TEIL III Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die Psychoanalyse

Alle Frauen werden wie ihre Mütter, das ist ihre Tragik.
Ein Mann nie, das ist die seine.
Oscar Wilde

Odio la Parola Madre (Ich hasse das Wort Mutter)
Wenn sie glauben, wir werden unseren Töchtern sagen, daß sie aufhören sollen zu schreien ―
dann irren sie sich.
Wenn sie glauben, wir werden unsere Töchter abends ins Haus einsperren ―
dann irren sie sich.
Wenn sie glauben, wir werden ihnen Handarbeiten geben und sie wie Puppen anziehen ―
dann irren sie sich.
Abends halten wir unser Herz fest, wir träumen unruhig.
Wenn unsere Töchter nicht zu Hause sind,
schrecken wir bei jedem Geräusch von draußen hoch,
aber ... Macht,  glaube   nicht,   daß  du die Mütter benutzen kannst,
um die Töchter zu brechen. Sie tun, was wir nicht haben tun können.
Nunni, eine Italienerin

1. Einleitung

Subjektive und objektive Motive

»Das Persönliche ist politisch« ― das ist ein bekannter feministischer Slogan, oft benutzt und viel mißbraucht. Als Frauen sich ihrer Unterdrückung bewußt wurden, war von Anfang an klar, daß es sich bei dieser Unterdrückung um mehr handelte als nur um eine Frage von gleichen Rechten und gleichen Löhnen. Nach und nach deckten wir die Aspekte auf, die unser Dasein tiefgreifend beeinflußten: der Zwang zur Heterosexualität, der Zwang zur Mutterschaft. Aber mal angenommen, der Druck von außen fiele weg, wären Frauen dann nicht mehr heterosexuell, und würden sie dann nicht mehr Mutter werden wollen? Sicher würde es etwas ausmachen. Denn wenn Frauen die kleinste Aussicht auf ein selbständiges ökonomisches Dasein haben, steigen die Ehescheidungsraten. Der Anteil an Scheidungen, die von Frauen eingereicht werden, nimmt zu. In Rußland, in China und bei uns. Und die Geburtenziffer fällt so lange, bis Regierungen sich Sorgen darüber zu machen beginnen, daß »das Volk« ausstirbt.
Aber es steckt mehr dahinter. Es gibt tieferliegende Antriebe und Beweggründe als nur den Druck von außen. Da dieser jedoch existiert, werden wir niemals sagen können, daß Frauen heiraten oder Hausfrauen werden und Kinder bekommen, ist zu soundsoviel Prozent auf den Druck von außen zurückzuführen und zu soundsoviel Prozent auf eigene Motive und Bedürfnisse. Wir können das nicht einfach voneinander trennen, weil wir nicht in einer von Regeln untangierten Welt leben und die Gesellschaftsstruktur außerdem unsere Beweggründe und Antriebe über unsere Sozialisationsprozesse formt.
Zu Beginn der Frauenbewegung habe ich mich mehr für den Einfluß der gesellschaftlichen Strukturen auf das individuelle Verhalten interessiert. So schob ich das Männerverhalten zum großen Teil unmittelbar auf Interessen, die Männer an der Unterdrückung von Frauen hatten: z. B. die billige Versorgung durch Hausarbeit, die nur mit Kost und Logis entgolten wird. Zum großen Teil schob ich das Männerverhalten außerdem unmittelbar auf die Forderungen, die die Arbeit an Männer stellt. Vieles im Frauenverhalten sah ich als direkte Widerspiegelung davon: Frauen machen den Haushalt für Männer, weil sie kaum andere Möglichkeiten haben und es das ist, was Männer, die die Macht haben, von ihnen wollen.
Aber die Dinge sind komplizierter. Nehmen wir beispielsweise den Lohnbereich: So müßten verheiratete Männer eigentlich ein Interesse daran haben, daß ihre Frauen möglichst viel verdienen, schließlich stünde ihnen zusammen dann mehr Geld zur Verfügung. Tatsache ist jedoch, daß bei Männern die subjektiven Interessen manchmal schwerer wiegen als die objektiven; sie fühlen sich besser, wenn ihre Frauen weniger verdienen als sie.[1]
Warum nun empfindet es ein Mann als bedrohlich, wenn die Frau, mit der er zusammenlebt, mehr verdient als er? Weil er sein Gesicht verliert, seine Macht als Ernährer, könnte eine Antwort sein. Aber warum sollte Gleichwertigkeit eine Bedrohung darstellen, warum fürchten so viele Männer die Macht von Frauen, während so viele Frauen die Macht der Männer anscheinend als selbstverständlich hinnehmen?
Bei derartigen Fragen kommen wir nicht weiter mit den simplen Lerntheorien, mit der Fragestellung, daß Männer nun einmal immer ihre Väter als Vorbild gehabt hätten und es schwer sei, alte Gewohnheiten wieder abzulegen. Wir müssen tiefer gehen, auf die Ebene der Sehnsüchte, Ängste und Träume, die nicht so rational und uns meist nicht bewußt sind.
Die Psychoanalyse ist eine Denkrichtung, die sich vor allem mit der Entstehung des »Unbewußten« beschäftigt, mit unseren präverbalen Motiven und Trieben, um die wir kaum wissen, weil wir sie als Teil unseres tiefsten Ichs erfahren, ohne Worte dafür zu haben.

Das Spannungsverhältnis zwischen Feminismus und Psychoanalyse

Das Verhältnis zwischen der Freudschen Psychoanalyse und den stärker feministisch ausgerichteten Theorien über die »Geschlechtssozialisation« ist kein einfaches. Die Psychoanalyse verschafft uns zwar Einblicke in die tieferen Triebsstrukturen, in das Entstehen der Geschlechtsidentität, doch hat sie sich herzlich wenig mit den Einflüssen außerhalb der klassischen Mutter-Vater-Kind-Beziehung befaßt. Als hinge das, was Mütter sind, und das, was Väter tun, nicht eindeutig damit zusammen, wie die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern in der jeweiligen Gesellschaft geregelt ist. Als bestünde die ungleiche Machtverteilung zwischen Frauen und Männern nicht, beziehungsweise sei so belanglos oder so selbstverständlich und »natürlich«, daß wir sie nicht zu analysieren brauchten. Sofern Theorien über Geschlechtssozialisation von einem Erlernen der Rollen sprechen, lassen sie zwar den Einfluß von Gesellschaftsstrukturen nicht außer acht, doch bleiben sie oftmals an der Oberfläche, wenn es um das Ausmaß der »Verinnerlichung« gesellschaftlicher Ungleichheit geht, um das Ausmaß, in dem wir tatsächlich unsere Rollen nicht mehr spielen, sondern zu ihnen geworden sind und sie als unseren Charakter, als unsere Persönlichkeit erfahren. Der Sozialisationsprozeß als ganzes stellt für mich eine Einheit dar. Der Druck von außen, damit wir uns den vorgeschriebenen »Rollen« konform verhalten, und die Bildung unserer Persönlichkeit in den ersten Jahren, die wir als »Frau« oder »Mann« erleben, können wir in der Theorie zwar voneinander trennen, aber in der Wirklichkeit sind dies zwei ineinandergreifende Prozesse. Das Erlernen unseres Verhaltens und die tieferen Beweggründe, die wir in unserem Unbewußten entdecken, sind meiner Meinung nach keine getrennten Dinge, sondern in eine Kontinuität eingebunden.[2]
Ist es möglich, zu einer Synthese zwischen der Theorie, die vom Einfluß gesellschaftlicher Ungleichheit ausgeht, und den Erkenntnissen der Psychoanalyse zu gelangen? Dorothy Dinnerstein und Nancy Chodorow haben hierzu meines Erachtens in den vergangenen Jahren einen großen Beitrag geleistet. Dieser dritte Teil des Buches beruht somit vor allem auf ihren Erkenntnissen. Ihre zentrale Frage lautet: Was ist mit uns geschehen, dadurch daß unsere Mutter eine Frau war? Es sind nicht sehr einfache Bücher, die sie geschrieben haben, und deshalb werde ich mich ausführlich ihrer Theorie widmen.[3] Um aber verstehen zu können, aus welcher Tradition sie entstanden ist und gegen welche sie sich abgrenzt, beginne ich diesen Teil mit einer Zusammenfassung der klassischen psychoanalytischen Ansichten über das Entstehen von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« und der späteren Reaktionen auf den Freudschen Standpunkt.

2. Die klassische Psychoanalyse

Freud und das Rätsel der Weiblichkeit

Als Freud die »Psychoanalyse« aus der Taufe hob, hatte er nicht von Anfang an eine Theorie über das Entstehen von »Weiblichkeit«. In den ersten zwanzig Jahren der psychoanalytischen Bewegung beschäftigte er sich kaum mit der Frage, welche psychosexuelle Entwicklung ein Mädchen durchlebt.[4] Erst in den zwanziger Jahren ― lt. Hagemann unter Einfluß der damaligen Frauenbewegung ― stellte er eine Theorie über »Weiblichkeit« auf.[5] Hiermit wollte er unter anderem nachweisen, daß die »natürliche« Gleichheit und Gleichwertigkeit, auch auf sexuellem Gebiet, auf die sich die Feministinnen damals beriefen, in Widerspruch zu der normalen Entwicklung stehe, die Frauen durchmachen müßten.
Freud hielt auch nicht viel von Feministinnen. »Durch den Widerspruch der Feministen, die uns eine völlige Gleichstellung und Gleichsetzung der Geschlechter aufdrängen wollen, wird man sich in solchen Urteilen nicht beirren lassen«, schrieb er 1925.[6]
Alle klassischen Standpunkte zum »Rätsel der Weiblichkeit«, sowohl von Freud als auch von Deutsch, Lampl-de Groot, Horney und Jones sind zwischen 1925 und 1933 entstanden.[7]
Danach ebbte die Diskussion ab und setzte in den sechziger Jahren erneut ein. Wie bereits festgestellt, kommen Theorien, die »Weiblichkeit« erklären wollen, nicht zufällig in Zeiten auf, in denen sich die Stellung von Frauen gerade verändert. Und ganz gleich, ob diese neue Theorie nun eine direkte Reaktion auf die Ideologie der Feministinnen in den verschiedenen Perioden ist oder eine indirekte auf die stattfindenden Veränderungen der Stellung von Frauen, historisch betrachtet, beginnen Menschen sich erst mit »Erklärungen« über die »wahre« Art von Frauen und Männern zu befassen, wenn die Verhältnisse sich verschieben. Und das geschah auch in den zwanziger Jahren, als die Frauenbewegung nicht nur das gleiche Recht auf Ausbildung und das Wahlrecht für Frauen forderte, sondern auch das Recht, sich anders zu verhalten. Während viele der ersten Suffragetten der Meinung waren, Frauen seien »von Natur« andersartige Wesen als Männer, edler vielleicht oder friedliebender, und müßten gerade deshalb das Wahlrecht erhalten, stellen Feministinnen in den zwanziger Jahren die gesamte Vorstellung von Weiblichkeit in Frage.[8] Und das in einer Zeit, in der Frauen noch kaum die ökonomische und juristische Freiheit besaßen, ihr neues Ideal zu verwirklichen. Das führte bei Männern zu Problemen, aber bestimmt auch zu akuten psychischen Problemen bei Frauen. Und darauf reagierte Freud.

Der Ödipuskomplex

Revolutionär an Freuds Denken war seine Meinung, das Kind werde »bisexuell« geboren.[9] Erst zu einem späteren Zeitpunkt komme es zu seiner/ihrer Entwicklung einer Geschlechtsidentität und werde nicht als »Frau« oder »Mann« geboren. Daß jemand heterosexuell wird, bedürfe somit genauso einer Erklärung, wie wenn jemand homosexuell wird. Das Kleinkind habe sowohl eine aktiv-männliche Seite als auch eine passiv-weibliche, sagt Freud, damit stehen ihm in der Sexualität alle Seiten offen. Eine Bewertung enthält bereits die Gleichsetzung von Männlichkeit und Aktivität und die von Weiblichkeit und Passivität. Später meinte Freud, wir sollten diese Begriffe nicht an das biologische Geschlecht [10] koppeln. Aber er selbst war zu wenig davon überzeugt, als daß er es konsequent getan hätte. Nach Freud habe das kleine Mädchen eine aktive klitorale Sexualität; er nennt sie in dieser ersten Phase »einen kleinen Mann«. Die Mutter sei für Kinder beiderlei Geschlechts die wichtigste Bezugsperson, ihr erstes Liebesobjekt.
Die Entwicklung der Geschlechter laufe in dem Moment auseinander, in dem Kinder entdecken, daß Jungen einen Penis haben und Mädchen nicht. Das sei der Beginn der »ödipalen Phase«.[11] Dem Mädchen bleibe durch die Tatsache, daß sie das männliche Organ nicht besitzt, keine andere Möglichkeit, als sich minderwertig zu fühlen.
Sie bemerke den auffällig sichtbaren, großangelegten Penis ihres kleinen Bruders oder Gespielen, erkenne ihn sofort als überlegenes Gegenstück des eigenen kleinen und versteckten Organs, und von da an sei sie dem Penisneid verfallen.[12] Sie gebe ihrer Mutter die Schuld, die sie in ihrer Phantasie ihres Penis beraubt haben muß, und das sei der Beginn der Abwendung von der Mutter als Liebesobjekt und der Hinwendung zum Vater, dem wichtigsten Penisträger in ihrer Umgebung. Dieses sei der Ursprung der weiblichen Heterosexualität, behauptet Freud. Mit dem Ödipuskomplex erklärt Freud eine Verschiebung von einer aktiven klitoralen Sexualität zu einem empfangenden, vaginalen Empfinden. Das Verlangen, wenigstens nachträglich, von ihrem Vater den begehrten Penis zu erhalten, werde in den Wunsch umgesetzt, ein Kind zu bekommen, am liebsten einen Jungen. Der Junge, der das Organ ja hat, doch wenn er ein Mädchen »ohne« sieht, Angst bekommt, daß ihm seines weggenommen werden kann, gebe seine Mutter als Liebesobjekt auf. Er glaube, daß sein Vater ihn als Rivalen sieht und ihn zur Bestrafung kastrieren kann. Er identifiziere sich dann aber mit diesem Vater, den er anfänglich als Rivalen gehaßt habe. Als Kompensation für die Aufgabe seines ersten Liebesobjektes werde er später nach einer eigenen Frau suchen, die er nicht mehr mit seinem Vater zu teilen braucht. Das sei sein Ansatz zur Bildung seiner Hetero-sexualität.[13] Aus der Asymmetrie dieses Prozesses leitet Freud auch die Asymmetrie einiger weiblicher und männlicher Eigenschaften ab.
Wie Mädchen auf die Entdeckung ihres Geschlechts reagieren, bestimme, welche Art Frau sie werden. Das Mädchen könne bei dem Vergleich zwischen sich und dem Jungen einen solchen Schreck bekommen, daß sie ihre Sexualität ganz aufgebe, sagt Freud. Sie kann aber auch weiterhin hoffen, daß sie doch noch einen Penis bekommt und einen »Männlichkeitskomplex« entwickeln. Aber sie kann auch einsehen, daß sie keinen Penis hat, ihre Mutter dafür verantwortlich machen und dann eine Bindung mit ihrem Vater eingehen. Wie Frauen sich entwickeln, ob eher aktiv und männlich oder eher passiv und weiblich, hänge also davon ab, wie sie mit der Entdeckung des genitalen Unterschieds umgehen.
Aber daneben entwickeln sich nach Freud noch weitere Unterschiede: Die Verletzung des weiblichen Egos kann dazu führen, daß Frauen eitler werden und ein größeres Bedürfnis entwickeln, geliebt zu werden. Es sei anzunehmen, daß sie neidischer werden als Männer. Bei Jungen werde sich die überwältigende Kastrationsangst in eine größere Ehrfurcht vor Autorität umsetzen, denn wer sich nicht an die Regeln hält, kann mit der Abnahme des Penis bestraft werden. (Natürlich seien das unbewußte Ängste.) Und da Mädchen keine Angst vor Kastration zu haben brauchten und damit auch nicht vor Strafe, entwickelten sie ein weniger starkes Gewissen und auch ein geringeres Gerechtigkeitsgefühl. Männer hätten den größeren Weitblick und schauten über die Familie hinaus, Frauen nicht. Und schließlich: Mädchen blieben stärker im Ödipuskomplex verhaftet, sublimierten weniger und trügen deshalb weniger als Männer zur Schaffung der menschlichen Kultur bei. Soweit Freuds Sichtweise.

Patriarch oder Revolutionär?

Man kann Freud auf verschiedene Arten interpretieren, schreibt Aafke Komter.[14] Einige Feministinnen lesen ihn als biologischen Denker (wie Ehrenreich/English [15]) und nehmen seinen Satz »Anatomie ist Schicksal« wörtlich. Aber man kann, wie Sayers es macht,[16] Freuds Theorie auch als eine symbolische Erzählung verstehen: Der biologische Unterschied hat diese Folgen, weil Kinder in einer Familie aufwachsen und zwar inmitten von Vater und Mutter. Freud macht es uns nicht leicht, zu entscheiden, ob er Geschlechtsunterschiede als eine Folge der Anatomie betrachtet oder als gesellschaftliche Konstruktion; in seinem Werk sind Belege für beide Standpunkte zu finden.
So stellt er an einer Stelle einen direkten Zusammenhang zwischen der aktiven männlichen Samenzelle her, die auf der Suche nach der passiv abwartenden Eizelle der Frau ist, und dem normalen Sexualverhalten von Menschen: der Mann, der die Frau erobert, sie ergreift und in sie eindringt.[17]
Aber in der schon genannten späteren Fußnote schreibt er auch, daß man sogar im Bereich des menschlichen Sexualverhaltens merke, wie unbefriedigend es sei, männliches Verhalten mit Aktivität gleichzusetzen und weibliches mit Passivität. Und später sagt er, es sei nicht immer leicht, zwischen dem Einfluß der Geschlechtsfunktion und dem der gesellschaftlichen Konditionierung zu unterscheiden.[18]
Auch wenn Freuds Theorie es uns ermöglicht, Geschlechtsunterschiede nicht nur als mechanische Folge der unterschiedlichen Genitalien aufzufassen, sondern auch als Folge der Reaktion des Menschen auf die unterschiedlichen Geschlechtsteile, gilt seine Theorie nur mit Einschränkungen. Das Mann- oder Frauwerden scheint sich in einem geschlossenen System abzuspielen, ohne jeden Einfluß von außerhalb der Familie. Freud beschäftigte sich auch nicht mit möglichen Abweichungen, z. B. was passiert, wenn ein Kind nicht beide Elternteile hat, oder wenn Kinder sehr viel früher oder sehr viel später erst (zum Beispiel durch das Fehlen von Geschwistern) entdecken, daß sie andere Geschlechtsteile haben. In Freuds Theorie, schreibt Flanagan,[19] haben alle Jungen Kastrationsangst, sind alle Mädchen eifersüchtig, lieben alle Jungen ihre Mutter, alle Mädchen ihren Vater, fühlen sich alle Mädchen verletzt und alle Jungen überlegen. Freud setzte die wohlhabenden patriarchalen Wiener als Norm [20] und erkannte nicht deren Historizität.
Wir können Freud mit Recht einen Patriarchen nennen, der Frauen als zweitrangige Wesen sah und eine Theorie aufstellte, die noch in dem Jahrhundert nach ihm benutzt werden konnte, um Frauen in ihre Schranken zu weisen. Wir können Freud aber mit genauso viel Recht als einen der ersten bezeichnen, der sagte, daß »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« keine angeborenen Eigenschaften seien, sondern erst in der Persönlichkeitsentwicklung geformt werden würden. Und als den »Erfinder« des Unbewußten, der Annahme, daß wir in der ersten, wortlosen Zeit unserer Existenz einige Motive und Triebstrukturen erwerben, die auch auf unser späteres Leben Einfluß behalten und einen Teil unserer Persönlichkeit ausmachen werden. Eine Entdeckung, mit Hilfe derer wir Feministinnen auch erklären können, warum die bestehende Rollenverteilung so viel zäher ist, als wir gedacht hatten, warum so viele Frauen Kinder wollen, heterosexuell werden oder warum so viele Männer Angst vor Frauen haben und Frauen hassen, aber doch abhängig von ihnen sind.

3. Kritik

Die Debatte um Horney und den Penisneid

Noch als er lebte, wurde Freud wegen seiner voreingenommenen maskulinistischen Haltung kritisiert. Alfred Adler, einst ein enger Mitarbeiter Freuds, brach 1911 mit ihm und gründete ein eigenes psychoanalytisches Institut. Adler gehörte zu den ersten Psychoanalytikern, die den Maskulinismus der bestehenden Gesellschaft verurteilten. Er erkannte, daß Jungen zu einer vermeintlichen Überlegenheit erzogen werden und Mädchen in einem Gefühl der Minderwertigkeit, das mit ihrer Anatomie nichts zu tun hat.
Wenn sich Frauen in ihrem Widerstand gegen ihr »Schicksal« »männlich« verhalten, sei das kein Wunder, sagt er, wenn man bedenkt, daß ihnen nur zwei Geschlechtsrollen zur Verfügung stehen. Das Verlassen der Frauenrolle müsse deshalb zwangsläufig männlich wirken.[21] Adler schrieb dies, als er schon lange mit Freud gebrochen hatte. Aber auch andere Anhänger der psychoanalytischen Schule begannen sich mit dem Meister auseinanderzusetzen.[22] Einerseits waren das Anhänger Freuds, die noch freudianischer waren als der Meister selbst in der Interpretation der Entstehung weiblicher Minderwertigkeit. Helene Deutsch betrachtete den weiblichen Masochismus als direkte Folge ihres unterlegenen Geschlechtsorgans.[23] Frauen wollten in der Sexualität unbewußt mit Gewalt genommen werden und sehnten sich nach Demütigung. Karen Horney teilt Freuds Auffassung nicht und die von Deutsch noch weniger. Sie führt einen bestimmten Teil des weiblichen Masochismus auf ihre gesellschaftliche Rolle zurück: »Es fällt in unserer Kultur schwer, sich vorzustellen, wie Frauen einem gewissen Grad an Masochismus entkommen können.«[24] Aber wichtiger ist, daß sie den Kerngedanken der Freudschen Theorie angreift: die Selbstverständlichkeit seiner Annahme, Mädchen fühlten sich beim Anblick eines Penis unterlegen. Sie führt Georg Simmel an, dem sie darin zustimmt, daß die gesamte Kultur eine maskulinistische sei und die Maßstäbe, mit denen der Wert der männlichen und weiblichen Natur gemessen werde, keine Folge der Geschlechtsunterschiede, sondern des Maskulinismus selbst.[25] Es sei nicht die angebliche Überlegenheit des Penis, die dazu führe, daß Mädchen sich anders entwickeln, sondern das Entdecken ihrer unterlegenen gesellschaftlichen Stellung.
Aber warum sollte man das Penisneid nennen? Warum, sagt Horney, sollten Jungen nicht eher auf die Fähigkeit der Frauen eifersüchtig sein, ein Kind zu gebären und zu stillen?
Nach ihr übernimmt auch Clara Thompson den Gedanken, daß »Penisneid« (sie setzt es in Anführungszeichen) keine Folge anatomischer Unterschiede sei, sondern gesellschaftlicher.[26] Freud war ein klarer Denker, sagt sie, aber er war ein Mann, der ohne Einschränkung bereit war, die Theorie der männlichen Überlegenheit, die in dieser Kultur herrscht, zu unterschreiben. Dieses müsse ihn zwangsläufig daran gehindert haben, die Erfahrungen eines Frauenlebens nachzuvollziehen, ganz besonders die Erfahrungen, die eng mit ihrer weiblichen Rolle zusammenhängen.[27]
Für uns Feministinnen sind die Schriften von Horney und Thompson auf den ersten Blick viel brauchbarer als Freuds; sie rücken die Erfahrungen von Frauen stärker in den Mittelpunkt, berücksichtigen stärker als Freud die uns umgebende Kultur und begnügen sich nicht einfach mit Werturteilen, die die bestehende Machtungleichheit als eine logische und unvermeidliche Folge des Geschlechtsunterschieds ausgeben. Aber es gibt auch Einwände gegen die Theorien von Horney und Thompson, die uns Feministinnen heute nicht weiterhelfen.
Horney stellte dem Urteil Freuds ihre eigenen Erfahrungen als Frau gegenüber. Dabei griff sie auf die These einer »weiblichen Natur« zurück, die Männer nun einmal nicht verstehen könnten. Sie sagte, es sei eine natürliche Erscheinung, daß Frauen heterosexuell werden, genauso wie der Wunsch, Kinder zu bekommen. Tatsächlich war das ein Schritt zurück in eine essentielle Sichtweise, ein Schritt zurück zur »angeborenen weiblichen Natur«. Damit erübrigte es sich, die weibliche Heterose-xualität und den Wunsch nach Mutterschaft zu erklären.[28] Chodorow wird später aber aufzeigen, daß gerade das psychoanalytische Denken ― vorausgesetzt, man entledigt sich seiner sexisti-schen Vorurteile ― durchaus geeignet ist, diese Dinge besser zu begreifen. Obgleich also Freud, vom Inhalt seiner Auffassung her gesehen, voreingenommener war als die stärker feministisch ausgerichtete Horney, ist seine Denkmethode revolutionärer.
Thompson kommt das Verdienst zu, die gesellschaftlichen Einflüsse erkannt zu haben. Nach einer klassischen Ausbildung in der Psychoanalyse wurde sie eine der Vorreiterinnen der »kulturellen Schule«, einer Abspaltung der Freudschen Richtung. Allerdings ging Thompson beim Erkennen des gesellschaftlichen Einflusses auf das Erlernen der »Geschlechterrollen« soweit, die Entstehung des Unbewußten hierbei ganz in den Hintergrund zu rücken.[29] Womit wir Gefahr laufen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wie wir in dieser Zeit von neuem entdecken.
Später kritisierten noch andere, auch psychoanalytisch ausgerichtete Leute Teile von Freuds Werk.[30] So bezweifelte z. B. Fromm die Universalität, also die Allgemeingültigkeit des Ödipuskomplexes bei Jungen. Aus anthropologischen Untersuchungen könne man sehen, schreibt er, daß nur in patriarchalen Familien und patriarchalen Gesellschaften, in denen Männer Ernährer sind und Frauen ökonomisch abhängig gehalten werden und Männer untereinander um Arbeit und einen Platz in der Hierarchie konkurrieren, auch die Eigenschaften entstehen, die Freud als Ödipuskomplex bezeichnete.[31] Aber, sagt Fromm, das verstehe sich fast von selbst. Natürlich werden die von ihren Müttern erzogenen Jungen mit ihnen die Primärbeziehung eingehen, und natürlich hätten Jungen in einer Gesellschaft, in der Männer miteinander konkurrieren, gemischte Gefühle ihrem Vater gegenüber und umgekehrt. Aber da es, historisch betrachtet, für das Bestehen der patriarchalen Familie keine Notwendigkeit gäbe, sei auch der Ödipuskomplex nicht universell.
Mit Freuds Krankheit und Tod und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges ebbte diese Debatte ab. Gut zwanzig Jahre später wird sie erneut eröffnet ― von den Feministinnen der sechziger Jahre.

Feministische Kritik

Die Neue Frauenbewegung kam mit einer nahezu vernichtenden Kritik an Freud heraus. Schon zuvor hatte Simone de Beauvoir ihre Vorwürfe formuliert; ihr folgten die neuen Vorreiterinnen: Betty Friedan, Kate Millett, Shulamith Firestone, Germaine Greer, Eva Figes, sowie eine ganze Reihe von »radikalen Therapeuten«.[32]
Simone de Beauvoir ist der Ansicht, daß die Psychoanalyse einen Schritt vorwärts gemacht habe, indem sie nicht nur den objektiven Körper wahrnehme, sondern auch die subjektive Bedeutung, die ihm zugeordnet wird. Die Frau sei ein Weibchen, solange sie sich selbst als solches erfahre, doch nicht durch die biologischen Gegebenheiten ihres Körpers.[33] Aber die Kritik de Beauvoirs geht weiter. Freud habe zu sehr den Mann als Norm gesetzt und die Frau als Abweichung von dieser Norm betrachtet. Wenn man es wörtlich nimmt, sagt sie, dann ist Penisneid Unsinn. »Dieser dünne Fleischzipfel wird beim Mädchen nur Gleichgültigkeit oder sogar Widerwillen auslösen.«[34] Freud übersehe, daß Mädchen Gründe hätten, auf den höheren gesellschaftlichen Status von Männern eifersüchtig zu sein. De Beauvoir lehnt nicht nur Freuds männliche Voreingenommenheit ab, sondern hält auch nicht viel von unbewußten Triebstrukturen. Der Abgrund, der das junge Mädchen von dem jungen Mann trenne, sei ihr vom ersten Tag ihres Lebens an bewußt, sagt sie.[35]
Millett ist nicht viel sanfter. Für sie ist Freud schlichtweg ein Vertreter der »Konterrevolution«. Millett hat ― im Gegensatz zu de Beauvoir ― grundsätzlich durchaus Sympathien für seine Vorstellung vom Unbewußten, greift ihn aber scharf an, wenn es um seine Vorstellungen von Frauen geht.[36] Sie schreibt:

»Indem die ganze Affäre in einen Fachjargon gekleidet wird ― >Libido<, >Masochismus<, >Narzißmus<, >unterentwickeltes Überich< ― gewinnt der alte Mythos über die feminine >Natur< neues Ansehen. Jetzt kann sogar in der Fachsprache bewiesen werden, daß die Frau von Haus aus minderwertig ist. Der Mann aber dominiert, zudem mit stärkeren sexuellen Impulsen ausgestattet und daher berechtigt, die Frau sexuell zu unterwerfen. Außerdem gefällt der Frau diese Unterwerfung, und sie verdient sie, denn sie ist von Natur aus eitel, dumm, barbarisch und eigentlich kaum menschlich. Seit dieser Fanatismus den Stempel der Wissenschaftlichkeit hat, kann die Gegenrevolution ziemlich reibungslos ablaufen.«

Kritik an der psychoanalytischen Praxis

Es gibt zwei Aspekte, auf die sich die feministische Kritik an Freud und an der Psychoanalyse richtet: Zum einen den Aspekt der Erfahrungen, die Frauen mit jenen Psychoanalytikern und Therapeuten machen, die Gedanken Freuds übernommen haben und sie in ihrer Praxis anwenden. Und zum anderen den theoretischen Aspekt: wie die Voreingenommenheit von Freud ständig in den Veröffentlichungen seiner Nachfolger wiederkehrt.
Nun können wir nicht alles, was Therapeuten sich ausdenken, um Frauen in ihre Schranken zu weisen, Freud in die Schuhe schieben. Es ist möglich, und auch Mitchell plädiert dafür, Freud nicht präskriptiv zu verstehen, also nicht so gehört es sich, sondern deskriptiv, also so geschieht es.[37] Spätere Therapeuten haben es selbst zu verantworten, wenn sie Freuds Sätzen einen normativen Charakter verleihen. Dennoch läßt sich wohl kaum leugnen, daß viele Therapeuten spezielle Normen über das haben, was »männlich« und was »weiblich« zu sein hat, und mit diesen ihre Klientel betrachten.
Wie wir aus Untersuchungen wissen, legen Therapeuten unterschiedliche Maßstäbe an, wenn es darum geht, was ein gesunder Mann und was eine gesunde Frau sei, und betrachten eine Frau, die sich wie ein gesunder Mensch verhält, meist als unweiblich. Insofern hat Simone de Beauvoir sicher recht, wenn sie sagt: »Ganz besonders bei den Psychoanalytikern wird der Mann als Mensch definiert und die Frau als dazugehöriges Weibchen: Sobald sie sich als Mensch beträgt, heißt es, sie ahme den Mann nach.«[38]
Das bestätigt auch die Untersuchung von Adrienne Windhoff-Heretier. Sie wertete die Analyseberichte von 32 weiblichen und 32 männlichen Patienten aus, die in einem deutschen Psychoanalytikerverband besprochen wurden. Wenn Frauen zum Beispiel Hosen tragen oder nicht nur Hausfrau sein wollen, die Mutterschaft ablehnen oder mit Männern in Ausbildung und Beruf gleichziehen wollen, betrachten die Psychoanalytiker dies alles als Zeichen psychischer Identitätskonflikte. (Und das noch in den siebziger Jahren!) In elf Fällen bewerteten sie die bei Frauen aufkommende Bereitschaft, ihrem Äußeren mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als Zeichen der Besserung.[39]
Wenn Frauen Schwierigkeiten haben, ihre berufliche Stellung und ihre anderen Aufgaben miteinander zu verbinden, wird das als psychoneurotischer Konflikt an sich betrachtet, der obendrein in Richtung auf die traditionelle Rollenauffassung gelöst werden muß. Ihr wird der Ratschlag erteilt, besser für Mann und Kinder zu sorgen. Wenn eine Frau ihrem Mann Vorwürfe macht, daß er zwar seine Söhne, nicht aber seine Töchter weiterlernen läßt, dann ist das die Folge von Penisneid. Faktische Benachteiligung wird als Einbildung betrachtet, und wenn die Frau darüber wütend ist, so ist diese Wut die Krankheit, die geheilt werden muß.[40]

»Fallgeschichten, in denen ein Mann seine Gesundung darin zeigt, daß er seinen Beruf aufgibt und Freude an der Umsorgung von Weib und Kindern gewinnt, sind in der Literatur selten.« Carol Hagemann-White, S. 759.

Es ist kein Wunder, daß so viele frühe Feministinnen durch derartige Erfahrungen und Auslassungen so mißtrauisch geworden sind, daß sie den gesamten therapeutischen Betrieb als »Gehirnwäsche« und »Anpassung« sahen und jede Überlegung, es könne mit den Frauen etwas nicht stimmen, als reaktionär und blind für die gesellschaftliche Unterdrückung von Frauen abtaten.

Kritik an der psychoanalytischen Theorie

Auch inhaltlich wurde an der Theorie viel Kritik geübt. Besonders an den Punkten der Theorie, die die Unterdrückung von Frauen festschreibt. Über Freuds These von der erwachsenen weiblichen Sexualität, die sich von der klitoralen zur vaginalen zu verlagern habe, haben wir bereits gesprochen. Masters und Johnson wiesen nach, daß dies anatomisch falsch ist.[41] Dennoch werden wir in Holland noch 1968 von Kuiper, einem Professor der Psychiatrie verfolgt, der uns weismachen will, daß wir unseren Orgasmus durch vaginale Stimulation zu bekommen hätten. Er hat vor allem Mitleid mit den armen Männern, die uns mit der Hand zu einem Orgasmus verhelfen müssen, wenn sich herausstellt, daß wir nach dem Koitus immer noch nicht gekommen sind. »Immer dieses mit Ach und Krach hinterher«, schreibt Kuiper. »Die manuelle Stimulation, um die Frau doch noch an der Freude teilhaben zu lassen, wird auf die Dauer, wenn die erste Verliebtheit vorüber ist, sicher etwas zuviel«, findet er, und die Dame gehöre sowieso in Behandlung. »Die tieferliegende Ursache ist meist Unzufriedenheit über das Frau-Sein, das haben zu wollen, was der Mann hat: Dort spüre ich es, nicht da.« Diese Ursache sei unbewußt.[42]
Ein weiterer Punkt ist der Inzest. Freud nahm an, daß kleine Mädchen sich aus Ermangelung eines Penis nach Sexualität mit dem Vater sehnten, was sich in unbewußten Inzestwünschen äußere, die auf der Couch als Phantasien ausgesprochen würden. Wishful thinking ― anders konnte er die Berichte von Frauen über inzestuöse Erfahrungen in ihrer Kindheit nicht erklären. Aber, sagt Sandra Butler,[43] Freuds Bedürfnis, zu glauben, was seine Patientinnen ihm über ihre Väter erzählten, seien nur Phantasien, hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß Freud die Töchter von Freunden und Kollegen behandelte. Er fand es anscheinend bequemer, Inzest als einen Mädchenwunsch zu begreifen, statt erkennen zu müssen, was erwachsene Männer in seiner eigenen Umgebung mit ihren Töchtern anstellten. Mittlerweile wissen wir es aber besser.[44] Inzest geschieht, und er geschieht häufiger, als wir dachten. Wenn schon die Rede von Bedürfnissen der Mädchen ist, so doch wohl vom normalen Bedürfnis nach Beachtung und Zuwendung, worin wir, wenn es um Väter geht, meist alle zu kurz kommen.
(In einer Untersuchung über »normale« Väter fand Judith Arcana [45] heraus, daß sich 69 % von ihnen nicht oder kaum mit ihren Töchtern beschäftigen.) Trotzdem kann uns noch 1983 von anerkannten Psychoanalytikern, wie zum Beispiel dem Holländer Groen,[46] gesagt werden, daß die inzestuösen Wünsche von Vätern hauptsächlich der Phantasie der Töchter entsprängen und eine Projektion ihrer Inzestwünsche seien.
Groen hat noch mehr solcher Äußerungen auf Lager, die eher ins letzte Jahrhundert als ins heutige gehören: Nur die biologische Mutter und keine Stellvertreterin, kein Fräulein, könne in der Anfangsphase für das Kind sorgen, sagt er. Vor allem müsse »der« Geschlechtsunterschied erhalten bleiben, meint Groen, ohne dabei auch nur irgendein Interesse für das zu zeigen, was unter der Maske der »normalen« Geschlechtsunterschiede für Unheil angerichtet wird. Und Feministinnen, weiß er zu melden, ohne übrigens irgend etwas der ausführlichen Literatur über Feminismus und Psychoanalyse gelesen zu haben, »hassen diesen Unterschied und deshalb hassen sie das Individuum und alles, was auf Individualität hinweist«. Er ist jedenfalls noch nicht dahintergekommen, daß viele Frauen feministisch werden, gerade weil sie finden, daß ihrer »Individualität« innerhalb der rigiden Rollenverteilung zu wenig Raum bleibt.
Zusammenfassend können wir sagen: selbst heutzutage haben wir Gründe, die Psychoanalyse ― in der Praxis wie in der Theorie ― nicht kritiklos zu übernehmen. Sowohl die Theorie als auch die Praxis können benutzt werden und werden es auch, um ein bestehendes ungleiches Machtverhältnis zu festigen. Bedeutet das nun, daß wir alle Erkenntnisse des psychoanalytischen Denkens über Bord werfen? Ja, sagten die meisten Feministinnen zu Anfang der siebziger Jahre. Aber inzwischen sind auch Artikel mit einem anderen Standpunkt erschienen.

4. Ehrenrettung: Michell und Hagemann-White

Juliet Mitchell brachte 1974 unter dem Titel »Psychoanalyse und   Feminismus«   ein  ganz  und gar den psychoanalytischen Theorien gewidmetes Buch heraus. Während einer Vorlesung, die sie 1975 in Amsterdam hielt, sagte sie, daß gerade die Psychoanalyse für die Frauenbewegung ein ausgezeichnetes Mittel sein könne, um zu begreifen, »wie das individuelle menschliche Tier zu einem gesellschaftlichen Wesen wird«.[47] Und weiter:

»Die revolutionäre Antwort,  die die Psychoanalyse hierauf geben kann, ist das In-Worte-Kleiden der komplizierten  Weise, in der dieses Tier zu einem gesellschaftlichen Wesen wird, ohne als solches geboren zu sein, beziehungsweise die Tatsache, daß das menschliche Bewußtsein nicht im Zentrum seiner Selbst liege, sondern sich in Beziehungen zu anderen und zu >dem anderen<,  nämlich der menschlichen Gesellschaft als solche entwickelt.
Warum ist dies nun so wichtig für den Feminismus? (...) Die Theorie untersucht, wie es dazu kommt, daß Frauen   und Männer sich  ihre  Menschlichkeit psychisch auf unterschiedliche Weise aneignen; sie untersucht, wie sie sich identifizieren und welche sozialen Gesetze dafür verantwortlich sind, daß das weibliche Wesen sich in einer weiblichen Psyche wiederfindet und ein männliches Wesen in der männlichen Variante.«

Freuds psychoanalytische Theorie handelt vom Sexismus, sagt Mitchell.  Daß er selbst bestimmte sexistische Gedankengänge verbreitet und sein Werk zur ideologischen Unterdrückung von Frauen beigetragen habe, sei zwar wichtig, dürfe aber nicht über die wahre Bedeutung seiner Arbeit hinwegtäuschen. Diese könnten wir erst erkennen, wenn wir begreifen, daß es genau diese psychologischen Strukturen seien,  die er bloßlegt und analysiert. Nach Mitchell ist es also gerade Horney, die der Frauenbewegung keinen Dienst erweist, indem sie die alte Frage, ob Frauen und Männer geboren oder gemacht werden, von neuem mit geboren beantwortet.[48]
Und auch die Deutsch-Amerikanerin Hagemann-White verteidigt den Nutzen der Psychoanalyse für die Frauenbewegung.[49] Obgleich sie den psychoanalytischen Praktiken außergewöhnlich kritisch gegenübersteht, betont sie die Wichtigkeit, unbewußte Prozesse, durch die die Unterdrückten selbst ungewollt ihre Unterdrückung übernehmen, zu untersuchen und bewußt zu machen. Und sie verwahrt sich gegen eine zu undifferenzierte Ablehnung der Freudschen Vorstellung vom weiblichen Penisneid:

»Ich möchte das Problematische an diesem moralischen Protest gern anhand der folgenden skandalösen Äußerung Freuds aufzeigen: >Es kommt der Augenblick, in dem das kleine Mädchen ihre organische Minderwertigkeit  entdeckt.< Eine  schockierende  Äußerung. Aber wer schreiben würde: >Das kleine Mädchen entdeckt ihre gesellschaftliche Unterdrückung<, würde lügen. Sogar die erwachsene Frau erlebt lange Zeit ihre gesellschaftliche Unterdrückung, ohne diese zu entdecken.  Was das kleine Mädchen entdeckt, ist genau dieses: Daß ihrer organischen Ausrüstung etwas fehlt, was sie zu einem vollwertigen Menschen macht. Jede Abschwächung von Freuds Formulierung wäre eine Beschönigung.«[50]

Juliet Mitchells Werk brachte  eine neue Diskussion in Gang, aber kaum neue Einsichten. Dafür folgte sie Freuds Spuren zu treu und war, wie Komter meint, oftmals »freudscher  als Freud«.[51]

5. Ansatz einer Synthese

Chodorow, Dinnerstein und Freud

Eine neue Herangehensweise, die über die der Diskussion der ersten Jahre hinausgeht, entwickelten unter anderem Nancy Chodorow und Dorothy Dinnerstein.[52]
Beide Autorinnen, sowohl die Psychologin Dinnerstein, die sich mit Gestalttherapie und Psychoanalyse befaßt, als auch die Soziologin Chodorow, die sich in der Objektbeziehungstheorie, einer psychoanalytischen Schule qualifizierte, teilen den psychoanalytischen Standpunkt, daß in den ersten Jahren unseres Lebens die ersten Triebstrukturen und Motivationen gebildet werden, die wir später als Teil unserer Persönlichkeit erfahren. Beide sind der Meinung, daß dieser Prozeß, unter den heutigen Umständen, für Mädchen anders verlaufe als für Jungen und die Anfangsjahre der Ursprung der »weiblichen« und der »männlichen« Psychologie seien. Sie bleiben Anhängerinnen Freuds, solange sie sich auf die Untersuchung beschränken, welche unterschiedlichen Auswirkungen die erste Beziehung mit der Mutter und die spätere mit dem Vater bei Männern und Frauen hat. Aber in einigen wesentlichen Punkten weichen die beiden von der orthodoxen psychoanalytischen Theorie ab.
Erstens verlegen sie, wie auch spätere Nachfolger Freuds, die wesentlichen Entwicklungen in ein früheres Stadium, als es Freud tat. Zur Spaltung des »geschlechtsneutralen« Babies in Jungen- und Mädchenkindern komme es nicht erst mit der Entdeckung, daß Jungen einen Penis haben. Bereits vor dem Kleinkindalter werde die Basis für die spätere Persönlichkeit gelegt. Auch bestimmten anderen freudschen Äußerungen über die weibliche Entwicklung widerspricht Chodorow:

»Die Psychoanalyse geht noch immer von einer biologischen und instinktiven Basis für die Arbeitsteilung der Geschlechter aus, der männlichen und der weiblichen Persönlichkeit und der Heterosexualität. In Aufsätzen, die sich mit der Frage des Geschlechts befassen, liegt weiterhin die Betonung auf ödipalen, libidinösen Dingen und sexueller Ausgerichtetheit. Frauen werden  noch immer als Anhängsel ihrer Libido betrachtet.  Noch immer wird die weibliche Sexualität unterstrichen, sowie Penisneid, Masochismus, Genitalität, Frigidität und nicht die Objektbeziehungen und die Entwicklung des Egos. Meine Arbeit nimmt von dieser Tendenz Abstand.« (S. 54)

Auch Dinnerstein steht Freud kritisch gegenüber. »(...) mich stören bestimmte schwerwiegende Verzerrungen in der Freudschen Perspektive«, sagt sie. Aber:

»Ich habe jedoch nicht die Absicht, sie zu benutzen, um die beunruhigende Frage zu negieren, auf die Freud (...) unsere widerwillige Aufmerksamkeit lenkt. (...) Die feministische Voreingenommenheit wegen Freuds patriarchaler Vorurteile, wegen seines Unvermögens, frisch und munter aus seiner viktorianischen Haut zu schlüpfen, erscheint mir höchst undankbar. Das begriffliche Rüstzeug, das er uns in die Hände gelegt hat, ist revolutionär.« (S. 12)

Und:

»Freuds Beitrag hat unser Bewußtsein für gewisse zentrale strukturelle Mängel im menschlichen Leben radikal vertieft, zu denen die ungeheure Belastung gehört, die der männlichen wie der weiblichen Persönlichkeit durch die  Tatsache auferlegt wird, daß die wichtigste erwachsene Person in der Säuglingszeit und der frühen Kindheit weiblichen  Geschlechts ist.  In diesem Sinne ist Freud revolutionär. Konservativ hingegen ist seine Annahme, daß dieser strukturelle Mangel eine feststehende Bedingung der Existenz unserer Art sei und alles, was wir von ihrem Verständnis gewinnen können, darin besteht, daß wir das Unvermeidliche ohne unnötige Aufregung hinnehmen.« (S. 13)

Der große Unterschied zwischen Chodorow und Dinnerstein einerseits und Freud andererseits ist, daß Freud die Entwicklung zu »Männern« und »Frauen« als unvermeidlich und annehmbar betrachtete, während Chodorow und Dinnerstein davon ausgehen, daß diese   Entwicklung historisch bedingt sei,  nämlich durch die Familienstruktur, in der der Vater zwar dominiere, aber fehle, und Mutter »bemuttere«. Verändere man das, dann verändere man auch den Entwicklungsprozeß, der aus Männern und Frauen unvollständige Menschen mache und zu der ungleichen  Machtverteilung beitrage. Und um dieses verändern zu können, müssen wir zuerst begreifen, was mit uns geschehen ist.
Die entscheidende Frage, die sowohl Dinnerstein als auch Chodorow sich stellen, lautet also: Was ist mit uns, mit Männern, mit Frauen geschehen, dadurch, daß unsere Mutter eine Frau war?

Unterschiede zwischen Dinnerstein und Chodorow

Die zentrale Frage der beiden Autorinnen ist also dieselbe, aber ihre Ansätze unterscheiden sich. Vom Temperament: Chodorow ist vorsichtig und genau. Schritt für Schritt beschreibt sie die Entwicklung des neugeborenen Kindes. Kapitellang rechtfertigt sie ihre Annahmen. Sie beschränkt sich auf das, was sie erklären will, und möchte lediglich herausfinden, warum Frauen immer wieder ― von selbst ― Kinder haben wollen und Mütter werden, und wie diese besondere Form der Mutterschaft wieder Töchter hervorbringt, die wiederum bemuttern wollen.
Dinnerstein macht es anders. In einer Sprache, bei der sich über unserem Haupt düstere Wolken zusammenbrauen, sagt sie uns quasi das Ende der Welt voraus, wenn wir nicht aufhören, diese Art von Männern und Frauen zu zeugen. Sie beschränkt sich nicht auf eine Fragestellung, die mit dem von ihr benutzten Begriffsapparat sorgfältig beantwortet werden kann. Aus der unterschiedlichen Entwicklung von Frauen und Männern leitet sie so ziemlich alles Elend dieser Welt her: Sexuelles Unglück, Umweltverschmutzung, Krieg und die nahende Vernichtung dieser Erde. Obwohl Dinnerstein ihr Buch geschrieben hat, um diese Katastrophe aufzuhalten, gibt es kaum Anlaß zu Optimismus: eigentlich ist es genauso deterministisch wie die Theorien, gegen die sie sich abgrenzt; es gibt kein Entkommen.
Zusammen aber sind es zwar schwierige, doch außerordentlich anregende Bücher. Chodorow wegen ihrer Sorgfältigkeit, Dinnerstein, weil sie den Mut hat, über alle Grenzen verantwortungsbewußter Theoriebildung hinauszugehen. Im folgenden Teil zeige ich den ersten Schritt ihrer Theorien auf, die ersten Monate eines Menschenlebens. Ich gebe hier nicht alle feinsten Unterschiede zwischen Chodorow und Dinnerstein [53] an, sie sind in ihren Büchern nachzulesen.

6. Einführung in die Theorie

Soziale und biologische Mutterschaft

Wieder ist es kein Zufall, daß die Frage, welche Folgen es für uns hat, daß unsere Mutter eine Frau ist, erst in diesem Jahrhundert gestellt wird. Historisch gesehen, werden Fragen erst dann wichtig, wenn es eine Möglichkeit zur Veränderung gibt. Hinsichtlich der Mutterschaft besteht diese Möglichkeit noch nicht allzu lange. Zum erstenmal brauchen ― vorausgesetzt, wir wollen die Menschheit fortführen ― Frauenkörper und Muttersein nicht mehr automatisch zusammenzufallen. Es sterben weniger Babies, wir können weniger Kinder bekommen. Verhütungsmittel, auch wenn sie nicht ideal sind, ermöglichen uns, heterosexuell zu sein und doch keine Kinder zu bekommen. Wir leben länger. Wir sterben seltener bei der Geburt, und wenn das letzte Kind aus dem Haus geht, haben wir noch ein ordentliches Stück Leben vor uns. Babynahrung ist soweit entwickelt, daß Kinder auch überleben können, wenn sie nicht gestillt werden. Insgesamt nimmt das, was eine biologische Mutter zu leisten hat, im Durchschnitt nur noch einige Monate eines Lebens in Anspruch.
Alles darüber hinaus Erforderliche, um Kinder richtig aufzuziehen, was wir soziale Mutterschaft nennen wollen, braucht nicht ― wie das Wort schon sagt ― an die biologische Mutterschaft gekoppelt zu sein. Tatsächlich wußte eine Elite das bereits im letzten Jahrhundert. Sie schickte ihre Kinder aufs Land, um sie von einer Amme stillen zu lassen, oder sie ließ sich die Versorgung größtenteils von Dienstboten abnehmen. Doch lebt die Ideologie, in der biologische und soziale Mutterschaft eine untrennbare Einheit bilden, bis in unser Jahrhundert hinein beinahe unangetastet weiter. Sie steckt in unserer Sprache. Das Wort »Mutter« drückt bereits beim Sprechen eine bestimmte Funktion aus. Das Wort »Vater« ruft automatisch andere Bilder hervor.
Chodorow entwirft einen neuen Begriff: »muttern«, mit dem sie das Aufziehen und Versorgen innerhalb der spezifischen Beziehung zu einem Kind meint, um deutlich zu machen, daß es sich um eine Funktion handelt, die nicht automatisch aus dem Körper der Gebärenden erwächst.
Aber bevor wir die Diskussion darüber führen, wie wünschenswert es ist, biologische und soziale Mutterschaft voneinander zu trennen, betrachten wir zunächst, was in unserer Gesellschaft normal ist. Was geschieht mit einem neugeborenen Kind, wie sieht die Beziehung zur Mutter aus?
Ehe ich nun mit der Theorie von Chodorow und Dinnerstein beginne, hier noch eine Anmerkung: Wenn wir über das Entstehen von Männlichkeit und Weiblichkeit sprechen, so sprechen wir von einer Tendenz, von globalen Werten, die zwar über eine Gruppe als ganze etwas aussagen, was aber nicht heißen muß, daß jeder einzelne Mann seiner Schwiegermutter gegenüber den gleichen Haß empfindet. Oder daß jede einzelne Frau Sexualität nur in einer gesicherten Beziehung schön findet oder jede einzelne Frau Kinder haben möchte. Mit den globalen Begriffen, mit denen die Theorie beschrieben wird, sagen wir etwas über die Wahrscheinlichkeit aus, daß wir das eine Muster häufiger bei Menschen des einen Geschlechts antreffen werden als bei Menschen des anderen Geschlechts. Ich betone dies noch einmal, überflüssigerweise vielleicht, um zu verhindern, daß die Erkenntnisse wie moralische Kategorien auf einzelne Menschen angewandt werden, nach dem Motto: da siehst du's ja, daß du nicht imstande bist zu ... usw. Es erspart mir auch, immer wieder auf alle feinen Unterschiede hinzuweisen, was dieses Buch unnötig langweilig machen würde.

Die Hilflosigkeit eines Menschenkindes

Verglichen mit anderen Tieren, werden Menschen außerordentlich hilflos und unselbständig geboren. Wir können beinahe nichts. Neugeborene Kätzchen krabbeln sofort auf die nächstbesten Brustwarzen zu, Fohlen stehen nach einer Stunde auf den Beinen. Wir bleiben so liegen, wie wir hingelegt werden, nahezu blind, nicht in der Lage, uns umzudrehen oder etwas gezielt zu ergreifen. Daß wir so »unfertig« geboren werden, ist wahrscheinlich auf die Zeit zurückzuführen, als wir auf unseren Hinterbeinen zu laufen begannen. Dadurch ist unser Becken schmaler geworen (daß wir an den aufrechten Gang noch nicht richtig gewöhnt sind, können wir auch an Rückenbeschwerden, Plattfüßen und Gebärmuttersenkungen erkennen), gleichzeitig waren wir so weit entwickelt, daß unser Gehirngehalt einen großen Schädel erforderte.[54]
All dies bedeutet, daß Kinder den Geburtskanal nur passieren können, wenn sie noch nicht zu groß sind. (Zangengeburten zeigen deutlich, daß wir uns, biologisch gesehen, oftmals an der Grenze dessen bewegen, was möglich ist.) Bevor sie nun selbständig werden, bedürfen sie verhältnismäßig lange Zeit einer extremen Fürsorge. Was dazu führt, daß zugleich mit der »tierischen« Versorgung, wie nähren, saubermachen, warmhalten, auch eine außerordentlich komplizierte Kultur vermittelt werden kann. Gleichzeitig mit unseren ersten Löffeln Brei lernen wir eine Sprache. Mit den ersten Schritten lernen wir die Gewohnheiten unserer Umwelt kennen. Lange bevor wir »ich« sagen können, lernen wir, Beziehungen und uns selbst als Mittelpunkt eines Geflechts von Beziehungen zu erkennen.
Neugeborene haben noch keinen Begriff von ihrer Umgebung, sie haben noch kein Bewußtsein darüber, wo sie selbst enden und das, was sie umgibt, beginnt. Wir nennen das »Symbiose« ― das vollständige Aufgehen in etwas oder jemand, ohne die eigenen Grenzen zu spüren. Erst allmählich beginnt dem Neugeborenen zu dämmern, daß es ein »Etwas« gibt, das es umsorgt und ernährt. Ein mächtiges Etwas, das Hunger und Durst verschwinden lassen kann und wärmt und versorgt. Erst später wird dieses Etwas identifiziert. Das können ― wie Untersuchungen gezeigt haben ― auch mehrere Personen sein, aber in unserer Gesellschaft ist es in aller Regel die Mutter, die die wichtigste Bezugsperson bleiben und zu der sich die stärkste Gefühlsbeziehung entwickeln wird.
In dieser ersten Phase sind Kinder »ungerecht«. Sie erleben sich selbst als absoluten Mittelpunkt der Welt. Sie können noch nicht differenzieren: jetzt habe ich Hunger, aber gleich gibt es etwas zu essen. Sie sind Hunger in diesem Moment. Ihre Bedürfnisse sind absolut, und erst in der späteren Entwicklung lernen Kinder darauf zu vertrauen, daß ihre Bedürfnisse auch zu einem späteren Zeitpunkt befriedigt werden können.
In dieser ersten, sprach- und grenzenlosen, auf sich selbst fixierten Phase entwickeln sich in der Beziehung zu der fürsorgenden Person die ersten Gefühle. »Ungerechte« Gefühle. Die Fähigkeit zur Einsicht, daß ein Elternteil nicht immer etwas daran ändern kann, wenn du Bauchweh hast, nicht immer da sein kann, nicht immer gleich weiß, was du brauchst, entsteht erst später. In dieser sprachlosen Zeit entwickelt sich das erste Ich-Gefühl, das grundlegende Gefühl von dir selbst, ob du dich erwünscht fühlst, ob du dich geliebt oder nicht geliebt fühlst. Weil wir in dieser ersten Phase nicht erkennen können: jetzt bin ich glücklich, jetzt bin ich traurig, sondern unsere Gefühle sind, sind diese Gefühle heftig und absolut. Glückselig sind wir, wenn unsere Bedürfnisse befriedigt werden und wir ― ohne unsere Grenzen zu erfahren ― uns der Fürsorge, die uns entgegengebracht wird, hingeben können. Jähzornig und verletzt, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen.
Allmählich lernt das Kind zu unterscheiden. Lernt die immer wiederkehrende Person als wichtigste Person zu erkennen: unsere erste Liebe. Und allmählich, Chodorow beschreibt das Schritt für Schritt, entdecken wir, daß wir ein »Ich« sind, selbst die Umgebung beeinflussen, selbst Dinge anfassen, mit Schreien Aufmerksamkeit auf uns ziehen können und daß wir, wenn wir lachen, gekost werden.

Individuation und Separation

Eine wichtige Phase ist die Zeit, in der Kinder sich zu lösen beginnen, also das, was Psychologen »Individuation« oder »Separationsphase« nennen.[55] Das Kind beginnt zu krabbeln, von der es betreuenden Person weg, um dann wieder zu ihr zurückzukehren. Die kleinen Ausflüge werden länger, aber es bleibt wichtig, daß die vertraute Person da ist, damit das Kind auf sie zurückgreifen kann (und zum Aufpassen, weil Kinder nicht sofort eine Vorstellung von dem haben, was sie können, wenn sie auf Entdeckung gehen). In dieser Phase zwischen dem Selbständigwerden-Wollen und dem Zurückkehren-Wollen in die Geborgenheit bilden sich wichtige Gefühle. Wenn wir in unserem Bedürfnis nach Selbständigkeit stark eingeschränkt worden sind, haben wir später vielleicht Angst vor sehr engen Bindungen. Wenn wir zuviel alleingelassen worden sind, haben wir vielleicht Angst vor dem Verlassenwerden und bekommen leicht Angst, daß man uns nicht genügend liebt, oder denken schnell, daß wir im Stich gelassen werden.
Menschen werden sich immer nach der ersten Glückseligkeit zurücksehnen, nach dem vollständigen Aufgehen in einem anderen Menschen, nach dem Ohne-Worte-verstanden-zu-Werden. Und das ist auch der Antrieb, der uns so auf das, was wir »Liebe« nennen, versessen macht. Auch Tiere können ein Bedürfnis nach Nähe, nach dem Streicheln ihrer Haut ― wenn die Brunstzeit angebrochen ist ― nach Paarung haben. Manche Tiere kennen ebenfalls so etwas wie Paarbildung. Doch ist bei keiner einzigen Tierart die Suche nach Liebe ein so durchgängiges Kulturgut geworden wie bei Menschen. Eine rollige Katze kann sich schreiend auf die Suche nach einem Kater machen, aber sie schreibt keine Gedichte und liegt ― wenn es aus ist ― nicht schluchzend in ihren Kissen. Sie begeht nicht Selbstmord, wenn sie sich ständig ungeliebt fühlt.
Ein großer Teil unserer Kultur ist auf diesen primären Gefühlen aufgebaut. In der Musik können Menschen die magischen Gefühle wortloser Harmonie wiederfinden. Religion, das Bedürfnis in einer größeren Einheit aufzugehen, hat damit zu tun, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Vorstellung von einer größeren Macht eine Wiederholung der Erlebnisse aus der ersten Phase ist, eine Projektion des mächtigen, aber auch launenhaften Etwas, das bestimmt, ob du glücklich oder unglücklich bist. (Nicht umsonst ist die Gottheit in den ältesten Religionen eine Frau, denn für die meisten von uns war die erste Übermacht, die wir erfahren haben, eine Frau.)
Wie gut diese Phase des Sichlösens und Festhaltens abläuft, wird Einfluß darauf haben, wie wir später in unseren Beziehungen als Erwachsene mit dem Bedürfnis nach Selbständigkeit und Bindung umgehen und zwischen beiden ein Gleichgewicht herstellen können. Sogar ein idealer Elternteil wird nicht verhindern können, daß das Kind nicht immer alles bekommt, was es in dem Moment haben will. Körperliche Schmerzen sind nicht immer zu verhindern, ein Baby kann aus dem Bett fallen, sich erschrecken, es kann nicht immer etwas zu essen bekommen und nicht immer dann beachtet werden, wenn es das will. Und obgleich viele Leute glauben, Mutterschaft sei etwas Magisches, wobei Frauen instinktiv erfühlen könnten, was ihr Kind braucht, ist auch das etwas, das erst einmal gelernt werden muß.
Jede Mutter kennt die Erfahrung, ratlos neben dem weinenden Kind zu sitzen und sich zu überlegen, was es haben kann: piekt vielleicht eine Sicherheitsnadel, hat es kein Bäuerchen gemacht oder noch Hunger? Und somit ist kein Kind vor der Erfahrung gefeit, daß es etwas absolut möchte, es aber nicht deutlich machen und selbst nicht erreichen kann.
Ein Anreiz, uns zu »separieren«, uns als selbständig, als eigenständiges »Ich« zu erleben lernen, ist der Umstand, daß die Mutter nicht ausreicht. Sie ist nicht immer da, wenn wir es wünschen. Sie geht weg. Das kann starke Verlassenheitsgefühle zur Folge haben. Wie »heil« wir diese Phase der Trennung und Individuation überstehen, hängt von diesem Prozeßverlauf ab: ob wir lernen, darauf zu vertrauen, daß sie zwar weggeht, aber auch wieder zurückkommt.
Nun haben Kinder ja auch Väter. Doch sind Väter unter den heutigen Umständen selten diejenigen, die den Großteil der unmittelbaren Pflege eines Kindes leisten. Deshalb entwickeln Kinder ihren Vätern und damit unbewußt Männern gegenüber eine andere Haltung als ihren Müttern gegenüber. In der Phase, in der ein Kind auch mit dem Vater eine Bindung eingeht, ist es schon viel »gerechter«, verfügt über mehr Worte und ist eher imstande, zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen des anderen zu unterscheiden. Von Vätern wird nicht so erwartet und ihnen auch nicht so übel genommen, wenn sie nicht immer für das Kind da sind. Die Beziehungen zu Vätern sind damit klarer, weniger emotional beladen und somit auch weniger ambivalent.
Böse auf den Vater zu sein, ist ― emotional gesehen ― nicht so bedrohlich. (Ich sage »emotional«, weil es sehr gut möglich ist, daß ein autoritärer Vater keinen Widerspruch eines Kindes duldet, aber es geht hier um Gefühle, um das, was ein Kind sich selber zu fühlen und zuzugestehen traut.) Die Beziehung zum Vater ist weniger mit unterdrückten und verdrängten negativen Gefühlen belastet als die Beziehung zur Mutter.
Wie auch immer: Unsere früheste Kindheit ist eine Phase der Glückseligkeit, doch gleichzeitig auch heftiger Frustrationen, Gefühle des Verletztseins, Verlassenwerdens. Eine normale Reaktion darauf ist, wütend auf diejenige zu werden, die uns enttäuscht, aber das ist zugleich ungeheuer bedrohlich. Auf die böse zu werden, von der wir so abhängig sind, ist lebensgefährlich. Aus diesem Grund werden so viele negative Gefühle »verdrängt«, ins Unterbewußte geschoben, um viel später in Situationen, die an die erste Kinderzeit erinnern, von neuem aufzulodern. Wenn wir von einem Geliebten verlassen werden, wenn wir einen Rivalen haben. Verlassensangst, Eifersucht, es sind starke Gefühle, auf die wir als Erwachsene wenig erpicht sind, gerade weil sie uns in die Hilflosigkeit und Abhängigkeit unserer ersten großen Liebe zurückführen. Unsere Gefühle unserer ersten großen Liebe gegenüber sind also ambivalent, widersprüchlich, Haß und Liebe in einem. Und weil unsere erste Liebe unsere Mutter war, sind diese Gefühle auf sie gerichtet.

»Stünde keine besondere Kategorie von Personen mehr zur Verfügung, die unsere abgespaltenen Gefühle von Liebe und Wut gegenüber dem Leiblichen absorbiert ― könnte der Mann sich nicht länger darauf verlassen, daß sie von der Frau absorbiert werden, und könnte die Frau sich nicht länger auf den Mann verlassen, wenn es gilt, für uns alle ein Menschsein zu verkörpern, das von der Aura der Instabilität und des Widerspruchs, die den Frauen eignet, frei und ledig ist ― müßten diese Gefühle in jedem Individuum integriert werden.« Dinnerstein, S. 173.

Ist die Mutter schuld?

Bevor ich mit der Beschreibung der Folgen fortfahre, die Chodorow und Dinnerstein dem Umstand zuschreiben, daß sich unsere ersten ambivalenten Gefühle in der Beziehung zu unserer Mutter gebildet haben, hier zunächst etwas zur Stellung der Mütter. Die meisten Theorien über die menschliche Entwicklung gehen von einem Kinderstandpunkt aus, so auch die Einsichten, die Chodorow und Dinnerstein gewonnen haben. Und mit Recht, wollen wir erkennen, wie wir uns als Personen von Geburt an entwickelt haben. Aber wir müssen auch die gesellschaftlichen Umstände berücksichtigen, unter denen die Mütter ihre Aufgaben erfüllen.
Die meisten nicht-feministischen Theoretiker, die sich über die Umstände, unter denen Frauen leben, keine Gedanken gemacht haben, gehen davon aus, daß Mütter ausschließlich für ihre Kinder dazusein haben und die ideale Mutter, von Natur aus, auch immer wissen werde, was für ihr Kind gut ist.[56] Gleichzeitig und im Widerspruch dazu sind die Wissenschaftler der Ansicht, daß sie Mütter ständig auf ihre Pflichten hinweisen müssen, und setzen Frauen kräftig unter Druck, damit sie die Vorschriften für die ideale Mutterschaft befolgen. Läuft es ihres Erachtens mit einem Kind nicht richtig, so ist es immer die Schuld der Mamma. Umsorgt sie ihr Kind zu stark, dann heißt das »overprotection«, kümmert sie sich zu wenig um das Kind, heißt es »Verwahrlosung«.
Viele Wissenschaftler gehen, wie sich zeigt, stillschweigend davon aus, daß Mutter und Kind eine »Zwei-Einigkeit« bilden, in der die Bedürfnisse von beiden gleich sind. Natürlich ist das nicht so. Die Bedürfnisse eines Kindes an die Mutter verlaufen nicht vollkommen parallel zu der Befriedigung, die eine Mutter in der Beziehung zu dem Kind finden kann. Allein schon deshalb nicht, weil Mütter nicht nur Müttertiere sind, sondern auch erwachsene Menschen mit erwachsenen Bedürfnissen, die lange nicht immer von einem Kind erfüllt werden können. Eine Erwachsene mit einem entwickelten Verstand wird das Gefühl haben zu verkümmern, wenn sie nicht mit anderen, geistig entwickelten Menschen reden kann. Und wie eng die Beziehung zu einem Kind auch sein mag, kein Kind wird begreifen, welche Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit, Sex und Anregung eine Mutter hat. Oder wie Ethel Portnoy [57] es einmal formulierte:

»Die Mutterschaft gleicht manchmal dem Beantworten-Müssen einer endlosen Reihe sinnloser Fragen eines unter dem Tisch sitzenden Schwachsinnigen.«

Die Bedürfnisse eines Kindes an die Mutter und die Bedürfnisse einer Mutter werden selbst unter den idyllischsten Umständen nicht identisch sein. Außerdem sind die Umstände nicht idyllisch, und das ist ein weiterer Punkt, den die Wissenschaftler nicht berücksichtigen: die Umstände, unter denen Mutterschaft in dieser Gesellschaft stattfindet. Wohl niemals zuvor in der Geschichte ist die Mutterschaft so einsam gewesen wie für die Mutter, die ihre Kinder in einer Neubauwohnung versorgt. Ohne ihre Familie in der Nähe, ohne andere Erwachsene, seit die Lohnarbeit nicht mehr ans Haus gebunden ist und die Trennung zwischen Ernährer und Hausfrau dazu führt, daß Kinder-Aufziehen und Arbeiten nicht mehr gleichzeitig stattfinden können.[58] An Hausfrauen werden außerdem Forderungen gestellt, die den Anforderungen an eine ideale Mutterschaft zuwiderlaufen können. Viele Männer erwarten zum Beispiel, wenn sie nach Hause kommen, Aufmerksamkeit, Ruhe und eine warme Mahlzeit, ungeachtet dessen, ob das mit dem Rhythmus der Bedürfnisse eines kleinen Kindes zu vereinbaren ist. Wie wir seit den Gesprächsgruppen wissen, grenzt es an Hexerei, die verschiedenen Rhythmen miteinander in Einklang zu bringen, alle Forderungen zu erfüllen und auch noch etwas für sich selbst übrig zu behalten.
Das wird allerdings vergessen, wenn die Entwicklung allein vom Standpunkt des Kindes aus beschrieben wird, ohne zugleich den Standpunkt der Mütter zu betrachten. Aber Kinder wissen das noch nicht. Mit dem Egoismus, der uns als Kindern eigen ist (Egoismus scheint ein negativer Begriff zu sein, ist aber in dieser Phase natürlich sehr normal), nehmen wir es unseren Müttern übel, daß sie nicht immer für uns da sind und nicht immer wissen und machen, was wir wollen. Auch in manchen feministischen Theorien begegnen wir dem kindlichen Standpunkt, z. B. in dem Buch »Wie meine Mutter« von Nancy Friday, in dem die Autorin vieles von dem, was mit uns als Töchter passiert ist, der Mutter zuschreibt, ohne zu untersuchen, was die Mütter unter den Umständen, unter denen sie lebten, hätten tun können. Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir in unserer Theorie fortfahren, in der deutlich werden wird, welchen Einfluß Mütter auf unsere Entwicklung zu Männern und Frauen gehabt haben.

Die erste Liebe, die erste Enttäuschung

»Für das Mädchen wie den Knaben ist eine Frau der erste menschliche Mittelpunkt von körperlichem Behagen und Lust und das erste Wesen, durch das ihm das lebenswichtige Vergnügen sozialen Umgangs zuteil wird. Die erste Erfahrung, von einem weitgehend unkontrollierbaren gütigen äußeren Spender abhängig zu sein, ist ebenso auf eine Frau konzentriert wie die früheste Erkenntnis, daß wir Enttäuschungen und Schmerz erleiden müssen. Eine Frau ist der Zeuge, in dessen Bewußtsein sich die kindliche Existenz zuerst widerspiegelt und sie bestätigt; sie ist das Publikum, das seinen ersten Leistungen Beifall zollt. Diese Frau ist weiterhin der überwältigende äußere Wille, angesichts dessen das Kind erstmals die Notwendigkeit der Unterwerfung erkennt (...)« Dinnerstein, S. 46.[59]

Hiermit kommen wir zu einem der wichtigsten Punkte in der Theorie von Chodorow und Dinnerstein. Denn was bedeutet es, daß die ersten starken und ambivalenten Gefühle vor allem auf Frauen projiziert werden? Was bedeuten die vom Unterbewußten aufgenommenen Bilder, die verdrängten Wünsche und Aggressionen in bezug darauf, wie wir später als Erwachsene Frauen betrachten? Und welchen Unterschied macht es, ob wir die unbewußten Gefühle später als Frau oder Mann in uns tragen? Aus der Kinderperspektive wird die Mutter als allmächtig erlebt. Väter können in Wirklichkeit mehr zu sagen haben. Gesellschaftlich gesehen ganz sicher sogar, aber da sie selten die gleiche symbiotische, sprachlose, körperliche Beziehung zu dem Kind haben, wird ihre Macht viel weniger emotional erlebt. Kinder wollen ihre Mütter für sich allein haben. Aus diesem Bedürfnis heraus ist es bedrohlich, daß sie eine erwachsene Person ist, mit eigenen Bedürfnissen, dem Wunsch nach Beziehungen zu Erwachsenen, geistiger Anregung und Sexualität; alles Dinge, die ein Kind ihr nicht bieten kann.

»Ob Knabe oder Mädchen, man will die Mutter für sich haben; auf der primitivsten Gefühlsebene kann sich niemand damit abfinden, sie mit anderen zu teilen: eine Frau zu besitzen (genauer gesagt, ein Geschöpf der Art zu besitzen, von dem sich später ― wenn unser Wahrnehmungsvermögen sich entwickelt ― herausstellt, daß es zur Kategorie >Frau< gehört), ist unter den gegenwärtigen Bedingungen der frühe Wunsch jedes Kindes.« Dinnerstein, S. 62.

Aus diesem Grund werden wir später die Angewohnheit haben, von Frauen eher zu erwarten, daß sie für uns da sind als von Männern, und wütender werden, wenn sie nicht unsere Erwartungen erfüllen. Ganz sicher werden Männer auch deshalb dazu neigen, Trauen sehr zu verübeln, wenn sie sich ihre Freiheit nehmen oder andere Beziehungen eingehen. Sofern Frauen diese Erwartungen verinnerlichen, müssen sie sich zwangsläufig ewig schuldig fühlen, wenn nicht jeder in ihrer Umgebung glücklich ist. Das macht Frauen zu den idealen Sündenböcken. Auf individueller Ebene, in Beziehungen innerhalb der Familie, aber auch auf symbolischer Ebene ― die Frau als Muse, Mutter und Geliebte, ewig für alles menschliche Elend verantwortlich.

Mutter Natur

Für Dinnerstein hat diese frühe Haltung der magischen Frau, der allmächtigen Mutter gegenüber sehr weitreichende Folgen. Das kleine Kind wird die Mutter nie ganz als selbständige Person, als Mensch sehen lernen. Kleine Kinder sehen ihre Mutter als einen nicht klar abzugrenzenden Teil der Umgebung. Solange das nicht überwunden wird, sagt sie, werden wir Frauen weiterhin als »Natur« definieren und die Natur als »weiblich«. Und weiter:

»Wie die Natur nährt und enttäuscht sie, lockt und droht sie, ist sie trostreich und unzuverlässig. Das Kind liebt ihre Berührung, ihre Wärme, ihre Gestalt, ihre Geräusche und Bewegungen, so wie es das tanzende Licht, gestalteten Raum, weiche Decken liebt und wie es später Wärme, Feuer, Pflanzen, Tiere lieben wird. Und es haßt sie, weil sie es, wie die Natur, nicht vollkommen beschützt und für es sorgt. Sie ist die Quelle von Nahrung, Wärme, Trost und Unterhaltung; aber das Baby, so gut es auch versorgt wird, leidet trotzdem Hunger und friert, es hat Bauchweh oder leidet unter plötzlichen unangenehmen Bewegungen oder Geräuschen. Alleinsein oder Langeweile ― wie soll es wissen, daß die Mutter nicht auch deren Quelle ist?
Die Mutter wird also ― wie die Natur, die Schneestürme und Heuschrecken schickt, aber auch Sonnenschein und Erdbeeren ― als launisch und manchmal geradezu als bösartig empfunden.«
Dinnerstein, S. 126.

Wir können nur schwer begreifen, daß unsere Mutter ein eigenständiges Wesen ist, mit eigenen, subjektiven Gefühlen und Bedürfnissen. Das hat Konsequenzen: nicht nur für die Art und Weise, wie wir Frauen betrachten, sondern auch die Natur. Wir können nicht glauben, wie launisch, gleichgültig und unbeeinflußbar die Natur ist, das heißt wie »unmütterlich«, genausowenig wie wir erkennen wollen, wie verletzbar, selbständig, bewußt, das heißt menschlich handelnd, die frühe Mutter tatsächlich war.

»Unsere übermäßige Personifizierung der Natur ist also mit unserer zu geringen Personifizierung der Frau
 untrennbar verbunden.« Dinnerstein, S. 142.

Deshalb die Bezeichnung »Mutter Natur«. Deshalb die weiblichen Namen für Orkane. Deshalb die menschlichen Versuche, durch Gottesdienste und Gebete die Natur milde stimmen zu wollen. Und deshalb die von Rache getragene Haltung der Menschen den natürlichen Rohstoffquellen gegenüber, die Angewohnheit, die Erde auszubeuten, zu plündern, zu verschwenden, mit dem selbstverständlichen Egoismus des nimmersatten Kindes, das die Mutter als eine unerschöpfliche Quelle sehen möchte, die allein für ihr Kind da zu sein hat.
Ich habe meine Bedenken, wenn ich diese Passagen von Dinnerstein lese, weil sie dazu neigt, alle politischen und gesellschaftlichen Phänomene auf unsere frühe Psychologie zurückzuführen. Bei Umweltverschmutzung und drohenden Atomkriegen sind doch mehr Faktoren im Spiel als kleine Jungen, die als große Männer verkleidet ihre Mütter bestrafen und in Besitz nehmen, indem sie die Erde beherrschen oder vernichten. Es gibt schließlich auch ökonomische Interessen, historisch gewachsene Widersprüche.
Dennoch liefert sie auf brillante Art einen emotionalen Grundlagenteil. In den »Männerphantasien« von Klaus Theweleit, der den Bewußtseinsinhalt faschistischer Männer anhand des typischen Soldaten erforscht hat, findet sich ihre Theorie wieder: in der Weise, wie »der Feind« häufig mit weiblichen Begriffen umschrieben wird, und in der Angst dieser Männer vor der Launenhaftigkeit und Heimtücke der Natur, vor dem Weiblichen schlechthin, das auch auf Juden projiziert wird, das bedrohliche Emotionale, das unterdrückt werden muß. Es gibt, sagt Dinnerstein, einen Zusammenhang zwischen der universellen Ausbeutung von Frauen, der so früh entstanden und so selbstverständlich geworden ist, daß wir ihn nicht mehr als solchen erkennen, und dem Fortbestehen eines geistigen Klimas, in dem die Vorstellung von Ausbeutung allgemein akzeptiert bleibt. (S. 134.)

7. Geschlechtsdifferenzierung

Tochter oder Sohn

Bis jetzt haben wir von dieser ersten Bindung gesprochen, als gäbe es keinen Unterschied zwischen der Art, wie weibliche und männliche Babies eine Beziehung zur Mutter entwickeln. Vom Kind aus gesehen gibt es diesen Unterschied auch noch nicht, denn es wird erst später entdecken, daß seine Mutter eine Frau und es selbst ein Junge oder ein Mädchen ist. Aber Mütter haben bereits einen ganzen Sozialisationsprozeß hinter sich, und wir wissen inzwischen, daß Mütter mit Kindern nicht geschlechtsneutral umgehen.
Ein wichtiger Faktor bei der unterschiedlichen Entwicklung, die Mädchen und Jungen durchmachen werden, besteht darin, daß die meisten Mütter ihre Töchter als »artgleich« erleben und Jungen als »andersartig«. Wie sich in vielen Therapien [60] gezeigt hat, neigen Mütter dazu, sich selbst in den Töchtern wiederzuerkennen und viele eigene Gefühle auf die kleinen Mädchen zu projizieren. Jungen erleben sie schon viel früher als eigenständige Personen, deshalb neigen sie dazu, bei ihren Söhnen die Eigenschaften des Vaters, des Andersartigen, wiederzuerkennen. Aus diesem Grund gestehen Mütter ihren Jungen eher die Möglichkeit und den Freiraum zu, sich selbständig zu verhalten, während Mädchen länger »festgehalten« werden, manchmal buchstäblich, manchmal auch emotional. Da in dieser ersten Phase die ersten Beziehungsformen eingeübt werden, die später das Muster für die Beziehungen als Erwachsene bilden werden, hat dieser Unterschied großen Einfluß. Frauen werden sich später stärker »in Beziehung zu« anderen Menschen erleben, und Männer werden sich eher als eigen- und selbständige Personen definieren.[61]
Freud nahm zuerst an, der Ödipuskomplex bei Mädchen verliefe genauso wie bei Jungen; später änderte er seine Auffassung und interessierte sich mehr für die präödipale Phase zwischen Mutter und Tochter. Chodorow betont im Hinblick auf das Zustandekommen einer Geschlechtsidentität sehr stark die präödipale Phase, weil ihrer Meinung nach beweisbar sei, daß Jungen und Mädchen schon von einem sehr frühen Zeitpunkt an unterschiedlich behandelt werden. Auch Stoller wies nach, daß das Bewußtsein, ein Junge oder ein Mädchen zu sein, bereits lange vor der Zeit entwickelt ist, in die Freud die klassische Entdeckung der Geschlechtsidentität legte.
Jungen und Mädchen werden sich in der Individuations- und Separationsphase beide aus der übermächtigen Bindung zur Mutter lösen müssen. Beide haben ambivalente Gefühle der Mutter gegenüber, Liebe, aber auch Abwehr ihrer vermeintlichen Allmacht, die das Sich-Lösen fördern wird. Aber für Jungen ist ein anderer Weg vorgezeichnet, dies zu tun, als für Mädchen.
Jungen lösen sich von der Mutter, indem sie sich gegen »Weiblichkeit« abgrenzen und bei sich selbst alles »Weibliche« verabscheuen. (Wir haben gesehen, daß Jungen im Verhältnis weniger mit Mädchen und Mädchensachen zu tun haben wollen als umgekehrt. Es ist Kindern also schon sehr früh klar, daß Jungensachen gesellschaftlich gesehen wertvoller sind.) Jungen können sich mit dem Vater identifizieren. Sie werden für das Verlassen von Geborgenheit und Bedrohung der Frauenwelt belohnt, ihnen wird ein Platz in der Männerwelt angeboten, eine gesellschaftliche Stellung, und als Kompensation für den Verlust ihrer ersten Liebe haben sie später die Möglichkeit, in einer heterosexuellen Beziehung eine »eigene« Frau zu besitzen.
Aber das Erlernen dieser »Männlichkeit« hat auch seinen Preis. Durch das Fehlen männlicher Vorbilder ― wie das eines nahen, vertrauten, gefühlvollen Vaters ― lernen Jungen Männlichkeit als das Fehlen von Weiblichkeit zu definieren. Männlichkeit als all das, was für Autonomie steht, doch zugleich auch für die Ablehnung von Verbundenheit, die Ablehnung der Fähigkeit zur Hingabe und des Erlebens einer Einheit.[62]
Sowohl Mädchen als auch Jungen werden dieselben Gefühle ihrer Mutter gegenüber entwickeln, die ihre erste Liebe ist, zugleich aber auch ihre erste Liebe, die sie enttäuscht. Beide werden gegenüber Vätern und Männern im allgemeinen eine andere Haltung entwickeln. Bis dahin verläuft die Entwicklung parallel. Doch was geschieht, wenn Kinder ihre Geschlechtsidentität entwickeln, d. h. sich selbst als Mädchen oder Jungen zu sehen beginnen? Welche Folgen hat es, als Mann zuerst eine Beziehung mit einer Frau einzugehen, und was bedeutet es, als Frau dieselbe Beziehung zu haben?
Mit dieser Frage kommen wir zu der bahnbrechenden Erkenntnis der Arbeiten Dinnersteins und Chodorows. Denn wie sie aufzeigen, hat die Tatsache, daß wir fast alle von Frauen bemuttert worden sind, unterschiedliche Einflüsse auf die Entwicklung von Frauen und Männern, ganz gleich, ob wir eine Jungen- oder eher eine Mädchensozialisation genossen haben. Und damit wird auch die Unzulänglichkeit von Versuchen deutlich, Jungen und Mädchen auf die gleiche Weise zu erziehen. Solange es Frauen sind, die »muttern«, wird derselbe Anfang für Jungen und Mädchen unterschiedliche Folgen haben, egal ob sie die gleichen Kleider tragen, das gleiche Spielzeug bekommen und in der Schule dasselbe lernen werden.

Asymmetrie der Entwicklung

Also: der Entwicklungsprozeß von Mädchen und Jungen verläuft für beide nicht gleich. Für Mädchen ist die Entwicklung insofern leichter, als sie kontinuierlicher verläuft. Das Mädchen wächst in der Umgebung einer engen Beziehung zu einer Frau auf; sie braucht in der Identifikation mit der Mutter keinen Bruch zu erleben. Sie lernt, was es heißt, eine Frau zu sein innerhalb einer Gefühlsbeziehung, und damit wird sie später weniger Abwehr gegen Zuneigung entwickeln als ein Mann und sich selbst stärker in Beziehung zu anderen Menschen definieren. Aber die Identifikation mit der Mutter ― beziehungsweise mit der Frau ― verläuft nicht konfliktlos. Nach und nach entdeckt das Mädchen, daß Frauen in dieser Gesellschaft zweitrangige Wesen sind und das Schicksal ihrer Mutter nicht immer erstrebenswert zu sein braucht. Die Geschichte von Frauen ist deshalb meist von einem mühseligen Prozeß der Loslösung von der Mutter geprägt. Oftmals findet er erst sehr spät statt und ist von widersprüchlichen Gefühlen begleitet, bei denen Ekel und Verbundenheit miteinander im Kampf liegen. Und selbst erwachsene Frauen können noch das Gefühl haben, daß ihre Mutter noch immer »in ihre Haut« kriechen kann.
Ein Vorteil dieses Prozesses besteht für Frauen darin, daß Weiblichkeit mit sozialer Interaktion und persönlichen Beziehungen verwoben bleibt. Aber genau das macht es Frauen schwerer, ihr Leben als eigenes Projekt zu begreifen, unabhängig von der Anerkennung der Umwelt, sich als selbständige Persönlichkeit.
Jungen müssen einen komplizierteren Prozeß durchlaufen, da sie ihre Identifikation mit ihrer ersten Liebe zerstören müssen, um zu einem »Mann« werden zu können. Männlichkeit wird damit vor allem negativ und defensiv definiert, als das, was nicht weiblich ist.
In dieser Gesellschaftsform, die als Norm eine Familienstruktur hat, bei der Väter abstrakt wichtig sind, aber körperlich die meiste Zeit abwesend und bedingt durch den eigenen Sozialisationsprozeß meist unnahbarer, haben Jungen weniger Möglichkeiten, Männlichkeit innerhalb einer Gefühlsbeziehung zu lernen. Deshalb geht dieser Prozeß mit dem Verdrängen von Gefühlen der Verbundenheit einher. Das hat Nachteile, weil es Männern schwerer macht, ohne Abwehr Gefühlsbeziehungen einzugehen, nach denen sie sich durch ihre frühe Sozialisation jedoch sehnen. Es behindert auch ihre spätere Fähigkeit zu »muttern«. Aber gesellschaftlich gesehen, hat dieses Resultat Vorteile, da Männer sich stärker als Frauen als eigenständige Personen erleben, was ihnen erleichtert, gesellschaftliche Stellungen zu bekleiden.
Hinsichtlich der Bildung einer männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität und der Entwicklung von Hetero- oder Homosexualität verläuft der Prozeß dann nicht mehr gleich.
Für Männer ist die Entwicklung von Kindheit an bis zu einer späteren Hetero Sexualität ein durchgängiger Prozeß. Das primäre Liebesobjekt ist eine Frau, und wenn er dann heterosexuell wird, stellen seine späteren Liebesobjekte keinen Bruch dar. Das Interesse von Frauen an ihren Vätern und später an Männern kann verschiedene Hintergründe haben. Zum einen können sie damit der symbiotischen Beziehung zur Mutter entkommen oder ihre von der Mutter enttäuschten Gefühle verarbeiten; oder sie interessieren sich für Männer, weil diese im Gegensatz zu ihrer Mutter, der sie näher standen, gesellschaftlich die wichtigeren Menschen sind.
Aber die Beziehung zum Vater oder die spätere heterosexuelle Bindung an einen Mann ist nur teilweise ein Ersatz für die erste Liebe und ruft weniger ursprüngliche Gefühle hervor. Frauen bleiben damit »bisexueller«.[63] Dies ist nicht nur eine Theorie, wie wir sehen konnten, als die heutige Frauenbewegung aufkam: an den vielen Frauen, die ― wenn ihre Hemmungen zu einem Teil wegfallen ― zwischen hetero und homo »hinundherpendeln« können. Viele Frauen entwickeln Verhaltensmuster, mit denen sie erotische Beziehungen zu Männern suchen, emotionale aber bei Frauen.[64] Die Beziehung zum Vater, zu Männern, kommt später zustande als die Beziehung zur Mutter, zu einer Frau, also erst wenn das »Ich«-Bewußtsein bereits gefestigter ist.[65] Die Liebe zu einem Mann ist damit weniger bedrohlich; sie berührt weniger alte, ursprüngliche und ambivalente Gefühle. Frauen suchen auch nach der ersten Liebe; traditionell nimmt Liebe einen großen Raum in einem Frauenleben ein. Sie suchen diese oft bei Männern, können darin enttäuscht werden und werden es auch oft. Frauen haben ihr Bedürfnis nach Zuneigung weniger verdrängt. Gleichzeitig sehen sie Männer realistischer und neigen eher dazu, seine Unzulänglichkeiten zu akzeptieren, wenn ihr Bedürfnis nach Zuneigung einigermaßen befriedigt wird. Frauen können, neben der Beziehung zu einem Mann weitere Gefühlsbeziehungen eingehen, mit anderen Frauen und vor allem mit einem eigenen Kind. Für Männer ist Heterosexualität selbstverständlicher und zugleich bedrohlicher. Sie kann die frühesten, ursprünglichen Gefühle am leichtesten hervorrufen und droht damit, immer von neuem die sorgfältig errichteten Mauern gegen ein zu starkes Eindringen von Weiblichkeit und Gefühlen einzureißen.
Es scheint also paradox, daß Frauen, mehr als Männer, um die Liebe einen Kult aufgebaut haben und einen großen Teil ihres Lebens den Beziehungen und deren Pflege widmen. Während Männer daran weniger interessiert zu sein scheinen und sich oftmals etwas widerstrebend zu einer Beziehung verleiten lassen, zeigt sich bei der Auflösung einer Beziehung, daß Männer viel primitiver auf die Trennung reagieren und depressiver und einsamer werden, weil der Abbruch einer langdauernden heterosexuellen Beziehung von neuem die Erinnerung an die Trennung von der Mutter hervorruft und sie weniger als Frauen die ganze Skala emotionaler Beziehungen und emotionaler Stabilität zur Verfügung haben.

Männer und heterosexuelle Beziehungen

Welche Folgen hat nun diese Entwicklung z. B. für die spätere Beziehung, die erwachsene Männer mit Frauen haben? In einer heterosexuellen Beziehung kann ein Mann seine frühe Liebe wiederfinden. Aber er findet dort auch seine alten Ängste wieder, daß sie ihn in Stich lassen wird oder genau umgekehrt, daß sie ihm ihren Willen aufzwingen wird.
Viele Männer sind aus den Armen ihrer Mutter direkt in die Arme ihrer Freundinnen und späteren Ehepartnerinnen gewandert. Sie haben das Versorgtwerden als etwas erfahren gelernt, das ihnen von Natur aus zusteht, und als etwas, das Frauen von Natur aus bieten.

»Wenn der Knabe als Erwachsener sich an heterosexueller Liebe ergötzt, so außerhalb seiner selbst ― wie
damals ― an einem weiblichen Körper. Und wenn die Inhaberin dieses weiblichen Körpers sich erlaubt, dessen Ressourcen einem Rivalen zugänglich zu machen, erweckt sie in ihm die Erinnerung an eine Situation,
in der die Mutter unerträglicherweise nicht dem Baby gehörte.« Dinnerstein, S. 62.

Die alten, unbewußten Gefühle Frauen gegenüber schlagen sich in dem sogenannten »Besitztrieb« von Männern nieder, in dem Bedürfnis, eine Frau für sich allein zu haben. Denn obwohl Frauen als sehr viel eifersüchtiger gelten, zeigt sich in Wirklichkeit, daß vor allem Männer ungeheuer primitiv und gewalttätig reagieren können. Wenn Frauen damit drohen, ihren Mann oder Freund zu verlassen, kommt es verhältnismäßig oft zum Mord. In Deutschland bezeichnet man diese Fälle zynisch als »Mord aus Liebe«, für die Gerichte viel Verständnis haben, da berücksichtigt wird, daß Männer, die wegen eines vorhandenen oder nichtvorhandenen Rivalen verlassen werden, unter Einfluß heftiger und nahezu unbeherrschbarer Gefühle stehen.
Diese primitive Gefühlsebene kann sich auch auf weniger heftige Weise in dem Unbehagen von Männern äußern, wenn »ihre« Frau allein und selbständig Sachen unternimmt. Ein Unbehagen, das überhaupt nicht mit der vernunftbestimmten Haltung übereinstimmen muß, die ein Mann gegenüber dem Recht seiner Frau auf eine eigene Ausbildung haben kann. Das erklärt auch zum Teil die Widerstände vieler Männer gegen den Feminismus. Natürlich gibt es »objektive« Gründe: keine einzige privilegierte Gruppe wird es spontan toll finden, ihre Rechte abzugeben. Aber dahinter verbirgt sich noch eine emotionale Schicht, die sowohl zu ihrer als auch seiner Überraschung hervorbrechen kann; z. B. wenn sie zu einer Gesprächsgruppe geht oder mit einer Freundin in Urlaub fährt oder sich unabhängiger von ihm verhält.
Adrienne Rich beschreibt diese Reaktion in ihrem Buch »Von Frauen geboren«:

»Das ist die wirkliche Loslösung, vor der sie sich fürchten ― davor, daß Frauen nicht mehr auf sie warten, wenn sie von ihrer Männergruppe nach Hause zurückkehren, aus der hierarchischen, der phallischen Welt. Die Angst, daß Frauen miteinander reden, ohne einander zu verspotten oder zu verachten, nimmt häufig die offene Form (...) an (...). Darunter höre ich nichts als den Schrei des Mann-Kindes:»Mutter! Verlaß mich nicht!«    (S. 205)

Abwehr der weiblichen Bedrohung

In der Beziehung von Männern zu Frauen droht sich das frühe Drama stets von neuem zu wiederholen. Das Bedürfnis, die alte Glückseligkeit wiederzuerlangen, ist da, genauso wie bei Frauen. Aber gerade weil in einer heterosexuellen Beziehung, in der erneuten Beziehung zu einem Frauenkörper, zu einer, die zu symbiotischen Beziehungen neigt, auch immer wieder die Angst auftaucht, beherrscht und verschlungen zu werden, ist die gesuchte Erfahrung zugleich gefährlich. In den verschiedenen Verhaltensmustern, die wir bei Männern normal finden, können wir unterschiedliche »Lösungen« erkennen, um dieser schmerzhaften Ambivalenz zu entkommen.
So sind manche Männer sehr darauf bedacht, daß ihre heterosexuellen Beziehungen wenig Tiefgang bekommen, die abhauen, wenn die Frauen »unvernünftige Forderungen« stellen, nämlich dieselbe Zuwendung und Bindung zurückfordern, die sie selbst geben. Im Extrem kennen wir dieses Sich-mit-Frauenkörpern-zu-Schmücken und sie zu sammeln als Don-Juan-Komplex: eine Variante des Themas »sich entziehen«, wenn eine Bindung zu entstehen droht.[66] Ein anderes Muster ist die Aufteilung von Frauen in verschiedene Kategorien. Eine Besonderheit in unserer Kultur ist der Schwiegermutterwitz. Alle negativen Gefühle der eigenen Mutter gegenüber, die nicht geäußert werden dürfen, werden dabei auf die Schwiegermutter projiziert. Damit kann man zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn zum einen ist es ein Ventil für die negativen Gefühle der eigenen Mutter gegenüber und zum anderen für die Ablehnung der Bindung, die die »eigene« Frau an ihre Mutter hat. Eine Bindung erinnert schließlich den Mann daran, daß auch diese Frau nicht ausschließlich für ihn da ist, sondern andere Gefühlsbeziehungen unterhält, die ihr wichtig sind. Die Aufteilung in »schlechte, aber sexuell anziehende Frauen« und »gute, aber sexuell reizlose Frauen« kennen wir in unserer Kultur als den Madonna-Huren-Komplex. Schwach ausgeprägt, indem die fremde Frau, die man nicht besitzt, einem anziehender erscheint, als die Frau, die man bereits hat. Oder indem ein Mann erotische Gefühle für Frauen, die er respektiert, gar nicht erst aufkommen läßt, beziehungsweise den Respekt vor Frauen verliert, für die er erotische Gefühle hat. In extremer Form, die Unfähigkeit, mit Frauen sexuell zu verkehren, die er liebt, von denen er abhängig wird, und seine sexuellen Gefühle für Frauen zu reservieren, die er verachtet.
Allerdings können Männer sich noch auf andere Weise dem Einfluß entziehen: z. B. indem sie sich in männliche Bollwerke zurückziehen. Die Männerclubs der besseren Stände sind darauf gegründet, aber dieselbe Erscheinung klingt auch durch im Widerstand der Männer gegen das Eindringen von Frauen in männliche Berufe, z. B. bei der Feuerwehr, der Marine oder in der Schiffahrt. Natürlich wird dazu das Argument der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt benutzt, aber wer genauer hinter dieses »objektive« Argument sieht, erkennt auch das persönliche Interesse von Männern, sich in einer Umgebung zu bewegen, in die Frauen nicht eindringen können und in der sie von weiblicher »Herrschaft« befreit sind.[67]
Shere Hite stellte in ihrer großen Untersuchung des Sexuallebens amerikanischer Männer zu ihrer Überraschung fest, wie viele Männer nicht mit der Frau verheiratet waren, nach der sie am meisten verrückt waren.[68] Aufgrund der Analyse von Chodorow und Dinnerstein können wir jetzt verstehen, daß viele Männer Angst haben, sich in heftigen erotischen Gefühlen zu verlieren, weil darin wieder die Abhängigkeit des wehrlosen, der Mutter ausgelieferten Babies anklingt. Viele Männer suchen ihre Sicherheit eher in einer Beziehung mit einer Frau, die weniger Macht über sie hat, weil sie weniger starke erotische Gefühle in ihnen weckt. Doch dann beklagen sie sich ständig darüber, daß sie so langweilig sei, und jagen weiter der gefährlicheren und wilderen Liebe nach.[69]

Heterosexuelle Partnerwahl

Männer fürchten die Macht von Frauen mehr als Frauen die Macht von Männern. Wir verstehen nun warum, und wir können jetzt auch erkennen, warum Männer es so schwer haben, in ihrem Privatleben oder im Beruf die Führung von Frauen zu akzeptieren. Die Autorität des Mannes ist »sicherer«, genauso wie die Autorität des Vaters weniger heftige und widersprüchliche Gefühle hervorrief und damit nicht die gleiche Furcht wie vor der Allmacht der Mutter.

»... die Bedrohung der Eigenständigkeit, die von einer Frau ausgehen kann, auf einer irrationaleren, hilfloseren Stufe empfunden, als primitivere Gefahr erlebt wird, als wenn sie von einem Mann kommt. Die Möglichkeit, daß ein Mann den Gedankengang seiner Frau unterbricht, sie bei ihrer Arbeit stört, sie dazu bringt, in Passivität zurückzusinken, machen sie zu einem Anhängsel von ihm und führen bei den meisten von uns nicht zu derselben Panik wie die Möglichkeit, daß sie ihm dies antun könnte. Die ursprüngliche Bedrohung, die wir alle in diesem Zusammenhang empfanden, wurde als von einer Frau ausgehend empfunden, und wir verdrücken uns buchstäblich in unsere heterosexuellen Arrangements, um diese ursprüngliche Bedrohung in Schach zu halten.« Dinnerstein, S. 147.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf können wir einige, das Mann-Frau-Verhältnis kennzeichnende Dinge vielleicht etwas besser verstehen, die sich sonst rationalen Erklärungen der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu entziehen scheinen. So z. B. die »Partnerwahl«. Wie kommt es, daß ein heterosexuelles Paar fast immer aus einem älteren, größeren und besser ausgebildeten Mann und einer kleineren, jüngeren und schlechter ausgebildeten Frau besteht? Der Grund liegt nicht nur darin, daß Männer im Durchschnitt nun einmal größer sind und die bessere Ausbildung haben, und für den Altersunterschied gibt es erst recht keinen Grund. Wenn Männer »die Macht der Mütter« fürchten, ist die Bedrohung bei einer Frau, die sie unbewußt als »kleiner« empfinden können, weniger stark. Und wenn wir dann noch das unbewußte Motiv von Frauen dazunehmen, sich einen Mann auszusuchen, der sich durch sie weniger bedroht fühlt und ihnen deshalb einen größeren Freiraum gewährt (siehe das Motiv der Erfolgsangst in Teil II), verstehen wir das stillschweigende Komplott jetzt etwas besser, mit dem die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der heterosexuellen Paarbildung reproduziert wird.
Vielleicht nähern wir uns damit der Erklärung eines anderen Phänomens, welches wir so normal finden, daß wir gar nicht weiter darüber nachdenken. Die Selbstverständlichkeit, mit der älterwerdende Frauen sexuell weniger anziehend empfunden werden, während ältere Männer viel länger »mithalten« können. Wir finden es vielleicht tragisch, wenn Männer sich erlauben können, ihre Frau gegen ein jüngeres Exemplar auszutauschen, aber denken wir darüber nach, woher die Vorstellung kommt, ältere Frauen seien nicht mehr schön genug? Meiner Ansicht nach können wir die Ursache dafür auch in den ersten Gefühlen der Mutter gegenüber suchen. Je älter Frauen werden, desto mehr ähneln sie den Müttern, deren Macht gefürchtet wird. Im Gegensatz zu dem Klischee des klagenden Mannes, seine Frau verstehe ihn nicht, haben wir es hier vielleicht eher mit der angsteinjagenden Entdeckung zu tun, daß sie ihn vielleicht zu gut versteht. Vielleicht durchschaut sie seine Motive zu sehr, vielleicht bewundert sie ihn zu wenig. Vielleicht ist das ein Grund, warum jüngere Frauen auf Männer plötzlich soviel anziehender wirken können.[70]

Die Entwicklung zur Frau

Wie geht es inzwischen mit der Entwicklung vom Mädchen zur Frau weiter? Frauen werden stärker als Männer dazu gezwungen, ihre frühkindliche Haltung zu überwinden. Für Frauen ist es nicht so selbstverständlich, nach der Mutter eine neue Frau zu finden, die die Funktion der Mutter für sie fortsetzt. Frauen haben weniger als Männer Frauen zur Verfügung, bei denen sie sich abreagieren können. In diesem Punkt werden Frauen stärker als Männer dazu gezwungen, ihre frühkindlichen Bedürfnisse aufzugeben. Oder sie müssen lesbisch werden. Was sehr gut möglich ist, denn wie Dinnerstein sagt, hat die homoerotische Seite beim Mädchen eine größere emotionelle Bedeutung, genauso wie umgekehrt die heterosexuelle Seite beim Jungen eine größere emotionelle Bedeutung hat. Warum werden so viele Frauen dennoch nicht lesbisch? Teilweise durch den gesellschaftlichen Druck ― »dem Zwang zur Heterosexualität« wie Rieh [71] ihn nannte ― die künstlich aufrechterhaltene ökonomische Abhängigkeit, die Ideologie, die Beziehungen zwischen Frauen diffamiert: einiges darüber wissen wir bereits. Aber es ist auch ― und das liegt eher im emotionalen als im gesellschaftlich-strukturellen Bereich ― das Bedürfnis von Frauen, sich von der Mutter zu lösen und abzuwenden, die sie enttäuscht hat, und eine Bindung mit einer weniger belasteten Person einzugehen. Mit einem Mann also. Zudem mit einer Person, die durch die Beziehung mit ihm den Zugang zu einer Welt ermöglicht, zu der Frauen sonst nicht ohne weiteres zugelassen werden. Eine Person, die Freiheit und Macht repräsentiert.
Hier sehen wir, welche weitreichenden Folgen die Tatsache haben kann, daß unsere Mutter eine Frau war. Einerseits wird somit zwischen Frauen eine starke emotionale Beziehung geschaffen, andererseits ― da nicht nur positive, sondern auch negative Gefühle mit Frauen verbunden sind ― werden somit die Bedingungen geschaffen, durch die viele Frauen sich vom eigenen Geschlecht abwenden.
Es gibt aber noch weitere Folgen. Zwar wenden Mädchen sich genauso wie Jungen von der Mutter ab, doch ist der Bruch weniger total als bei Jungen. Sie bleibt der Frauenwelt zum Teil weiterhin verbunden, weil sie selbst zu einer Frau heranwächst und weil ihre Mutter sie nicht so einfach gehen läßt. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, wie schwer es erwachsenen Frauen fällt, sich vom Einfluß ihrer Mütter unabhängig zu machen. Die Belohnung oder Kompensation, die Mädchen im Tausch für ihr Selbständigwerden angeboten wird, ist höchstens ein Platz neben oder im Schatten eines Mannes.
Daß Mädchen sich nur teilweise von der Mutter abwenden und diese Verbindung ― auch wenn sie sich heterosexuell entwickeln und Liebesbeziehungen mit Männern eingehen ― nie ganz aufgeben, macht laut Chodorow die Frauenpsyche komplizierter, aber auch fähiger für mehr Beziehungen.[72] »Weiblichkeit« wird stärker verinnerlicht und braucht weniger als »Männlichkeit wird das, was man macht, und nicht das, was man ist. keit eher defensiv, als das, was nicht weiblich ist, definiert wird, haben Männer stärker das Bedürfnis, sich zu beweisen; Männlichkeit wird das, was man macht, und nicht das, was man ist. Deshalb haben Männer untereinander auch vielfältige Rituale, wie zum Beispiel im Sport, in der Konkurrenz zueinander oder in der gegenseitigen Schikane, um sich und die anderen auf diese Männlichkeit abzuklopfen. Und sie brauchen oft Frauen, die dazu das Spiegelbild der Weiblichkeit liefern, durch dessen Kontrast sie sich als Männer fühlen können. Ganz gleich wie unsicher Frauen auch immer auf gesellschaftlichem Gebiet sein mögen, in diesem Punkt sind sie stabiler.

Frauen und Ambivalenz

Auch Frauen können versuchen, in der Heterosexualität die erste Liebe wiederzufinden. Teilweise wird das sogar gelingen. Aber nie ganz. Der Männerkörper ruft nicht so die Erinnerung an den Frauenkörper wach, dem auch ihre erste Liebe galt. Und weil Männer, die durch ihren Sozialisationsprozeß schärfere Ego-Grenzen haben, weniger dazu neigen und weniger das Bedürfnis haben, in einem anderen Menschen aufzugehen und sich ihm emotional hinzugeben, ist die heterosexuelle Beziehung selten so symbiotisch für Frauen. »Frau sucht Frau in Mann, ihr Leben lang«, schrieb die holländische Schriftstellerin Maria van der Steen, ohne Chodorow gelesen zu haben. Aber selten ist diese Suche erfolgreich. Aus diesem Grunde unterhalten Frauen stärker als Männer ein ganzes Geflecht emotionaler Beziehungen, an denen sie auch festhalten. Familienmitglieder, Freundinnen. Diese Beziehungen zwischen Frauen haben normalerweise einen anderen Charakter als die Beziehungen zwischen Männern. Sie sind weniger defensiv und weniger von Konkurrenz geprägt, ganz gleich wie sehr Männer den Frauen im Umgang miteinander Weiberfalschheit und Klatschereien nachsagen mögen. Verwunderlich ist das nicht: In ihren Beziehungen zu Frauen halten Frauen einen Zipfel ihrer ersten, selbstverständlichen Liebe fest. Und erst seit die Sexualwissenschaftler das Etikett »lesbisch«« erfunden haben, sind die intimen und leidenschaftlichen Beziehungen vieler Frauen zu Frauen, neben einer heterosexuellen Beziehung oder ausschließlich, »verdächtig« geworden.[73] Obwohl Männer auch Beziehungen zu ihren Geschlechtsgenossen unterhalten, sind diese im allgemeinen ganz anders gelagert. Sie sind stärker vom Bedürfnis geprägt, von der Frauenwelt befreit zu sein, als von der Intimität, die sie ihnen bieten.
Frauenfreundschaften sind normalerweise tiefer, offener und intimer als Männerfreundschaften, die sich oftmals auf Abgrenzung gegen Weiblichkeit gründen. Frauen fällt es leichter, mit anderen Frauen zu sprechen. Aber auch Männer zeigen in Gesprächen mit Frauen mehr von sich, sagt Lillian Rubin, die die unterschiedlichen Freundschaftsmuster untersucht hat.[74]
Vielleicht ist deshalb das Führen persönlicher Interviews eine der wenigen möglichen Karrieren für Frauen im Journalismus.
Frauen werfen Männern oft vor, zwischen Liebe und Erotik zu trennen. Aber es gibt auch andere Sichtweisen. Wir können auch die normalen Frauenverhaltensmuster auf ihre Beschränkungen hin untersuchen. So haben viele Frauen weniger Sexualerlebnisse, weil sie diese nur in einer gesicherten, tiefgehenden Beziehung zulassen können. Aber noch aus anderen Gründen halten Frauen normalerweise nicht so viel von flüchtigen Sexualerlebnissen, da ist z. B. die ökonomische Abhängigkeit oder die für Frauen ernstere Folge: Wir können schwanger werden, wenn wir auf herkömmliche Weise mit einem Mann schlafen. Aber da wir gelernt haben, Erotik nur als Fortsetzung von Liebe zu erleben, sind wir von einer Möglichkeit, aufregende Erfahrungen zu machen, von Überraschungen, die dem Leben Farbe geben, ausgeschlossen. Es bedeutet auch, daß wir, wenn wir uns sexuell angezogen fühlen, die Angewohnheit haben, dieses sofort in Liebe und den Wunsch nach Bindung zu übersetzen. Was wiederum dazu führt, daß Frauen manchmal an merkwürdigen Typen hängenbleiben, die zwar als Sexualpartner nett sein können, aber nicht immer gerade geeignet sind, den Rest des Lebens mit ihnen zu teilen. Nicht nur Männer beginnen ihr Leben mit einer ambivalenten Haltung gegenüber ihrer ersten Liebe, also einer Frau, und damit Frauen im allgemeinen. Für Frauen gilt das gleiche. Daß es Frauen so schwer fällt, die Führung einer anderen Frau zu akzeptieren und sich lieber einen Mann als Chef zu wünschen, kann auch ein Ausdruck davon sein. In gewissem Maß versprechen Männer eine »Befreiung« aus der engen, aber gleichzeitig auch beengenden Bindung mit der Mutter, mit Frauen. Männer sind, emotional gesehen, weniger vorbelastet. Der Schritt zur Heterosexualität ist, wie paradox das auch immer klingen mag, auch ein Schritt zur Autonomie, ein Schritt zur Selbständigkeit und einer größeren emotionalen Unabhängigkeit, als sie die Beziehung mit der Mutter zuließ.
Nach Dinnerstein werden Jungen ihre Wut gegenüber dem ersten Elternteil dazu benutzen, die Beziehung zum eigenen Geschlecht zu festigen, und zwar indem sie sich grundsätzlich unabhängig von Frauen machen und einen mit einer gewissen Verachtung gepaarten Abstand zu ihnen herstellen. Und in der gleichen Phase benützt das Mädchen die gleiche Wut dazu, die Beziehung zum eigenen Geschlecht zu lockern, indem sie die Beziehung, die sie mit Männern eingeht, »idealisiere«.
Genau das schwäche die Solidarität zwischen Frauen und stärke die Solidarität zwischen Männern ― sei sie auch noch so defensiv. Jane Flax beschreibt das so: Mädchen müssen ihre Sehnsüchte nach der Mutter verdrängen, wenn sie eine sexuell gefärbte Bindung mit dem Vater eingehen. Ohne diese Übertragung könnte das Patriarchat nicht bestehen. Aber ohne diese Übertragung entstehe ― unter den heutigen Umständen ― auch keine weibliche Autonomie.[75]
Ein Dilemma, aus dem wir erst herauskommen können, wenn diese erste Bindung, von der wir uns lösen müssen, nicht ausschließlich mit einer Frau erlebt wird.

Die Reproduktion der Mutterschaft

Daß Frauen sich dennoch nach dieser ersten Liebe, nach dem Aufgehen in einer anderen Person zurücksehnen, was sie aber in einer heterosexuellen Beziehung nicht oder nur teilweise wiederfinden, führe zu ihrem verstärkten Wunsch, an Beziehungen mit anderen Frauen festzuhalten. Aber es gibt einen anderen Weg, über den sich Frauen ihre Sehnsüchte erfüllen können. Mutterschaft. Das erneute Aufgehen in einem Wesen, das du ganz für dich hast, das dir ganz ausgeliefert ist, ein Wesen, das garantiert, daß du geliebt werden und nicht mehr einsam sein wirst. Das eigene Kind.
Auf diese Weise, sagt Chodorow, reproduziert dieses System sich selbst. Indem wir von Frauen bemuttert werden und als Frauen unsere großen Bedürfnisse nach Bindung und symbiotischer Körperlichkeit nur teilweise in der für uns erreichbaren und von uns erwarteten Heterosexualität befriedigen können, suchen wir nach einem anderen Ventil, das uns in der Form der Institution der Mutterschaft zur Verfügung steht. So bekommen Frauen wiederum Kinder, die sich wiederum aus einer symbiotischen Beziehung mit der Mutter lösen werden und ― wenn es Mädchen sind ― ebenfalls denselben Wunsch nach Mutterschaft entwickeln. (S. 208)
Die Fähigkeit zur Mutterschaft ist also nach Chodorow in der weiblichen Persönlichkeit verankert. Das ist etwas anderes, als zu sagen, der Wunsch nach biologischer Mutterschaft sei in unserem Körper angelegt, und es hat auch absolut nichts mit der Annahme eines Mutterinstinktes zu tun. Damit ist auch nicht gesagt, daß alle Frauen Kinder haben wollen und sich unbefriedigt fühlen, wenn sie diese nicht bekommen. Die Sozialisation zur Frau verläuft nicht einheitlich, und hier spielen andere Faktoren eine Rolle, die dazu führen, daß dieses Bedürfnis manchmal nicht so stark ist oder von anderen Bedürfnissen überdeckt wird. Aber mit dieser Analyse erklärt Chodorow dennoch, warum so viele Frauen ― trotz der Tatsache, daß Mutterschaft, so wie sie in unserer Gesellschaft organisiert ist, ihnen viele Nachteile bringt ― doch von innen heraus den Wunsch haben, selbst ein Kind zu gebären.
Das ist also eine andere wichtige Folge der Tatsache, daß es Frauen sind, die »muttern«. Sie bildet die Grundlage für das emotionale Bedürfnis von Frauen, selbst ebenfalls zu »muttern«. Und damit erhalten wir den Teufelskreis auf perfekte Weise aufrecht.

8. Zwischen Männern und Frauen

Rationale Männer, emotionale Frauen?

Männer sind rational, Frauen emotional ― so heißt es im Volksmund und auch schon mal in der feministischen Literatur. Das hat der Rationalität, der Vorrangstellung des Verstandes gegenüber dem Gefühl, einen schlechten Klang gegeben. Aber inwieweit trifft es zu, daß Männer den Verstand verkörpern und Frauen das Gefühl? Mit den gewonnenen Einsichten in die unterschiedlichen psychischen Entwicklungen, die Frauen und Männer durchmachen, können wir diese Aussage vielleicht etwas differenzieren.
Männer nehmen ― wie wir festgestellt haben ― aus der frühesten Kindheit die gleichen Bedürfnisse mit wie Frauen, nämlich das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Wärme, Sicherheit, genauso wie das Bedürfnis nach Autonomie, Freiheit und Abenteuer. Doch da die Mutter für beide eine Frau war, unterscheiden sie sich auch. Frauen sind mehr dazu erzogen, sich »in Beziehung zu anderen« zu erleben, und haben es schwerer, zu einer Autonomie zu gelangen, während Männer autonomer erzogen sind und größere Schwierigkeiten mit Bindungen haben. Aber sind Männer deshalb weniger »emotional«? Männer haben ― stärker als Frauen ― gelernt, jegliche Nähe mit Weiblichkeit zu assoziieren und demzufolge mit Einengung, Freiheitsentzug und mit einem Willen, der stärker ist als der eigene. Viele Männer haben während ihres Sozialisationsprozesses ihre Emotionalität verdrängt; sie haben stärker gelernt, ihre Gefühle zu unterdrücken, zu verstecken. Aber gerade das, was wir einzudämmen und zu verleugnen suchen, wird sich immer wieder einen Weg bahnen und hervorbrechen wollen. Was wir mit dem Begriff »Rationalität« in Verbindung zu bringen gelernt haben, ist weniger der Gebrauch des Verstandes als vielmehr Gefühlsarmut oder die Unterdrückung von Gefühlen, die trotzdem weiterhin durch den Anstrich »cooler Männlichkeit« hindurchschimmern. Ich habe darüber oft mit Frauen gesprochen, und viele von ihnen haben dies z. B. auch bei der Arbeit von Politikern beobachtet. Hinter der Fassade rationaler Männlichkeit sehen wir kleine Jungen, die noch immer dabei sind, einander auszustechen. »Du traust dich ja doch nicht, über den Graben zu springen«, in der Hoffnung, daß der andere es tut und hineinfällt. Der Wettstreit oder das Aufstellen einer Schwanz- und Hackordnung.
Wenn wir diese Männer aber weiterhin nur als kleine Jungen betrachten, laufen wir Gefahr, zu vergessen, daß »diese kleinen Kinder« ja Entscheidungen treffen, die auch für unser Leben weitreichende Folgen haben. Und das Nur-nicht-mitmachen-Wollen bei diesen »Männerspielchen« läßt uns politisch gesehen genau dort sitzenbleiben, wo wir sowieso immer saßen, in der zweiten Reihe, auf der Zuschauertribüne.
Außerdem zeigt es, daß wir eigentlich den Gebrauch des Verstandes nicht mit wirklicher Rationalität in Verbindung bringen, sondern mit der Scheinrationalität verdrängter und unterdrückter Gefühle. Auch in der Frauenbewegung ist eine Tendenz spürbar, Rationalität als »Männersache« zu verdammen und Gefühl als »das Weibliche« zu idealisieren. Allerdings sind Gefühle leider nicht immer gerade der beste Ratgeber zum Handeln. Vorurteile sind auch Gefühle, Sich-Heraushalten auch, wütendes Um-sich-Schlagen auch. Gefühle, die uns nicht immer den vernünftigsten Weg aus der Unterdrückung zeigen. Wie sieht es denn mit unserer »Emotionalität« aus, mit unserer größeren Fähigkeit, Bindungen einzugehen und Nähe zuzulassen. Problemlos?
Im Umgang mit Männern scheint das manchmal so. Solange wir in heterosexuellen Beziehungen dabei bleiben, Männer zu schieben und zu zerren, damit sie auch endlich mal ihre Gefühle zeigen, können wir uns vor der Erkenntnis drücken, wieviel Mühe auch wir damit haben. Denn auch wir haben den ersten Trennungsprozeß von der Mutter hinter uns, und auch wir haben Angst, unsere Autonomie zu verlieren. Nun bedrohen Männer diese ja tatsächlich, aber »emotional« ruft die Beziehung zu einem Mann viel weniger alte Ängste hervor, sicher auch, weil Männer es gewohnt sind, ihre Distanz stärker zu wahren. Lillian Rubin hat dieses Problem in ihrem Buch »Intimate strangers« ausgearbeitet.[76] Solange wir Männer weiterhin als die emotional Kranken bezichtigen können, brauchen wir nicht zu erkennen, in welchem Maße auch wir vor einer allzu großen Nähe Angst haben.

Wer ist von wem abhängig?

»Genauso wie andere unterworfene Völker haben wir gelernt zu manipulieren und zu verführen, um uns so den Willen der Männer anzueignen und ihn zu verinnerlichen. Männer betrachten das bestimmt als unsere besondere Macht, aber es ist die Macht des Kindes oder der Kurtisane, zu schmeicheln, die Kunst der Abhängigen, ihre Gefühle zu verbergen, manchmal sogar vor sich selbst, um sich so das Wohlwollen zu sichern oder sogar um zu überleben.« Adrienne Rich

Wir kommen jetzt zu einem Problem, das für viel Verwirrung gesorgt hat: wer ist abhängig von wem, wer hat nun Macht über wen? Wenn wir Macht als das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben definieren, ist objektiv zu beweisen, daß Frauen dabei den Kürzeren ziehen. Ein Großteil der Frauen hat noch immer kein eigenes Einkommen, was nicht für jede Frau gleich schlimm sein muß, solange die Beziehung in Ordnung ist. Aber in jedem Fall erweist sich dieses als großes Hindernis, wenn die Frau aus der Beziehung heraus will oder allein zurückbleibt, mit oder ohne Kinder. Unter die neue Armut fallen zum großen Teil die Sozialhilfemütter: Geldmangel erhöht jedenfalls nicht das Selbstbestimmungsrecht über das eigene Leben. In der Ehe sind also viele Frauen von Männern abhängig, die die Grenzen bestimmen können, in denen sich die Frauen bewegen dürfen. Darüber hinaus werden viele für Frauen wichtige Entscheidungen von Männern getroffen. Wir brauchen nicht zu leugnen, daß es auch nicht viele Männer gibt, die das vollständige Selbstbestimmungsrecht über ihr Leben haben, dennoch gelten für Frauen als »Frauen« zusätzlich besondere Einschränkungen, die Männer nicht oder kaum kennen.
In einer heterosexuellen Beziehung haben Männer also im allgemeinen mehr Macht.[77] Damit ist nicht gesagt, daß dieses auch immer so erlebt wird. Aus der psychoanalytischen Betrachtung der Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwicklung und ihrem asymmetrischen Charakter können wir schließen, wo bei Männern der wunde Punkt sitzt: emotionale Abhängigkeit, verdrängt und unterdrückt. Weil eine heterosexuelle Beziehung für Männer eine sehr viel deutlichere Wiederholung des ersten Dramas darstellt, treten mehr frühkindliche Gefühle auf. Ein Aufleben des alten »wenn sie eigene Freunde hat und sich weiterentwickelt, läßt sie mich im Stich«. Diese Gefühle können zwar für die Bewegungsfreiheit von Frauen ein großes Hindernis sein, werden aber von Männern eher als die Macht erlebt, die sie über ihn hat: Sie besitzt die Fähigkeit, ihm das Gefühl zu geben, daß er wieder zu einem verlassenen Kind wird und sich dadurch schmerzlich seiner Abhängigkeit bewußt werden muß, einer Abhängigkeit, die mit dem herrschenden Männlichkeitsbild so schwer in Einklang zu bringen ist.
Gerade weil sich dieser Kampf auf einer unbewußten Ebene abspielt und diese Gefühle so oft verdrängt sind, sind sie so schwer in den Griff zu bekommen. Die Gefühle brechen in Form von Streitereien hervor, die sich scheinbar an Kleinigkeiten festmachen. »Was fehlt ihm bloß, daß er so sauer ist, wenn ich ein einziges Mal auf ein Frauenwochenendseminar gehe. Wie oft arbeitet er schließlich länger oder verbringt seine Zeit auf dem Fußballplatz.« Wenn wir darüber nachdenken, wie es dazu kommt, daß so viele Männer nicht einsehen, daß Frauen unterdrückt sind, während die Fakten doch eine klare Sprache sprechen, stoßen wir wieder auf die gleiche emotionale Ebene. Männern, die in Frauen noch immer die allmächtige Mutter sehen, welche mit ihren Launen, d. h. ihren von ihm unabhängigen Bedürfnissen ihm sowohl ihre Zuwendung entziehen als auch ihn unter ihrer Liebe begraben kann, fällt es schwer, dieses Wesen als unterdrückt zu sehen. Haben sie denn keine Macht über ihn, mit ihrer sexuellen Anziehungskraft und der Zuwendung, die sie ihm verweigern können? Können sie denn seine Gefühle nicht manipulieren, indem sie ihm seine mit aller Kraft verdrängte Abhängigkeit wieder schmerzlich bewußt machen?
Die Wut, die Männer empfinden, wenn sie ihre Abhängigkeit spüren und etwas von dem frühen Kind wieder wach wird, kann auf viele verschiedene Arten geäußert werden. Das Suchen nach einer neuen Frau, die noch bewundernd zu ihm aufschaut, ist natürlich eine Möglichkeit. Aber sie kann auch Vernichtung und Mißhandlung zur Folge haben, den Versuch, die als Bedrohung empfundene Frau »klein« zu machen, indem sie ihr Selbstwertgefühl zerstören. Was noch leichter ist, wenn Frauen ― wie heute üblich ― von ihrer alten Umgebung und ihren Familienangehörigen isoliert sind. Körperliche Mißhandlung ist nachweislich ein größeres Problem, als wir früher gedacht haben. Irreführend an dem Phänomen der Mißhandlung ist, daß viele männliche Hilfeleistende, z. B. Ärzte, den mißhandelnden Mann als Stümper betrachten, vor allem, wenn er ― wie es ja vorkommt ― weinend in der Sprechstunde sitzt, weil er seine Frau wiederhaben will und, wie er sagt, nicht ohne sie leben kann. Diese Not, diese Abhängigkeit wird oft als Liebe angesehen, selbst von Frauen, und damit entsteht die Tendenz, Macht zu leugnen, die Männer objektiv über Frauen haben. In der Zeit der Gesprächsgruppen haben in heterosexuellen Beziehungen lebende Frauen ― ohne dafür die Begriffe zu haben, die Chodorow und Dinnerstein uns nun an die Hand geben ― versucht, ein Gefühl in Worte zu kleiden. Als Frauen hatten wir das Gefühl, Männer seien abhängig von der emotionalen Sorge, die wir ihnen schenkten, daß es aber gleichzeitig zu unserer Aufgabe gehörte, dieses so geräuschlos und automatisch zu tun, daß man es nicht merkte.
Einerseits lernten wir, ihn in seinem Gefühl von »Männlichkeit« zu unterstützen, sein in der Außenwelt angekratztes Ego wieder aufzurichten, während wir andererseits auch die Abhängigkeit der Männer sahen, aber so tun mußten, als sähen wir sie nicht.
Hatten uns nicht schon unsere Mütter beigebracht, daß Männer Kinder sind und wir ihnen besser ihren Willen lassen? Dieses »weibliche« Verhalten empfanden viele von uns als Eiertanz. Schließlich versuchten wir, uns etwas kleiner zu machen, damit er sich größer fühlen konnte, und uns obendrein noch wie eine Mutter zu verhalten, aber bloß nicht allzu deutlich.
Denn wir wußten auch, obwohl wir damals noch nicht die psychoanalytischen Erkenntnisse hatten, daß dieses Gefühl seiner Abhängigkeit explosive Wutausbrüche zur Folge haben kann. Was wir heute wissen: Eine Aktivierung verdrängter, primitiver Gefühle. Traditionell war es unsere Aufgabe gewesen, wie wir von unseren Müttern gelernt hatten, diesen schwachen Punkt von Männern zu manipulieren: Jenes Frauenverhalten, über das sich so viele Männer abfällig äußern, in das sie aber selbst zu unserer Überraschung so oft hineinrutschen. Jenes Frauenverhalten, das wir ablegen wollten, weil es schließlich auf unsere Kosten ging. Wir fühlten uns verbraucht, ausgebrannt, wir wollten ehrlichere, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen. Aber das, so wissen wir jetzt, ist angesichts unserer vorausgegangenen Sozialisationsgeschichte nicht einfach.

9. Weitere Konsequenzen

Bei der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Entwicklungsprozessen, die Männer und Frauen in der heutigen Konstellation durchlaufen, und den daraus folgenden Unterschieden zwischen Männern und Frauen scheinen wir automatisch zu den Schwierigkeiten zu kommen, die es in heterosexuellen Beziehungen gibt.
So beschränken sich die Bücher von Lillian Rubin, die sich in ihrer Arbeit als Therapeutin und Soziologin auf die Theorie von Chodorow stützt, hauptsächlich auf die Mechanismen innerhalb der Ehe.[78]
Aber die Sozialisation berührt noch mehr Dinge, die wir jetzt nur antippen können, weil wir sie noch genauer erforschen müssen. Wir können z. B. weiter über die Beziehungen zwischen Müttern und Kindern nachdenken. Über Mütter und Töchter wurde schon das eine oder andere geschrieben, über Mütter und Söhne ebenfalls.[79] Über Väter beginnen wir gerade erst nachzudenken.[80] Und einzelne Artikel untersuchen zum erstenmal die leidvolle Beziehung zwischen Söhnen und Vätern.[81]

Arbeitsteilung und Politik

Es gibt noch mehr Fragen, die mit der Entwicklung zu Männern und Frauen zusammenhängen, als jene nach unseren Liebes- und Sexualbeziehungen. Die relativ unterschiedliche Persönlichkeitsentwicklung hat auch etwas mit der bestehenden Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen zu tun. Viele feministische Aufsätze haben auf die Ungleichheit bei der Verteilung der bezahlten Arbeit hingewiesen, die darin besteht, daß Männer in den besseren Führungspositionen arbeiten, mit dem höheren Status und der besseren Bezahlung, und Frauen in dem schwächeren Sektor der Arbeit beschäftigt sind (das zeigt sich gerade in der Krise) mit den geringeren Aufstiegschancen und der schlechteren Bezahlung.
Jetzt können wir sehen, daß dies nicht nur mit dem äußeren Zwang zusammenhängt oder der Bösartigkeit der Chefs, die Frauen nun einmal dekorativer für alle möglichen Dienstleistungsarbeiten finden oder den Umstand ausnutzen, daß ein Teil der Frauen von Männern versorgt wird, sie sie deshalb mit schlechter bezahlter Arbeit abspeisen können.
Auch wenn es auf dem Arbeitsmarkt keine Diskriminierung mehr gäbe, würde bei Frauen und Männern die Tendenz bestehen bleiben, sich in traditioneller Weise in Frauen- oder Männerarbeit einzugliedern.
Frauen suchen häufiger eine Arbeit, die sie auch emotional befriedigt, also eine Beschäftigung, in der sie Beziehungen unterhalten können. Die Berufe »mit Herz«. Auch haben Frauen, die ihren Lebensinhalt stärker in Beziehungen suchen, nicht so sehr den Wunsch, ehrgeizig einer Karriere hinterherzujagen. Und wenn sie Führungspositionen einnehmen, erleben sie außerdem ― vor allem, wenn ihre Untergebenen Männer sind ― daß sie sich damit nicht gerade besonders beliebt machen.
Männer, die genau die umgekehrte Angewohnheit haben, nämlich ihre Bindungen zu Menschen zu verdrängen, suchen häufiger Kompensation in ihrem Beruf. Nicht umsonst beklagen sich einige Ehefrauen bitter darüber, daß ihr Mann mehr mit seinem Beruf verheiratet zu sein scheint als mit ihnen. Gesellschaftlich gesehen, bringt das Männern sicher Vorteile. Aber der Preis, den sie dafür zahlen müssen, wird allmählich auch bemerkt: Die kürzere Lebenserwartung der Männer infolge von Stress und Verschleiß. Und auch die dazugehörigen Qualen eines verdrängten emotionalen Lebens und eines harten Konkurrenzkampfes im Beruf sind bekannt: Herzstiche und Magenbeschwerden. Alkoholismus, um die Versteifung der »Männerrolle« wieder ablegen zu können und sich zu entspannen. Ein armseliges Sexualleben. Schlechte Beziehungen zu den Kindern.

»Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß die Frau zu ihrer emotionalen Befriedigung einseitig von der Liebe abhängt, weil sie von einer ausfüllenden Tätigkeit im öffentlichen Bereich ausgeschlossen ist. Das ist wahr. Aber es ist ebenso wahr, daß der Mann einseitig von der Teilnahme am öffentlichen Bereich abhängen kann, weil er in der Liebe lahmgelegt ist.« Dinnerstein, S. 97/98.

Auch auf die Politik hat dieses Muster Auswirkungen. Ganz sicher wird dort ebenfalls diskriminiert. Manche Männer fühlen sich durch die Anwesenheit von Frauen derart bedroht, daß ihnen mehr als eine Frau auf der Wahlliste schon wie ein feministischer Coup erscheint oder sie es bereits als Machtübernahme empfinden. Aber es spielt noch mehr mit. Dinnerstein formuliert das sehr anschaulich: »Frauen tragen die moralische Verantwortlichkeit von Eltern, während sie machtlos sind wie Kinder. Gleichzeitig haben Männer die Macht von Eltern, während sie wie Kinder von jeder moralischen Verantwortung entbunden sind.« Mit anderen Worten: Die Menschen, die nicht von Natur aus, sondern infolge unserer frühen Entwicklung und der dazugehörigen Arbeitsteilung die Fürsorge für Menschen übernehmen, die alltägliche Sorge, damit das Leben weitergeht, haben wenig politische Macht, wenig Entscheidungsbefugnisse über die Bedingungen, unter denen diese Fürsorge stattfinden muß. Und die Menschen, die sich von dieser alltäglichen Fürsorge so stark distanzieren, auch nicht von Natur aus, sondern ebenfalls durch die einseitige Persönlichkeitsentwicklung, besitzen diese Macht, Oder noch simpler ausgedrückt, wie eine Frau in einem Kurs es mal formulierte: »Wenn die Kerle wüßten, was es bedeutet, ein paar kleine Kinder aufzuziehen, dann würden sie andere Entscheidungen treffen.« Dinnerstein sagt es anders:

»Die Mutterschaft (...) schenkt uns Knaben, die mit Sicherheit zu kindischen Männern heranwachsen und nicht wissen, wie sie den primitiven Realitäten des Lebens begegnen sollen. Und sie schenkt uns Mädchen, die mit Sicherheit zu kindischen Frauen heranwachsen und nicht wissen, wie sie ihre Rechte als gleichberechtigte erwachsene Menschen in der Welt wahrnehmen können.« S.110

Beziehungen zwischen Männern

Die unterschiedliche Entwicklung von Männern und Frauen hat noch mehr Auswirkungen auf Bereiche menschlicher Beziehungen als nur auf die Mann-Frau- oder Familienbeziehungen. Womit sich Chodorow und Dinnerstein noch kaum befaßt haben ― was ich aber äußerst wichtig finde ― sind die Schwierigkeiten in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, die mit der einseitigen Persönlichkeitsentwicklung zusammenhängen. Und ich meine nicht nur Liebes- und Sexualbeziehungen. Über Männer wissen wir noch am wenigsten. Hier und da erscheinen Artikel, die Männerbeziehungen untersuchen. Darin ist die Rede von der Schwierigkeit, zu einer wirklichen Nähe zu gelangen, von Homophobie und Abwehr. Wie wir uns erinnern, besteht ein Zusammenhang zwischen der defensiven Persönlichkeitsentwicklung und der Flucht in Männerbollwerke, also dem Abgrenzen eines Bereichs, in den Frauen nicht eindringen können. Kameradschaft, das Muster für Männerfreundschaften, sagt Mary Daly in »Gyn/Ökologie« zynisch, können wir auf die buchstäbliche Bedeutung des Wortes zurückführen: Soldaten, die eine Kammer teilen.
Wir können überlegen, inwieweit die Verdrängung des Verbundenheitsgefühls und die Angst vor zu großer Nähe, die beide mit einer starken Homophobie einhergehen, Männer in der männlichen Hierarchie besser funktionieren läßt. Denn als Feministinnen können wir uns zwar hauptsächlich auf die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern konzentrieren, aber das Patriarchat [82] ist nicht allein auf der Herrschaft von Vätern über Frauen aufgebaut, sondern auch auf der von Vätern über andere Männer.
Wir können erkennen, welche Funktion die rituelle Bestrafung von Frauen im sogenannten Humor der schlüpfrigen Witze hat: nämlich eine zu große weibliche Annäherung abzuwehren und eine defensive Bindung zwischen Männern zu stärken.


»Ritualisierte  verbale gemeinschaftliche  Hurerei ist ein so gängiger Bestandteil der gewöhnlichen Unterhaltung respektabler Männer untereinander, daß jeder Protest, der von seiten der Frauen dagegen vorgebracht wird, als geschmackloser Angriff auf ein harmloses Vergnügen empfunden wird.« Dinnerstein, S. 84.

Und wir können uns fragen, ob die Männergruppen, die nach dem Vorbild der feministischen Frauengruppen entstanden sind, diese defensive Haltung nicht eher verstärken als abbauen.[83]
Aber in dieser Richtung müssen noch viele Untersuchungen durchgeführt werden.

»Sie (Männer) können nicht unsere Brüder sein, bevor wir aufhören, ihre Mütter zu sein, d. h. bevor wir aufhören, die Hauptverantwortung ― und die Hauptschuld ― für ihre Einführung in die Conditio humana zu tragen.« Dinnerstein, S. 120.

Beziehungen zwischen Frauen.
Bin ich meiner Schwester Mutter?

Aber nicht nur Männer können mit ihren Beziehungen untereinander Probleme haben.

»Was die Männer daran hindert, unsere Brüder zu sein, hindert uns gleichzeitig, Schwestern zu sein. Diese Tatsache zu übersehen ― den Mann als einzige Quelle des Gefühls zu identifizieren, daß wir als Frauen gehaßt und verachtet werden ― enthält einen gefährlichen Trost; er ermutigt Frauen, bedeutungsvolle Spannungen zu unterdrücken, die zwischen ihnen selbst bestehen und die dann irgendwann einmal explodieren müssen. Wenn schwesterliches Verhalten
wirklich ein Machtfaktor werden soll, müssen wir uns mit den inneren Widerständen gegen weibliche Solidarität auseinandersetzen, statt ihnen aus dem Wege zu gehen.« Dinnerstein, S. 120/121.

Auch über Beziehungen zwischen Frauen ist noch wenig geschrieben worden, aber wir können aufgrund von Erfahrungen einige Vermutungen anstellen. Bereits seit vielen Jahren arbeite ich in Frauengruppen und zwar meist als Begleiterin. Ich glaube, daß wir aus unserer Sozialisation zur Frau sowohl eine Stärke im Umgang miteinander entwickelt haben als auch eine Schwäche. Die Stärke besteht darin, daß wir als Frauen ja eine selbstverständliche Beziehung zueinander hatten. Für eine wie mich, die ich sehr stark heterosexuell fixiert war und als Folge der herrschenden Männerkultur lange Zeit auf Frauen herabgesehen habe, war diese Wiederentdeckung der Bindung zu Frauen ein berauschendes Gefühl. Als sei ich nach jahrelanger Abwesenheit wieder nach Hause zurückgekehrt. Diese Euphorie teilte ich mit vielen Frauen. Heute weiß ich, daß dieses schöne Gefühl ― nicht von Verliebtheit zu unterscheiden, schrieb ich damals in »Die Scham ist vorbei« ― etwas von dem Wiederfinden der ersten Liebe hatte. Aber unsere erste Liebe war nicht ohne ambivalente Gefühle, und es ist denn auch kein Zufall, daß wir die Angewohnheit haben, das frühe Kindheitsdrama in der Frauenbewegung zu wiederholen.[84] Wer in der Frauenbewegung die »Mutter« wiederzufinden sucht ― nach dem Motto: endlich werde ich ohne Vorbehalte geliebt werden, endlich bekomme ich das, was ich immer haben wollte ― muß zwangsläufig enttäuscht werden, wie unsere Mutter uns auch enttäuschte. Denn das Defizit aus der frühen Kindheit kann nicht mehr ausgeglichen werden. Daß diese Enttäuschung genauso stark erlebt wurde wie die Euphorie, ist nicht verwunderlich. Denn mit diesen Emotionen kamen zugleich viele alte Sehnsüchte hoch, frühkindliche Gefühle, die nicht verarbeitet waren, ungerechte und viel zu absolute Gefühle. Wie sich zeigt, sind auch Feministinnen Menschen mit Defiziten. Übereinstimmungen zwischen Frauen traten zutage, aber auch Unterschiede. Natürlich war es nötig, diese Unterschiede zu erkennen, daß dies aber mit so heftigen Gefühlen einherging, mit soviel Groll und Bösartigkeit, kann nicht mit den objektiven Unterschieden erklärt werden. Die warme Decke, unter die wir zu kriechen versuchten, war auch erstickend, wie die Symbiose mit der Mutter sowohl liebevoll als auch einengend war. Die Decke hielt uns zusammen, warm, aber schränkte uns auch ein. Das stellte sich heraus, als Frauen sich aus dieser Umklammerung zu befreien versuchten und auf eigenen Beinen stehen wollten: Die Wut, mit der Frauen überschüttet wurden, die zu sehr auf dem »Egotrip« waren, zu sehr über das stillschweigend vereinbarte Mittelmaß hinausragten; das »trashing the leader« ist allmählich sprichwörtlich.[85]
Als Begleiterin von Frauengruppen habe ich erst allmählich verstanden, daß Frauen, die sich in Gruppen zusammenfinden, etwas von der ersten Bindung wiederfinden wollen. Und begleitende Frauen rufen ganz sicher ein Stück dieser Sehnsüchte hervor, wenn sie ein bißchen Wärme und Verständnis versprechen. Aber auch eine Begleiterin kann nicht immer dafür sorgen, daß jede glücklich nach Hause geht, sie errät nicht immer, wie es jeder einzelnen ergeht, und sie dreht total durch, wenn sie sich auch noch nach Feierabend für »ihre« Frauen verantwortlich fühlt. Als wir dieses Phänomen endlich verstanden hatten, konnten wir es als Thema bearbeiten und einen Teil dieses unbewußten Prozesses deutlich machen. Nein, von männlichen Begleitern würden wir niemals erwarten, daß sie sich immer merken, wer krank gewesen ist und nachfragen. Und außerdem tut es nicht so weh, wenn Männer sich weniger fürsorglich verhalten; es erinnert weniger stark an das mit der Mutter verbundene Gefühl, die schon wieder versagt hat. Ich sage hiermit nicht, daß alle politischen Meinungsverschiedenheiten, die wir in der Frauenbewegung haben, auf dieses Phänomen zurückzuführen sind. Aber sie bilden wohl die emotionale Grundlage, die es schwer macht, diese Unterschiede ohne persönliche Angriffe und starke Gefühle von Enttäuschung und Wut auszutragen.
Wir tun gut daran, innerhalb wie außerhalb der Frauenbewegung, die Beziehungen zwischen Frauen »wiederzufinden«, Freundschaften zwischen Frauen wieder zu Ehren zu bringen, die Liebe für andere Frauen von dem sexistischen Etikett zu befreien. Gerade weil es Beziehungen zwischen Frauen nicht geben durfte oder sie nicht ernst genommen wurden und viele Männer es als persönlichen Angriff empfanden, wenn Frauen sich bewußt für Frauen entschieden, haben wir es uns als Verteidigungshaltung angewöhnt, lesbische Beziehungen zu idealisieren. In der Liebe zwischen Frauen könne von Unterdrückung nicht die Rede sein, denn Frauen hätten die gleiche Position. Frauen begreifen einander, sagten wir. Gesellschaftlich gesehen, ist es richtig, daß nicht von Unterdrückung zwischen Frauen geredet werden kann (zumindest wenn wir die Unterschiede in der Hautfarbe und der Klassenzugehörigkeit einmal beiseite lassen), aber damit ist lesbische Liebe noch lange nicht immer ideal und problemlos. Gerade in der Liebe zwischen Frauen laufen wir Gefahr, immer wieder das frühe Drama zu wiederholen. Anfangs die große Euphorie und später dann manchmal die große Enttäuschung.[86] Denn Mutter kommt nicht zurück, und auch diese Frau kann nicht verhindern, daß wir uns einsam oder unverstanden fühlen. Und auch diese Frau kann sich so an uns klammern und vielleicht von unserem Bedürfnis nach Autonomie bedroht fühlen, daß wir von neuem das Gefühl bekommen können, uns freikämpfen zu müssen.

10. Offengebliebene Fragen

Chodorow und Dinnerstein liefern uns eine sehr nützliche Analyse der weiblichen und männlichen Persönlichkeitsentwicklung. Aber wie das nun einmal bei jeder originellen, neu formulierten und umfassenden Theorie ist, werden lange nicht alle Fragen in bezug auf Männer und Frauen damit beantwortet. Es hat viel Kritik gegeben, vor allem an dem Buch von Chodorow, das wissenschaftlich aufgebaut ist und von feministischen Wissenschaftlerinnen besprochen wurde. Natürlich ist die Überlegung angebracht, wo eine so wichtige Theorie, die aber Unzulänglichkeiten beinhaltet, erweitert, bzw. differenziert werden muß. Chodorow sagt selbst, daß ihre Theorie in mehrerer Hinsicht weiter ausgearbeitet werden muß. Wenn wir z. B. Klassen- und ethnische Unterschiede oder die unterschiedlichen Familien- und Haushaltsstrukturen oder die unterschiedliche »sexuelle Orientierung« weiter erforschen und die historischen und interkulturellen Abweichungen in diesen Verhältnissen untersuchen, die sich zum Beispiel bei den unterschiedlichen Verhaltensmustern verschiedener Völker zeigen.[87] Gerade weil Chodorows Theorie so offen ist und nach vielen Seiten hin erweitert und ergänzt werden kann, finde ich es schade, in manchen Kritiken folgenden Ton zu hören: Wenn sie nicht alle Klassenunterschiede berücksichtigt, verteidigt sie den Standpunkt der Mittelschicht.[88]
In dieser Ablehnung der chodorowschen Theorie finden wir vielleicht einen Teil des von ihr richtig beschriebenen Verhaltensmusters von Frauen wieder, nach dem Motto: wenn sie nicht mit einem Schlag alle unsere Probleme löst, ist ihre Theorie nichts wert.
Dinnersteins Buch ist auf weniger wissenschaftlichem Niveau kritisiert worden. Anders als Chodorow, hat sie sich von vornherein gegen Kritik geschützt, indem sie sagt, diese müsse wohl auf unseren Widerständen gegen ihre Theorie beruhen, auf dem Widerstand gegen unser Gefühl von Bedrohung, das sich einstelle, wenn die herrschenden Mann-Frau-Regeln angegriffen werden. Eine schlechte Angewohnheit von Psychoanalytikern, jede Kritik von vornherein unseren Neurosen zuzuschreiben.
Nacheinander erörtere ich nun einige Kritikpunkte oder gewünschte Erweiterungen dieser Theorie. Die erste Frage lautet: Wie allgemeingültig ist die Theorie? Wird die bestehende Ungleichheit zwischen Frauen und Männern immer und in jedem Fall durch die Tatsache, daß Frauen Mütter und Mütter Frauen sind, reproduziert oder spielt die Art der Mutterschaft, also die Umstände, unter denen Mutterschaft stattfindet, eine  Rolle? Und sind die ambivalenten Gefühle aus der frühen Kindheit immer so, daß sie im Unterbewußten weiterexistieren und sich später in Frauenhaß und vermeintlicher Überlegenheit von Männern äußern werden? Und: wenn das skizzierte Muster prinzipiell zur Heterosexualität führt, woher kommen dann all die Ausnahmen? All die Frauen, die sich nicht den herrschenden Verhaltensregeln unterwerfen, all die Lesben, die homosexuellen Männer, wo kommen die her? Betrachten wir diese Frage einmal näher.

Determinismus und Reduktionismus

Es sprechen einige Gründe dafür, Dinnerstein eine deterministische und ahistorische Sichtweise vorzuwerfen. Dinnerstein räumt nirgends ein, daß es einen Unterschied machen könne, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Mutterschaft stattfindet. Sie geht außerdem davon aus, daß das Kind die Mutter hassen müsse. Chodorow benutzt mildere Begriffe für diese Ambivalenz, die sie sowohl als das Bedürfnis nach Bindung als auch das Bedürfnis nach Selbständigkeit umschreibt. Daß Dinnerstein so viel negativer über die Gefühle der Kinder gegenüber der Mutter spricht, liegt in der Tradition von Melanie Klein, die sie in ihrem Buch mehrere Male zitiert. Auch Melanie Klein spricht in stark negativen Begriffen über die Emotionen des präverbalen Kindes, so zum Beispiel von dem »grausamen Säugling«.[89] Alice Miller [90] sieht darin ein Symptom, wie Erwachsene eigene Bedürfnisse und Gefühle auf das Kind projizieren, vor allem die Gefühle, die sie sich selbst nicht gern eingestehen. Als ein anderes Beispiel nennt sie Freuds Angewohnheit, kleinen Mädchen in bezug auf den Vater Verführungsphantasien zu unterstellen, statt vor allem erwachsene Männer als die zu sehen, die sexuelle Gefühle für kleine Mädchen entwickeln können. Das Verhalten eines Kindes ist frei von Schuld, sagt Miller, ein Kind sucht Liebe bei den Eltern, weil es ohne diese Liebe nicht leben kann; und mithin werden Kinder den Wunsch haben, die Forderungen der Eltern zu erfüllen, wenn ihnen das die Liebe garantiert (S. 77). Kinder reagieren. Mit Freuds Triebtheorie verneint Miller auch, daß ein Kind »Schuld« haben könne. Es sind die Erwachsenen, die aus ihren Schuldgefühlen heraus eigene unerwünschte innere Regungen in ihren Kindern wiederzufinden glauben. Und so hätten wahrscheinlich auch eher Mütter gelegentlich Mordgedanken einem Kind gegenüber als umgekehrt.
Eine andere Kritik an Dinnersteins Theorie ist, daß sie zu viele Dinge aus der frühen Sozialisation und der Ambivalenz gegenüber der Mutter herleitet. Es ist eine Form von Reduktionismus (unzulässiger Verallgemeinerung), alles mögliche wie Kriege, Kernwaffen und Umweltverschmutzung auf den Haß der Männer gegenüber der Weiblichkeit zurückzuführen. Dafür spielen zu viele andere nachweisbare Faktoren hierbei eine Rolle: wirtschaftliche Interessen, nationale Interessen. Aber wenn wir uns das Recht nehmen, die Absolutheit ihrer Sicht etwas abzuschwächen, sehen wir, daß uns Dinnerstein eine sehr intelligente Beschreibung der emotionalen Grundlagen an die Hand gibt, mit der wir auch scheinbar rein politische Fragen besser verstehen können und die deutlich macht, warum bestimmte Menschen einer bestimmten Politik zustimmen oder sogar daran mitarbeiten und andere nicht. Wenn wir nur weiter bedenken, daß wir mit den Einsichten Chodorows und Dinnersteins keine einfachen Kausalzusammenhänge herstellen können, keine geradlinigen Erklärungen zur Hand haben, wollen wir nicht unzulässig psychologisieren. Wir haben es hierbei mit nicht weniger und nicht mehr als unbewußten Motiven zu tun.

Wie irreparabel ist der Schaden?

Chodorow scheint der Ansicht zu sein, das kleine Kind überstehe die erste Entwicklungsphase nicht unbeschadet, und allein die Tatsache, daß es durch eine Frau versorgt wird, müsse zu späteren Störungen führen. Dinnerstein ist noch pessimistischer. Beide vermitteln stark den Eindruck, daß ein Kind, weil es sich noch in der präverbalen Phase befindet, keine Mittel hat, die unausweichlichen Frustrationen zu verarbeiten ― als könne allein das sprachliche Verstehen die Lösung bringen. (Ein typisch psychoanalytischer Standpunkt.) Das finde ich fragwürdig. Ich gehe nicht davon aus, daß jede Frustration, die ein Kind erlebt, zu einer Schädigung führen muß, und ich gehe auch nicht davon aus, daß Frustrationen nicht zu verarbeiten sind.
Chodorow schwächt diesen Eindruck, den ihr Buch vermittelt, in einem späteren Artikel ab, in dem sie zwischen »wants« und »needs« eines Kindes unterscheidet, also: was ein Kind will, sei nicht automatisch dasselbe, wie das, was ein Kind braucht.[91] Frustrationen sind in bestimmtem Maße auch etwas, das Kinder brauchen, um Grenzen zu erfahren, ein Anreiz, sich weiterzuentwickeln. Angenommen, es wäre möglich, Kinder so aufzuziehen, daß sie sich nie mehr anstrengen müßten, ihre Bedürfnisse zu äußern, weil schon ― bevor sie sich überhaupt ihrer Bedürfnisse bewußt sind ― für alles gesorgt wäre, würden wir dann nicht Pflanzen statt Menschen heranziehen?
Ich gehe also nicht davon aus, daß Kinder jedesmal, wenn sie die Mutter missen müssen, sich eine Schädigung zuziehen, die später nicht mehr gutzumachen ist. Zum zweiten gehe ich davon aus, daß auch kleine Kinder schon ihnen entsprechende Möglichkeiten haben, Frustrationen zu verarbeiten. Ein Ausgangspunkt vieler Therapien ist, daß Menschen in der Lage sind, aufgestaute Wut, Ärger, Angst zu »entladen«.[92]
So können wir bei Kindern, die noch nicht gelernt haben, daß das Ausdrücken bestimmter Gefühle unter Umständen tabuisiert sein kann (Jungen weinen nicht, wenn du nicht sofort mit dem Gejammere aufhörst, gebe ich dir gleich einen Grund zum Heulen, wenn du wieder lieb bist, bekommst du auch einen Bonbon, usw.), beobachten, wie sie diese Fähigkeit gebrauchen. Ein Kind, das seine Mutter verloren hat, fängt an zu brüllen und braucht, wenn es die Gelegenheit bekommt, sich auszuweinen, keine Angst übrigzubehalten. Und ein Kind, dem zugestanden wird, seine Wut auf Erwachsene zu äußern, braucht keine Ohnmachtsgefühle zu entwickeln. Daß wenige Kinder die Möglichkeit zum Ausagieren ihrer negativen Gefühle haben, liegt meist an den Erwachsenen, die sie nicht ertragen können, an Eltern, die denken, der Schmerz höre auf, wenn sie ein Kind dazu bewegen können, nicht mehr zu weinen, oder selbst ärgerlich werden, wenn ein Kind böse auf sie ist, und es dafür bestrafen. Aber auch das braucht noch nicht zu bedeuten, daß das zum Erwachsenen gewordene Kind irreparable Schäden behält. Das normale Sozialisationsmuster bringt für gewöhnlich unvollständige Menschen hervor, aber dennoch sind nachweislich viele Menschen widerspenstig, frech oder flexibel genug, um aus eigener Kraft diesem Muster zu entgehen.
Wo das aber nicht gelingt, so z. B. Männer entdecken, daß sie ihre Gefühle nicht äußern können und dieses nachteilige Folgen für ihre Beziehungen hat, oder Frauen jedesmal wieder erfahren, wenn sie selbständig sein müssen, daß sie unsicher werden, also mit den Folgen ihrer frühen Sozialisation konfrontiert sind, gibt es Möglichkeiten, sich mit Hilfe anderer davon zu befreien.[93]

Mutterschaft und Klasse

Ferner müssen wir ausarbeiten, in welchem Maß sich Mutterschaft in den verschiedenen Klassen unterschiedlich auswirkt. Einige Frauen, die ursprünglich aus der Arbeiterklasse kamen, erzählten mir, daß sie sich kaum in dem einengenden, symbiotischen und ambivalenten Verhältnis zur Mutter wiedererkennen könnten. Aber diese Frauen kamen aus Großfamilien, in denen die Mutter sich beileibe nicht ausschließlich mit einem einzigen Kind beschäftigen konnte. Vielleicht hatte die Mutter auch weniger verdrängte, ehrgeizige Gefühle als viele Mittelschichtmütter, die ihre Karriere aufgegeben haben, um Mutter sein zu können, das macht vielleicht auch etwas aus. Dem widerspricht allerdings die Erzählung einer anderen Frau aus der Arbeiterklasse, die sagte, daß ihre Mutter sie als die Älteste nun gerade im Haus behalten wollte und es ihr schwerer fiel, sie gehen zu lassen, während sie bei den Mädchen aus der Mittelschicht beobachten konnte, daß diese das Haus verlassen konnten und weiterlernen durften. Alle diese Abstufungen müssen noch untersucht werden.
Auch farbige Frauen, die zusammen mit anderen Kindern von mehreren Müttern gemeinsam aufgezogen wurden, manchmal ohne den immer wieder von seiner Arbeit zurückkehrenden Vater und von Müttern, die neben der Kindererziehung einer Lohnarbeit nachgingen, sagten mir, daß sie sich kaum in der Theorie Chodorows wiedererkennen könnten. Chodorow hat wenig über den Inhalt der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern gesprochen, kaum über die Art der Mutterschaft, als identifizierten sich alle Mütter gleichermaßen mit den Töchtern und alle Töchter gleichermaßen mit den Müttern. Ob das so stimmt, ist fraglich.
Ich denke, daß das Maß, in dem Kinder unverarbeitete und ambivalente Gefühle ihrer ersten Liebe gegenüber noch als Erwachsene mit sich herumschleppen, auch von der Art abhängt, wie die jeweilige Mutterschaft geregelt war. Diese Auffassung bestätigte sich, als ich einige Artikel von Ilene Philipson las.[94]
Sie beschreibt die Mutterschaft, wie sie in der Mittelschicht der Vereinigten Staaten nach dem Krieg bestand. Die Nachkriegszeit, die fünfziger Jahre mit dem »Weiblichkeitswahn«, den Betty Friedan in ihrem Buch so brillant analysiert hat, war eine Periode, in der das Familienideal sehr stark propagiert und auf Frauen ein starker Druck ausgeübt wurde, ihren eigenen beruflichen Ehrgeiz für eine Karriere als Hausfrau, Mutter und Ehegattin aufzugeben. Nun war das nicht neu. Neu war aber, daß es eine Generation von Frauen betraf, die mehr denn je zuvor über eine Berufsausbildung verfügte und vor der Ehe einer Arbeit nachgegangen war. Neu war auch, verglichen mit den vorausgegangenen historischen Perioden, daß diese Mutterschaft nun in einer viel größeren Isolierung stattfand als je zuvor. Keine Familie mehr in der Nähe, wie es zuvor noch in alten Stadtvierteln oder in ländlichen Gegenden üblich war, wo Familienangehörige gemeinsam arbeiteten. Wegen der größeren Mobilität waren Umzüge normaler, und Frauen mußten das Geflecht sozialer Beziehungen, das sie in der Nachbarschaft aufgebaut hatten, wieder aufgeben. Frauenfreundschaften, traditionell eine große Unterstützung, wurden damit weniger stabil. Außerdem war der Druck auf Männer aus der Mittelschicht, zu arbeiten, Überstunden und Karriere zu machen, gerade in dieser Phase stärker als je zuvor ― genau in der Zeit, als die Kinder klein waren. Väter waren jetzt noch viel weniger zu Hause als sonst.
Es ist aber nicht sehr verwunderlich, daß Frauen, in dieser Konstellation, mit dem starken Ehrgeiz, der nun verdrängt werden mußte, mit der Erfahrung, wie es ist, in der Arbeitswelt aufgenommen zu sein, und ohne die Aussicht, dorthin je wieder zurückzukehren, sich total auf die Kinder stürzten. Wenn eine Mutter kaum andere menschliche Kontakte hat als die zu den Kindern und keine Möglichkeiten, den eigenen Ehrgeiz an einem anderen Ort auszuleben als in der Familie, ist es nicht schwer zu verstehen, daß es ihnen Schwierigkeiten machte, die Kinder loszulassen, und sie die Angewohnheit entwickelten, durch ihre Kinder zu leben. Das Vorbild von der sich aufopfernden Mutter, die sagt: »Wenn meine Kinder es nur gut haben, dann brauche ich für mich selbst nichts mehr«, klingt schöner, als es sich in Wirklichkeit ausnimmt. Es übte auf jeden Fall einen starken Druck auf die Kinder aus und ganz besonders auf die Töchter, der Mutter ihre Daseinsberechtigung zu geben. Philipson sagt, dieses Modell der Mutterschaft habe eine Generation von Menschen hervorgebracht, die sich nach Bestätigung durch andere
sehnten, aber Angst hatten, Bindungen einzugehen. Und ironischerweise habe gerade dieser Versuch, nach dem Krieg die Kernfamilie aufrechtzuerhalten, eine Generation hervorgebracht, die weniger imstande und motiviert ist, selbst wieder eine neue Familie zu gründen:
Männer, die das Playboy-Ideal nach und nach attraktiver fanden als das traditionelle Modell des Familienvaters;[95] Frauen, die aus Angst, so wie ihre Mutter zu werden, Feministinnen wurden.
Mit Analysen wie z. B. denen von Ilene Philipson können wir Chodorows vorgegebenen Rahmen weiter ausfüllen und erkennen, unter welchen Umständen ihre Theorie über Mütter und Väter mehr oder weniger zutrifft. Solche Differenzierungen kommen auch von anthropologischer Seite. Denn obwohl bei anderen Völkern auch Frauen Mütter sind und die Vaterschaft beinahe überall eine eher sekundäre Funktion hat, ist es fraglich, ob die Entwicklung zu Frauen und Männern in Gesellschaften, die die Kernfamilie nicht kennen, wohl genauso verlaufen würde.[96]
In einem früheren Artikel liefert uns Chodorow bereits selbst die Bestätigung für diese Annahme.[97] Dort schreibt sie, die verschiedenen Kulturen werden sehr stark mit der Art und Weise zusammenhängen, in der in diesen Kulturen die Mutter- und Vaterschaft und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern geregelt ist.

Heterosexismus

Ein letzter Punkt ist der Heterosexismus.[98] Chodorow und Dinnerstein betrachten bei ihrer Analyse vor allem die Kernfamilie als Norm und entwickeln daraus das Entstehen der weiblichen und männlichen Persönlichkeitsstruktur und die Konstruktion der Heterosexualität. Rich und andere werfen beiden Heterosexismus vor.«[99] Meiner Meinung nach trifft das für Chodorow nicht so zu. Ich habe keine Passagen in ihrem Buch finden können, die belegen, daß das Entstehen von Heterosexualität selbstverständlich oder an sich wünschenswert sei. Sie sagt sogar, eine Unzulänglichkeit ihrer Theorie bestehe in der Tatsache, daß sie nicht ausgearbeitet hat, was die Folge von homoerotischen Gefühlen der Mutter in der frühen Beziehung zu Jungen- und Mädchenkindern sein könnte,[100] sie fände es aber der Mühe wert, diese zu untersuchen. Dinnerstein scheint schon eher der Auffassung zu sein, daß wir heterosexuell zu sein haben, was schließlich das Natürlichste sei. Aber Untersuchungen einer Norm besagen noch wenig über die Ausnahmen von der Norm.
Es nimmt sich heute merkwürdig aus, daß ein Jahrhundert lang über die Entstehung von Homosexualität Untersuchungen angestellt worden sind, weil sie als Problem betrachtet wurde, als Abweichung, Perversion oder Krankheit.
Gerade weil wir diese mit Vorurteilen beladenen Ausgangspunkte nicht teilten, lehnten wir diese Untersuchungen ab und verweigerten eine längere Beschäftigung mit der Frage, wie Homosexualität entstehe. Aber jetzt, da wir von einem anderen Standpunkt aus darüber nachzudenken beginnen, wie eigentlich Heterosexualität entsteht, und mehr Kenntnisse über den Einfluß auf unsere Geschlechtsidentität und sexuelle Neigungen haben, wird es interessant zu untersuchen, wo all die Ausnahmen herkommen: jene, die der eingeschlagenen Richtung des Sozialisationsprozesses entkommen sind. Oder um die Frage etwas zuzuspitzen: es wird interessant, uns zu fragen, wie es kommt, daß viele Männer trotz der Tatsache, daß ihre erste erotische und emotionale Liebe eine Frau war, homosexuell werden, und wie es kommt, daß viele Frauen mit der gleichen Tatsache in ihrer Vorgeschichte heterosexuell werden.[101]
Diese Fragen beantworten weder Chodorow noch Dinnerstein. Aber wir kommen mit ihren Theorien sicher näher an die Antworten heran, als mit irgendeiner anderen Theorie, die wir bisher zur Verfügung hatten.

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Kritik an Freud