines Penis bei Mädchen »Neid« hervorrufen muß, will ich einmal ganz absehen. Eine moderne Variante der psychoanalytischen Erklärung von der Entstehung der Geschlechtsidentitäten liefert Stoller.[29] Er geht davon aus, daß sich die Geschlechter in der Anlage biologisch zwar unterscheiden, aber die Erziehung durch die Eltern, vor allem die Mutter ausschlaggebend ist, ob sich ein Kind eher zu einem Mädchen als zu einem Jungen entwickelt. Alle Frauen haben seiner Theorie zufolge einen Penisneid, und sie alle werden ein Kind, am liebsten einen Jungen, haben wollen, um diesen Mangel zu kompensieren.
Und alle Männer müßten sich, um wirklich Männer zu werden, von der Beziehung zu ihrer Mutter lossagen und sich gegen jegliche Weiblichkeit ― auch in sich selbst ― abgrenzen. So erklärt er Transsexualität bei Männern (das Gefühl, eine Frau zu sein, die in einem falschen Körper eingesperrt ist) als eine Folge einer chronisch depressiven, bisexuellen Mutter mit starkem Penisneid und dem nur teilweise unterdrückten Verlangen, ein Mann zu sein. Sie ist mit der einzigen Art Mann verheiratet, mit der sie klarkommt, nämlich einem distanzierten, passiven Mann, der sich nicht wie ein kompetenter Vater und Ehemann verhält. Wenn sie dann einen hübschen Sohn bekommt, wird sie den Wunsch haben, diesen körperlich und gefühlsmäßig so nah an sich zu binden, daß er bereits mit einem Jahr deutliche Zeichen einer weiblichen Geschlechtsidentität aufweisen wird.[30] Stoller ist ein extremes Beispiel eines rigiden, normativen Denkens in einer Mann-Frau-Dichotomie. Möglicherweise kann aber die psychoanalytische Denkweise ― vorausgesetzt, wir korrigieren ihren Sexismus ― durchaus einen Beitrag zum Verstehen der Geschlechtsunterschiede leisten, sofern es um tieferliegende Triebstrukturen, Bedürfnisse und die Funktion des Unbewußten geht. Die Feministin Nancy Chodorow [31] hat den Versuch unternommen, psychoanalytische Denkschemata auf eine andere, nicht-sexistisch verseuchte Weise mit Inhalt zu füllen. Auf ihre Theorie gehe ich im dritten Kapitel dieses Buches ausführlich ein.
Lerntheorie und kognitive Entwicklungstheorie
Der Lerntheorie, mit der vor allem der Name Walter Mischel verbunden ist, liegt eine andere Annahme zugrunde.[32] Mischel geht davon aus, daß Kinder Geschlechtsunterschiede lernen und zwar in der gleichen Weise, wie sie auch eine Reihe anderer Verhaltensweisen lernen, nämlich durch Belohnen »richtigen« Verhaltens und Bestrafen »falschen« Verhaltens und durch Beobachtung und Imitieren der in Geschlechter aufgeteilten Welt, die sie umgibt.
Die Einfachheit dieser Idee hat auf feministische Theoretikerinnen eine große Anziehungskraft ausgeübt. Wenn Männer- und Frauenverhalten so leicht wie anderes Verhalten zu erlernen ist, müßte es auch ebenso leicht wieder zu verlernen sein. Z. B. durch das Aufzeigen anderer Beispiele, durch Belohnen und Bestrafen eines anderen Verhaltens. Ein Einwand gegen diese Theorie liegt dann auch in ihrer Einfachheit. Als seien Kinder die passiven Spiegelbilder dessen, was die Gesellschaft sie sein läßt, als könnten Kinder wie ein Klumpen Ton willkürlich geformt werden. Wer selbst Kinder erzieht oder viel mit Kindern zu tun hat, weiß allerdings, daß es komplizierter ist. Kinder widersetzen sich oft, stellen eigene Maßstäbe und Interpretationen der sie umgebenden Welt auf und versetzen ihre Eltern oft mit der Eigenwilligkeit ihres Charakters in Erstaunen. Das Erlernen von Geschlechtsunterschieden verläuft nicht immer geradlinig oder stets im gleichen Tempo, das Maß, in dem Kinder sich an die von ihnen erwartete Geschlechtsrolle anpassen, kann je nach Alter sehr stark voneinander abweichen. So meinen 73% der vierjährigen Kinder, daß das Geschlecht bei der Berufswahl keine Rolle spiele. Sechsjährige Kinder sind darin schon viel konservativer, da meinen nur noch 10% einen Beruf ungeachtet des Geschlechts wählen zu können. Neunjährige Kinder hingegen kehren wieder zu der Flexibilität ihres ehemaligen Standpunkts zurück: 80% finden, daß es jeder/jedem selbst überlassen ist.[33] Die kognitive Entwicklungstheorie, mit der vor allem der Name Kohlberg [34] verknüpft ist, sieht Kinder viel weniger passiv bei der Bildung ihrer Geschlechtsidentität. In dieser Theorie versuchen nämlich die Kinder selbst, die Welt zu verstehen. Sie merken, daß sie zu einem bestimmten Geschlecht gehören, woraufhin sie die sie umgebende Welt in männlich oder weiblich einzuteilen beginnen. Damit beschließen sie auch, welche Dinge fortan zu ihnen selbst gehören. Wenn die Jungen (denn Kohlbergs Untersuchung handelt nachweislich in der Hauptsache von Jungen) eine starke männliche Identität gebildet haben, werden sie von selbst dieses Verhalten schätzen lernen und die Dinge tun, die ihrer Meinung nach zum »Männlichen« gehören. Der Fortschritt dieser Theorie besteht darin, daß sie Kinder nicht als willenlose, passive Wesen sieht. Aber auch gegen ihren Ansatz gibt es Einwände. Es scheint, als »beschlossen« Kinder ganz von allein ohne irgendwelchen Druck von außen, ein Junge oder ein Mädchen zu werden. Doch die Tatsache, daß Kohlberg sich nur mit Jungen befaßt hat, rächt sich, denn obwohl Jungen einem bestimmten Zeitpunkt eine größere Vorliebe für »Jungensachen« entwickeln, trifft das für Mädchen bei den »Mädchensachen« nur bedingt zu. Eine signifikante Zahl von Mädchen würde lieber ein Junge sein oder »Jungensachen« machen, wenn sie wählen dürfte.[35] Die Theorie erklärt außerdem nicht, warum Kinder sich ausgerechnet über die Kategorie »Geschlecht« identifizieren. So selbstverständlich sei das nämlich erwiesenermaßen nicht, sagt Bern.[36]
Marxismus und Feminismus
Alle drei vorangegangenen Theorien beschäftigen sich hauptsächlich mit der Frage, wie Kinder sozialisiert werden, aber nicht warum. Es ist kein Zufall, daß keiner der Herren die Richtigkeit der bestehenden Aufteilung in Geschlechter bezweifelt, geschweige denn, daß sie sich über die dahintersteckende ungleiche Machtverteilung auslassen. Ein Verdienst der marxistischen Theorie auf dem Gebiet der Sozialisation ist, daß sie die Warum-Frage schon gestellt hat.
Marxisten, wenn sie sich schon in die Sozialisationsprozesse vertiefen, gehen nicht davon aus, daß die Familie innerhalb dieser Gesellschaft einen abgeschlossenen Bereich darstellt. Wir leben in einer Klassengesellschaft, und zwischen der Familienform und der Weise, wie die Produktion geregelt ist, besteht ein Zusammenhang. Somit besteht auch ein Zusammenhang zwischen der Arbeitserwartung von Menschen aus den verschiedenen Klassen und ihrer Erziehung. Eltern haben also die Angewohnheit, die Eigenschaften in ihren Kindern zu fördern, die sie später in ihrem Beruf brauchen werden. Allerdings gibt es auch Kritik an der bestehenden marxistischen Sozialisationsliteratur. Von feministischer Seite ist deutlich gemacht worden, daß die meisten Marxisten sich einseitig mit der künftigen Stellung der Kinder im Produktionsprozeß, also in der Lohnarbeit, befassen und ihrer späteren Stellung im Reproduktionsprozeß, in der Hausarbeit, überhaupt keine Beachtung schenken. So beschränkt sich wieder das Interesse auf Jungen, und es wird nicht klar, warum Mädchen einen anderen Sozialisationsprozeß durchleben als Jungen.
Ein weiterer Einwand gegen die marxistische Sozialisationstheorie: zwar stellt sie die Frage nach dem Warum, vernachlässigt aber die Frage nach dem Wie. In einige marxistische Abhandlungen fließt zwar kommentarlos ein Stückchen Freud ein, oder es wird auch mal eine einzelne Untersuchung zitiert, sobald es aber um die geschlechtsspezifische Sozialisation geht, gerät der Sozialisationsprozeß ins Hintertreffen. Inzwischen hat es eine Menge feministischer Literatur zur Geschlechtssozialisation gegeben. Oakley, Belotti, Sharpe, Scheu, Schultz [37] sind viel gelesene Autorinnen, die vor allem beschreiben, wie Mädchen zu Frauen sozialisiert werden. Sie alle schenken dem Zwang von außen mehr Beachtung. Dinnerstein und Chodorow [38] haben viel zum besseren Verständnis beigetragen, wie wir zu Frauen und Männern geworden sind. Ein Nachteil der hier genannten Bücher besteht darin, daß sie die Sozialisation zu Männern weniger berücksichtigen. Im Kielwasser der Frauenbewegung erscheinen jetzt zum Glück die ersten Sozialisationsgeschichten von Männern.[39] Und neben den Büchern, deren Hauptthema die Sozialisation ist, existiert brauchbare Literatur, die sich mit Teilgebieten, z. B. dem Einfluß der Medien oder des Schulsystems auseinandersetzt. Auf diese Literatur beziehe ich mich, wenn ich mich in den folgenden Abschnitten mit dem befasse, was wir zu diesem Zeitpunkt über den Sozialisationsprozeß von Frauen und Männern vom Moment der Geburt an wissen.
Was passiert da nun eigentlich, was machen Eltern, was macht die Schule? Damit beschäftige ich mich im folgenden Teil. Ich beschreibe dort die Norm, die Kernfamilie mit einer Mutter und einem Vater. Es wäre für uns sicher auch interessant zu erfahren, was bei Kindern anders verläuft, die nicht in einer traditionellen Familie aufwachsen. Aber leider handelt die meiste Forschungsliteratur davon nicht.
4. Die Sozialisation im einzelnen
Welche Sozialisationstheorie?
Können wir nun aus den verschiedenen Sozialisationstheorien eine einzelne herausgreifen und sagen, sie sei die richtige? Wir wissen in der Tat noch sehr wenig darüber. Wir erkennen, welche Einflüsse auf Kinder ausgeübt werden: Da sind die Erwartungen der Eltern, das Vorbild, das die Eltern geben, die Bilder in den Medien und so weiter. Und wir können erkennen, wie Jungen und Mädchen, die einander anfangs sehr gleichen, sich immer weiter auseinanderentwickeln und unterscheiden. Aber wir wissen nicht immer genau, wie das geschieht. Wächst ein kleiner Junge nun zum Mann heran, weil er seinen Vater imitiert oder er. sich mit seinem Vater identifiziert, oder entwickelt er sich so, weil er sich gegen alles, was weiblich ist, abgrenzt und im Fernsehen sieht, daß alle Männer so sein müssen? Es ist auch gut möglich, daß alle Theorien in einem gewissen Grad zutreffen oder es sich von Person zu Person unterscheidet. Vielleicht entwickelt sich das eine Kind durch den Druck von außen geschlechtsspezifischer, während ein anderes eher durch die innere Identifikation geprägt wird. Vielleicht sieht das eine Mädchen ihre Mutter als Vorbild, während bei einem anderen Mädchen der wichtigste Einfluß eben darin besteht, gerade so nicht werden zu wollen. Wir können aber sichten, was uns die bisherigen Untersuchungen über die Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus der psychoanalytischen Sicht, der Lerntheorie und der kognitiven Entwicklungstheorie sagen. Maccoby und Jacklin [40] vergleichen die einzelnen Untersuchungen und kommen zu folgenden Schlüssen:
- Kinder wissen selbst, daß sie ein Junge oder ein Mädchen sind, und zwar bevor sie genau verstehen, was es mit den Geschlechtsorganen auf sich hat. Damit scheidet Freuds Vorstellung aus, nach der sich Kinder erst dann zu Jungen oder Mädchen entwickeln, wenn sie feststellen, daß ein Mädchen im Gegensatz zu einem Jungen keinen Penis hat.
- Kinder entscheiden sich schon für Spielzeug und Spiele, die zu ihrem Geschlecht gehören, bevor sie wirklich begriffen haben, daß es zweierlei Arten von Menschen gibt.
- Die Geschlechtsidentität liegt nach den ersten zwei Lebensjahren wohl unveränderlich fest. Nach diesem Zeitpunkt kann bei Kindern, die durch Hormonstörungen und doppeldeutige Geschlechtsorgane falsch gepolt sind, das Bewußtsein, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, nicht mehr verändert werden.
- Der Unterschied, den Eltern zwischen Jungen und Mädchen machen, reicht nicht aus, um das spätere Bewußtsein über das eigene Geschlecht bei Kindern zu erklären. Eltern behandeln ihre Kinder unterschiedlich, aber es gibt auch Übereinstimmungen darin, was sie von Jungen und Mädchen erwarten.
- Kinder identifizieren sich nicht automatisch mit dem Elternteil des eigenen Geschlechts, und es ist auch keine feststehende Regel, daß Kinder mehr Eigenschaften mit dem Elternteil desselben Geschlechts gemein haben als mit dem anderen.
- Kinder übernehmen nicht automatisch das Verhalten oder die Tätigkeiten der eigenen Eltern. (S. 364: So kann die Tochter eines Arztes steif und fest behaupten, daß nur Männer Ärzte werden können, obgleich die eigene Mutter Ärztin ist.)
Eltern beeinflussen zwar die Geschlechtsentwicklung ihrer Kinder, aber es ist kein selbsttätiger, mechanischer Einfluß, weder in der traditionellen Erziehung, noch wenn Eltern versuchen, es nun gerade ganz anders zu machen. So traf ich die kleine Tochter einer Freundin einmal vor dem Spiegel an, sie hatte ein Stückchen Gardine auf dem Kopf und rief: Ich bin ein Bräutchen. Ihre Mutter, eine Feministin, war ganz bewußt nicht verheiratet, trug nur Hosen und teilte sich die töchterliche Erziehung mit dem Vater des Mädchens.Wir können also nicht genau feststellen, welcher Einfluß, den Eltern auf ihre Kinder ausüben, am stärksten ist. Unterscheiden können wir aber zwischen: dem Einfluß, den Eltern durch ihre Erwartungen haben, wenn das Kind, von dem ursprünglich angenommen wurde, daß es ein Mädchen ist, sich später als Junge erweist; dem »korrigierenden« Verhalten, das Eltern den Kindern gegenüber zeigen, also Belohnung des »richtigen« und Mißbilligung des »falschen« Verhaltens; dem Vorbild, das die Eltern als Mann und Frau geben.
Nach der Geburt
Wenige Eltern werden heute ― nach fünfzehnjährigem Einfluß der Frauenbewegung ― noch behaupten, daß sie ihre Kinder, Mädchen und Jungen, bewußt so unterschiedlich erziehen. Die meisten werden sagen, sie machen hier keinen Unterschied, wie auch die Mehrzahl der Lehrer im Moment sagen wird, daß sie Mädchen und Jungen dasselbe beibringen und sie gleichbehandeln. Aber die meisten Eltern bedenken nicht, welchen Charakter sie dem Kind zuschreiben und in welchem Maße dieser von den eigenen Erwartungen geprägt ist, dem eigenen Bild von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit«, das sie mitbekommen haben, und der Tatsache, daß sie selbst eine Frau oder ein Mann sind, beziehungsweise geworden sind.
Schauen wir uns einmal ein einfaches Experiment an: Einige junge Mütter wurden gebeten, für eine kurze Weile ein ihnen fremdes, sechs Monate altes Kind auf den Arm zu nehmen. Die Hälfte der Mütter bekam Beth, ein Kind in rosafarbenem Kleid mit Schleifchen. Die andere Hälfte bekam Adam, der einen blauen Anzug trug. Wie der Vergleich ergab, lächelten die Mütter Beth öfter an, gaben ihr häufiger eine Puppe zum Spielen, und sie erzählten hinterher, sie hätten Beth sehr lieb gefunden und sie hätte weniger geweint. Adam und Beth waren ein und dasselbe Kind.[41]
Die Mehrzahl der werdenden Eltern steht dem Geschlecht des kommenden Kindes nicht gleichgültig gegenüber. Ann Oakley fragte schwangere Frauen vor der Geburt ihres ersten Kindes, ob sie sich einen Jungen oder ein Mädchen wünschten.[42]
Die Hälfte wollte lieber einen Jungen, ein Viertel ein Mädchen und das restliche Viertel sagte, es sei ihnen egal. Viele aus dieser letzten Gruppe sagten nach der Entbindung übrigens, es mache ihnen doch etwas aus, aber das hatten sie nicht sagen wollen aus Angst vor Enttäuschung und um das Schicksal nicht herauszufordern. Als dann eine Tochter geboren war, stellte sich heraus, daß 56% der Mütter damit glücklich war und 44% enttäuscht. Von den Müttern von Söhnen waren 93% glücklich und nur 3% enttäuscht. Infolgedessen beginnt also die Hälfte der Mädchen ihr Leben als Enttäuschung für ihre Mutter. Soll das etwa keinen Einfluß haben? Breen [43] kam jedenfalls zu dem Ergebnis, daß Mütter von Mädchen häufiger unter einer postnatalen Depression leiden als Mütter von Jungen, was für die Beziehung zwischen Mutter und Tochter sicher einiges bedeutet. Wie Belotti schreibt, erwarten Mütter, die sich eine Tochter wünschen, daß sie lieber sein wird, dankbarer, daß es schöner ist, sie anzukleiden, und sie später ihrer Mutter mehr Gesellschaft leisten und im Haushalt helfen wird.[44] Auch hierbei fällt die Vorstellung nicht schwer, daß diese Erwartungen das zukünftige Verhalten des Kindes beeinflussen werden.
Moss hat nachgewiesen, daß Mütter drei Wochen alte männliche Säuglinge innerhalb von acht Stunden 27 Minuten länger auf den Arm nehmen als ihre weiblichen Babies.[45] Das kann etwas mit der körperlichen Befindlichkeit des Kindes zu tun haben; wir wissen, daß im Verhältnis Jungen stärker durch Krankheiten in ihrem ersten Lebensjahr gefährdet sind als Mädchen. Vielleicht sind Mütter deshalb vergleichsweise unruhiger und unsicherer. Doch selbst wenn es eine körperliche Ursache gäbe, wirkt sich das in der Folge auf das Verhalten der Mutter aus, welches sich dann wiederum auf das Verhalten der Kinder niederschlägt.
Scheu [46] merkt an, daß Mütter die Angewohnheit haben, männliche Babies häufiger auf den Arm zu nehmen als weibliche; allerdings gilt das nur für das Alter von drei Monaten bis zu einem halben Jahr. Danach zeige sich, daß Mütter Mädchen öfter auf den Arm nehmen als Jungen. Scheu sagt hierzu, daß Mädchen, nachdem sie anfänglich weniger umsorgt wurden als Jungen, gerade in der Lebensphase, in der sie sich lösen, krabbeln und sich selbständig bewegen wollen, stärker eingeschränkt werden.
Die Folgen davon können wir an der Art sehen, wie Jungen und Mädchen sich entwickeln. Eine noch nicht veröffentlichte Untersuchung [47] neuesten Datums ergab in Kopenhagen, daß Jungen und Mädchen im Durchschnitt im gleichen Alter laufen wollen, daß aber Jungen eher krabbeln und Mädchen mit Unterstützung der Eltern eher aufrecht sitzen und laufen. Dies stimmt auch mit den späteren Entwicklungen überein, bei der Mädchen lernen, sich mehr in Beziehung zu den Menschen in ihrer Umgebung zu verhalten, und Jungen lernen, selbständiger zu sein. Das wirkt schon sehr früh, wenn Kinder im Alter von dreizehn Monaten einer experimentellen Spielsituation ausgesetzt werden, wollen bereits die Mädchen schneller und öfter zu ihrer Mutter zurück als die Jungen. Mädchen sprechen auch mehr mit ihren Müttern; und wenn Mutter und Kind durch ein Hindernis getrennt werden, bleiben Mädchen häufiger weinend hinter der Schranke stehen, während die Jungen öfter versuchen, über sie hinwegzuklettern.[48]
Wie sich die eigenen Erwartungen auf den Umgang mit einem Kind auswirken können, konnte ich an mir selbst beobachten. Ein paar Jahre lang paßte ich jede Woche einige Stunden auf die kleine Tochter einer Freundin auf. Als sie etwa vier Jahre alt war, gingen wir einmal zu einem Spieltag für Kinder, bei dem die Eltern die Gelegenheit hatten, zu erforschen, was mit ihnen selbst passieren würde, wenn sie die Kinder einmal ganz und gar ihrer Wege gehen ließen. In dem Raum spielten auch ein paar Jungen; sie warfen Bälle, rannten wild hin und her. Sie waren genauso alt wie das Mädchen, das ich bei mir hatte, aber sie war kleiner, zarter. Nachdem ihr wiederholt auf die Füße getreten worden war, nahm ich sie auf den Schoß.
Als ich später mit den anderen Erwachsenen auswertete, was passiert war, merkte ich, daß ich die Jungen mit ihren eigenen Augen gesehen hatte; ich hatte sie als Rohlinge empfunden; sie waren in meiner Vorstellung ein Stück größer geworden, als sie tatsächlich waren. Es waren Männer geworden. Als ich mir klarmachte, wie stark mein Wunsch war, das Mädchen vor den Jungen zu beschützen, erinnerte ich mich an eigene Erfahrungen als kleines Mädchen mit den Jungen in der Straße, in der ich wohnte, und daran, wieviel Angst ich vor ihnen hatte. Und wie gern ich damals die sicheren Arme einer älteren Person gespürt hätte. Ich hatte also meine Bedürfnisse von damals auf das Mädchen von heute projiziert. Als sie später mit einer anderen Erwachsenen spielte, die sie nicht festhielt, sondern aufforderte, mit ihr zusammen den Jungen den Ball wieder wegzunehmen, sah ich, daß es auch anders geht. Strahlend und kichernd vor Aufregung, aber voller Triumph, kam sie mit dem Ball zurück.
Mir wurde bewußt, daß ich ― mit all meinem Feminismus ― meine alte Machtlosigkeit von damals auf das Mädchen übertragen hatte.
Geschlechtsdifferenzierung
Der Prozeß, mit dem die Geschlechtsdifferenzierung einsetzt, beginnt also schon vom Moment der Geburt an, bzw. er hat eigentlich schon vorher begonnen, nämlich mit den Erwartungen der Eltern, den Vorstellungen vom Kind, mit dem ausgesuchten Jungen- oder Mädchennamen, mit den gekauften Kleidern. Nacheinander und durcheinander laufen nun mehrere Prozesse ab.
Es fängt damit an, daß die Eltern erwarten, Jungen und Mädchen hätten einen unterschiedlichen Charakter, und sich dementsprechend verhalten, woraufhin nun die Kinder ihrerseits reagieren. Mütter schenken den Kleidern und Haaren einer Tochter mehr Aufmerksamkeit, dadurch lernen die Mädchen, daß ihr Äußeres wichtig ist. Von Jungen wird mehr Schmutzigkeit, Schlampigkeit und Wildheit erwartet, kein Wunder also, daß sich viele Jungen dann auch schmutziger, schlampiger und wilder entwickeln.
Dann werden Eltern, zusammen mit all den anderen Dingen, die Kinder lernen müssen (nicht den Herd anfassen, nicht deinen Teller mit Brei ausschütten, ordentlich dein Spielzeug wegräumen) das Verhalten fördern, von dem sie meinen, daß es zu einem Mädchen oder einem Jungen gehört, und anderes Verhalten mißbilligen. Manchmal geschieht das offen und deutlich: große Jungen weinen doch nicht! Oder: will das kleine Mädchen seiner Mutter nicht ein bißchen helfen? Aber oft geht das auch wortlos vor sich, indem Eltern ihre Tochter merken lassen, daß sie sie netter finden, wenn sie lieb ist, und ihren Sohn toller finden, wenn er flink ist.
Dieser Prozeß verläuft für Jungen und Mädchen nicht ganz parallel. So führt zum Beispiel die Angst der Eltern, daß ihre Söhne homosexuell werden könnten, zu einer stärkeren Mißbilligung von Mädchenverhalten bei Jungen, als es umgekehrt der Fall ist.[49] Die Angst, ein Junge, der mit Puppen spielt und gern mit Mädchen zusammen ist und nichts von ruppigen Spielen hält, könnte sich zu einem Schwulen entwickeln, ist bei vielen Eltern ― vor allem bei den Vätern ― tief verwurzelt. Mädchen werden demgegenüber stärker als Jungen vor gefährlichen Spielen geschützt, aber ihr Raum, sich jungenhaft zu verhalten, ist größer. Dennoch können Mütter, die die Bedrohung durch sexuelle Gewalt erfahren haben, ihren Töchtern vermitteln, daß es draußen gefährlich ist und Mädchen besser »drinnen« bleiben. Einerseits ist das eine Übertragung von Angst, wodurch Mädchen beigebracht wird, den eigenen Spielraum einzuschränken, wodurch sie später auch die Außenwelt als eine Männerdomäne erfahren werden, andererseits aber auch eine realistische Einschätzung angesichts der Existenz sexueller Gewalt.
Ein weiterer Einfluß in der Geschlechtssozialisation ist die Sprache. Mit dem Sprechen lernen die Kinder die Menschheit in »sie« und »er« aufzuteilen. Kinder, die ein Mädchen als Jungen bezeichnen, werden korrigiert, und auch Erwachsene müssen korrekt in »Mamas« und »Papas« eingeteilt werden. Das geschieht, noch bevor sich Kinder ― durch Beobachten der Kleidung, Haltung und Beschäftigungen ― ein richtiges Bild von den wirklichen Geschlechtsunterschieden, den Genitalien, gemacht haben. Mit der Sprache lernt das Kind auch, sich selbst einzuordnen. Das neutrale »ich« ist auf einmal auch ein Junge oder ein Mädchen.
Welch starken Einfluß die Sprache auf die Bildung der Vorstellungswelt von Menschen hat, habe ich selbst feststellen können, als ich einmal einen Roman las (The cook and the carpenter, zu deutsch: die Köchin/der Koch und die Zimmerfrau/der Zimmermann [50]), in dem die Worte »er« und »sie« systematisch durch ein neutrales Wort ersetzt worden waren und auch die Berufsbezeichnungen geschlechtsneutral waren. Ich war kaum in der Lage, der Geschichte zu folgen, weil es mir einfach nicht gelang auseinanderzuhalten, wer wer war: mir fielen zu den Namen keine Bilder ein.
Hier zeigt sich, wie wichtig wir die Einteilung in Geschlechter nehmen, denn um uns ein Bild von einer Person zu machen, brauchen wir anscheinend andere Informationen weniger, z. B. wie alt jemand ist, oder welchen Charakter er/sie hat und welchen Klassenhintergrund.
Erst später in dem Roman, als ich mit Mühe zumindest annähernd herausbekommen hatte, wer wer und was war, wurden die Worte »er« und »sie« wieder eingeführt, und ich war, wie ich feststellen mußte, in die Falle gegangen. Unwillkürlich hatte ich die Menschen zu Frauen gemacht, die Dinge taten, die ich mit Frauen in Verbindung bringe.
Unterschiede werden auch in den Geschenken gemacht, und viele Kinder bekommen geschlechtsspezifisches Spielzeug.[51] Mädchen erhalten öfter weiche Dinge oder Spielzeug, das gepflegt werden muß bzw. zum Pflegen dient. Jungen erhalten häufiger technisches Spielzeug, das zusammen- und auseinandergebaut werden muß oder mit dem man etwas machen kann. (Daher läßt sich auch das räumliche Sehen, das eng mit der Lösung technischer Probleme zusammenhängt, nur schwerlich als angeborene Eigenschaft betrachten, einmal ganz davon abgesehen, daß es alles andere als bewiesen ist.) Mädchen bekommen häufig nützliche Geschenke, z. B. Kleidung oder Dinge, die sie oder ihr Zimmer verschönern können.
Jungen- und Mädchenbeschäftigungen
Bei einjährigen Kindern ist an der Art, wie sie spielen, kaum ein Unterschied zwischen Jungen und Mädchen feststellbar. Selbst bei vierjährigen Kindern ist der Unterschied im Verhalten nicht sehr groß, obwohl diese schon eine klare Vorstellung von sich als Jungen oder Mädchen haben. Aber Kinder im Alter von sieben sind bereits richtige Jungen und Mädchen, und wenn sie elf Jahre alt sind, ist die Polarisation so groß, daß beinahe von zwei verschiedenen Kulturen gesprochen werden könnte.[52] Elfjährige Jungen und Mädchen spielen kaum miteinander, und erst wenn es auf die Pubertät zugeht, bekommen sie wieder etwas engeren Kontakt, aber nicht um sich dann gleich zu verhalten, sondern weil dann von ihnen beginnendes sexuelles Interesse aneinander erwartet wird. Bei elfjährigen Kindern läßt sich feststellen, daß Mädchen verhältnismäßig mehr Interessen mit ihren Müttern teilen und Jungen mehr mit ihren Vätern.[53] Mädchen sind es gewöhnt, Dinge im Haus zu tun, und ihre Hobbies spielen sich häufiger »drinnen« ab. Jungen haben genauso wie ihre Väter ein Faible für Sport, handwerkliche Tätigkeiten, Auto waschen und Hobbies, die sich außerhalb des Hauses abspielen. Je nach Geschlecht werden Kinder unterschiedlich ermutigt oder entmutigt. Jungen werden öfter körperlich bestraft, während Mädchen eher mit Liebesentzug im Zaum gehalten werden. (Mutti ist nicht böse, nur sehr traurig.[54])
Ich sagte bereits, daß der Prozeß, den Mädchen und Jungen durchlaufen, nicht ohne weiteres parallel verläuft. Jungen und Mädchen lernen nicht automatisch die Dinge, die zu ihrem Geschlecht gehören. Schon sehr früh ist es Kindern bewußt, daß Jungenbeschäftigungen spannender sind als die der Mädchen. Brown untersuchte die Vorlieben von Kindern und fand heraus, daß die Hälfte der Mädchen zwischen dreieinhalb und fünfeinhalb Jungenspielzeug und -spiele toller fanden als die Beschäftigungen für Mädchen.[55] Umgekehrt aber bevorzugen 70 bis 80% der Jungen ihre »eigenen« Sachen und Beschäftigungen. Dieser Unterschied wird mit zunehmendem Alter nur größer. Ältere Jungen wollen noch weniger mit Mädchenbeschäftigungen zu tun haben, während Mädchen sich in noch stärkerem Maße für Jungenbeschäftigungen interessieren. Hierfür sind wahrscheinlich mehrere Dinge verantwortlich. In erster Linie können Jungenspiele und -Spielzeug im Verhältnis gesehen auch wirklich spannender und aufregender sein, weil dabei mehr Aktivität und Einsatz gefordert wird als bei Mädchenspielzeug und -spielen. Vielleicht aber haben Mädchen bereits begriffen, daß Jungenbeschäftigungen höher bewertet werden, und sie beziehen sich schon auf die spätere Stellung mit den besseren Möglichkeiten. Und es mag auch sein ― darüber rede ich dann im nächsten Teil ― daß Jungen schon sehr früh gelernt haben, sich von »Weiblichkeit« abzugrenzen.
Die Vorwegnahme der Zukunft
Die meisten Eltern sind sich bewußt, daß sie ihre Kinder erziehen, um ihnen in der Zukunft zu einem möglichst guten Start zu verhelfen. Das bedeutet auch, Jungen und Mädchen unterschiedlich zu erziehen, denn selbst ohne weiter darüber nachzudenken, werden Eltern wissen, daß für die traditionelle Männerlaufbahn andere Eigenschaften erforderlich sind als für das traditionelle Frauenleben.
Aber viele dieser Botschaften, die Eltern Kindern mitzugeben versuchen, sind doppeldeutig. So kann eine Mutter wünschen, ihre Tochter möge es weiter bringen als sie, gleichzeitig aber fürchten, ihr Kind könne ein einsames oder schweres Leben haben, wenn sie mit der Gesellschaft in Konflikt gerät, so daß sie mit der Botschaft »tu dein Bestes« noch eine zweite aussendet: »aber bloß nicht zuviel«.
Homophobie ― vor allem von Seiten der Väter ― ist eine Angst, die zu argwöhnischer Beobachtung führt, ob ihre Söhne auch wirklich kein Zeichen weiblichen Verhaltens zeigen, die den normalen Vorurteilen zufolge darauf hinweisen, daß Jungen schwul werden.
Teilweise führen Vorurteile zur Angst vieler Mütter, ihre Töchter würden zu emanzipiert, und zur Angst der Väter, ihre Söhne könnten homosexuell werden. Aber teilweise ist es auch eine »gutgemeinte« Sorge, um zu verhindern, daß ein Kind in Schwierigkeiten kommt.
Väter, schreibt Scheu, neigen übrigens dazu, sich im Hinblick auf das richtige Rollenverhalten ihrer Kinder konservativer zu verhalten als Mütter.[56] Väter legen größeren Wert darauf, daß ihre Tochter sich schon früh wie eine kleine Frau verhält, sie flirten häufiger mit den Mädchen und projizieren oftmals erwachsene Eigenschaften auf sie. (Das hat nicht zuletzt in bezug auf Inzest Folgen.) Mädchen, die auch von ihren Vätern geliebt werden wollen, lernen so schon früh, wie sie weiblichen Charme einsetzen müssen, um Zuwendung zu erhalten. Sie bestätigen damit zugleich das Bild, daß sich ihre Väter bereits gemacht hatten.
Aber Väter können auch einen sehr positiven Einfluß auf ihre Töchter ausüben. Viele der in männlichen Berufen erfolgreichen Frauen haben erwiesenermaßen in ihrer Jugend eine enge Beziehung zu ihren Vätern gehabt. Wenn Väter ihre Töchter ernst nehmen, sich viel mit ihnen unterhalten und sie ermutigen, zeigt sich, daß etwas mehr »männlicher« Lebensstil in die weibliche Sozialisation durchsickern kann, sagt Oakley.[57]
Töchter von außerhäuslich berufstätigen Müttern haben im Durchschnitt eine weniger rigide Auffassung von Männlichkeit und Weiblichkeit als Mädchen, deren Mütter die ganze Zeit Hausfrauen sind; sie zeigen stärker männliche Eigenschaften wie Selbständigkeit und legen mehr Wert auf ihre Autonomie.[58] Vor allem die Selbständigkeit zu fördern und darin selbst Vorbild zu sein, ist für Mädchen wichtig. So ergaben Untersuchungen, daß Frauen mit besseren analytischen Fähigkeiten als Kind stärker gefördert wurden, Eigeninitiative zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen bei der Lösung von Problemen.[59] Zwischen der Entwicklung von Intelligenz und früh erlernter Unabhängigkeit besteht ein unmittelbarer Zusammenhang. Das unbewußt beschützende Verhalten, das Mütter Töchtern gegenüber an den Tag legen ― vielleicht weil sie Mädchen als Fortführung ihrer selbst sehen und ihnen vieles, was sie selbst mitgemacht haben, ersparen wollen ― bewirkt letztlich also genau das Gegenteil. Es führt dazu, daß Frauen, auch wenn sie längst erwachsen sind, Schutz suchen und in die eigene Fähigkeit zur Selbständigkeit kaum Vertrauen haben werden.
Das Vorbild der Erwachsenen
Wie sich zeigt, imitieren Kinder selten ohne weiteres den Elternteil des eigenen Geschlechts. Dennoch hat das Vorbild der Eltern Einfluß. Hartley berichtet, daß es in der heutigen, modernen Familie mit der sorgenden Mutter und dem dominanten, aber meist abwesenden Vater für Jungen sehr schwer ist, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie Männer sich verhalten müssen.[60] Jungen erleben hauptsächlich erwachsene Frauen zu Hause und in ihrer Umgebung, und wenn sie in den Kindergarten oder in die Grundschule kommen, bleibt das so. Dies führt u. a. dazu, daß »Männlichkeit« vor allem defensiv definiert wird, nämlich als das, was nicht weiblich ist. Weil es so wenige Vorbilder gibt, ist der Einfluß der Medien um so größer. Wenn Männer aus Fleisch und Blut fehlen, werden die Cowboys, Gangster und Soldaten die Phantasie der Jungen bevölkern, als das Bild der Männlichkeit. (In den Vereinigten Staaten haben Untersuchungen ergeben, daß die Hälfte der Kinder, wenn sie die Wahl hätten, lieber auf den Vater als auf den Fernsehapparat verzichten würden.)
Manchmal wird behauptet, es sei für Mädchen einfacher, eine Vorstellung von Weiblichkeit zu entwickeln, als für Jungen, zu einer Vorstellung von Männlichkeit zu kommen, weil sie schon früh ein Vorbild in ihrer Umgebung hätten. Aber was für ein Vorbild ist das? Viele Mädchen haben schon früh begriffen, wie wenig erstrebenswert das Schicksal ihrer Mutter ist. Manche flüchten deshalb in unrealistische Träume. Mädchen von etwa fünfzehn Jahren wurden im Unterricht gebeten, eine Einschätzung vom Leben ihrer Mutter zu geben und aufzulisten, wie sie sich die eigene Zukunft vorstellen.[61] Die meisten Mädchen zeichneten ein ungeheuer düsteres Bild vom Alltag ihrer Mütter, aber bauten Zukunftsphantasien voller rosa Wolken und Luftschlösser. Sie bekämen eine andere Sorte Mann, ihr Haus wäre viel schöner und gemütlicher, sie würden nicht so langweilig wie ihre sich abrackernden Mütter werden. Wie sie das aber hinkriegen wollen, war unklar; die meisten glaubten, es ginge lediglich darum, den richtigen Mann zu finden und sich nicht so dumm wie ihre Mütter anzustellen.
Gerade Frauen, die sich später auflehnten, haben sich gegen ihre Mütter abgegrenzt. Gegen Ende der sechziger Jahre schien ein Großteil der Frauenbewegung aus Töchtern zu bestehen, die beschlossen hatten, nicht wie ihre Mütter zu werden. Weil in dem beginnenden Bewußtsein oft noch die Einsicht fehlte, daß diese Frauen ihr Los nicht unbedingt frei gewählt hatten, richteten sich viele Vorwürfe gegen die Mütter selbst.
So skizzierten sowohl Sybilla Aleramo als auch Agnes Smedley in ihren autobiographischen Romanen [62] das Bild der Töchter, die ihre Väter sehr viel interessanter fanden als ihre Mütter. Erst später nach vielen Umwegen und Entwicklungen begriffen sie, daß ihre Mütter u. a. zu den verbitterten und gebrochenen Frauen geworden waren, weil ihre Väter für sich selbst eine Freiheit forderten, die für Frauen unerreichbar war. Das ist die Tragik der Frauen, die sich für ihre Kinder aufopfern und dann erleben, daß sich die Töchter gerade wegen dieses aufopfernden Verhaltens von ihnen abwenden. Sharpe warnt davor, den Einfluß von Eltern auf Kinder als etwas Mechanisches aufzufassen.[63] Kinder könnten zwar den Elternteil des eigenen Geschlechts imitieren und sich mit ihm identifizieren, aber das sei kein geradliniger Prozeß. Welche Erwachsenen sich Kinder ― innerhalb und außerhalb der Familie ― zum Vorbild nehmen, hänge nicht nur vom Geschlecht ab, sondern auch von der Anziehungskraft der Personen, nämlich davon, ob sie interessante Dinge tun oder zu dem Kind eine zärtliche Beziehung haben. Es ist z. B. möglich, daß Mädchen sich zwar teilweise mit ihrem Vater identifizieren, der spannendere Dinge außerhalb des Hauses macht, zugleich aber eine zärtlichere Beziehung mit der Mutter haben. Auch andere Erwachsene als die eigenen Eltern können als Vorbild gewählt werden.
Das Vorbild der Medien
Außerdem ist der Einfluß der Eltern beschränkt. Kinder übernehmen ihr Verhalten auch von Altersgenossen. Während der Pubertät hat ― wie Untersuchungen zeigen ― die eigene Kultur ganz sicher einen größeren Einfluß als das, was die Eltern von den Kindern wollen. Und. Eltern erziehen ihre Kinder nicht im luftleeren Raum. Die Kultur unserer Umwelt mit ihren in Geschlechter aufgeteilten Stereotypen kann man, selbst wenn man wollte, nicht aussperren. Vor allem das Fernsehen ist hier ein bedeutsames Medium. Je häufiger Kinder fernsehen, desto traditioneller sind ihre Einstellungen gegenüber den Geschlechtsstereotypen, wie Frueh und McGhee herausfanden.[64]
Kein Wunder. Die durchschnittlichen Fernsehprogramme, ob Kinderprogramme, Werbesendungen oder die Tagesschau, sind schlimmer als eine Wiederspiegelung der bestehenden Geschlechtsrollen. Sie »überkonformieren«. Es reden sehr viele Männer, wenn es um ernste Dinge geht, während Frauen hauptsächlich als Dekoration benutzt werden. Und auch wenn wir in der heutigen Reklame schon mal Väter mit einem Kind in der Badewanne sitzen sehen können, ist und bleibt die vorherrschende Botschaft doch, daß Männer die Welt besitzen und Frauen wenig zu sagen haben. Auch die Norm der Heterosexua-lität hält sich hartnäckig. Wenn schon einmal ein homosexueller Mann auf dem Bildschirm erscheint, so ist das ein immer wiederkehrendes Stereotyp der Tunte. Lesbische Frauen bleiben ganz und gar unsichtbar. Familien sind vollständig, Mütter sind zu Hause und Väter auf der Arbeit, und sonst gibt es Probleme.
Bücher und Filme sind nicht besser. Sogar Märchen zeigen die stereotypen Formen von Weiblichkeit. Entweder geht es um böse Hexen und Stiefmütter oder um hilflose, zierliche Prinzeßchen und andere dumme Weibchen wie Schneewittchen, Aschenputtel oder Rotkäppchen, die aus Schwierigkeiten gerettet werden müssen. Wenn in Kinderbüchern und -filmen sprechende Tiere auftauchen, werden geschlechtslose Bären und Mäuse mit »er« angesprochen. Erst wenn ein Tier eine Schleife auf dem Kopf trägt oder kokett mit den Wimpern klimpert, ist es eine »sie«. Und wie sich die Heinzelmännchen fortpflanzen, wird auch Kindern ein Rätsel bleiben.[65] Wir sind von einer nicht abreißenden Flut von Bildern umgeben, die zeigen, wie Männer und Frauen sein sollten. Botschaften über Männlichkeit und Weiblichkeit sind im Text auf Haferflockenpaketen ebenso versteckt wie in der Pornographie im Laden um die Ecke und in den Bildergeschichten, die Kinder lesen. Die Bilder verändern sich zwar, doch hinken sie der Wirklichkeit hinterher.
5. Sprache und Körper
Kommunikationsunterschiede
Es gibt nicht viele Untersuchungen darüber, wie unterschiedlich Mädchen und Jungen Sprache erlernen und auf welche unterschiedliche Art sie sich körperlich zu bewegen haben. In der eigenen Sozialisationsgeschichte können wir zwar aufspüren, was mit uns geschah, nämlich wie oft wir als Mädchen zu hören bekamen, daß wir ordentlich sitzen sollen, wie tadelnd wir angeschaut wurden, wenn wir unflätige Worte in den Mund nahmen, also »Männersprache« benutzten. Wer würde keinen Schreck bekommen, wenn ein blondes, puppenhaftes Mädchen in einem Röckchen eine Sprache benutzt wie: nimm deine dreckigen Pfoten von meinem Ball, du Sack! Wäre aber der Schreck ebenso groß, wenn dies ein Junge mit schmutzigen Knien sagt? Vielleicht finden viele Leute diesen Sprachgebrauch für Jungen auch nicht angebracht, aber finden sie es genauso schockierend? Und wer würde sich nicht über die Zukunft eines Jungen Sorgen machen, der sich folgendermaßen mit einem Tier unterhält: Was für ein Schätzchen, schau mal wie süß! Kinder werden von Geburt an unterschiedlich angesprochen. Zu einem Jungenbaby wird häufiger gesagt: Was für ein Bengel; Mädchen werden oft mit Verkleinerungsworten bedacht. Kinder begreifen schnell, von welcher Sprache angenommen wird, daß sie zu ihnen paßt, und was sie sich in der Kommunikation mit anderen erlauben können. Wenn sie dann erwachsen sind, haben sie viele Sprachunterschiede so verinnerlicht, daß sie sich oftmals nicht einmal bewußt sind, wie unterschiedlich sie sprechen.
Pamela Fishman hat eine aufschlußreiche Untersuchung über Kommunikationsunterschiede zwischen Frauen und Männern durchgeführt.[66] Eigentlich wollte sie Streitmuster untersuchen. Als Voruntersuchung bat sie einige befreundete, heterosexuelle Paare bei ihrem alltäglichen Umgang miteinander einen Kassettenrecorder mitlaufen zu lassen. Alle Paare waren fortschrittlich eingestellt; die Frauen und Männer betrachteten einander als Gleiche. Dennoch ergaben sich auffallende Unterschiede. Während Männer häufig einfach etwas behaupteten, baten Frauen in ihren Sätzen oft um Aufmerksamkeit, indem sie z. B. mit »weißt du« anfingen oder mit »findest du nicht« aufhörten.
Eindeutig fanden es Männer sehr viel selbstverständlicher, daß ihnen zugehört wird, während Frauen viel häufiger das Gefühl hatten, um Aufmerksamkeit bitten zu müssen. Es zeigte sich auch, daß Männer öfter das Gespräch abbrachen und sich wenig Mühe gaben, die Frauen bei ihren Äußerungen zu ermutigen. Demgegenüber machten Frauen regelmäßig zustimmende und ermutigende Hmmm-Geräusche. Ungeachtet der Wichtigkeit eines Themas (sollte jemand denken, daß Frauen sicher mit den banaleren Themen ankamen) stellte sich heraus, daß Frauen schneller unterbrochen wurden. Männer bestimmten in sehr viel größerem Umfang, wovon das Gespräch handelt. Auch in der Kommunikation, sagt Fishman, sind es die Frauen, die am härtesten arbeiten müssen.
Körpersprache
Auf die Körpersprache von Mädchen und Jungen wird ebenfalls unterschiedlich reagiert. Bei Jungen akzeptiert man eher, daß sie wild sind und sich schmutzig machen, während Mädchen oft in Kleider gesteckt werden, die ihre Bewegungsfreiheit einschränken. Selbst wenn sie als Kleinkind noch einen relativ großen Freiraum haben, ist es damit in der Pubertät, wenn die Eltern sich Sorgen über die Weiblichkeit ihrer Töchter zu machen beginnen, endgültig vorbei. Halt deine Knie zusammen, mach dich nicht so breit, das sind Botschaften, die nicht nur über offizielle Etikettenregeln vermittelt werden.
Eine kleine Übung, mit der du untersuchen kannst, wie weibliche Kleidung und Körperhaltung deine Stimmung beeinträchtigen können, steht in dem Buch von Nancy Henley und wird hier wiedergegeben: Übung für Männer.[67]
1. Setz dich auf einen geraden Stuhl. Kreuze deine Knöchel und presse deine Knie aneinander. Versuche das zu tun, während du mit jemand ein Gespräch führst, aber achte dabei die ganze Zeit darauf, daß deine Knie eng aneinandergedrückt bleiben müssen.
2. Bück dich, um einen Gegenstand vom Boden aufzuheben. Denke jedesmal daran, immer so in die Knie zu gehen, daß dein Hintern nicht nach oben zeigt, und mit einer Hand stets deine Kleidung an deinen Körper zu drücken. Diese Übung simuliert die Erfahrung einer Frau in einem kurzen Rock und mit tiefem Halsausschnitt, die sich bückt.
3. Gehe ein kleines Stück, aber halte deine Knie dabei zusammen. Du wirst merken, daß du kleine Schritte machen mußt. Frauen haben gelernt, daß es unweiblich ist, wie ein Mann mit großen, ausladenden Schritten zu gehen. Schau einmal, wie weit du auf diese Art in dreißig Sekunden kommst.
4. Setze dich auf den Fußboden. Stell dir vor, du trägst ein Kleid und jeder im Zimmer will deine Unterhose sehen. Halte deine Beine so, daß das nicht möglich ist. Bleibe eine ganze Weile so sitzen, ohne deine Haltung zu verändern.
5. Geh über die Straße. Achte genau auf deine Kleidung, ob dein Hosenschlitz zu ist, dein Hemd in der Hose steckt und alle Knöpfe geschlossen sind. Schau geradeaus. Jedesmal, wenn dir ein Mann entgegenkommt, wendest du deine Augen ab und machst ein ausdrucksloses Gesicht. Die meisten Frauen führen diese Handlungen ständig aus, wenn sie das Haus verlassen. Es ist eine Möglichkeit, mit der sie zumindest einige der Begegnungen mit fremden Männern vermeiden können, die für sich beschließen, daß wir bereitwillig aussehen.
6. Geh mit eingezogenem Magen umher, Schultern nach hinten und Brust raus. Sorge dafür, daß du diese Haltung die ganze Zeit über beibehältst. Achte darauf, welchen Einfluß sie auf deinen Atem hat. Versuche in dieser Haltung laut und aggressiv zu sprechen.
Marianne Wex stellte eine faszinierende Untersuchung über die unterschiedliche Körpersprache von Frauen und Männern an, die sehr deutlich macht, wozu unsere Sozialisation führt. Sie fotografierte stehende, sitzende und liegende Menschen, einzelne Leute und Paare.[68] Wenn die Fotos nebeneinander gelegt werden, entsteht ein deutliches Muster. Frauen machen sich systematisch schmaler als Männer, indem sie die Beine zusammenstellen und ihre Arme eng an den Körper pressen. Sie machen sich kleiner, indem sie auf einem Bein stehen, das andere Knie einknicken und den Kopf schiefhalten. Männer machen sich breit. Das scheint an sich nicht viel mit Kleidung zu tun zu haben, auch Frauen, die Hosen tragen, stellen ihre Knie oft zusammen. Und mit der Verletzbarkeit der Genitalien scheint es ebenfalls wenig zu tun zu haben. Frauen können in dieser Hinsicht besser einen Stoß vertragen als Männer. Was man bei Männern auch sehen kann: Sie sitzen zwar breitbeinig da, halten aber ihre Hand schützend vor ihr Geschlecht.
Ausnahmen, die Wex fand, sprechen für sich! Ausländische Gastarbeiter ― also Männer, die sich ganz unten auf der gesellschaftlichen Leiter befinden ― stehen oft »weiblicher« da und haben auch die Angewohnheit, sich schmaler zu machen. Ältere Arbeiterfrauen hingegen standen oft mit beiden Beinen fest auf dem Boden; diese Frauen haben innerhalb ihrer Kreise eine bessere Stellung und brauchen sie nicht durch ihre »Weiblichkeit« zu erringen.
Wieviel Körperhaltung mit gesellschaftlichen Stellungen und Machtunterschieden zu tun hat, zeigt sehr anschaulich eine Ausnahme, die ich fand: Ein Foto von Prinz Claus als Ehegatte neben seiner wichtigeren Frau bei der jährlichen Parlamentseröffnung, auf dem auch er seine Knie zusammenhält.
Nicht nur an der Körperhaltung sind Unterschiede zu erkennen, auch daran, wieviel Raum sich Menschen gegenseitig lassen oder wie oft sie einander berühren. Nancy Henleys Meinung nach kann man an der Art, wie Menschen Räume betreten und einander berühren, sehr genau die Machtbeziehungen untereinander ablesen. Die mächtigere Person hat das Recht, die Räume seiner Untergebenen zu betreten. Der Direktor darf die Räume seiner Sekretärin ohne anzuklopfen betreten, umgekehrt geht das nicht. Und die mächtigere Person darf ihr untergebene am Arm oder auf dem Rücken berühren.[69]
Der Persönlichkeitsraum von Frauen wird ― wie Untersuchungen zeigen ― viel öfter von Männern verletzt als umgekehrt. Und Frauen werden viel häufiger von einem Mann berührt. Wenn eine erwachsene Frau einen Mann berührt, geht sie das Risiko ein, daß es ihr als sexuelle Aufforderung ausgelegt wird. Viele Frauen ärgern sich zwar darüber, haben aber gelernt, daß Angefaßtwerden etwas Unvermeidliches ist im Umgang mit Männern. Meiner Meinung nach hat der Lernprozeß, in dem wir unsere Körper als in einem bestimmten Maß grundsätzlich für Männer bereit zu seiendes erfahren, schon sehr früh begonnen.
Eine Beobachtung: Ein Schwimmbad. Ein etwa zehnjähriges Mädchen schwimmt allein. Dann kommen drei Jungen dazu, die sie zu ärgern anfangen, ihr die Badekappe runterziehen und nicht zurückgeben wollen. Als sie ihnen folgt, um die Badekappe zurückzubekommen, wird sie festgehalten und unter Wasser getaucht. Einer der Jungen versucht den Verschluß ihres Badeanzugs zu lösen. Eine ganz normale Szene, die niemand weiter interessiert. Die Reaktion des Mädchens: ihr Gesicht wird rot vor Zorn, und sie unternimmt ein paar Versuche, dem Jungen, der ihr am nächsten ist, eine Kopfnuß zu verpassen. Als dieser ihre Hand festhält und ein anderer Junge ihm zur Hilfe kommt, beobachte ich, wie das Mädchen ihre Wut fast buchstäblich herunterschluckt: Sie fängt an zu kichern und macht halbherzig mit, bis sie ihre Badekappe wieder hat.
Das Gekicher, mehr Nervosität als Vergnügen, habe ich oft von kleinen Mädchen gehört, wenn sie von älteren Männern, Vätern oder Onkeln festgehalten und gekitzelt wurden. Ich habe kein Untersuchungsmaterial darüber, aber ich glaube, daß Mädchen öfter als Jungen gegen ihren Willen festgehalten und die Proteste von Mädchen meist als Spaß aufgefaßt werden. Ich denke, daß damit der Anfang gemacht ist für diesen Teil der Frauensozialisation, bei der Frauen lernen, daß in einer Ehe oder anderen heterosexuellen Beziehung ihr Körper nicht ihnen, sondern »ihm« gehört. Ich denke, daß Frauen ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper erlernt haben, daß sie ihn öfter als Gebrauchsgegenstand erfahren. Jene Bilder, die auch mit »harten« oder »sanften« Pornos verbreitet werden, bestätigen das. Daran ändert die Macht nichts, die Männer Frauen zuschreiben, weil sie einen Körper haben, der begehrt wird. Nicht, daß ich glaube, Männer hätten mit ihrer anderen Sozialisation eine soviel harmonischere Beziehung zu ihrem Körper. Während Frauen meist lernen, daß ihr Körper benutzt wird, haben Männer eher gelernt, ihren Körper als Instrument zu benutzen. Das hat Folgen, vor allem auf sexueller Ebene.
6. Sexualität
Wie lernen wir Sexualität?
Im ersten Teil habe ich festgestellt, daß es wenig biologische Unterschiede gibt, die das unterschiedliche Erleben von Sexualität bei Männern und Frauen erklären können. Nachweislich haben Hormone nur einen begrenzten Einfluß auf das Sexualverhalten. Die Geschlechtsorgane weichen vom Grundmuster her weniger voneinander ab, als angenommen wird.
Sexualität spielt sich stärker zwischen unseren Ohren als zwischen unseren Beinen ab, hat mal jemand gesagt. Was wir unter Sexualität verstehen und welche Befriedigung wir in ihr suchen, ist also keineswegs biologisch festgelegt. Margaret Mead hat bereits nachgewiesen, wie unterschiedlich Sexualität von verschiedenen Völkern erfahren werden kann,[70] und auch Ford und Beach [71] haben beim Vergleich mehrerer Völker in verschiedenen Ländern aufgezeigt, daß allein schon im Sexualverhalten, das wir als Koitus bezeichnen, also beim Paaren oder Bumsen, sehr unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was »normal« ist. Während bei dem einen Volk die Leute der Meinung sind, man könne monatelang enthaltsam leben, ohne daß es schädlich ist, werden bei einem anderen Volk alle die Männer mitleidig angeschaut, die nicht mindestens einmal am Tag die Möglichkeit haben, es zu tun. Und mit unserer Vorstellung, daß ein »normaler« Mann dreimal die Woche dieses Bedürfnis hat, stehen wir dazwischen. (Bei Frauen gehen die Auffassungen auseinander. Früher wurde meist angenommen, Frauen hätten weniger Bedürfnis nach Sex als Männer; nach der heutigen Vorstellung haben Frauen dasselbe Bedürfnis bzw. sollten dasselbe Bedürfnis haben, sonst stimmt mit ihnen etwas nicht.)
Es könnte sein, sagt Schmidt,[72] daß Sexualität genauso angelernt ist wie unser anderes Verhalten. Auch wenn noch ein Rest Biologie mit eine Rolle spiele, weil wir uns sexuell fortpflanzen, sei letztlich alles, was nicht direkt der Fortpflanzung diene, Kultur.
Wir könnten uns fragen, ob in anderen Gesellschaften andere Modelle für das »Erlernen« von Sexualität bestehen, wobei Menschen dann letztlich auch ein anderes Sexualerleben oder eine andere »Erregbarkeit« hätten und erlebten. Es wäre z. B. eine Gesellschaft denkbar, in der kindliches Sexualverhalten auf eine freundliche und verständnisvolle Weise entmutigt wird und Jungen und Mädchen viel Kontakt miteinander haben, aber nicht auf sexuelle Art, also sehr wenige erotische Reize vorhanden sind. Schmidt sagt es nicht, aber das heutige China wäre so eine Gesellschaft. Viele Westler glauben, wenn sie Geschichten über China hören, daß die Sexualität dort sehr unterdrückt sein müsse. Als ich dort war, gewann ich eher den Eindruck, daß die Sexualität nicht so sehr unterdrückt wird, sondern einfach weniger Raum bekommt, um entstehen zu können, zumindest in der Art, die wir im Westen gewohnt sind.[73] Ich glaube den Chinesen, wenn sie sagen, daß bei ihnen selten Vergewaltigungen vorkommen, weil in ihrer Kultur Männer erwiesenermaßen nicht ermutigt werden, Frauen als Gegenstände zu betrachten und Sex nicht als Belohnung für eine männliche Leistung anzusehen oder als etwas, womit man die eigene Männlichkeit beweisen kann.
Ein anderes Modell ist, Kinder systematisch so zu entmutigen, daß sie ihren eigenen Körper verleugnen, Masturbation zu tabuisieren und Mädchen und Jungen meist voneinander zu trennen (Umkleideräume und Sport). Dabei wird zugleich ― zwar von Tabus umgeben, aber doch überdeutlich sichtbar ― die erwachsene Sexualität propagiert. Bei uns im Westen bekommen Kinder »normalerweise« im Höchstfall ein paar Fakten geliefert, etwa folgendermaßen: »wenn Mama und Papa sich sehr gern haben, rücken sie ganz nah zusammen ...« während gleichzeitig von Filmen, Reklame und dem Fernsehen eine ganz andere Botschaft ausgeht, die mit Mamas und Papas und sich gern mögen wenig zu tun hat. Mit so einem Modell wird Kindern eine doppeldeutige Botschaft vermittelt: was sie jetzt fühlen, dürfen sie nicht fühlen, aber später müssen sie es.
Ich finde es nicht verwunderlich, daß in so einem Modell Sexualität sehr viele »Nebenmotive« bekommen kann. So lernen z. B. Jungen, die ja einen Grund haben, auf erwachsene Männer neidisch zu sein und sich gegen jegliche »Weiblichkeit« abzugrenzen, daß Sexualität etwas ziemlich Aggressives ist. Das Erobern und Besitzen eines Frauenkörpers empfinden sie demzufolge weniger als die süße Verschmelzung, die in der Damenliteratur so stark propagiert wird.[74] Glücklicherweise können wir auch eine Tendenz zu einem dritten Modell erkennen, das Kindern zugesteht, ihre Neugier zu befriedigen, wo Körperlichkeit selbstverständlicher wird und Kinder den Umgang mit Erotik besser üben können.
Frauen- und Männermuster
Wenn wir davon ausgehen, daß Sexualität wie anderes Verhalten erlernt wird, ist die nächste Frage, ob Jungen und Mädchen etwas Unterschiedliches beigebracht wird. Dafür haben wir zumindest einige Hinweise:
- Mädchen lernen wahrscheinlich stärker als Jungen, ihren Körper als etwas zu sehen, worüber andere verfügen können und der für andere schön zu sein hat;
- Jungen lernen viel eher positive Bezeichnungen für ihre Geschlechtsorgane, wie zum Beispiel Pimmel, Schwanz, Penis, während Mädchen eher Diffusitäten und Euphemismen lernen, »zwischen den Beinen« und »Po«. Die versteckte Botschaft hierbei ist meist, daß Jungen »etwas« haben und Mädchen »nichts«, beziehungsweise höchstens ein Loch oder eine Ritze. Mädchen hören selten etwas über ihre Klitoris. Es gibt denn auch keinen gängigen »normalen« Begriff dafür;
- Jungen erhalten einen größeren Freiraum, um ohne Aufsicht der Eltern miteinander zu spielen, und machen mehr experimentelle sexuelle Spielchen miteinander, Mädchen werden mehr im Haus gehalten;
- sobald ihre Menstruation beginnt, wird vielen Mädchen vermittelt, daß sie nun ein »großes Mädchen« sind und somit »aufpassen« müssen. Was »aufpassen« aber genau heißt, wird selten gesagt. Mädchen lernen, daß sie sich vor Jungen in acht nehmen müssen;
- Mädchen können schwanger werden. Es gibt immer noch die Doppelmoral, die dazu führt, einerseits Frauen für das Auftreten einer Schwangerschaft verantwortlich zu machen, sie aber andererseits, sofern sie Vorsorge treffen, als erfahren zu klassifizieren und mehr oder weniger als Hure anzusehen;
- Jungen lernen Sexualität hauptsächlich als genitalen Akt zu begreifen. Zärtlichkeit ist »unmännlich«, Haut- und Körperwärme zu genießen ebenso;
- Mädchen lernen Sexualität gegenüber eine passive Haltung einzunehmen, abzuwarten oder sich zu verweigern. Jungen lernen, daß sie die Macher sind. (Nicht umsonst kann man zwar sagen, er fickt sie, nicht aber umgekehrt, sie fickt ihn. Im günstigsten Fall ficken sie also miteinander.) Aber in einem bestimmten Maß eigene Phantasievorstellungen zu entwickeln, sich aus sich selbst heraus erotisch zu fühlen, von allein das zu tun, was sie möchten und zu sagen, wie sie es möchten, ist auch für Frauen eine Voraussetzung, um einen Orgasmus zu bekommen. Aktivere Frauen haben mehr Spaß am Sex, obwohl das nicht mit dem erlernten Stereotyp übereinstimmt ― beide lernen, daß Sex »von selbst« kommt, aber Jungen lernen, daß sie es tun müssen. Doch wie, das lernen sie selten. Du steckst ihn rein und dann kriegst du deinen Orgasmus, das ist es, was Männern unterschwellig durch viele Pornos vermittelt wird. Viele Männer wissen nicht, wo sich die Klitoris befindet und welche Funktion sie hat [75], und die meisten Frauen lernen nicht, daß sie Männern sagen müssen, wie sie es haben möchten. Sofern sie es selbst überhaupt wissen;
- Mädchen werden in der Vorstellung erzogen, daß sie heiraten werden. Sex ist ein wichtiges Mittel, um einen Mann zu finden. Viele Frauen lernen zwar, verführerisch zu sein, nicht aber, selbst zu verführen. Sie lernen, gerade soviel zuzulassen, um das Interesse zu wecken, doch in großen Teilen der Bevölkerung schmälert sich ihr Wert, wenn sie zuviel »gibt« oder zu viele Freunde gehabt hat.[76] Die eigene Sexualität zu manipulieren lernen, ist einem freien Sexualerleben sicher nicht sehr förderlich;
- Jungen haben Interesse am Sex und deshalb an Mädchen; Mädchen haben Interesse an Jungen und deshalb an Sex.
Auf die tieferliegenden Motive, warum Männer Sexualität vergleichsweise häufiger »objektivieren« und öfter mit Aggression verbinden und Frauen stärker an Sexualität innerhalb einer Liebesbeziehung interessiert sind, komme ich im nächsten Kapitel noch einmal zurück. Aber daß Jungen und Mädchen zu einem Teil unterschiedlich programmiert sind, ist wohl deutlich. Das zeigt sich auch an einem Thema, über das hier noch gar nicht gesprochen wurde. Es wird meist vom Sexualleben getrennt behandelt, hat aber meiner Meinung nach bestimmt Einfluß darauf ― nämlich Inzest.
Inzest
Einige Väter projizieren in ihre Töchter eine »erwachsene Frau« und erleben sie als »sexy« und verführerisch, lange bevor Mädchen bewußt verführerisches Verhalten gelernt haben.[77] Ziemlich viele Männer, die normale Körperlichkeit und Zärtlichkeit für »unmännlich« halten, haben gelernt, jedes erotische Gefühl sofort als genitalen Trieb zu übersetzen.
Da außerdem einige Männer gelernt haben, ihr Recht auf Sex sei ein Recht auf einen Frauenkörper und Töchter wie auch Ehefrauen unterständen der Gewalt von Männern, sind bereits alle Voraussetzungen für den sexuellen Mißbrauch gegeben.
Freud glaubte noch, die Geschichten, die seine Patientinnen über ihre Väter (beziehungsweise Stiefväter und Onkel) erzählten, seien Wunschträume, und Groen, ein moderner Psychoanalytiker übernimmt das noch 1983.[78] Wir wissen es inzwischen aber besser. Viel mehr Frauen als wir je vermutet haben, wurden von erwachsenen Männern oder Jugendlichen, denen sie vertrauten, sexuell mißbraucht. Sexueller Mißbrauch an sich ist traumatisch, doch spielt noch viel mehr mit hinein. Die Mädchen, die von ihren Vätern etwas ganz Bestimmtes wollten, nämlich Zuneigung, Wärme und Fürsorge, fühlen sich manchmal sogar noch schuldig. Inzestuöse Vorfälle in der Jugend können einen starken Einfluß auf das Selbstwertgefühl von Frauen haben und auf ihr Erleben von Sexualität. Wenn du als Gegenstand benutzt wirst, ist Prostitution manchmal die einzige Form, in der du Sexualität überhaupt nur ertragen kannst, das schreiben Frauen, die selbst mißbraucht worden sind. Mißtrauen gegenüber anderen, Mißtrauen gegenüber der Möglichkeit von Liebe, Verfolgungs- und Berührungsangst gehören zu den möglichen Folgen.
Doch auch wenn inzestuöse Gefühle so von Hemmungen blockiert sind, daß sie nicht zu Taten werden, können Väter, deren erotische Gefühle erst einmal geweckt sind, in der Beziehung zu ihren Töchtern einen negativen Einfluß haben.
Eine typische Geschichte: »Ich fand es schön, vor meinen Eltern zu tanzen. Ich muß ungefähr sechs, sieben Jahre alt gewesen sein, als wir uns einmal im Kino einen Film anschauten, in dem Haremsfrauen vorkamen. Zu Hause machte ich dann in meinem Pyjama nach, wie sie getanzt hatten. Mein Vater klatschte. Da wollte ich es noch echter machen, zog meine Hose aus und tanzte mit einem durchsichtigen Schal meiner Mutter. Da wurde mein Vater böse. >Zieh sofort deine Hose wieder an<, sagte er. Seitdem hat er mich nie wieder auf den Schoß genommen und mich abends auch nie mehr zugedeckt oder mich geküßt. Ich glaubte, ich hätte etwas sehr Schlimmes getan und deshalb mochte er mich nicht mehr.«
Die sexuellen Gefühle von Eltern können die Sexualentwicklung ihrer Kinder sehr beeinflussen. Inzest ist dafür ein ganz extremes Beispiel. Aber es gibt auch noch andere Formen. Manche Väter, die Angst vor ihren homoerotischen Gefühlen haben, halten ihre Jungen schon von klein an auf Distanz und hören sehr viel früher als bei Mädchen auf, sie zu küssen. Auch Mütter können Angst vor homoerotischen Gefühlen haben und stillen womöglich deshalb ihre Töchter kürzer als ihre Söhne. Kinder lernen Sexualität nicht nur durch die mündliche Aufklärung, die Eltern ihnen entweder geben oder nicht. Die körperlichen Signale sind vielleicht noch sehr viel wichtiger.
7. Schule
»Erzieht Frauen wie Männer«, sagt Rousseau, »und je mehr sie unserem Geschlecht ähneln,
desto weniger Macht werden sie über uns haben.«
Genau darum geht es. Ich möchte nicht, daß sie Macht über Männer haben,
aber doch über sich selbst.
Mary Wollstonecraft, 1792.
Der heimliche Lehrplan
Bis jetzt habe ich hauptsächlich von dem gesprochen, was in der Sozialisation innerhalb der Familie geschieht. Aber es gibt noch einen anderen ebenso wichtigen Bereich: die Schule. Formal betrachtet, ist der Unterricht in den Niederlanden nicht nach Geschlechtern getrennt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam allerdings der Gedanke noch einmal auf, daß Mädchen getrennt unterrichtet werden müßten, mit der Betonung auf ihrer weiblichen Bestimmung. So finden wir bis 1957 Auffassungen wie die von Daalder, der den Realschulunterricht erneuern will:
»Lediglich bei besonders begabten Mädchen hat ein Übermaß an Intellekt keine schädlichen Auswirkungen auf das Gefühlsleben; denn der Intellekt der Frau, ihre Fähigkeit, das Leben objektiv zu erkennen, entwickelt sich auf Kosten ihrer subjektiven, emotionalen Qualitäten. Die moderne Erziehung berücksichtigt dieses leider nicht genügend, und sehr häufig werden Mädchen intellektuell zu stark belastet.«[79]
Die getrennten Mädchen- und Jungenschulen wurden dennoch sehr schnell abgeschafft, die Haushaltsschulen verschwanden. Sind damit auch die Probleme verschwunden?
Sicher nicht; wir brauchen uns nur mal anzuschauen, wie Mädchen das Schulangebot nutzen:
- Mädchen gehen im Verhältnis gesehen früher von der Schule ab als Jungen;
- Mädchen entscheiden sich für die vergleichsweise niedrigeren Schultypen;
- Mädchen wählen verhältnismäßig mehr »weibliche« Studienfächer und -kombinationen. Außerdem besteht zwischen der Wahl der Schulausbildung und dem künftigen Beruf ein enger Zusammenhang.
Mädchen erwarten, daß die Ehe ihnen eher eine Perspektive bietet als eine Anstellung; und selbst wenn sie eine Berufsausbildung ansteuern, ist das großenteils eine Arbeit, die mit der Hausfrauentätigkeit und dem Muttersein zu verbinden ist oder eine Fortführung der weiblichen Funktion, z. B. die »helfenden« und »anmutigen« Berufe. Tatsächlich können wir von zwei Arbeitsmärkten sprechen, von einem »weiblichen« mit niedrigen Einkommen und »weiblichen« Berufen und einem »männlichen« mit höheren Einkommen und größeren Aufstiegschancen.
Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Schule und Beruf ist die gleiche wie nach dem Huhn und dem Ei. Weil sich Mädchen an einer traditionellen Kombination von Haushalt und weniger wichtigen Berufen ausrichten, entscheiden sie sich für die Schulausbildung, die darauf hinführt. Und weil sie sich für diese Schulausbildung entschieden haben, landen sie auch dort.
Aber es geht um mehr als nur einen einfachen Kausalzusammenhang zwischen Schulwahl und Berufsperspektive. Schulen sind nicht nur Einrichtungen, in denen Sprache und Rechnen gelehrt wird. Eine Schule ist für Kinder neben dem Haushalt, in dem sie aufgewachsen sind, die erste Konfrontation mit einem komplexen sozialen Gebilde. Neben dem offiziellen Unterrichtsprogramm wie Lesen und Schreiben gibt es noch einen »heimlichen« Lehrplan. Kinder lernen, gehorsam zu sein und sich an Regeln zu halten. Während der offizielle Lehrplan keine oder sehr wenige formale Unterschiede zwischen den Geschlechtern aufweist, hält der »heimliche« Lehrplan womöglich nicht nur die Geschlechtssozialisation aufrecht, die die Kinder hinter sich haben, sondern verstärkt diese sogar noch.
Es gibt verschiedene Veröffentlichungen, die sich mit dem Inhalt von Unterrichtsmaterialien beschäftigen, zum Beispiel damit, auf welche Art Männer und Frauen in Schulbüchern dargestellt werden.[80] Wie zu erwarten, ist das Ergebnis ziemlich traurig. Schulbücher weichen nicht von der allgemeingültigen Vorstellung ab, die ich bereits im Teil über den Einfluß der Medien skizziert habe. Frauen und Mädchen kommen in Schulbüchern weniger oft vor als Männer und Jungen. Und wenn sie vorkommen, dann fast immer als Mütter und kaum als Menschen mit einem Beruf. Kinder werden ziemlich unverändert vor dem Hintergrund der »heilen« und harmonischen Familie dargestellt, mit dem Vater als Ernährer und der fürsorglichen Mutter. Jungen sind oft ungezogen, aber mutig. Mädchen sind langweilige Heulsusen, die ständig von ihren Brüdern aus Schwierigkeiten befreit werden müssen. Also nichts Neues, bzw. schlechte Nachrichten. Aber wichtiger ist die Frage, ob Lehrer ― genauso wie Eltern ― unterschiedliche Sozialisationsstandards benutzen, einen für Jungen und einen für Mädchen. Bis heute weist alles vorhandene Untersuchungsmaterial darauf hin, daß das tatsächlich der Fall ist. Oakley hat es festgestellt, Sharpe, Belotti sowie eine Reihe anderer Autorinnen, die sich besonders mit dem Sexismus im Unterricht befassen.[81] In den Niederlanden hat der bereits genannte Paul Jungbluth eine Untersuchung durchgeführt, die bestätigt, daß Lehrer im Durchschnitt gesehen anders auf Jungen als auf Mädchen reagieren und sie auch unterschiedlich beurteilen.
Die Haltung der Lehrkräfte
Wenn Kinder zur Schule kommen, sind sie bereits »Mädchen« und Jungen« geworden. Mädchen benehmen sich artiger und angepaßter, sie sind netter und gehorsamer. Jungen sind aufsässiger, gerade weil sie mehr Freiheit gewohnt sind als Mädchen und in einem Alter sind, in dem sie sich dem »weiblichen« Einfluß widersetzen. Und zumindest in den unteren Stufen des Schulsystems sind die Lehrkräfte Frauen.
Mädchen scheinen damit einen Vorsprung zu haben, sie sind besser an das Schulsystem angepaßt als Jungen, sie machen den Lehrkräften weniger Schwierigkeiten. Lehrkräfte werden Jungen bis zu zehnmal häufiger zur Ordnung rufen müssen als Mädchen.[82]
Aber der Schein trügt. Denn während Lehrkräfte sich über den stärkeren Bewegungsdrang von Jungen und die Unordnung, die sie verursachen, beklagen, empfinden sie Jungen dennoch meist als die interessanteren Schüler. Jungen werden zwar stärker an die Kandarre genommen, aber sie erhalten dadurch auch mehr Beachtung. Mit diesem Mehr an Beachtung und Anregung und dem Hinnehmen, daß Jungen nun einmal lebhafter und eigenwilliger sind, lernen Jungen schließlich, autonomer zu leben als Mädchen. Denn die bleiben brav und gelehrig, und es ist ihnen wichtiger, daß man sie nett findet, als Leistungen zu erbringen.
Diese Beurteilung der Lehrkräfte ist widersprüchlich. Während sie Mädchen auf der einen Seite als leichtere Schüler einstufen, bezeichnen sie sie andererseits als »gutgläubig«, schüchtern und verletzbar« und sagen, daß sie »Angst vor Strafe« hätten. Jungen werden zwar als schwierigere Schüler betrachtet, bekommen aber zugleich Eigenschaften wie »selbstbewußt, kämpferisch, rege, mutig und tapfer« zugewiesen.
Viele Lehrkräfte sehen keinen Widerspruch darin, einerseits davon auszugehen, daß Mädchen gesellschaftlich gesehen »die gleichen Chancen« haben sollten wie Jungen, doch andererseits Mädchen gegenüber eine beschützende Haltung einnehmen, es z. B. nicht schlimm zu finden, wenn sie etwas nicht können, und ihnen durchgängig schlechtere Schulabschlußbeurteilungen zu geben als Jungen.
Ein Beispiel dafür ist die Mathematik. Im allgemeinen wird angenommen, daß Mädchen in diesem Fach schlechter sind als Jungen. Neue Untersuchungen ergaben aber keinen einzigen Unterschied zwischen Jungen und Mädchen in der mathematischen Begabung. Daß Mädchen dennoch schlechter darin abschneiden, hat nachweislich mit mehreren Dingen zu tun:
- mit dem Selbstbild der Mädchen, die gelernt haben, zu glauben, daß sie es nicht können;
- mit der Vorstellung, daß sie später doch nicht viel mit Mathematik anfangen können;
- mit den Auffassungen der Eltern und Lehrer, daß sie für Mathematik keine Begabung hätten.
Es ist tragisch, daß so viele Mädchen als brave, aber etwas langweilige Schüler gesehen werden und diesem Bild dann natürlich auch entsprechen. Die Eigenschaften, die sie zu »guten« Schülerinnen machen, sind gerade nicht die Eigenschaften, die sie brauchen, um sich eine gute Stellung auf dem Arbeitsmarkt zu erkämpfen. Bestimmt nicht, wenn wir bedenken, daß Mädchen in sogenannten »männlichen« Berufen Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen und Selbständigkeit doppelt so nötig brauchen, sie müssen sich durchsetzen können, ohne dabei Angst zu haben, nicht mehr nett gefunden zu werden.[83]Die Schule liefert nicht nur keinen Beitrag zum Durchbrechen der Geschlechtsrollenklischees, sondern trägt auf ihre Art sogar noch ungewollt ihr Schärflein zu dieser Stereotypisierung bei. Und das nicht nur durch bestimmte Fächer und das Abschlußzeugnis der Mädchen, sondern auch durch die Charaktereigenschaften, die gefördert werden.
Gleiche Chancen?
Jungbluth zeigt auf, daß sich ziemlich viele Lehrkräfte für Chancengleichheit zwischen Mädchen und Jungen einsetzen und die bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kritisieren. Solange diese Veränderungen nur nicht zu weit gehen. Daß die fürsorgende Funktion und die »Weiblichkeit« voneinander abgekoppelt werden, geht bereits über der Hälfte zu weit. Eine Mehrheit findet, daß der Unterricht die Rollen nicht verfestigen dürfe, aber ein Drittel ist dagegen, daß der Unterricht die Rollen durchbrechen solle. Die Schule selbst wird selten als Einrichtung betrachtet, die für die bestehende Rollenverteilung mitverantwortlich ist, und sicher auch nicht als eine Institution, die daran etwas ändern müßte. Eine absolute Mehrheit schätzt nach Jungbluth Mädchen als fleißiger, verletzlicher, gehorsamer und dümmer ein als Jungen und empfindet dies nicht als Problem.
Längst nicht alle Lehrkräfte sind sich bewußt, daß sie mit Jungen anders umgehen als mit Mädchen, daß sie unterschiedliche Erwartungen haben und sie unterschiedlich beurteilen. Bei den Lehrkräften, die angeben, schon einen Unterschied zu machen, sind die Motive sehr vielfältig. Manchmal heißt es. »Weil sie ein Recht haben, so behandelt zu werden, wie es zu ihnen paßt«, manchmal »um zu zeigen, daß es keine typisch ,>männlichen< oder typisch ,weiblichen' Begabungen gibt«, aber auch, »weil es nun einmal unüberbrückbare Unterschiede gibt, die von Natur aus festgelegt sind«. Demzufolge hat ein wirklich rollendurchbrechender Unterricht mit viel Widerstand zu rechnen. Der Gleichberechtigungsgedanke, also die Vorstellung, daß Frauen im Vergleich zu Männern einen Rückstand aufzuholen haben, kann noch auf einige Sympathie stoßen. Gefährlicher wird es schon, wenn wir den feministischen Gedanken äußern, daß auch mit Jungen etwas passieren müsse. Wenn es um eine Zusatzausbildung für Mädchen geht, ist sogar von Wirtschaftsseite Unterstützung zu erwarten, nicht aber, wenn es sich um Zusatzausbildungen für Jungen in eine andere als die traditionelle Richtung handelt. Mädchen auszubilden, damit sie der Doppelbelastung standhalten, ist eher akzeptabel, als Jungen beizubringen, sich stärker am Haushalt und der Erziehung zu beteiligen.
Jungen und Mädchen werden also von den Lehrkräften unterschiedlich bewertet und damit die bestehenden Unterschiede noch weiter »vergrößert«. Je älter Schulkinder werden, desto stärker spielen die Zukunftserwartungen eine Rolle und auch die Beziehungen zu Gleichaltrigen. Sobald von Teenagern und angehenden Studentinnen erwartet wird, sich für das andere Geschlecht zu interessieren, geschieht etwas Seltsames. Auf einmal fallen viele Mädchen, die bis dahin noch ordentliche Leistungen erbracht haben, in der Schule ab und bleiben hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. Wieso das?
8. Die Angst, Erfolg zu haben
Wir bleiben mit dem widersprüchlichen Bild einer Gesellschaft sitzen, die so tut,
als reiße sie ihre Türen für Frauen weit auf, aber zugleich jeden Schritt, den sie auf dem Weg zum Erfolg machen, als Verletzung betrachtet, die die Männer schädigt,
die sie auf ihrem Weg hinter sich läßt (die sie hinter sich lassen muß, in einer Gesellschaft,
in der Erfolg als das Besiegen anderer Menschen definiert wird).
Margaret Mead
Die doppelte Aufgabe
Wie kommt es, daß Frauen viel seltener als Männer gesellschaftliche Spitzenpositionen erreichen? Wie kommt es, daß wir, je höher der Status eines Berufes ist, desto weniger Frauen antreffen? Ein Mangel an Intelligenz kann es nicht sein und auch mögliche psychische Unterschiede wie »verbale Fähigkeiten« oder »räumliches Sehvermögen« bieten ― wie sich zeigt ― keine Erklärung.
Brown [84] beobachtete, wie bei Mädchen kurz vor und während der Pubertät eine dramatische Wende in ihren Interessen eintrat: Plötzlich begannen sie, ein ausgesprochenes Faible für »weibliche« Aktivitäten zu entwickeln. In israelischen Kibbuzim wurde bewußt versucht, Mädchen genauso wie Jungen für leitende Positionen zu begeistern, doch hatten Mädchen auf der Realschule auf einmal kein Interesse mehr an Politik und intellektuellen Tätigkeiten.[85]
Und auch Lehrkräfte an unseren Schulen entdeckten, daß viele Mädchen, die erfolgreich in der Schule waren, in einem bestimmten Alter sich plötzlich nicht mehr anstrengten und den Wunsch bekamen, von der Schule abzugehen, beziehungsweise die Schule eher als einen Ort zu sehen, um Gleichaltrige kennenzulernen, denn als Ausbildungsstätte für einen zukünftigen Beruf.
Wie kommt das? Mirra Komarovsky wies schon 1946 auf die doppelte Aufgabe hin, vor der junge Frauen stehen, nämlich Leistungen zu erbringen, aber gleichzeitig »weiblich« zu bleiben, obwohl in unserer Gesellschaft das Erbringen von Leistungen als männliche Beschäftigung gilt.[86] Leistungen lassen Männer »sexy« wirken und Frauen geradezu unattraktiv, sagt Magaret Mead.[87] Bei ihrer Befragung von jungen Frauen in der Ausbildung stellte Komarovsky dann auch fest, daß 40% der Studentinnen den Wunsch hatten, sich bei Verabredungen mit Männern dümmer zu stellen, als sie tatsächlich waren, d. h. nicht zu erzählen, wenn sie in einer Prüfung sehr gut abschnitten, so zu tun, als wüßten sie über ein bestimmtes Thema nichts, ein Thema abzubrechen, sobald sie merkten, daß sie mehr wußten als der Mann, mit dem sie sich unterhielten, und ganz allgemein im Gespräch dem Mann das letzte Wort zu lassen.
Die Arbeit von Martina Horner
Martina Horner hat bei der Erforschung der Gründe, die begabte und intelligente Frauen davon abhalten, sich weiterzuentwickeln,[88] wichtige Arbeit geleistet. Diese Gründe sind sicher nicht allein darin zu suchen, daß Frauen ― wie immer behauptet wird ― nun einmal andere Interessen hätten als Männer. Nachweislich kann man bei Jungen, die in der Schule gut sind, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, daß sie später in der Gesellschaft genauso erfolgreich sein werden, während bei Mädchen, die dieselben Zensuren erreichen, sich eine Voraussage als äußerst unsicher erweist.
Martina Horner legte jungen Männern und Frauen, die noch an einem College studierten, einen Test vor. Sie bat die Frauen, eine Geschichte zu schreiben, die mit folgendem Satz begann: Am Ende der Examenszeit stellt sich heraus, daß Anne als Beste in ihrer Medizinstudentengruppe abschneidet. (In Amerika wird an Schulen oft mit Ranglisten gearbeitet, die zeigen, wer die/der Beste in der Klasse ist.) Die Männer bekamen den gleichen Satz vorgegeben, nur mit dem Unterschied, daß die Hauptperson jetzt John hieß. Beim Auswerten der von Studentinnen geschriebenen Geschichten stellte sich heraus, daß die Frauen ihre Anne-Geschichten meist negativ enden ließen, z. B.: Anne hörte mit ihrem Studium auf, um ihrem Freund bei seinem Studium zu helfen. Und viele Frauen beschrieben Anne als einsame, neurotische oder harte und aggressive Frau.[89] Horner ordnete die Geschichten Kategorien zu und kam zu vier verschiedenen Reaktionsmustern :
- a) heiraten, einsam und isoliert zu sein.
- b) Konflikte mit und Zweifel an der eigenen Normalität oder Weiblichkeit oder ein Schuldgefühl über den Erfolg.
- c) Leugnen der eigenen Verantwortlichkeit für den Erfolg. (Es war nur Zufall, oder es stimmte nicht wirklich.)
- d) Merkwürdige Reaktionen wie Feindseligkeit oder Verwirrung. Zum Beispiel: Anne wird überfallen und ist für den Rest ihres Lebens behindert.
Wie Horners Untersuchung ergab, verbanden 65% der Frauen Annes Erfolg mit negativen Bildern. Horner nannte das »die Angst, Erfolg zu haben«. Bei den Männern waren nur bei 10% der John-Geschichten ähnliche negative Folgen zu verzeichnen.
Als die Untersuchung später wiederholt wurde, bestätigten sich die Ergebnisse; außerdem zeigte sich, daß die von männlichen Studenten erzählte Anne-Version noch negativer war als die der Frauen und außerordentlich feindselige Bemerkungen enthielt.
Ein Beispiel aus Homers Folgeuntersuchung:
»Sie ist so durcheinander, daß sie es feiert, indem sie sich von allen Jungen vögeln läßt. Annes Zukunft wird so aussehen, daß sie eine Hure werden wird.«
Wenn Frauen die John-Geschichte erzählten, bestätigten sie das männliche Bild; die meisten Frauen planten eine glückliche Zukunft für John mit gesellschaftlichem Erfolg und erfülltem Privatleben.
Horner betont, daß die »Angst, Erfolg zu haben« nicht dasselbe sei, wie versagen zu wollen. Den Frauen, die hohe Angst-Werte aufwiesen, fehlte es sicher nicht an Ehrgeiz, im Gegenteil. Es waren Frauen, die eigentlich weiterkommen wollten und auch weiterkommen konnten, aber durch ihre verinnerlichte Erwartung, daß sie für den Erfolg einen hohen Preis zu zahlen hätten, daran gehindert wurden. Auffallend war, daß Frauen in »gemischten« Gruppen schlechtere Studienergebnisse erzielten, beziehungsweise bei Tests schlechter abschnitten, während dieselben Frauen erfolgreicher waren, wenn sie nicht konkurrieren mußten, vor allem nicht mit Männern.[90]
Bei einer späteren Untersuchung [91] wurden Mädchen über einen längeren Zeitraum in ihren Schulleistungen beobachtet. Dazu wurde eine Schule ausgesucht, die für ihre strengen Auswahlkriterien bekannt war; die dort zugelassenen Mädchen waren ehrgeizig, stark motiviert und hatten bis dahin sehr gute Leistungen gezeigt. Horner fand heraus, daß 75% dieser Mädchen hohe »Erfolgsangst«werte aufwiesen?[92] Wie die Untersuchung ergab, hatten die Mädchen z. B. die Angewohnheit, ihre guten Studienergebnisse zu verschweigen und häufiger zu erzählen, daß sie irgendwo durchgefallen seien. Je erfolgreicher die Mädchen waren, desto stärker nahm diese Angewohnheit zu. Ferner stellte sich heraus, daß der größte Teil der Studentinnen nach und nach ihre Zukunftspläne in eine »weiblichere« Richtung änderten, z. B. lieber zu Jura wechselten statt Medizin zu studieren, weil das als »weiblichere« Karriere angesehen werden würde. Viele Mädchen änderten ihre Pläne für ein naturwissenschaftliches Studium und wählten »sanftere« Fächer wie Sprachen, Kunst oder Geschichte. Und einige Mädchen gaben den Gedanken an ein Studium und eine Berufslaufbahn ganz auf. Nur 12% der Mädchen änderten ihre Pläne dahingehend, daß sie sich ehrgeizigere und traditionell eher männliche Ziele steckten. Das waren hauptsächlich Frauen, die verhältnismäßig wenig Erfolgsangst aufwiesen.
Der Einfluß von Beziehungen
Frauen auf die Beeinflussung durch ihre Umgebung zu untersuchen, führt zu interessanten Ergebnissen. Dieser Einfluß hängt unter anderem davon ab, was die betreffenden Personen von typisch »männlichen« Berufen für Frauen halten. Rossi [93] legte Frauen eine Liste sogenannter »männlicher« Berufe vor, wie z. B. Architekt, Manager, Professor, naturwissenschaftlicher Forscher, und fragte sie, ob sie sich vorstellen könnten, diese Berufe zu ergreifen, und was die anderen in ihrer Umgebung wohl davon hielten. 68% der Frauen meinten, für sich einen »männlichen« Beruf zu akzeptieren, 65% waren der Auffassung, daß ihre Mütter es auch gut fänden; 60% erwarteten von ihren Vätern Toleranz, 59% meinten, daß andere Frauen in ihrem Alter und mit ihrer Qualifikation das anstreben würden, und nur 50% glaubten, daß der ihnen nahestehende Mann (Freund oder Ehepartner) es gut fände, wenn sie einen »männlichen« Beruf ergriffen.
Die Frauen sollten damit Recht behalten, wie sich herausstellte. 1963 jedenfalls ergab eine Untersuchung, daß die Mehrheit der akademisch gebildeten Männer der Meinung war, Frauen sollten sich nicht für eine Karriere entscheiden, die schwer mit der Erziehung von Kindern zu vereinbaren sei, und müßten aufhören zu arbeiten, wenn die Kinder noch klein seien. Zugleich hielten sie mehr Unterbringungsmöglichkeiten für Kinder oder besondere Maßnahmen zur Bestärkung der Frauen, bessere Stellungen einzunehmen, nicht für erforderlich. Ein großer Teil der Männer war jedenfalls nicht zu Veränderungen im eigenen Privatleben und der Karriere bereit, die den Frauen ebenfalls eine Berufsausübung erleichterte.[94]
Die Angst der Frauen, Erfolg zu haben, ist also nachweislich sicher nicht irreal. Während junge Frauen diese Angst noch in phantasievollen Worten beschreiben, haben ältere, erfolgreiche Frauen eine ziemlich realistische Einschätzung von dem, was uns als Frauen erwartet, wenn wir uns als gleichberechtigt in die Männerwelt begeben. Eine ältere Frau ergänzte die Anne-Geschichte; diesmal war Anne eine erfolgreiche Anwältin:
»Unverheiratet, weil sehr wahrscheinlich die meisten Männer das Gefühl der Bedrohung, das ein intelligentes, aggressives Mädchen bei ihnen hervorruft, nicht ertragen können. Sie ist hübsch, gut angezogen, aber ziemlich hart. Sie herrscht zuviel. Sie hat Männern, aber auch allgemein Menschen gegenüber eine defensive Haltung entwickelt, weil sie ihr Recht, Anwältin zu sein, verteidigen muß. Natürlich ist sie sehr fachkundig.«[95]
Auch Horner hat den Einfluß verschiedener Beziehungen auf die Erfolgsangst von Frauen untersucht. Was den Einfluß der Eltern angeht, bestätigte sich, was Komarovsky bereits vorher herausgefunden hatte: viele Eltern hatten ihre Mädchen früher vor allem ermutigt und geschätzt, wenn sie gut in der Schule waren, später aber änderten sie ihre Haltung und machten sich darüber Sorgen, ob ihre Töchter wohl ihren vagen Vorstellungen von »Weiblichkeit« entsprächen und Aussichten auf eine Heirat hätten.[96] Aber diese veränderte Einstellung der Eltern hat erwiesenermaßen kaum Einfluß auf die Motivation der Mädchen. Einige junge Frauen gaben sogar an, durch das negative Vorbild ihrer Mütter in ihrer Ausbildung weiter angetrieben worden zu sein; sie wollten dem Schicksal ihrer Mütter entkommen.
Doch der Einfluß männlicher Freunde und Gleichaltriger war groß. Frauen, die viel Erfolgsangst zeigten, ihre beruflichen Pläne änderten und sie in eine »weiblichere« Richtung lenkten, hatten entweder keinen festen Freund (den sie aber wahrscheinlich haben wollten) oder aber einen, der mit Karrierefrauen nichts im Sinn hatte. Die meisten Frauen, sagt Horner, haben durch ihre Sozialisation gelernt, ihrem Selbstwertgefühl zuliebe abhängig zu sein von dem, was andere von ihnen denken, und vertrauen wenig darauf, es auch auf eigene Faust zu schaffen.[97] So zeigte sich, daß erfolgreiche Frauen meist annahmen, ihr Erfolg sei ein Zufall gewesen, während Männer eher der Meinung waren, sie hätten ihn ihren eigenen Leistungen zu verdanken.[98] Mädchen, die ihr Studium fortsetzten und auch weiterhin einen Beruf anstrebten, hatten eine geringe Erfolgsangst. Sofern sie hohe Erfolgsangst zeigten, hatten sie aber Freunde, die sie ermutigten weiterzumachen. Schließlich glauben auch einige Männer, daß eine Frau, die sich entfalten kann, eine interessantere Ehepartnerin für sie sein wird.
Was führt nun dazu, daß Frauen nicht von ihrem Freund oder Verlobten behindert werden? Sofern der Mann seine Frau oder Freundin ermutigte, sich weiterzuentwickeln, waren sich typischerweise beide einig darin, daß er der Intelligentere von beiden sei.«[99] In der Gruppe der Frauen, die ihr Studium vernachlässigten, hatten Frauen oftmals die Angst, es könne sich herausstellen, daß sie die Intelligentere von beiden sei, also ein Grund, sich zu drosseln. Zumindest in Situationen, in denen es um direkte Konkurrenz geht und direkte Vergleichsmöglichkeiten vorhanden sind, z. B. wenn beide dasselbe studieren. Frauen halten sich in diesen Situationen offenbar zurück, um den Mann, mit dem sie eine Beziehung haben, nicht zu übertrumpfen.
Das erklärt viele unbewußte Motive, die bei der heterosexuellen Partnerwahl eine Rolle spielen. Es ist nicht nur das Bedürfnis des Mannes, eine neben sich zu haben, in der »sich die wahre Größe seines Egos doppelt widerspiegelt«.[100] Auch Frauen haben unbewußt Beweggründe, einen Mann zu suchen, zu dem sie aufschauen können, wobei vornehmlich der vermeintliche Abstand zwischen ihrer und seiner Intelligenz den Spielraum ihrer Weiterentwicklung bestimmt, ohne daß die Beziehung dabei in Gefahr gerät.
Wählen zwischen Ehrgeiz und Beziehung
Nicht umsonst bekommen viele Frauen, die in einer festen Beziehung mit einem Mann leben, sobald sie sich weiterentwickeln, Angst, es könne sie ihre Beziehung kosten. Und für viele Frauen ist die Emanzipation der letzten zehn/fünf zehn Jahre mit Phasen der Angst einhergegangen. Aber jener Spielraum von Frauen für die eigene Entwicklung, der mit dem vermeintlichen oder wirklichen Unterschied zu einem Mann zusammenhängt (sofern sie mit einem zusammenleben), findet sich auch in anderen gesellschaftlichen Schichten der Bevölkerung wieder. Ich habe das beim Unterricht von Frauen im sogenannten »Zweiten Bildungsweg« beobachten können.[101]
Häufig nahmen Männer das »Wieder zur Schule gehen« ihrer Frauen anfangs kaum ernst, mit der Zeit aber wurden sie immer ärgerlicher. Sie reagierten mit Sabotage, angefangen beim Fernseher laufenlassen, wenn sie ihre Hausaufgaben machen, sowie höhnischen Bemerkungen bis hin zu Mißhandlungen. Einige Frauen, die das Gefühl haben, ihre Weiterbildung könne sie ihre Ehe kosten, hören wieder auf. Anderen Frauen gelingt es manchmal weiterzumachen, indem sie sich gegenseitig unterstützen, oder sie schlagen wahre Purzelbäume, damit er sich nur ja genügend versorgt und bewundert fühlt und sie nicht behindert. Sofern Männer selbst keine gute Ausbildung und keine großen Zukunftsperspektiven haben, ist der Spielraum, den sie Frauen lassen können, ohne sich selber bedroht zu fühlen, noch kleiner als bei Männern aus der Mittelschicht, die mehr Möglichkeiten haben, sich als Mann zu fühlen. Um selbst einen größeren Spielraum zu bekommen, neigen also viele Frauen häufig dazu, ihre Männer um so mehr zu hätscheln.
So schrieb zum Beispiel die bekannte Schriftstellerin Sylvia Plath, die später Selbstmord beging, als ein Buch mit Gedichten ihres Mannes von einem Verlag angenommen war:
»Ich bin glücklicher, als wenn sie mein Buch veröffentlichten! Ich habe so eng mit ihm bei diesen Gedichten zusammengearbeitet und sie so oft von neuem getippt, daß ich ganz euphorisch darüber bin. Ich bin so froh, daß sein Buch als erstes angenommen wurde. Das macht es mir soviel leichter, wenn meines herausgegeben wird. Ich kann mich dann viel mehr darüber freuen, wenn ich weiß, daß Ted vor mir ist.«[102]
Kompetenz, Erfolg, Konkurrenz und intellektuelle Leistungen scheinen mit Weiblichkeit grundsätzlich unvereinbar zu sein, sagt Martina Horner.[103] Auch die neue Freiheit für Frauen habe daran wenig ändern können, genauso wenig wie Wahlrecht, Hosen und Zigaretten es konnten oder das Verschwinden der Doppelmoral auf sexuellem Gebiet. Es scheint eher, als werde der Konflikt größer.
Ethnische Unterschiede und Klassenunterschiede
Über die Frauen mit geringer Erfolgsangst wissen wir bedauerlicherweise wenig. Die Klassenzugehörigkeit spielt hierbei eine Rolle. Mädchen aus den unteren »Klassen« haben weniger Angst, erfolgreich zu sein, sind aber auch weniger motiviert, Ehrgeiz zu entwickeln. Keine der Untersuchungen gibt Auskunft darüber, ob zu den Frauen mit geringerer Erfolgsangst auch die Frauen gehören, die dem »Zwang zur Heterosexualität« entkommen sind und keine Angst haben, mit Männern in Konkurrenz zu treten, weil sie zu keiner Heirat oder festen heterosexuellen Beziehung geneigt sind.
Eins der interessantesten Ergebnisse der von Martina Horner durchgeführten Untersuchungen zeigte sich in dem Unterschied zwischen weißen und schwarzen Frauen in Amerika. Während 46% der weißen Frauen Erfolgsangst hatten und 10% der weißen Männer, war dieses Verhältnis bei schwarzen Frauen und Männern fast genau umgekehrt: Schwarze Frauen zeigten zu 29% Erfolgsangst und schwarze Männer zu 67%. Dieser Umstand zog weitere Untersuchungen nach sich.[104] Sie ergaben, daß schwarze Männer in einer Situation, in der sie mit weißen Männern konkurrieren mußten, dieselben Verhaltensweisen an den Tag legten wie weiße Frauen. Auch sie spannen Geschichten weiter, mit den gleichen negativen Bildern, nur diesmal über Sam, der in seiner Klasse an der Spitze der Liste stand. Sam erwartete wahrscheinlich genauso zu Recht wie Anne, daß seine weißen Studienkollegen und -kolleginnen darauf aus sein werden, ihm das Leben sauer zu machen, wenn er als Sieger aus dem Konkurrenzkampf hervorgeht. Andere konnten, so wie bei Anne, nicht glauben, daß ihr Sam es aus eigener Kraft geschafft habe. Er müsse schon eine Menge geschummelt haben, um das beste Ergebnis in der Klasse zu erzielen.[105]
Schwarze Frauen zeigten viel weniger Erfolgsangst. Es gibt einige Hypothesen über die Gründe, aber bewiesen ist noch wenig. So lautet eine, daß schwarze Frauen in Amerika die Unterordnung von Frauen viel weniger selbstverständlich finden, weil sie vergleichsweise mehr an einen Elternteil gewöhnt sind, sprich an Familien, bei denen Mütter die Haushaltsvorstände sind und Frauen auch stark und kompetent sein müssen, um sich zu helfen. Eine andere mögliche Erklärung könnte sein, daß es für schwarze Frauen derart unwahrscheinlich ist, jemals Ärztin werden zu können, daß sie sich nicht so stark mit der Person im Test identifiziert haben. Dafür könnte auch das verstärkte Auftreten von Erfolgsangst bei schwarzen Frauen höherer Einkommens- und Bildungsschichten der Bevölkerung sprechen.[106]
Der Preis für das Unterdrücken von Ehrgeiz
Ehrgeizige und intelligente Frauen, die sich aber nicht weiterentwickeln, zahlten einen hohen Preis, sagt Horner, und zwar nicht nur den Preis ihrer Karriere. Horner fand bei Frauen mit einer großen Erfolgsangst, die ihre Weiterentwicklung aufgegeben hatten, eine ganze Skala von Frustrationen, Feindseligkeit und unterdrückter Aggression. In den Anne-Geschichten, die diese Frauen geschrieben hatten, tauchten viele Bilder von Eifersucht, Schadenfreude und Groll auf und Versuche, andere zu manipulieren.
Aber auch Männer zahlen einen Preis für das Ausgerichtetsein auf Konkurrenz. Hoff mann behauptet, daß die Ausrichtung bei vielen Männern über ein Kompetenzbedürfnis hinausgehe und in eine neurotische Angst zu versagen umschlage.[107] Und Hollender nimmt an, daß Männer, um ihr starkes Selbstwertgefühl zu behalten, ständig etwas leisten müßten und zwanghaft immer von neuem die sich ständig verändernden Normen von »männlichem« Erfolg erfüllten.[108] Die Männer mit einem hohen Selbstwertgefühl seien zugleich auch die Männer mit einem starken Bedürfnis nach Anerkennung durch andere. »Männlichkeit« hat seinen Preis.
9. Nachtrag und Fortsetzung
Sozialisation geht weiter
In diesem Kapitel habe ich eine Übersicht über einige Einflüsse gegeben, u. a. der Eltern, Medien und der Schule, die uns zu Frauen und Männern machen. Jedem Aspekt wäre noch eine Menge hinzuzufügen und wurde bereits auch gesagt, deshalb verweise ich hier auf die Quellen für ein weiterführendes Studium. Über den Zwang zur Heterosexualität ließe sich noch sehr viel sagen,[109] auch über den Einfluß der Jugendsubkulturen.[110] Ich könnte mit der Analyse von Rubin [111] fortfahren, die sie über die ersten Jahre einer Ehe angestellt hat. Sie kam zu folgendem Ergebnis: während Männer meist glauben, einen Teil ihrer Freiheit mit der Ehe aufzugeben, und sich dagegen wehren, stellt sich am Ende heraus, daß es vor allem die Frauen sind, die ihre Freiheit aufgegeben haben. Eine beiderseitige Anpassung, die auf der ungleichen Verteilung der Macht beruht. Wiederum ein Sozialisationsprozeß. Ich könnte von der Anpassung der Frauen an die Anforderungen, die bezahlte Arbeit in einer Männerumgebung an sie stellt, reden, von dem Eiertanz, wie ein Mann zu arbeiten, zugleich aber eine Frau bleiben zu müssen, damit sie akzeptiert werden. Ich könnte von der Lebensmitte, den Wechseljahren sprechen oder von der »midlife-crisis« der Männer, die bei der heutigen wirtschaftlichen Unsicherheit und der Arbeitslosigkeit immer früher und stärker einzutreten scheint. Ich könnte von dem Druck reden, der auf Männer ausgeübt wird, damit sie weiter produzieren und Leistungen erbringen, und von dem körperlichen Preis, den sie dafür bezahlen.[112] Da dieses Buch eine Einführung bleiben muß, belasse ich es in diesem Kapitel dabei.
Mit dem skizzierten Sozialisationsprozeß sind zudem allein die groben Züge angedeutet. Ich gehe davon aus, daß kaum jemand sich in allen Teilen wiedererkennen wird. Glücklicherweise weichen die individuellen Sozialisationsprozesse stärker voneinander ab, als es mit den Regeln zu erklären wäre. Gewiß ist auch nicht alles für jede/jeden gleich zu erkennen, weil sich zweifellos vieles in der Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern verändert. Wäre das nicht der Fall, so wäre dieses Buch nicht entstanden. Erst wenn sich etwas verändern kann, wird diese Veränderung vorstellbar. Weil sich eine ganze Bevölkerung nicht gleichzeitig verändert und nicht wie eine einzelne Frau ans Ziel gelangt, kann man von einer großen »Ungleichzeitigkeit« sprechen. In vielen großstädtischen Kreisen junger Leute wird das meiste Material, das ich in diesem Kapitel zusammentrug, und die Sicht, die ich entwickelte, als zu negativ, zu übertrieben empfunden werden. Ich hoffe es, denn dies bedeutet, daß wir in Bewegung sind.
Verhältnisse verändern
Eine starke Veränderung der Geschlechtsstereotypen ― nicht zuletzt durch den Einfluß der Frauenbewegung ― läßt sich nachweisen. Wie ungerecht die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist, wird einem großen Teil der Bevölkerung immer mehr bewußt. Zwar geht es Frauen oftmals eher zu schnell als zu langsam, dennoch findet es ein großer Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung richtig, daß sich etwas ändert.
Trotz der Wirtschaftskrise gibt es mehr Frauen, die außer Haus arbeiten und auch arbeiten wollen.[113] Immer mehr Männer und Frauen finden es richtig, daß Frauen mit Kindern auch einen Beruf haben. Männer übernehmen im Verhältnis zu früher mehr Arbeiten im Haushalt und bei der Kindererziehung, obwohl Männer mit dem Durchbrechen der Rollenverteilung deutlich langsamer vorankommen als Frauen. Aber im Bereich Haushalt und Kindererziehung scheint sich die »Rollendurchbrechung« für Frauen ganz sicher, aber auch für Männer, unmittelbar zu lohnen. Andere Aspekte der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern stellen sich als zäher heraus. So ergaben Untersuchungen, daß sich immer mehr Frauen scheiden lassen und immer mehr Frauen ökonomisch unabhängig sein möchten. Immer weniger Frauen heiraten, wenn sie aber heiraten, dann noch immer einen Mann, der durchschnittlich zweieinhalb Jahre älter ist. Wie im Kapitel über die Angst, Erfolg zu haben, bereits hervorging, ist das Bedürfnis von Frauen, ihren Freiraum für die eigene Weiterentwicklung zu behalten und diese höher zu bewerten, wenn ihre »Partner« einen erkennbaren Vorsprung haben, nicht nur als Gewohnheit einzustufen, sondern muß eine tiefere Ursache haben. Unter der Oberfläche der Rollenverteilung verbirgt sich eine tieferliegende Schicht von Vorstellungen, Bedürfnissen und Trieben, für die die Rollenverteilung nicht verantwortlich ist.
Damit komme ich zur letzten Anmerkung, zu der Kritik am Rollenbegriff, und leite so zum nächsten Teil über.
Kritik am Rollenbegriff
Viele Leute, die glauben, Geschlechtssozialisation bestehe darin, etwas zu »erlernen«, also könnten wir Gewohnheiten mit etwas Mühe und Vernunft auch wieder verlernen, benutzen dabei den Begriff »Rolle«. Dieser Begriff impliziert, daß wir »spielen«, daß wir etwas spielen, das uns nicht »eigen« ist. Teilweise ist das auch so. Eine Schicht unseres Verhaltens können wir so ablegen. Hohe Flacken und enge Röcke können wir ausziehen. Männer können beschließen, mehr mit ihren Kindern zu unternehmen. Frauen können beschließen, trotz ihres Schuldgefühls, doch weiterzuarbeiten, wenn sie Kinder bekommen. Aber Rubin zeigt in ihrem Buch »Intimate strangers« auch, daß ― selbst wenn alle Umstände günstig sind, also beide gleich motiviert sind und von allen Seiten unterstützt werden ― ein »Rollen«tausch doch nicht so einfach ist, wie es scheint.[114] Ein Beispiel: Als Rubin und ihr Ehemann beschlossen, daß sie vorläufig das Geld verdienen und er vorübergehend seinen Beruf aufgeben und den Haushalt machen und schreiben sollte, gerieten sie beide in eine starke emotionale Krise. Sie fiel in ein »weibliches« Gefühl von Verbitterung zurück, Verbitterung darüber, daß der ganze Druck auf ihren Schultern lastet und niemand für sie sorgt. Er begann daran zu zweifeln, ob er wohl als Mann noch etwas wert sei.
Wenn ein Ehepaar, das alle Voraussetzungen hat ― keine Kinder für die gesorgt werden muß, beide ganz und gar von dem überzeugt, was sie tun, beide mit der Aussicht auf Belohnung, genügend Geld, um ohne Schwierigkeiten die Rollen zu tauschen und beide mit der Einsicht, daß es so richtig sei ― wenn so ein Ehepaar schon in eine Krise gerät, wie muß es dann erst bei Leuten aussehen, die weniger glücklich dran sind? Mit dem Rollenbegriff haben wir lediglich die äußerste Schicht der Zwiebel erfaßt. Es ist noch etwas anderes dahinter. In einem bestimmten Maß ist eine Rolle nicht nur das, was wir haben, und somit nicht einfach nur abzulegen; in einem bestimmten Maß sind wir das, was wir gelernt haben, geworden.
Das ist der schwerwiegendste Einwand, der gegen den Rollenbegriff [115] und eine zu vereinfachende Sicht von Sozialisation vorgebracht werden kann. Außerdem greift eine Sozialisationstheorie zu kurz, wenn sie davon ausgeht, daß Jungen und Mädchen etwas anderes lernen ― und zwar getrennt voneinander ― ohne dabei die ungleichen Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Solch vereinfachende Sozialisationstheorie erklärt nicht den beinahe universellen Frauenhaß, sie erklärt nicht die erzwungene Heterosexualität unserer Gesellschaft. Und sie sagt auch nichts über die Frage, warum vernünftige, einsichtige Männer solche Schwierigkeiten im Umgang mit starken Frauen haben, oder warum sie es nicht ertragen können, wenn die Frau, mit der sie zusammenleben, mehr verdient als sie selbst, während sie daran doch ein Interesse haben müßten. Sie erklärt nicht, warum so viele Frauen in Beziehungen bleiben, die sie unterdrücken, oder sogar von neuem nach solchen suchen.
Mutterschaft, sagt Chodorow, können wir nicht durch Imitation allein erlernen.[116] Das Ausführen der Gesten reicht nicht aus. Frauen bekommen Kinder nicht nur, weil sie es bei ihrer Mutter gesehen haben, sie bekommen sie auch, weil sie ein starkes Bedürfnis nach einer engen Beziehung zu einem eigenen Kind haben. Aber Mutterinstinkte? Nein, sagt Chodorow, sondern eine Folge der allerersten »Beziehung«, die wir eingehen, die Beziehung mit unserer Mutter, die, wie wir feststellen, eine Frau ist. Davon handelt der folgende Teil dieses Buches.