I
An den Überlegungen im Beitrag »We don't need no...» soll hier ein bestimmter Aspekt näher ausgeführt werden, nämlich die biografische Betroffenheit und Verarbeitung von Erziehungserfahrungen aus der eigenen Kindheit.
Die Überlegungen von Eltern hinsichtlich des Lebens mit ihren Kindern sind von der Tatsache beeinflußt, daß sie selber einmal Kinder, also Gegenstand von Erziehungsbemühungen waren. Sie wollen ihre früheren — als Kinder gemachten — Erziehungserfahrungen mit dem Ziel aufarbeiten, ihre gegenwärtige Lebenspraxis — als Eltern — zu verbessern. Dabei interessiert fortschrittliche Eltern das Verhältnis zur eigenen Kindheit noch in einem besonderen Aspekt: sie haben in der Regel ein ihnen zugedachtes biografisches Muster aufgebrochen; das heißt, sie haben sich nicht so entwickelt, wie ihre Eltern/Erzieher das gewollt hatten. Zumindest haben sie die ihnen in ihrer Kindheit vorgegebenen Ziele nicht in dem gewünschten Ausmaß realisiert. Dieser Zusammenhang ist in dem verbreiteten Spruch aufgenommen: »Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben.«
In der Auseinandersetzung mit den .eigenen kindlichen Erziehungserfahrungen interessieren sich also fortschrittliche Eltern auch für die besonderen Bedingungen, die zu diesem Bruch geführt haben. Die Konsequenzen eigener Erzogenheit — wie auch die Konsequenzen anderer Lebensabschnitte — sind hinsichtlich ihrer Bedeutung für die gegenwärtige Lebensbewältigung (was Erziehungspraxis einschließt), als Moment bewußter Lebenspraxis zu analysieren.
Für die biografische Untersuchung des ersten Abschnitts des Lebens, für diesen Teil der persönlichen Vergangenheitsbewältigung, bietet sich als wissenschaftliche Theorie die Psychoanalyse an. Sie weist der Kindheitserfahrung für die Analyse eines jeden biografischen Lebensabschnitts eine Schlüsselrolle zu, was in der Freudschen Aussage: »Das Kind ist der Vater des Erwachsenen« verdichtet ist.
Ebendies erscheint an dem psychoanalytischen Orientierungsangebot problematisch, weil der tatsächliche Stellenwert der Kindheitserfahrung für das Hier und Heute zusammenfällt mit dem zentralen Stellenwert, den die Psychoanalyse der Kindheit überhaupt zuweist. So gerät man, u.U. ohne es zu merken oder zu wollen, in psychoanalytische Denkweisen: Wo man sich doch »nur« aus der Sicht des Erwachsenen mit seiner Kindheit befassen wollte, sieht man sich als Erwachsener nur noch aus der Perspektive der (erinnerten) Kindheit. Man wählt dabei einen Zugangsweg, durch den die aktuelle Daseinsbewältigung unter weitgehender Ausklammerung gegenwärtiger Lebens- und Entwicklungswidersprüche untersucht wird.
In eben dieser Herangehensweise wird das Problem der biografischen Verarbeitung und Auswirkung von Erziehungserfahrung auf Erziehungspraxis und deren Auswirkung auf die Gesellschaft von der Psychoanalytikerin Alice Miller aufgegriffen, deren Auffassungen auch unter fortschrittlichen Eltern und Erziehern große Resonanz gefunden haben. Um die Analyse der Nützlichkeit von Millers Orientierung für Eltern vorzubereiten, soll zunächst ein Verhältnis problematisiert werden, das bei der Reflexion der eigenen Erziehungser/a/irw/jg und -praxis durcli die Betroffenen — auch bei der einschlägigen Diskussion unter Linken — meist un-hinterfragt vorausgesetzt wird: Bei der gängigen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Erziehungszielen und Erziehungsstilen geht man nämlich davon aus, daß die Tatsache des Setzens von (fortschrittlichen) Erziehungszielen selbst unproblematisch ist und die Erziehungsprobleme erst da beginnen, wo es um die Realisierung der Ziele, also um den Stil der Erziehung geht. Demgegenüber sollen hier die Funktion des Setzens von Erziehungszielen durch die Erwachsenen überhaupt und die sich daraus ergebenen Konsequenzen für den Erziehungsstil problematisiert werden: Es wird behauptet, daß das Setzen der Ziele bereits zum Erziehungsstil gehört und da einen Faktor darstellt, der das Erreichen der fortschrittlichen Ziele nicht fördert, sondern eher behindert und insofern für den Entwicklungsprozeß der Kinder nicht nützlich und sinnvoll ist.
II
Wenn man von »Erziehung« spricht, so kommt i.d.R. niemand auf die Idee, daß man nun über Verhältnisse zwischen Erwachsenen, in denen einer von dem anderen lernt, diskutieren möchte. Erfahrungs- und Voraussetzungsunterschiede werden meist nicht dazu genutzt, sie dem jeweils anderen aufzunötigen, der sich ja wohl zu Recht gegen eine solche Herangehensweise verwahren würde. »Erziehung« wird im allgemeinen als ein besonderes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Noch-nicht-Erwachsenen bezeichnet, wobei der Nicht-Erwachsene vor allem durch erzieherische Tätigkeit mit der Zeit in den Status eines Erwachsenen mit bestimmten Fähigkeiten und Haltungen gehoben werden muß. Wie, in welcher Weise dies zu geschehen hat, beinhaltet meist folgende Prämissen:
- Gesellschaftliche Anforderungen hinsichtlich bestimmter Fähigkeiten und Haltungen kann das Kind nicht erfüllen, will es nicht erfüllen und kann es nicht erfüllen wollen. Sie müssen ihm deshalb von den Erwachsenen »irgendwie« vermittelt werden.
- Das bedeutet, daß Erwachsene bestimmte »Maßnahmen« treffen müssen, damit das Kind fähig und willig wird, diese Anforderungen zu erfüllen.
- »Erziehung« impliziert demgemäß immer und unvermeidlich Machtausübung von Erwachsenen gegenüber dem Kind, durch die das Kind gezwungen werden muß, das Notwendige und gesellschaftlich Nützliche zu tun.
- Zwang (gegebenenfalls liebevoller) und Macht (soviel wie nötig, so wenig wie möglich) können in dem Maße reduziert werden, wie das Kind die zu vermittelnden Werte, Fähigkeiten, Haltungen als die eigenen übernommen hat.
Auf der Ebene dieser Überlegungen wäre der »Stil« der Erziehung, das »Wie«, also auf welche Weise dem Kind am besten die Ziele vermittelt werden sollen, angesprochen. Im Hinblick auf die Ziele beinhaltet eine solche Herangehensweise, daß:
- Der Erwachsene die Ziele kennt, die in der Erziehung zu verfolgen sind, und dementsprechend auf das Kind einwirkt.
- Der Erwachsene versucht, den jeweilig erreichten Einsichtsstand des Kindes für das Akzeptieren der Nützlichkeit und Berechtigung des Ziels miteinzubeziehen.
- Der Erwachsene gegebenenfalls die Ziele auch gegen den Widerstand des Kindes durchsetzt und damit die Interessen des noch einsichtsarmen Kindes quasi stellvertretend für es wahrnimmt.
Streiten würde man sich auf dieser Ebene um die »Inhalte«, aus denen heraus bestimmte Maßnahmen abgeleitet und gerechtfertigt werden könnten. Auf den Ebenen der Stil/Ziel-Diskussion bleibt mithin das angesprochene Sonderverhältnis zwischen Kind und Erwachsenen — das Setzen von Zielen von einem erreichtenTiinsichtsstand aus für andere — unproblematisiert.
Die Kritik daran kann natürlich keineswegs die Empfehlung einschließen, daß Erwachsene im Umgang mit ihren Kindern nicht planvoll und zielgerichtet handeln sollen. Das verbietet sich schon allein deshalb, weil die besondere Möglichkeit des Menschen: sich bewußt zu sich und seinen Lebensumständen verhalten zu können, das bewußte Verhältnis zu den eigenen Kindern mit einschließt. Entsprechend ihren Einsichten und Zielen schaffen also die Eltern die Lebensbedingungen ihrer Kinder mit. Das kann nun aber nicht heißen, daß die Gründe, die zu bestimmtem Verhalten des Erwachsenen im Hinblick auf das Kind führen, sozusagen automatisch den Weg mitliefern, auf dem das Kind zu den intendierten — möglicherweise wohlbegründeten — Einsichten gelangt. Eine solche unmittelbare Durchsetzung von noch so richtigen Zielen wird, sofern andere Menschen davon mitbetroffen sind, in keinem anderen Lebensbereich als sinnvoll und möglich angesehen werden können: Es ist klar, daß man dabei die Ziele, Vorstellungen, die Lebenssituation etc. der jeweiligen anderen mit berücksichtigen muß, und daß der »direkte Weg« der Zielrealisierung ohne die davon mitbetroffenen anderen das Gegenteil bewirken kann, nämlich eher vom Ziel wegführt. Wenn das stimmt, so trifft das auch auf das Verhältnis des Erwachsenen zum Kind zu, dies im besonderen Maße, da hier ein reales Kompetenz- und Machtgefälle besteht.
Wenn in unserem Kontext dem Setzen von Erziehungszielen für andere die Nützlichkeit abgesprochen wird, wird genau die oben angedeutete Denkweise und Haltung hinterfragt: wenn man nur die geeigneten Maßnahmen in der Erziehung ergreift, dann folgt daraus auch die Realisierung der zu erreichenden Ziele, d.h. die Übernahme der Ziele durch das Kind.
Damit soll natürlich nicht der berechtigte Wunsch fortschrittlicher Eltern problematisiert werden, ihre Kinder mögen später zu Mitstreitern etwa im Kampf für den Frieden etc. werden, sondern nur eine Haltung und Denkweise, die in der Konsequenz dem einfachen Wenn-Dann-Prinzip folgt und die wirklichen Entwicklungspotenzen des Kindes negiert.
Der darin enthaltene Entwicklungsbegriff beinhaltet nämlich, daß man Kindern ihre gesellschaftliche Nützlichkeit, die Fähigkeit, ihre eigenen Interessen zu erkennen, von außen aufprägen muß und setzt voraus, daß Kinder zunächst von sich aus noch ungesellschaftliche Wesen sind, was durch erzieherische Maßnahmen allmählich geändert werden muß.
Hiervon unterscheidet sich jedoch unsere Auffassung, nach der kindliche Entwicklung vor allem aus der subjektiven Notwendigkeit und Möglichkeit verständlich ist, über die für das eigene Leben relevanten gesellschaftlichen Lebensumstände zunehmend Einfluß zu gewinnen. Das bedeutet, daß das Kind sich selber vergesellschaften muß; nicht, weil ihm irgendein Wachstumstrieb innewohnt, sondern, weil es nur so seine Abhängigkeit bzw. Ausgeliefertheit und die daraus entstehende Angst überwinden kann.
Ganz allgemein ist menschliches Glück, Bedürfnisbefriedigung, angstfreies Dasein In dem Maß erreichbar, wie das Individuum — in »kooperativer Integration« — gemeinsam mit anderen zur bewußten Vorherbestimmung seiner Lebensverhältnisse beiträgt und damit für die Grundlagen / seiner Bedürfnisbefriedigung vorsorgt. Wenn das Kind sich in Richtung auf diese Möglichkeit entwickelt, muß ihm also in seinem ureigensten Interesse daran liegen, Fähigkeiten und Kompetenzen zu erwerben, die ihm zunehmend erlauben, möglichst weitgehend, gemeinsam mit anderen, über seine Lebensumstände zu verfügen. Das Kind will also von anderen lernen (können) und sich gesellschaftliche Erfahrungen aneignen.
Kindliche Entwicklung ist demnach als der Prozeß zu charakterisieren, in dem das Kind die jeweils gegebenen Widersprüche seiner konkreten Lebensbedingungen hinsichtlich der Abhängigkeit und Fremdbestimmung zu überwinden sucht. Daraus folgt, daß Entwicklung nur aus der Perspektive des Betroffenen selber und im Vergleich zu dem eben überwundenen Niveau erkennbar, nicht aber von außen und ohne diesen Bezug an Merkmalen und Eigenschaften des Kindes ablesbar ist.
Indem der Erwachsene die sich aus den Lebensumständen des Kindes (zu denen ja Pläne, Ziele, Entscheidungen, Handlungen des Erwachsenen gehören) ergebenden Anforderungen und Notwendigkeiten nochmal als Ziele setzt, und dadurch das Kind mit fremdgesetzten Zielen und den entsprechenden Maßnahmen zu ihrer Durchsetzung konfrontiert, schaltet er sich in einem so verstandenen Erziehungsprozeß zwischen das Kind und die gesellschaftlichen Widersprüche. Dies muß sich, wenn diese Herangehensweise die Vermittlung von Erfahrungen und Kenntnissen in der Erziehung beherrscht, als Entwicklungsbehinderung auswirken, und zwar unabhängig von den Zielinhalten.
Nun scheint aber die alltägliche Lebenspraxis mit Kindern gerade ein besonders gutes Argument für die Notwendigkeit von »Erziehungszielen« zu sein, wenn beobachtbar ist, daß das Kind z.B. passiv, bockig, uneinsichtig, lernunwillig etc. ist, und man sich als Erwachsener deshalb permanent genötigt sieht, die »eigentlichen« Interessen des Kindes auch gegen seinen Widerstand durchzusetzen. Daraus verdeutlicht sich jedoch u.E. in besonderem Maße die Problematik solcher Erziehungsziele: Das Fremdsetzen von Zielen ist mit den subjektiven Notwendigkeiten des Kindes, selber die Kontrolle über seine Lebensumstande zu gewinnen, unvereinbar. Daraus folgt, daß Erscheinungen wie Lernunwilligkeit u.a. dem Kind nicht auszutreiben sind, als ob sie »angeborene schlechte Eigenschaften« wären, sondern die Eigenschaften selber nur als Resultat der kindlichen Auseinandersetzung mit seinen widersprüchlichen Lebensverhältnissen verständlich sind.
Mit der Auffassung, auf »Erziehungsziele« nicht verzichten zu können, macht man das Kind letztlich zum bloßen Objekt seiner Vorstellung und mißtraut seinem widerstandsvollen, kämpferischen Potential, das auf die Durchsetzung der eigenen Interessen und Bedürfnisse gerichtet ist. Man entwickelt über die Köpfe der Kinder hinweg Vorstellungen, Pläne, Ziele, wobei man nicht nur davon ausgeht, daß diese — weil man »gute Gründe« hat — umstandslos von ihnen übernommen werden (können), sondern auch, daß man aus jetzigen kindlichen Lebensäußerungen unmittelbar auf das spatere Verhalten schließen kann. So müßte man sich beispielsweise fragen, woraufhin man das Kind eigentlich erzieht, wenn man das Kind »zum Frieden« erziehen will, welche auch gegenwärtigen Verhaltensweisen, Haltungen diesem Ziel angemessen sind. Wahrscheinlich würde hier an den friedlichen Umgang untereinander gedacht, aus dem sich heraus z.B. prinzipiell das Spielen mit Pistolen verbietet.
Dieser vereinfachende Mechanismus der »Vereigenschaftung« in der Erziehung zu irgendwelchen allgemeinen Werten, läßt das Problem ihrer gesellschaftlichen Realisierung aber außen vor. Es werden hinsichtlich der Inhalte Formen verabsolutiert, die der Erwachsene aufgrund der aktuell bestehenden Bedingungen für angemessen hält, ohne dabei zu berücksichtigen, daß sich für die Kinder u.U. in ihrem Erwachsenenleben dieselben Ziele unter ganz anderen Bedingungen, aber auch andere Ziele und Durchsetzungsmaßnahmen ergeben können. In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, daß die Denkweise der »Erziehung zu ».« die Dimension einer Psychologisierung gewinnt, indem Eigenschaften von Menschen als Erklärung für deren Handeln herhalten müssen. Eigenschaften müssen aber selber erklärt werden hinsichtlich ihrer Funktionalität für die gesellschaftlichen Verhältnisse und das Handeln des Einzelnen.
Das Fremdsetzen von Zielen kann das Kind u.U. gerade dann in eine aussichtslose Position hineinmanövrieren, wenn die Forderungen des Erwachsenen besonders einsichtig sind. Für das Kind kann es unentscheidbar werden, ob es wirklich seine Interessen verfolgt oder es sich nur vorgegebenen beugt. Die Durchsetzung der eigenen Interessen wird damit dem Kind von dem Erwachsenen quasi »weggenommen«. So kann das Kind u.U. seine subjektiven Entwicklungsnotwendigkeiten, die gegen Fremdbestimmung und Abhängigkeit gerichtet sind, unabhängig von den Zielinhalten nur noch im Widerstand gegen den zum Entwicklungshemmnis gewordenen Erwachsenen behaupten. In diesem Zusammenhang kann dann auch deutlich werden, weshalb Erziehungsaktivitäten in der Art, wie sie oben beschrieben wurden, sich als funktional für die Interessen der Herrschenden auswirken können: unabhängig von den Zielinhalten muß man sie als Vorbereitung auf eine fremdbestimmte Erwachsenenexistenz unter bürgerlichen Klassenverhältnissen kennzeichnen, Das Kind, so ist zu befürchten, lernt sich einzurichten, sich anzupassen, sich zu bescheiden und sich in privater Isolation zurechtzufinden.
Diese ziemlich weitgehende Behauptung soll mit einem weiteren Argument gestützt werden. Die Überzeugung, daß der Erwachsene tatsächlich besser weiß, was für das Kind gut ist, was also der, vom Kind aus gesehen, entwicklungslogisch nächste Schritt ist, beinhaltet, daß das Fremdsetzen von Zielen zumindest in einer bestimmten Lebensphase — der Kindheit und Jugend — als unumgehbar, sozusagen notwendig für eine gelungene menschliche Entwicklung angesehen werden müßte. Damit würde die dem Fremdsetzen von Zielen implizierte Machtausübung des Erwachsenen gegenüber dem Kind zu einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit für das Verhältnis Erwachsener-Kind stilisiert. Die sich aus dem spezifischen Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern notwendig ergebenen Erkenntnis- und Voraussetzungsunterschiede wären nur durch Zwang — autoritär — allmählich aufhebbar, und zwar in dem Maße, wie sich das Kind den erzieherischen Vorstellungen von gesellschaftlichen Werten etc. in seiner Lebensführung anpaßt. Die autoritäre, sachentleerte Durchsetzung eigener Interessen gegenüber dem Kind steht jedoch im Widerspruch zu der besonderen Funktion des Erwachsenen für das Kind: den eigenen »Vorsprung« im positiven Sinne von »Autorität« dem Kind verfügbar zu machen und zu vermitteln. Soweit Erziehungsziele, in dem oben spezifizierten Sinne das Verhältnis des Erwachsenen zum Kind dominieren, reduziert sich das Erwachsenen-Kind-Verhältnis auf ein bloßes Machtverhältnis.
Damit wird natürlich nicht bestritten, daß sich aus den Kompetenzunterschieden auch Notwendigkeiten von Machtausübung ergeben können. Es wird nur bestritten, daß daraus das zentrale »Erziehungsprinzip« der Formung und Prägung von Kindern ohne bzw. gegen deren Willen abgeleitet werden darf. Es kann in der klassenbestimmt widersprüchlichen Erwachsenenwelt doch nur darum gehen, daß die Erwachsenen selber Bedingungen zu schaffen versuchen, unter denen die Kinder ihre eigenen Interessen erkennen und realisieren können.
Dies kann u.E. nicht als subjektivistische Position verstanden werden, wenn man sich klar macht, daß sich aus den konkret-historischen Verhältnissen, innerhalb derer das Kind seinen eigenen Weg sucht, sich objektive Handlungsnotwendigkeiten für die Individuen ergeben, die diese auch für sich als notwendige erkennen lernen können müssen. So wird das Kind, soweit es seine eigenen Interessen realisieren lernt, sich dabei gleichzeitig sozusagen Seite an Seite mit denen wiederfinden, die unter den gleichen Verhältnissen in deren eigenem Interesse die gleichen Ziele entwickeln mußten. Daraus wird deutlich, daß das Fremdsetzen von Zielen die Kinder auch von denen isolieren kann, die gemeinsam mit ihnen für die Durchsetzung allgemeiner/individueller Interessen kämpfen könnten: Anpassung oder abstrakt-personalisierender Widerstand gegen die Erwachsenen enthält in jedem Falle die Tendenz zur Individualisierung und Psychologisierung gesellschaftlicher Widersprüche. Da Kinder und fortschrittliche Erwachsene in der gleichen Klassensituation leben, dürfte sich perspektivisch — sofern die Kinder wirklich ihre Interessen kennenlernen — auch eine zunehmende Übereinstimmung mit den Interessen der Erwachsenen herstellen, die sich aus der gleichen Situation ergeben.
Vor diesem Hintergrund wären dann Widersprüche, die sich daraus ergeben, daß es reale Unterschiede gibt und Unvereinbarkeiten zwischen kindbezogenen Interessen der Erwachsenen und Anforderungen, die für die Erwachsenen aus den über das »Kindhaben« hinausgehenden Lebensinteressen und -notwendigkeiten resultieren, in ihrer wirklichen Bedeutung für das gemeinsame Leben thematisierbar und nicht mehr als bloßer »guter Wille«, das »Beste für sein Kind« tun zu wollen, ideologisiert.
Wir, die Erwachsenen, können in der Tat viel tun für unsere Kinder, wenn wir die Bedingungen, unter denen wir leiden, gemäß unserem Interesse zu verändern suchen. Indem wir uns für die gesellschaftliche Durchsetzung unserer eigenen Interessen einsetzen, müssen wir nicht mehr soviel ziehen, zerren, »erziehen« an unseren Kindern. Wir können sogar mit ihnen lernen, gerade da, wo sie uns Widerstand entgegensetzen.
Kommen wir auf unsere Ausgangsüberlegung zurück: Die eigene Entwicklung, die Erfahrungen bei der Überwindung von Widersprüchen, die eigenen kindlichen Erziehungserfahrungen einzubeziehen, ist hier naheliegend, und zwar in dem Ausmaß, wie sie für die gegenwärtigen Lebensbedingungen relevant sind. Wenn das einstige Kind heute selber erwachsen ist und Kinder hat und seine biografischen (Erziehungs-) Erfahrungen, seine berechtigte Kritik an den eigenen Eltern in der Lebenspraxis mit seinem Kind positiv wenden möchte, so bedeutet die Ablehnung der eigenen Erziehungspraxis nur deren abstrakte Negation, wenn damit nicht der Versuch aufgegeben wird, sein Kind überhaupt »erziehen« zu wollen. Man bleibt auf gleicher Ebene, das gleiche Erziehungsimplikat: »fremdbestimmten Zielen genügen zu müssen«, erhält lediglich ein neues Gewand. Der Erwachsene setzt seinem Kind zwar andere — fortschrittliche — Ziele, aber entscheidend ist, er »setzt« ihm überhaupt Ziele.
Die eigene gegenwärtige Lebensweise und die Entwicklung dorthin wird »hinter dem Rücken« der Betroffenen zum Maßstab. Die eigenen, mühsam gegen innere und äußere Widerstände gewonnenen Einsichten und Handlungsnotwendigkeiten werden unversehens zu dem Weg erhoben, wie man eine Persönlichkeit wird, die gegen Unterdrückung des Menschen durch den Menschen kämpft. Es ist aber der eigene Weg, es handelt sich dabei um die Bestimmung des für einen selber jeweils entwicklungslogisch nächsten Schritt. Die u.U. leidvolle Erfahrung, permanent den Erziehungszielen der Erwachsenen ausgesetzt worden zu sein, durch welche einem eigene wesentliche Erfahrungen praktisch weggenommen wurden, wird nun dem eigenen Kind aufgezwungen, indem man Resultate und Verhaltensweisen, die für einen selber funktional sind (oder waren) unmittelbar auf das Kind zu übertragen sucht. Indem man so meint, dem Kind Umwege ersparen zu können, werden nicht mehr die Bedingungen, unter denen bestimmte Verhaltensweisen entstanden sind, auf ihre Verallgemei-nerbarkeit hin untersucht, sondern platt die Resultate dieser Bedingungen als die für die Kinder relevanten Ansatzpunkte bestimmt. Leidvolle Erfahrungen von den Kindern fernzuhalten, liegt weder allein in der Macht der Eltern, noch sind die Erfahrungen ohne die Kinder bewältigbar. Es gibt Erfahrungen, die muß man einfach selber machen. Das heißt nicht, die Notwendigkeit der Aneignung gesellschaftlich kumulierten Wissens/Könnens zu leugnen. Bestritten wird aber, daß durch den Umstand, daß Kinder sich dabei permanent mit den fremdgesetzt-unvermittelten Zielvorstellungen der Erwachsenen herumschlagen müssen, dieser Aneignungsprozeß begünstigt wird. Die Erwachsenen müssen sich vielmehr im Umgang mit Kindern so benehmen lernen, daß die Kinder tatsächlich von ihnen lernen wollen können. Dazu müssen sie aber zuallererst aufhören, in der »Erziehung« Menschen nach ihrem Bilde formen zu wollen. Die Kinder können in ihrem biografischen Prozeß zu Einsichten gelangen, aus denen heraus sie gemeinsam mit den Erwachsenen um Frieden u.a.m. kämpfen, das geht aus dem o.a. Verständnis von Subjektentwicklung hervor. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, zu wissen, wie der Einzelne in seiner biografischen Entwicklung zu dieser Einsicht gelangt.
Bevor ich nun diesbezügliche Überlegungen von Alice Miller in die Diskussion miteinbeziehe, muß ich zuerst, die m.E. dazu wesentlichen Aussagen von ihr wiedergeben.
III
Miller erläutert ihre theoretischen Auffassungen zusammenfassend in ihrem Band »Du sollst nicht merken« (im weiteren: Merken). Danach geht sie von der wegen ihrer Allgemeinheit unstrittigen Voraussetzung aus, daß jeder Mensch durch seine Kindheit geprägt ist, ohne absolut determiniert zu sein. Das »Wie« ist kulturspezifisch und gesellschaftlichen Wandlungen unterworfen (vgl. Merken, 11, 66). Sie kennzeichnet die Traumatisierungen in der frühen Kindheit als Unterdrückung der Entwicklung des »wahren Selbst«. Darunter ist das »ureigenste Bedürfnis« des Kindes zu verstehen, als das, »was es jeweils ist, und als das Zentrum der eigenen Aktivität gesehen, beachtet und ernstgenommen zu werden« (Das Drama des begabten Kindes, 21; im weiteren: Drama). Dabei bilden nach Margret Mahler, auf die Miller sich bezieht, »die inneren Empfindungen des Säuglings und Kleinkindes« den Kern des Selbst. Sie scheinen der Mittel- und Kristallisationspunkt des Selbstgefühls zu bleiben, um das herum das Identitätsgefühl errichtet wird.« (Mahler nach Miller: Drama, 22) Spätere Verhaltensweisen, beispielsweise in der Erziehung der eigenen Kinder, Erscheinungen wie Drogensucht und Kriminalität, sind nach dieser Auffassung ein verschlüsselter Ausdruck der frühesten Erfahrungen und aus dem »Wiederholungszwang« verständlich, die Kindheitsdramen »inszenieren« zu müssen. Persönlichkeitsveränderung ist über die Neuentdeckung des »wahren Selbst« möglich. Das Wiederauffinden des »Lebendigen« im Menschen erfordert die Befreiung von dem erlebten kindlichen Leiden. Dies kann durch Einsichten geschehen, die sich durch Wiederholung, Erinnern und Durcharbeiten formen (vgl. Merken, 66). Miller kennzeichnet das, was mit Kindern geschieht, als »Erziehung«: »Die einstige physische Verstümmelung, Ausbeutung und Verfolgung des Kindes scheint in der Neuzeit immer mehr durch seelische Grausamkeit abgelöst worden zu sein, die außerdem mit dem wohlwollenden Wort Erziehung mystifiziert werden konnte.« (Am Anfang war Erziehung, 18; im weiteren: Erziehung) Die in der »Schwarzen Pädagogik« vor 200 Jahren geforderten körperlichen Grausamkeiten haben also heute ihre seelische Entsprechung gefunden. Dies versucht Miller in der Auseinandersetzung mit der »Schwarzen Pädagogik« durch viele eindrucksvolle Zitate nachzuweisen. In den ersten zwei Jahren können die Erzieher mit dem Kind unendlich viel machen, ihnen Grausamkeiten zufügen, ohne daß ihnen selbst etwas geschieht, ohne daß das Kind sich an ihnen rächt. Miller will die Wurzeln des Hasses aufzeigen (vgl. Erziehung, 23). Wenn das Kind seinen Schmerz, seinen Zorn darüber nicht artikulieren darf, sind gravierende Spätfolgen zu erwarten (vgl. Erziehung, 21). Diese Machtausübung über das Kind wird in den meisten Gesellschaften sanktioniert und zugedeckt, (vgl. Merken, 12) Diese gesellschaftliche Unterdrückung realisiert sich auch durch das Medium der oft gutmeinenden Eltern (vgl. Erziehung, 22). »Erziehung« ist nach Miller die »Verfolgung des Lebendigen« (Erziehung, 15). »Im Wort 'Erziehung' liegt die Vorstellung bestimmter Ziele, die der Zögling erreichen soll — und damit wird schon seine Entfaltungsmöglichkeit beeinträchtigt.« (Erziehung, 122) Das Kind soll den Erwachsenen gehorchen, sich deren Vorstellungen unterwerfen, was im Extremfall dazu führt, »keine eigenen Gefühlsregungen zu spüren, sondern die Wünsche der Eltern als die eigenen zu erleben.« (Erziehung, 101)
Aufgrund der »tragischen Gesetzmäßigkeit des Wiederholungszwangs« werden die Eltern die erlittenen Demütigungen an die Kinder weitergeben. Sie können solange nicht anders, solange sie selbst das dahinterliegende System nicht durchschaut haben.
Miller versucht, in ihren Büchern öffentlich zu machen, was in vielen Fällen den Kindern am Anfang ihres Lebens angetan wird, und welche Konsequenzen dies für die Gesellschaft hat. Sie will ihr Wissen aus ihrer psychoanalytischen Arbeit mit ihren Klienten vielen Menschen zugänglich machen, weil sie der Auffassung ist, daß hier eine Gesetzmäßigkeit vorliegt, die nicht nur wenigen Eingeweihten vorbehalten bleiben sollte (vgl. Erziehung, 23).
Sie kennzeichnet die Machtausübung der Erwachsenen über das Kind als eine »allgemeine psychologische Gesetzmäßigkeit« (Erziehung, 32), deren Aufdeckung dringend notwendig ist im Interesse der späteren Generationen.
Miller erklärt in allen drei Büchern ihre Parteinahme für das Kind und das Kind im Erwachsenen. In diesem parteilichen Standpunkt sieht sie den
Zugang zu dem Verständnis des Menschen ermöglicht, »weil wir durch das Aufdecken der unbewußten Spielregeln der Macht und der Methoden ihrer Legitimierung tatsächlich in der Lage sind, grundsätzlich etwas zu verändern. Ohne das Verständnis für den Engpaß der frühen Kindheit, in dem sich die Erziehungsideologie fortpflanzt, sind aber diese Spielregeln nicht in ihrem vollen Umfang zu begreifen.« (Erziehung, 81) Miller neigt dazu, »Mut, Ehrlichkeit und Liebesfähigkeit nicht als Tugend, sondern als Folgen eines mehr oder weniger gnädigen Schicksals aufzufassen« (Erziehung, 106). Dazu sind Menschen in der Lage, »die das Glück hatten, der Liebe ihrer Eltern sicher zu sein«, oder z.B. in der Analyse gelernt haben, das Risiko des Liebesverlustes einzugehen, um ihr verlorenes Selbst wieder zu spüren« (Erziehung, 106). Ein Mensch »wird sein Selbst nicht verlieren wollen, wenn er es einmal hat. Er kann es einfach nicht.« (Erziehung, 106)
Millers Ablehnung von »Erziehung« beruht auf der Erfahrung, daß sämtliche Ratschläge zur Erziehung von Kindern Bedürfnisse von Erwachsenen verraten, »deren Befriedigung dem lebendigen Wachstum des Kindes nicht nur nicht förderlich ist, sondern es geradezu verhindert« (Erziehung, 119). Zu diesen Bedürfnissen gehört nach ihrer Auffassung u.a., die einst erlittenen Demütigungen weiterzugeben, die Idealisierung der eigenen Kindheit und der eigenen Eltern zu erhalten; dazu gehört auch die Angst vor der Freiheit und die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten, »dem man im eigenen Kind nochmals begegnet und das man dort nochmals bekämpfen muß, nachdem man es vorher bei sich abgetötet hat.« (Erziehung, 119).
Was ein Kind für seine Entfaltung braucht, sagt Miller, »ist der Respekt seiner Bezugspersonen, die Toleranz für seine Gefühle, die Sensibilität für seine Bedürfnisse und Kränkungen, die Echtheit seiner Eltern, deren eigene Freiheit — und nicht erzieherische Überlegungen — dem Kind natürliche Grenzen setzen« (Erziehung, 119f.). Eine solche »seelische und körperliche Begleitung« des Kindes durch den Erwachsenen enthält auch die Bereitschaft, aus dem Verhalten des Kindes zu lernen: über das Wesen des Kindes, über das eigene Kindsein, was den Eltern auch Trauerarbeit ermöglicht und sie die Gesetzmäßigkeiten des Gefühlslebens verstehen läßt. »Wo das Kindliche leben und sich entfalten darf, bedarf es keiner Fremdsteuerung und Erziehung.« (Merken, 83)
Miller fragt sich, warum dieses Wissen in der Öffentlichkeit so wenig bewirkt (vgl. Erziehung, 32), stellt aber andererseits bei einem sehr großen Teil der neuen Generation fest, daß die Bereitschaft, das Kindliche leben zu lassen »auch den Menschen möglich ist, die selber Opfer der Erziehung waren« (Erziehung, 122).
IV
Hier frage ich mich, wie sich diese Bereitschaft in der neuen Generation trotz traumatischer Kindheit entwickeln konnte. Darauf habe ich bei Miller keine Antwort gefunden. Sie beschreibt das eigentlich Menschliche als das »Lebendige« im Kind, das an seiner Entfaltung durch die Erziehung gehindert wird. Sie beschreibt da etwas, was wir an unseren Kindern beobachten können: ihren Drang nach Selbständigkeit, ihre Direktheit im Umgang mit anderen Menschen, ihr Alles-Wissen-Wollen, ihr ständiges Warum, ihr Alles-in-Frage-Stellen und ihr Vertrauen darauf, daß diese Fragen beantwortbar sind. Sie beschreibt aber auch eindrucksvoll die Enttäuschungen, die uns allen aus der eigenen Kindheit unmittelbar nachvollziehbar sind. Wenn ich aber nicht das System, das in der »tragischen Gesetzmäßigkeit des Wiederholungszwanges« liegt, durchschaut habe, muß ich die Enttäuschungen meiner Kindheit an meine Söhne weitergeben, sowie meine Eltern ihr erfahrenes Leid an mich weitergeben mußten etc.
Für die heutigen Eltern sind demnach Handlungen und Gefühle vorrangig Resultat der Kindheit, in der ihnen vor allem durch ihre Eltern und Erzieher die spezifischen kulturellen Werte mehr oder weniger aufgezwungen wurden.
Unsere Gesellschaft setzt sich nach Millers Auffassung im wesentlichen aus Menschen zusammen, die an ihrer »menschlichen«, »lebendigen« Entwicklung durch ihre Erziehung entscheidend behindert wurden. Der Schlüssel für das Verständnis von Handlungen und Gefühlen ist dabei in der Kindheit zu suchen. Dein darin liegenden Verständnis von dem Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft steht unsere Auffassung entgegen: Die Besonderheit menschlicher Existenzweise muß begriffen werden aus dem Verhältnis von subjektiver Bestimmung der gesellschaftlichen Lebensumstände durch die Menschen selber und objektiver Bestimmtheit ihrer Handlungsmöglichkeiten durch die gesellschaftlichen und natürlichen Notwendigkeiten. Ihrer Natur nach verfügen Menschen über individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, die sie zur Teilhabe an dem Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion befähigen. Ob und wie jeder Einzelne diese realisiert, hängt von den jeweils konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ab, in denen er lebt.
Das schließt ein, daß Gefühle und Handlungen nicht am einzelnen, sozusagen nur aus dem Individuum und seiner Vergangenheit verständlich werden können. Gefühle und Bedürfnisse sind vielmehr der Ausdruck der subjektiven Bewertung der konkreten Bedingungen, unter denen man bisher gelebt hat und lebt.
In Millers Plädoyer für die Achtung des Kindes, für die Durchbrechung gesellschaftlich legitimierter Machtausübung von Erwachsenen über das Kind, geht zwar die richtige Annahme ein, daß die Entfaltung des Kindes einer 'besseren' Gesellschaft bedarf. Aus ihrem Ansatz heraus muß aber der einzelne, als Teil dieser Gesellschaft, sich zuerst von den Traumata der Kindheit befreien. Die darin mitgedachte Alternative, ob zuerst die Menschen oder die Verhältnisse sich verändern müssen, damit es sich zum Guten wende, trennt das Individuum von den gesellschaftlichen Verhältnissen. Das hat seinen realen Kern innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, weil die Masse der Bevölkerung tatsächlich von der Bestimmung ihrer Lebensverhältnisse ausgeschlossen ist.
So bleibt die Argumentation, daß die Menschen sich ändern müssen, damit sie die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern können, die sich ändern müssen, damit die Menschen sich ändern können. Sie ist aber zirkulär, weil sie von derselben Alternative ausgeht. Der wirkliche Zusammenhang ist deshalb nicht zirkulär, weil die Menschen sich in dem Maße selber ändern können, wie sie die Beeinträchtigungen ihrer Lebensverhältnisse ändern.
Eine Änderung von Bedürfnissen, von Haltungen und Gefühlen ist nicht durch bloßen guten Willen, beliebig herbeizuführen, sondern nur in dem Ausmaß, wie die Menschen die Bedingungen, denen sie entsprechen, selber schaffen.
Da Miller den wirklichen Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft theoretisch nicht erfaßt, muß sie auf der Ebene des einzelnen verbleiben. Sie kann daher nur die Veränderung des einzelnen empfehlen und das auch nur dadurch, daß der einzelne durch Trauerarbeit seinen Persönlichkeitskern wiederfindet. Sie hat aber dabei insofern Recht, als die Bewertungen, Bedürfnisse und Gefühle auch durch biografische Lasten mitbestimmt sind, die auch als solche Lasten in ihrem realeh Stellenwert für die jetzige Lebenssituation zu analysieren sind.
Um die Begrenztheit der Millerschen Argumente weiter zu verdeutlichen, müssen wir den schon angedeuteten Umstand hervorheben, daß die individuelle Existenz gesellschaftlich vermittelt ist, da sie selber nur über die Teilhabe am gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß zu erhalten ist. Je mehr sich also Menschen, auf der Basis bestehender und antizipierter Handlungsmöglichkeiten bewußt zu den gesellschaftlichen Lebensbedingungen verhalten, um so weniger sind sie den Verhältnissen ausgeliefert. Aus dem Umstand, daß Miller in ihren Ausführungen der im Alltag üblichen Mystifikation der Unmittelbarkeit der Lebenserhaltung aufsitzt und sie wissenschaftlich stilisiert, folgt, daß auch Arbeit nur in dem objektiven Bestimmtheitsaspekt erscheint (nur als nötig für das persönliche Auskommen). Die Menschen werden nur als Opfer der jeweiligen Verhältnisse angesehen und darin auch noch einmal reduziert auf ihre Kindheitserfahrungen.
Die Art und Weise, wie Miller die in dieser Ausgeliefertheit sich herausbildende psychische Struktur darstellt, verweist auf eine weitere Problematik ihres Verständnisses des Verhältnisses von Gesellschaft, und Individuum. Die psychische Struktur ist geprägt durch die Verletzungen der frühen Kindheit, in der das Kind sein »Selbst« nicht ausbilden konnte. Das impliziert die Vorstellung, daß im Menschen ein reines, wahres »Selbst« hockt, das sich weitgehend unabhängig von den gesellschaftlichen, ökonomischen, ideologischen Bedingungen entfalten muß, welches der Mensch, wenn er es einmal hat, nicht mehr verlieren (wollen) kann. Das »Selbst« ist nach dem o.a. nicht nur eine ungesellschaftliche Größe, sondern auch eine unhistorische, eine jedem Menschen innewohnende Konstante.
Millers These von der biografischen Verwundung durch die Erziehung und deren Folgen auch für die Gesellschaft, reduziert sich damit im wesentlichen auf die Aussage, daß das Individuum sich so verhält, weil es so gemacht worden ist, worin die Gewordenheit selber kurzschlüssig auf das passiv-erleidende Individuum zurückbezogen ist. Daß ein Individuum sich so verhält, wie es sich verhält, wird damit nicht auf das Verhältnis jeweils gegebener Begrenzungen und Möglichkeiten hin analysiert. Den Maßstab bildet dabei lediglich eine Nicht-Gewordenheit: Das sich unter Vermeidung von Erziehung entfaltende Selbst als Wesen des reinen Individuums. Der Kampf gegen die Verformtheit des Menschen durch die Erziehung ist damit letztendlich im Menschen auszutragen. Gemeinheit und Rache sind nach Miller im Subjekt zu beseitigen, um Platz für die natürlichen Wachstumstendenzen zu schaffen. Der Kampf um menschlichere gesellschaftliche Lebensbedingungen ist dann vorrangig der Kampf um die Klärung und Veränderung erworbener Charakterstrukturen. Dann, wenn die Menschen so sind, wie sie wirklich sind, sind sie auch in der Lage, gesellschaftlich verändernd wirksam zu werden, weil mit ihnen »neue«, »bessere« Menschen aufwachsen können. Warum dann allerdings noch die Verhältnisse geändert werden müssen, bleibt im Dunkeln.
Miller will die Spielregeln der Macht offenlegen, sie will das »System des Wiederholungszwangs« durchschaubar machen, damit verhindert werden kann, daß die einst erlittenen Demütigungen an die Kinder weitergegeben werden. Das von Miller als allgemeine Gesetzmäßigkeit gekennzeichnete Machtverhältnis zwischen den Eltern und den Kindern, ist von ihrem theoretischen Erklärungsansatz nur als totales Ausgeliefertsein der Kinder an die Eltern, die selber nicht anders können, erklärbar. Macht wird hier nur als unmittelbare Durchsetzung der eigenen Interessen anderen gegenüber gefaßt. Diese Durchsetzung der eigenen Interessen gegen andere bestimmt sich entweder aus natürlicher Überlegenheit aufgrund des Angewiesenseins des Kindes auf Unterstützung durch Erwachsene oder als personifizierter Ausdruck der unmittelbaren Folge einer biografisch bestimmten Erziehungsideologie. Die »Spielregeln der Macht« werden nicht hinsichtlich der real-ökonomischen Machtverhältnisse, in denen sie funktional sind, analysiert. Nicht die Spielregeln sind aber der relevante Ansatzpunkt für ihre Veränderung, sondern die Verhältnisse, die ihnen zugrunde liegen.
Mit der bisherigen Argumentation wird nicht in Frage gestellt, daß Erwachsene ihre Erfahrungen weitergeben, nur stellt sich die Weitergabe erfahrener Demütigungen an die Kinder aktiv gegen ihre Entwicklungsorientierung. Klaus Holzkamp hat in seinem Artikel »Jugend ohne Orientierung« (Forum Kritische Psychologie 6, 1980) die Funktionalität dieses Erwachsenenverhaltens folgendermaßen formuliert: Jede Entscheidung, sich bestimmten Lebensumständen bloß anzupassen, resultiert aus einem Verhältnis von Entwicklungsmöglichkeiten und -behinderungen und stellt damit immer eine verpaßte Möglichkeit dar. Die sich damit häufig einstellende Resignation bedingt, daß die Alternative, die diese Möglichkeiten geboten hätte, aktiv abgewehrt und verdrängt werden mußte. Der Erfolg dieser Verdrängungsleistung ist durch eigenes besseres Wissen und durch die Herangehensweise der Kinder, die sich den ihnen fremden Vorstellungen nicht unterordnen wollen, ständig bedroht. Das erzeugt wiederum bei den Erwachsenen ein für die wirklichen Verhältnisse immer blinder werdendes Bestehen auf der Richtigkeit der eigenen Vorgehensweise. Die Eltern reproduzieren also in ihren, den kindlichen Entwicklungsprozeß behindernden Verhaltensweisen, Verhältnisse, die ihnen Ansätze zu anderen Lebens- und Umgangsweisen unmöglich machen, so lange sie nicht diese Verhältnisse auf die in ihnen liegenden Widersprüchlichkeit durchschaut haben und sich für ihre Änderung engagieren.
Indem Miller für das Kind Partei ergreift, muß sie in der Konsequenz ihres Ansatzes gleichzeitig gegen den Erwachsenen Partei ergreifen, weil sie die gesellschaftliche Unterdrückung faktisch personalisiert. Weil sie das Handeln der Menschen (also der Kinder und der Erwachsenen) nicht unter Bezug auf gegenwärtige Lebensbedingungen und deren Widersprüchlichkeiten klären kann, muß sie also den Grundwiderspruch der Gesellschaft auf das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen verlagern und sie so gegeneinandersetzen, ohne daß die Perspektive des gemeinsamen Kampfes gegen kaputtmachende Bedingungen aufscheinen könnte. Es entspricht der Abstraktheit dieser Entgegensetzung, daß ihre Parteilichkeit letztlich dem geschilderten »Selbst« gehört: Für das Gute, gegen das Schlechte.
Miller unterstellt eine intrinsische Wachstumsmotivation, der die Eltern mit Achtung und Respekt begegnen sollten. Mit ihrem geschilderten, personalisierendem Denken verhafteten Versuch, das Verhältnis zwischen Erzieher und Kind als unterdrückerisch und fremdbestimmt bloßzulegen, wenn es durch Erziehen strukturiert ist, beschreibt sie zwar einen beobachtbaren und unter unseren Verhältnissen normalen Sachverhalt. Die »verständnisvolle seelische und körperliche Begleitung« die ein Kind gemäß Miller braucht, reduziert sich dabei jedoch auf ein persönliches Problem der Erwachsenen, die die dazu nötigen Verhaltens- und Einstellungsänderungen unabhängig von den bestehenden Verhältnissen, in denen sie leben, erreichen müssen.
Wenn Miller als Argument anführt, daß es keiner Fremdsteuerung bedarf, wenn »das Kindliche« leben können soll, negiert sie damit zwar die Notwendigkeit von Erziehungszielen, sie negiert sie jedoch nur abstrakt. Sie kann das Setzen von Erziehungszielen nicht als eine Verselbständigung gegenüber den Realwidersprüchen fassen, weil sie die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren Implikationen für die individuelle Realisierung von menschlicher Subjektivität überhaupt nicht als für ihre Ausführungen thematisch auffaßt. In ihrer Bestimmung des menschlichen Entwicklungspotentials geht sie vom »wahren Selbst« als einer ontologischen Konstante aus und verkennt so, daß ein Kind seine individuelle Subjektivität nur in der Auseinandersetzung mit der gegenständlichen und sozialen Realität und den daraus resultierenden und darüber vermittelten Widersprüchen entwickeln kann.
Wenn Miller für tolerante, respektvolle Erwachsene plädiert, propagiert sie damit deren »Selbsterziehung« (vgl. Erziehung, 117ff.), die unter der Hand zur Propagierung von »Erziehungszielen« mit positiven Wertinhalten für den Erwachsenen selber werden und auch beliebig erweiterbar sind. Weil sie von seinen konkreten Lebensbedingungen absieht, reduziert sie diese Haltungen auf bloße dem Individuum innewohnende Gefühle und unterschätzt damit gleichzeitig deren Wertungscharakter der Verhältnisse.
Demokratische Verhaltensweisen, menschliche Umgangsformen, Sensibilität, die Berücksichtigung der Interessen anderer setzen objektive Bedingungen voraus, unter denen diese Verhaltensweisen mit den Notwendigkeiten und Möglichkeiten der individuellen Daseinsbewältigung vereinbar sind. Die bürgerlichen Klassenverhältnisse, unter denen wir leben, begünstigen gerade nicht solche Verhaltensweisen. Die Überwindung der eigenen Verkümmertheit, Konkurrenzgefühle, Tendenzen zur Instrumentalisierung anderer etc. ist immer auch der eigene Kampf um Schaffung von Verhältnissen, unter denen solche Verhaltensweisen nicht mehr funktional sind. Zunächst innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, aber tendenziell stets in Richtung auf die Aufhebung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.
Miller ist aber nicht nur dahingehend zu kritisieren, daß sie Erziehungsziele nicht als überflüssige Verdoppelung gesellschaftlicher Anforderungen analysieren kann. Sie ist m.E. für die anfänglich genannten besonderen Probleme, mit denen sich Linke herumschlagen, thematisch nicht einschlägig. In Überlegungen, wie denn fortschrittliche Menschen ihre Kinder erziehen, geht doch ganz selbstverständlich die Annahme mit ein, daß sie dies im Hinblick auf gesellschaftliche Veränderung tun wollen. Sie fragen sich doch, wie sie ihren Kindern ermöglichen können, die Umwege zu vermeiden, die sie selber machen mußten, welche Ziele, welche Mittel da angemessen sind. Zur Klärung dieser Überlegungen kann Miller nicht beitragen, weil sich das Problem der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse für sie überhaupt nicht ernsthaft stellt, und sie das daraus resultierende Problem von miteinander konkurrierenden Erziehungszielen überhaupt nicht thematisieren kann. Die zentralen Bedingungen, die die Linken ändern wollen, werden von ihr überhaupt nicht bedacht.
Was Miller dennoch so attraktiv macht, könnte der Umstand sein, daß sie suggeriert, daß der Einzelne gegen die beschränkenden Verhältnisse, unter denen er leidet, was machen kann. Sie sagt, daß er bei sich selber anfangen soll. Gleichzeitig nimmt sie aber die dadurch aufscheinende Handlungsmöglichkeit zurück, indem sie für den Fall, daß der von ihr angebotene Ansatzpunkt sich nicht als fruchtbar erweist, eine entlastende Begründung liefert. Ihr Angebot, das eigene Unvermögen, das man oft selber nicht so recht erklären kann, aus der eigenen leidvollen Kindheitserfahrung zu erklären, stimmt ja in einem, wenn auch i.d.R. untergeordneten Aspekt. Indem aber durch die verabsolutierende Orientierung auf den Primat der Kindheit die realen Widersprüche ausgeklammert werden, wird auch die Notwendigkeit des bewußten Verhaltens zu seinen jetzigen Lebensumständen und damit auch zu seinen Kindern real zurückgenommen. Man ist solange für das eigene Verhalten nicht verantwortlich, solange die Traumata der eigenen Erziehungserfahrungen nicht überwunden sind.
Sowohl Miller wie auch die Auffassungen, die in der »Schwarzen Pädagogik« getroffen werden, gehen letztlich von derselben Grundlage aus: Sie trennen Individuum und Gesellschaft, ziehen daraus nur unterschiedliche Konsequenzen. Nach Miller ist Entwicklung trotz einschränkender Gesellschaft möglich. Die Gesellschaft muß nur möglichst weit zurückgedrängt werden, damit das »wahre Selbst« sich herausbilden und der Gesellschaft trotzen kann. Die »Schwarze Pädagogik« geht von derselben Annahme eines festen Persönlichkeitskerns aus, nur, daß dieser permanent wegen seiner gesellschaftszerstörenden Tendenz bekämpft werden muß. Miller bleibt gegenüber der »Schwarzen Pädagogik« begriffslos, denkt in gleichen Dimensionen und bleibt insofern durch deren bloß abstrakte Negation letztlich in ihr befangen.
V.
Wenn fortschrittliche Eltern und Erzieher meinen, ihren Kindern Fähigkeiten wie etwa zur weitgehenden Selbstbestimmung der eigenen Lebensverhältnisse durch besondere Maßnahmen »anerziehen« zu müssen, so ist dies ähnlich paradox, wie wenn man von einem anderen Menschen verlangte: »Sei spontan«. Natürlich muß nachgedacht und gehandelt werden über und im Umgang mit Kindern, wie die Entwicklung und die Interessen
aller Beteiligten am besten aufgehoben sind. Hier sind nur einige Prämissen benannt worden, unter denen nachgedacht werden könnte. Man kann dabei auch überlegen, was das denn für Haltungen sind, aus denen heraus man die Kinder unbedingt dazu bringen will, den eigenen Vorstellungen über den »richtigen Weg« zu genügen und dabei die Erziehungspraxis von den eigenen Erziehungserfahrungen isoliert. Wenn die Auffassungen fortschrittlicher Eltern über die bestehenden Verhältnisse tatsächlich richtig sind, dann spricht doch vieles dafür, daß die Kinder darauf selber kommen werden, wenn man in einer richtig verstandenen fortschrittlichen Erziehung Bedingungen herstellt, unter denen sie die gesellschaftlichen Widersprüche in Bezug auf ihre Lebensverhältnisse erfahren und durchschauen können. Das heißt aber auch, daß man sie in ihrem Erkenntnisprozeß nicht durch das permanente Vorwegnehmen der Resultate — im Setzen von Erziehungszielen — behindert.
Derartige als Indoktrination deutbare Verhaltensweisen wären dann nicht etwa ein Zeichen besonderer politischer Geradlinigkeit, sondern eher das Gegenteil: Ausdruck einer verborgenen Unsicherheit hinsichtlich der Überzeugungskraft, wie sie sich aus dem Erkenntnisgehalt der eigenen Weltanschauung ergibt.