- Die Gestaltpädagogik findet viel Resonanz auch bei gewerkschaftlich organisierten Lehrern. So führte z.B. die Westberli'ner GEW zwei öffentliche Diskussionsveranstaltungen darüber durch. Die Beiträge der ersten Veranstaltung am 24.8.1983 sind in der »Berliner Lehrerzeitung« veröffentlicht (1984). In der zweiten Veranstaltung am 15.2.1984 wurden von der GEW Vertreter der Kritischen Psychologie und der Gestaltpädagogik zu einer öffentlichen Kontroverse eingeladen. Der folgende Text beruht auf meinem Beitrag zu dieser Veranstaltung.
1. Pragmatischer Eklektizismus
Die Gestaltpädagogik ist ein Sammelbegriff für alle pädagogischen Konzepte, die im Umkreis der humanistischen Psychologie entstanden sind. Für die humanistische Psychologie ist wiederum das Konzept der Selbstverwirklichung, des spontanen Wachstums, der Freisetzung menschlicher Potentiale durch Auflösung/Sprengung psychischer Verfestigungen/Verpanzerungen bestimmend. Wesentliche Betandteile der Gestaltpädagogik bzw. der Gestalttherapie und der humanistischen Psychologie insgesamt sind: Der Begriff der »awareness«, d.h. die psychische Offenheit für das »Hier und Jetzt«, das unmittelbare Ansetzen an den Bedürfnissen, die Betonung der Emotio-nalität und Körperlichkeit, die Begriffe der »Selbstfindung« und der »Selbstverantwortlichkeit«, das Lernen als »vitaler Evidenz« (z.B. Petzold und Sieper 1977, 27). Im allgemeinen unterscheidet man drei gestaltpädagogische Richtungen:
- die themenzentrierte Interaktion von Ruth Cohn,
- die »confluent education« von George I. Brown und
- die integrative Pädagogik des Fritz-Perls-Instituts.
Die Unterschiede zwischen diesen verschiedenen Richtungen sind, wie z.B. Burow und Scherp (1981, 120f.) feststellen, im allgemeinen unklar, ebenso die Begrifflichkeit und die Frage, worin die Besonderheit der Gestaltpädagogik überhaupt liegt. — Im Fortbildungsprogramm »Gestaltpädagogik« der Diesterweg-Hochschule heißt es, daß die Gestaltpädagogik keineswegs beanspruche, eine neue Pädagogik zu sein, sondern vielmehr versuche, der »institutionalisierten Durchrationalisierung von Lehren und Lernen und der damit verbundenen Reduzierung und Zerstückelung der Person zu begegnen«.(2)
Man greife dabei auf reformpädagogische Ansätze zurück, setze aber neue Akzente. Es komme in der Gestaltpädagogik weniger auf Unterrichtsstrategien und Methoden, sondern vielmehr auf die innere Haltung und auf das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden an. Die Gestaltpädagogik verspricht die Neuentdeckung der natürlichen Möglichkeiten »zu offener Begegnung und kreativem Kontakt«, die »schwer, aber auch aufregend und sozusagen lebendig machend« sei (4). Ruedi Signer (1977, 273) hebt den »pragmatischen Eklektizismus« der Gestaltpädagogik positiv hervor, der darin besteht, daß man von den unterschiedlichen Ansätzen jeweils das übernimmt, was unmittelbar brauchbar erscheint und die aktuelle Situation erleichtert. — Die unklare Begrifflichkeit erscheint dabei geradezu als Ausdruck der theoretischen »Offenheit und Toleranz der Theorie«, die sich nach Völker darin erweist, daß die humanistische Psychologie alles vermeiden will, was sie »in einen unversöhnlichen Gegensatz zu anderen Wissenschaftsauffassungen bringen könnte« (1980, 35). — Die unklare Begrifflichkeit und theoretische Offenheit gibt einem zudem die Möglichkeit, sich jeder Kritik dadurch zu erwehren, daß man den potentiell kritischen Standpunkt assimiliert. Die »philosophische Grundlage der Gestaltpädagogik« läßt sich nach Auffassung von Hofmann und Quitmann als ein Versuch interpretieren, »marxistisches und existentialistisches Gedankengut miteinander zu verbinden«. Beide »Strömungen« würden sich »durch eine nicht nur analysierende, sondern gleichzeitig hand-lungsorientierte Sichtweise« auszeichnen (1984, 34). Nach Portele ergeben sich z.B. Gemeinsamkeiten zwischen der marxistischen Auffassung von der »allseitige(n) Entfaltung der Persönlichkeit« und dem Begriff der »Selbstverwirklichung« in der humanistischen Psychologie dadurch, daß beide Konzepte nicht als Zustand, sondern als Prozeß gefaßt würden (67). Aus der antiintellektualistischen Haltung von Perls, des Begründers der Gestalttherapie, schließt Portele umstandslos auf den zentralen Stellenwert des Begriffs der »Tätigkeit« in dessen Theorie und auf entsprechende inhaltliche Verwandtschaft mit Leontjew (64). Ähnlich »lockere« Parallelen werden zur Berliner Schule der Gestaltpsychologie (58) (s.a. H.-J. Walter 1977) und der Kritischen Psychologie gezogen (67).
Die theoretische Unklarheit und Versöhnlichkeit der Gestaltpädagogik mag manchen auf den ersten Blick als undogmatische Offenheit sympathisch berühren. Aber bedeutet sie nicht politische Versöhnlichkeit, d.h. Aussöhnung mit den bestehenden Klassengegensätzen und Entwicklungsbehinderungen, letztlich Parteinahme für die Herrschenden? Schlägt die scheinbare Toleranz nicht überall da in ihr Gegenteil um, wo wirklich ernstgemeinte Kritik und Betroffenheit an den bzw. durch die inhumanen Tendenzen der bürgerlichen Klassenwirklichkeit abgewehrt werden? Um dieser Frage nachzugehen, ist es unerläßlich, die realen Entstehungszusammenhänge der »humanistischen Psychologie«, auf der die Gestaltpädagogik basiert, darzulegen — gerade auch deswegen, weil dieser Aspekt aus der »offenen« Diskussion und der »awareness« der humanistischen Psychologen bzw. der Gestalttherapeuten und -pädagogen ausgeblendet ist.
2. Der Ursprung der »humanistischen Psychologie« —
Psychologische Befriedungsstrategie im kapitalistischen Betrieb
Die humanistische Psychologie hat sich wesentlich im Zusammenhang mit der »humanen Menschenführung« und dem »demokratischen Führungsstil« im Betrieb, d.h. als Konfliktbewältigungsstrategie im Interesse der Unternehmensleitung entwickelt: Die subjektive Situation und die Emotionen der Belegschaftsmitglieder sollen von der Unternehmensleitung berücksichtigt werden, um das reibungslose Funktionieren des Betriebes zu gewährleisten und die eigene Machtstellung zu sichern. Der Output soll erhöht und Konflikte vermieden werden, da diese immer mit der Gefahr verbunden sind, das Bewußtsein der antagonistischen Interessen von Kapital und Arbeit, d.h. klassenkämpferisches Denken zu aktualisieren bzw. voranzutreiben. Die »humane Menschenführung« hat das Ziel, die Belegschaft zu »konstruktivem Denken« und »verantwortlichem Handeln« gegenüber den Unternehmenszielen zu bringen. »Konstruktiv« sind nach Auffassung der humanistischen Psychologen diejenigen Belegschaftsmitglieder, die auf die aktuellen Anforderungen der Situation reagieren, überall dort, wo sie stehen, ihr Bestes geben (z.B. Maslow 1972,10) und zugleich die herrschende Auffassung teilen, daß »ein ökonomisches System, das die Entwicklung von solch entgegengesetzten Interessen ermöglicht« wie von Lohnarbeit und Kapital, das denkbar Beste, quasi der Inbegriff menschlicher Freiheit und gegen jeden Angriff von innen und außen zu verteidigen sei (Maier 1965, 39; siehe auch Lewin 1920, z.B. 21). Die allgemeine Maxime, die von Maslow, dem Begründer der humanistischen Psychologie, auf den Begriff gebracht wird, lautet: Was für General Motors gut ist, ist nicht nur gut für die Belegschaft, sondern auch gut für die USA, und das, was für die USA gut ist, ist zugleich gut für die Welt (1972, 21).
Die von der humanistischen Psychologie im Produktionsbereich propagierte Menschlichkeit ist beschränkt und beschränkend: Sie soll nicht das Ausgeliefertsein an fremdbestimmte Lebensbedingungen überwinden, sondern verfestigt und rechtfertigt bestehende Abhängigkeits- und Machtverhältnisse. Sie ist auf die »menschliche Behandlung« der Abhängigen und auf die »wissenschaftliche« Bekräftigung der Höherwertigkeit der Mitglieder der herrschenden Klassen und privilegierten Schichten reduziert. Sie findet dort ein jähes Ende, wo nicht nur bestimmte Auswüchse der Ausbeutungsverhältnisse, sondern diese selbst in Frage gestellt sind.
Die humanistische Psychologie hat, zumindest soweit sie im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen im Produktionsbereich entwickelt und angewandt wurde, eindeutig antigewerkschaftliche und antisozialistische Stoßrichtung. Ihre politische Funktion ist es, den »inneren Frieden« zu wahren (durch Niederhaltung aller »antidemokratischen« = antikapitalistischen Kräfte) und den Führungsanspruch der westlichen und vor allem der amerikanischen Demokratie in der Welt zu untermauern. Dabei werden Forderungen der Arbeiterbewegung und Begriffe des Marxismus teilweise übernommen und unter der Hand in ihr Gegenteil verkehrt.
Da die Klassenauseinandersetzungen nicht nur ökonomischer Art sind, sondern auch in den ideologischen Bereich hineinwirken, ist jede wissenschaftliche Theorie auf die dahinterstehenden Interessen bzw, ihre immanenten Handlungsanleitungen hin zu überprüfen: Ebensowenig wie man die Aussagen der Unternehmerseite für bare Münze nehmen kann, alle Entscheidungen zum Wohle der Belegschaft bzw. Bevölkerung zu treffen, ist eine theoretische Richtung schon deswegen »human«, weil sie sich so nennt. Es ist genau zu überprüfen, wie die jeweiligen Begriffe inhaltlich gefaßt sind. Die Frage, die in unserem Zusammenhang interessiert, ist also, wieweit die Abstraktion von den gesellschaftlichen Klassengegensätzen auch da implizit den Klassenstandpunkt des Kapitals enthält, wo zwar eine allgemeine kapitalismuskritische Haltung besteht, aber die private Existenz der Individuen und ihre persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten als unabhängig von den Klassenauseinandersetzungen unterstellt werden. Ich will das im folgenden an einigen Konzepten zur Diskussion stellen, die in der Auseinandersetzung um die humanistische Psychologie bzw. um die Gestalttherapie/-pädagogik eine bestimmende Rolle spielen.
3. Mit gesellschaftlichen Veränderungen »bei den Individuen anfangen«?
Eine zentrale Auffassung oder, wie es Ulrich Völker nennt, »die Botschaft« der humanistischen Bewegung ist, »daß der einzelne sich ändern muß, bevor er auf seine Umwelt einwirken kann« (30). »In dem Bewußtsein, daß individuelle und gesellschaftliche Veränderungen sich wechselseitig bedingen«, betone »die humanistische Bewegung ». den Gedanken einer Veränderung der Gesellschaft vom Individuum her« (30). Sie propagiere eine »sanfte Revolution, die das Bemühen um individuelle Veränderung als Arbeit für mehr soziale Gerechtigkeit versteht« (6). Die »Humanisierung der Lebensbedingungen« erfordere zwar gleichzeitig eine Neugestaltung der sozialen Strukturen, aber diese Zielsetzung sei erst dann realistisch, »wenn genügend autonome und sozialverantwortliche Individuen da sind, die diese Autgabe übernehmen können« (30; siehe auch Portele 1980, 66, 69).
Diese gängige Erst-Dann-These, daß nämlich die Individuen sich erst ändern müssen, bevor sie die Verhältnisse ändern können, ist m.E. in vieler Hinsicht problematisch. Sie verlangt, sich zunächst mit den herrschenden Verhältnissen abzufinden: Jeder soll an dem Ratz, an dem er steht, sein Bestes geben, das, was ihm (vom Schicksal) beschieden ist, für das nehmen, was ihm natürlicherweise zukommt und sich darin zu verwirklichen suchen: der Schwachsinnige in der Routinearbeit, der Athletiker in der körperlich anstrengenden Arbeit, der geistig Potente in der Wissenschaft etc., wie das bei Maslow (1972, 255) ausgeführt, aber in ähnlicher Form auch bei den anderen humanistischen Psychologen zu finden ist. Der allgemeine Appell lautet, das zu werden, was man — per Natur und Veranlagung — ist (z.B. Perls 1976, 20; Petzold und Sieper, 27). Gemäß dieser »Erst-Dann-Beziehung« sollten nur die »entwickelten« bzw. »integrierten« Individuen, d.h. diejenigen, die dem »Wohle des Ganzen« dienen, Einfluß haben. Und das sind nach Auffassung der humanistischen Psychologie im wesentlichen die materiell und sozial Unabhängigen, also die, die bereits die Macht haben (gemäß der grundlegenden These der humanistischen Psychologie, daß Selbstverwirklichung und innere Reife erst auf der Basis der befriedigten Grundbedürfnisse möglich sein soll). Wenn die Menschen sich unter den gegebenen Verhältnissen jedoch bereits ungehindert entwickeln können, dann ist die grundlegende Veränderung der Verhältnisse nicht mehr notwendig. Und so bleiben auch die Veränderungsvorschläge oberflächlich und vage. Die Klassengegensätze verschwinden angesichts »großer sozialer Probleme und gewaltiger Aufgaben (z.B. Beherrschung der Energiekrise, Bewältigung des Nord-Süd-Konflikts, Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts, Bemühen um soziale Gerechtigkeit u.a.)« (Völker, 5) sowie angesichts des allgemeinen Konsum- und Prestigedenkens, der »Technisierung« und »Bürokratisierung« des Lebens etc., die es gemeinsam zu lösen bzw. zu überwinden gilt. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beschränken sich auf »Konflikte mit den herrschenden Konventionen« (z.B. Besems 1977,66). — Eine Variation der Erst-Dann-These ist die Vorstellung, daß die Veränderung der Individuen und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse parallel zu geschehen habe. Wer diese »parallele« Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen betreiben soll, bleibt unklar. Nur so sind die Fragen von Schulz von Thun überhaupt möglich: »Was die veränderten gesellschaftlichen Strukturen nutzen, wenn ich mich nach wie vor nicht akzeptieren kann, wenn ich die alten Strukturen der Rivalität, des blinden Gehorsams, des ängstlichen Egoismus und persönlichen Ehrgeizes in mir trage ».« etc. (1980, 111) Schulz von Thun übersieht, daß der Kampf gegen die objektiven Entwicklungsbehinderungen identisch mit der bewußten Vertretung subjektiver Lebensansprüche und der Überwindung der unmittelbaren Absicherungstendenzen — oder überhaupt nicht möglich ist. — Der Ansatz der Überwindung des Dilemmas »erst die Menschen oder erst die Verhältnisse?« liegt in der Einsicht, daß menschliche Entwicklung nicht vor oder nach, sondern in der Veränderung und Verbesserung der eigenen Lebensbedingungen sich vollzieht: Indem die Individuen sich zu ihren eigenen Entwicklungsbeschränkungen bewußt »verhalten« können, können sie auch bewußt gemeinsam mit Gleichbetroffenen die Ursachen dieser Beschränkungen und darin diese selbst überwinden.
4. »Systemtheorie«, Biologismus und Elitedenken
Die Abstraktion von den Klassengegensätzen verführt zu einer harmonisch-organismischen Gesellschaftsvorstellung. Die gesellschaftliche Entwicklung wird von den humanistischen Psychologen immer wieder mit der Entwicklung natürlicher Organismen verglichen. Der Begriff »Fließgleichgewicht« spielt eine zentrale Rolle, die Vorstellung, daß alles mit allem zusammenhängt und im Fluß ist, es keine festen Grenzen/Klassengrenzen gibt und die Entwicklung des Teils automatisch auf die Entwicklung des Ganzen Einfluß hat.
Kurt Guss meint, für die Annahmen der humanistischen Psychologie »naturwissenschaftliche Würde in Anspruch nehmen (zu) dürfen« (1977, 83), indem er für die Erklärung gesellschaftlicher Verhältnisse/Beziehungen auf die Systemtheorie zurückgreift, die Bertalanffy in Untersuchung biologischer Organismen entwickelt hat. Diese unre-flektierte Anleihe bei der Biologie hat, konsequent zu Ende gedacht, zwangsläufig biologistische Konsequenzen: Die Notwendigkeit der Erhaltung des bestehenden Systems wird praktisch naturalisiert. Diese Implikationen werden deutlich in Ausführungen von »rechten« Autoren, die sich ebenfalls auf die Systemtheorie von Benalanffy beziehen.
So entwickelt z.B. Kosiek in »kreativer« Anwendung der Bertalanffyschen Theorie die These, daß die Stabilität auch der gesellschaftlichen Systeme von ihrer hierarchischen Strukturierung abhängt. Auch ein gesellschaftliches System sei bedroht, wenn die Störung und/oder der Ausfall der Untereinheiten bzw. die Anzahl der »ausfallbehafteten Elemente« (4) ein bestimmtes Maß überschreitet. Das gelte besonders für »Elemente mit großer funktioneller Bedeutung, mit großer Bürde«. »Bei Gruppierungen von Menschen kommt es daher« — so Kosiek — »besonders auf die Eliten an, deren Bildung und Förderung wichtigste Aufgabe jeder Gemeinschaft ». sein muß« (2). »Eine ungegliederte«, nivellierte(n) Massengesellschaft mit möglichst großer Gleichheit aller« gleiche »dem stabilen physikalischen Gleichgewicht des Todes« (4). Die Quintessenz lautet: »Die Entwicklung zu höherer Ordnung in Menschengemeinschaften führt also nicht zu Massengesellschaften, sondern zu immer stärker gegliederten Gemeinschaften mit Betonung der Ungleichheit der einzelnen. Vereinheitlichung und Gleichmacherei stehen also im Gegensatz zur natürlichen Entwicklung, sind lebenswidrig« (4). Obwohl sich die humanistische Psychologie als Beitrag gegen den Faschismus versteht (z.B. Perls 1976, 12), bedeutet ihre theoretische Offenheit zugleich mangelnde Bewußtheit der allgemeinen Gefahr — unter dem Druck der kapitalistischen Klassenrealität — auch im eigenen Denken und Handeln unbemerkt durch rechte Ideologie bestimmt zu werden. Auch die humanistische Psychologie ist von dieser Gefahr nicht so weit entfernt, wie viele ihrer Anhänger es gern sehen würden. So vertritt Maslow z.B. — zumindest dort, wo er sich unmittelbar an die Manager wendet — eine glasklare Elitetheorie: Es gibt seiner Auffassung nach Menschen, die von Natur zu Höherem bzw. zum Führen berufen sind und die auch — zum Wohle der Gesamtheit — den ihnen gemäßen Platz in der Gesellschaft einnehmen müssen. Die psychologischen Probleme bestehen dann darin, mit den Schuldgefühlen der Privilegierten ob ihrer natürlichen Ausgezeichnetheit fertig zu werden und diese gegen den Neid der weniger Begnadeten innerlich abzuschirmen (z.B. 1972, 133ff.). — Der Elitegedanke ist jedoch auch da für die humanistische Psychologie kennzeichnend, wo er nicht explizit geäußert wird. Die Abstraktion von den objektiven Bedingungen der Entwicklung macht den Rekurs auf unterschiedliche individuelle Entwicklungspotenzen unvermeidlich.
5. »Individuelle Freiräume« versus gesellschaftliche Bestimmtheit/Verantwortlichkeit?
Die These von der Möglichkeit der Selbstverwirklichung innerhalb fremdbestimmter Verhältnisse geht mit der Behauptung einher, daß es — »unbesehen aller gesellschaftlichen Zwänge (Schulz von Thun 1980, 112) — überall individuelle Handlungsspielräume gebe, die es zu nutzen gelte. Nach Helmut Quitmann sind 95 Prozent unserer Lebens- und Arbeitsbedingungen gesellschaftlich festgelegt, d.h. durch die ökonomische und politische Struktur bestimmt. Daneben gebe es einen kleinen Freiraum von etwa 5 Prozent, in welchem autonomes und selbstverantwortliches Handeln möglich sein soll. Dieser zugestandene Freiraum sei die Quelle gesellschaftlicher Veränderungen (1984, 36). Zur sozialen Kompetenz gehört nach Helmut Quitmann, daß man diesen individuellen Handlungsspielraum erkennt und ihn nutzt: Eine These, die nicht nur von ihm, sondern von der humanistischen Psychologie insgesamt vertreten wird. Wenn man jedoch schon mit Prozenten rechnen will, so muß man die Konsequenz ziehen, daß die Menschen nicht zu 95 Prozent, sondern zu 100 Prozent durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt sind. Es gibt nämlich partout keine Möglichkeit, sich aus den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herauszuhalten und sich in irgendeiner Nische der Selbstverwirklichung hinzugeben. Diese Aussage bedeutet jedoch keineswegs, daß man bloßes Produkt der jeweiligen Einwirkungen und bar jeder Verantwortung für das eigene Leben ist:
Die Menschen sind in ihrem Verhalten von den objektiven Lebensbedingungen abhängig und unabhängig zugleich, da sie sich — im Unterschied zu allen Tierarten — bewußt zu ihnen verhalten können. Das bedeutet, daß sie sich nicht nur den jeweils gegebenen Bedingungen anpassen und (nach Art der Engelsschen Ziegen, die die Berge Griechenlands kahlfraßen und sich damit um die eigene Lebensgrundlage brachten) in individuelle Wechselwirkung mit diesen treten. Die Menschen verfügen vielmehr über die Fähigkeit — im Wissen um die Auswirkungen der objektiven Realität auf die subjektive Situation —, die Bedingungen zu schaffen, die ihren Interessen, Vorstellungen und Bedürfnissen entsprechen. Mich selbst zu ändern und meine Lebensbedingungen zu ändern, durch die ich in meinem Fühlen, Denken und Handeln bestimmt bin, ist — wie gesagt — der gleiche Prozeß.
Nur, wenn dies nicht begriffen ist, kann der marxistischen These von der objektiven Bedeutung der gesellschaftlichen Verhältnisse für die individuelle Entwicklung — wie z.B. von Manes Sperber — entgegengehalten werden, daß, obwohl die Umwelt bei der negativen Entwicklung der Individuen eine Rolle spielt, dennoch niemand »zum Verbrecher werden muß, weil er in einer klassengespaltenen Gesellschaft lebt«. Sperber (auch einer der Gewährsleute der Gestaltpädagogik) folgert: »Warum und wozu jemand ein Verbrecher wird, bleibt auch unter voller Berücksichtigung der sozialökonomischen Gegebenheiten ein Problem des Individuums, seiner unzulänglichen Beziehungsfähigkeit, seiner Entmutigung, seines gestörten Gemeinschaftsgefühls« (1978, 14). Wie es zu dieser Entmutigung und dem gestörten Gemeinschaftsgefühl etc. kommt, bleibt ebenso verborgen wie die Tatsache, daß unter kapitalistischen Verhältnissen keineswegs die objektiven Lebensbedingungen für alle Individuen gleich, sondern — selbst innerhalb einer Klasse oder gar Familie — auf sehr spezifische Weise durch die gesellschaftlichen Klassenverhältnisse vermittelt sind.
6. Individuelle Autonomie durch Standpunktlosigkeit?
Die »Autonomie« des Individuums besteht nach Auffassung der humanistischen Psychologie darin, daß an Stelle der »Herrschaft der Gesellschaft« die »Herrschaft des Organismus« (Perls, 25) tritt. Dies wird wiederum gleichgesetzt mit der »Herrschaft der Situation«, auf die der Organismus unmittelbar »antwortet« (28f.). Die »Autonomie« als Herrschaft des Organismus bzw. der Situation bedeutet somit nichts anderes als die Herrschaft der Verhältnisse, auf die man »spontan« (»im Rahmen des Möglichen« unter Umständen sogar »kritisch«) reagiert und innerhalb derer man die jeweils zur Verfügung stehenden Freiräume für die Selbstverwirklichung zu nutzen sucht. Das heißt: gemäß der humanistischen Psychologie ist der Mensch immer determiniert: entweder durch die gesellschaftlichen Forderungen, die per se als Unterdrückung, Zwang, Pseudo-Existenz erscheinen (z.B. Perls 1976, 32, Quitmann 1984, 36, Besems 1977, 59 etc.) und denen er sich, wenn er an seinem persönlichen Wachstum interessiert ist, nach Möglichkeit zu entziehen trachtet — oder durch Forderungen des Organismus, denen zu entsprechen als »Reich der Freiheit« und des »Seins« ausgegeben wird. Die organismisch/biologische Bestimmtheit gegen die gesellschaftliche Bestimmtheit zu setzen, bedeutet aber, wenn man genauer hinsieht, nicht Freiheit, sondern der Vererbungslehre für die Erklärung individueller Verhaltensunterschiede Tür und Tor zu öffnen.
»Autonomie« bedeutet also für die humanistische Psychologie nicht etwa, das Ausgeliefertsein zu reduzieren und die Einflußmöglichkeiten auf die gesellschaftliche Entwicklung zu erweitern, sondern im Gegenteil: der Kampf gegen die Fremdbestimmtheit ist, weil er »aufgezwungen« und »nicht freiwillig gewählt« wurde, selbst fremdbestimmt (z.B. Portele 1980, 72). Widerstand gegen die Unterdrückung ist somit auch kein Thema, mit dem sich die humanistische Psychologie näher beschäftigt. Die Autonomie liegt in der Kreativität/Beliebigkeit der subjektiven Interpretation der objektiven Realität, die man so oder so sehen kann. Zorn gegenüber anderen Personen ist nach Perls nur möglich, wenn ich gleichzeitig von ihnen abhängig bin, sie mir nicht gleichgültig sind. Wenn ich mir das klarmache, wird mein Zorn auf den anderen durch dessen positive Bedeutung für mich quasi konterkariert (1976, 58). Die Ambivalenz der menschlichen Beziehungen, wie sie gerade unter kapitalistischen Bedingungen typisch ist, wird weder in ihren objektiven Ursachen noch in ihrer subjektiven Bedeutung analysiert, sondern als Beweis der Unergründlichkeit menschlichen Gefühlslebens stilisiert. Wer die Ambivalenz nicht mag, hat immer noch die Möglichkeit, die Abhängigkeit aufzugeben und sich auf sich selbst zurückzuziehen, auf die eigenen Kräfte zu besinnen. »Do it yourself« ist ohnehin die Maxime der humanistischen Psychologie (Pet-zold 1977, 8). Wer das nicht von sich aus tut, muß entsprechend getreten werden. »Frustration« ist eine notwendige Entwicklungshilfe (z.B. Perls 1976, 40). Die Möglichkeit, daß »Frustrationen«, die man anderen zufügt, die Versagung von Hilfe/Unterstützung, keineswegs ihrer Entwicklung förderlich sind und daß es auch nicht unbedingt an der mangelnden persönlichen Reife liegt, wenn man sich nicht aus unbefriedigenden Abhängigkeitsverhältnissen zu lösen vermag, wird schlicht übergangen — ebenso wie die Tatsache, daß in der kapitalistischen Gesellschaft für die Mehrheit der Bevölkerung Entwicklung systematisch behindert wird, was nur in politischer Aktion zu überwinden ist.
Das Klassenkampfdenken erscheint den humanistischen Psychologen ohnehin eher als persönliche Unart. So weiß Helmut Quitmann von Leuten zu berichten, die »die Gesellschaft gern im Klassenkampf (hätten) und ». sie deshalb als im Klassenkampf stehend wahr(-nehmen)« (1984, 37). Nach Perls ist jedes Standpunktbeziehen eine unnötige Grenzziehung, die Quelle gesellschaftlicher Konflikte und in sich völlig unbegründbar/irrational. »Richtig und falsch« ist, wie seine Philosophie lautet, »immer eine Sache der Grenze, abhängig davon, auf welcher Seite des Zauns ich stehe« (1976, 18). Vom Standpunkt des Kapitals sehen die Dinge völlig anders aus als vom Standpunkt des Arbeiters. Wer sich der Freedombewegung anschließt, identifiziere sich zwar mit den Schwarzen, grenze sich aber wiederum von den »Gegnern der Freedombewegung« ab (1976, 21). Am besten wäre es, sich überhaupt nicht festzulegen, sich aus allem herauszuhalten, keinen Standpunkt zu beziehen, »objektiv« zu sein. Das bereitet aber offensichtlich Schwierigkeiten. Aus irgendwelchen nicht angebbaren Gründen suchen die Menschen, wie Perls meint, »selten den gemeinsamen Nenner»» dafür suchen wir aber nach dem, worin wir uns unterscheiden, damit wir uns auch gegenseitig hassen und töten können.« (1976, 21)
Interessen sind dieser Auffassung nach Geschmacksache und per se nicht auf ihre Berechtigung zu hinterfragen. Die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf die Situation der Mitmenschen und die Verantwortung des einzelnen für die gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt systematisch ausgeklammert. »Ich tu, was ich tu; und du tust, was du tust«, beginnt das sogenannte »Gestaltgebet« (1976, 13).
7. Geht politisches Engagement notwendig auf Kosten der persönlichen Entfaltung?
In der humanistischen Psychologie wird die »Selbstverwirklichung« als Rückbezogen-heit auf das eigene Ich in Gegensatz zur gesellschaftlichen Existenz als Pseudoexi-stenz gefaßt. Auch da, wo die humanistischen Autoren für politisches Engagement eintreten, schleicht sich in ihren theoretischen Äußerungen immer wieder die Vorstellung ein, daß politische Tätigkeit auf Kosten der persönlichen Entwicklung geht, wenn nicht gar eine Flucht vor den Anforderungen persönlichen Wachstums ist. So unterstellt Helmut Quitmann z.B., daß diejenigen, die die Welt nur »im Klassenkampf stehend wahrnehmen«, innerlich praktisch tot sind — eine Diffamierung, mit der die humanistischen Psychologen bzw. alle »Selbstverwirklicher« generell jene bedenken, die sich ihren Heilsvorstellungen gegenüber verschließen. »Gefühle wie Glück, Zufriedenheit und Liebe spüren sie nicht mehr bzw. stellen sie weit hinter die täglichen Anforderungen des Kampfes zurück.« (1984, 37)
Eine solche Auffassung wird durch Erfahrungsberichte ehemals politisch Aktiver scheinbar bestätigt. Derjenige, der nur »für die Befreiung der Arbeiterklasse« kämpfe, vernachlässige sein persönliches Glück und lebe falsch (so z.B. Hager in Schulz von Thun 1980, 112f.).
Die Gegenüberstellung: Ich tue es entweder für mich oder für die anderen (die »Gesellschaft«, »das Volk«, die »Arbeiterklasse«, die »Ausländer« etc.) ist verbreitet, aber irreführend: Alles, was ich tue, tue ich auch für mich. Die Frage ist allein, wieweit ich mir das bewußt mache bzw. dazu stehe oder auch nicht. Klassenkampf bedeutet nicht primär, für die Befreiung der anderen, sondern für die eigene Befreiung von den gesellschaftlichen Zwängen zu kämpfen, und das heißt für die Angehörigen der Intelligenz, die eigene Position innerhalb der Klassenauseinandersetzungen zu klären und das eigene Handeln daraufhin zu überprüfen, in wessen Interesse es ist. Steht es in Einklang mit dem, was für mich persönlich lebens- und entwicklungsnotwendig ist, oder bin ich bloß ausführendes Organ eines fremden Willens — und gerade deshalb auf die Illusion der individuellen Selbstverwirklichung im privaten Schonraum verwiesen? Zu meiner
Entwicklung als Lehrer gehören immer auch die Entwicklungsmöglichkeiten und -Perspektiven meiner Schüler. In dem Maße, wie diese nicht gegeben sind, wird meine Tätigkeit zur Farce. Mich damit abzufinden, bedeutet nicht nur, mich selbst zum Hampelmann zu degradieren und die entwicklungsbehindernden Verhältnisse indirekt zu stützen, sondern mich aktiv daran zu beteiligen, andere (die Schüler) kleinzuhalten, auszulesen, ins gesellschaftliche Abseits zu schieben — wie freundlich und »offen« auch die Atmosphäre im Klassenzimmer sein mag. Wenn es in unserer Gesellschaft nur vom guten Willen des einzelnen abhinge, »in einer konkreten Situation so zu handeln, daß seine persönliche Integrität, die seines Gegenübers und die der Dinge nicht verletzt oder zerstört wird« (Petzold und Sieper 1977, 31), dann brauchten wir diese in der Tat nicht zu verändern!
Zusammengefaßt: Die Alternative, »Autonomie« contra »Bestimmtheit« meines Handelns greift nicht. Meine »Autonomie« — in kreativer Ausnutzung gegebener Freiräume — ist immer nur eine scheinbare; sie besteht so lange, wie ich »spontan« durch die herrschenden Interessen bestimmt bin, zumindest nicht gegen sie verstoße: Ich muß nur — wie Portele (1980, 72) meint — das »ich kann nicht« durch das »ich will nicht« und das »ich muß« durch das »ich will« ersetzen — mich also freiwillig den herrschenden Zwängen unterwerfen. Politische Arbeit und persönliches Leben stehen also keineswegs im Gegensatz: Im Interesse der eigenen selbstbestimmten Entwicklung bin ich gezwungen, mich am Kampf gegen die gesellschaftlichen Kräfte zu beteiligen, die diese Entwicklung behindern. Die Alternative zu diesem politischen Kampf ist die Bescheidung mit dem, was ist: Selbstverwirklichung innerhalb der »gesellschaftlichen Rahmenbedingungen«, »Selbsterziehung«, »Arbeit an der eigenen Persönlichkeit«, wie das so oder so ähnlich in der Gestalttherapie/-pädagogik heißt (z.B. Schulz von Thun 1980). Dies bedeutet letztlich nichts anderes als die Verbesserung meiner Verwertbarkeit für die herrschenden Interessen und Abschirmung gegenüber allem, was diese Selbstbescheidung und Selbstzufriedenheit gefährden könnte. Verdrängt werden muß dabei vor allem die Tatsache, daß man in dem Maße, wie auch andere von dem eigenen Handeln/Nichthandeln betroffen sind, keineswegs »autonom«, nicht nur sich selbst, sondern auch den Mitmenschen gegenüber verantwortlich ist. Wenn man im »Bau der Persönlichkeit« — ob im Rückzug auf die Innerlichkeit oder im Ausbau individueller Kompetenzen — die zentrale Lebensaufgabe sieht, dann findet man in der Tat immer wieder Felder, innerhalb derer man sich scheinbar »vervollkommnen« und »verwirklichen« kann. Es ist mit Sicherheit eine verlockende Vorstellung, die bestimmt nicht zufällig gerade in Zeiten gesellschaftlicher Verfinsterung greift: Im Rückzug auf die eigene Person (der sich unter dem zunehmenden äußeren Druck sowieso spontan aufdrängt) Selbstverwirklichung zu finden, die inneren Blockierungen zu sprengen und frei über alle subjektiven Potenzen zu verfügen, wie Phönix aus der Asche zu steigen, durch das Nichts hindurch zum Leben zu erwachen — und allein durch sein so erblühtes Sein zur gesellschaftlichen Vorhut/Elite zu gehören, an der sich alle übrigen freiwillig ausrichten. Eine Vorstellung, die die Gestalttherapie nahelegt, ein Wunschtraum, eine Mischung von Lore-Roman und Aschenputtelstory, auf die man wahrscheinlich in Zeiten körperlich-geistiger Ermattung immer wieder einmal regrediert und die man nun mit Hilfe der Therapie verwirklichen will. Solche Vorstellungen bringt z.B. W. Reich, einer der geistigen Väter der Gestaltthera-pie, auf den Begriff, wenn er schreibt: »Es besteht für uns gar kein Grund, um die Macht zu kämpfen. Wir können ». ganz sicher sein, daß uns die Menschenmassen brauchen, rufen und mit wichtigen Funktionen betrauen werden, wenn sie einmal in den Zustand der rationalen Selbstumgestaltung kommen sollten. Dann werden »Menschenmassen in unsere Kliniken, Erziehungsanstalten, Vorträge und Demonstrationen wissenschaftlicher Tatbestände strömen.« um sich Antworten auf zentrale Lebensfragen zu holen« (1979, 291f.).
»Awareness« bedeutet, wie Annedore Prengel in Anlehnung an W. Reich meint, völlige Beschränkung auf den bestehenden Zustand — um gerade so die »sprunghafte Veränderung« zu bewirken (1983, 20; siehe auch Perls 1976, 64f.). Gerade die Nichterfüllbarkeit solcher Träume von einer »explosionsartigen inneren Befreiung« aus dem absoluten Tiefpunkt heraus fesselt offensichtlich an die Therapie, die die Illusion vermittelt, etwas für sich zu tun und darüber hinaus von den Angst- und Schuldgefühlen — vorübergehend — entlastet und die das berechtigte Bedürfnis, etwas Besonderes, ganz Individuelles zu sein, in pervertierter Weise, d.h. in Abgrenzung von den übrigen, den sog. »Massen«, aufgreift und scheinbar befriedigt.
8. Soziales Verantwortungsbewußtsein als individuelle Fehlhaltung?
Was die These von den individuellen Freiräumen innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Bestimmtheit so attraktiv macht, ist offensichtlich, daß sie von der individuellen Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns und für die gesellschaftlichen Verhältnisse/Entwicklung freispricht. Wo ich bestimmt bin, kann ich nicht anders, und wo ich »autonom« bin, bin ich ein netter Mensch und tue keiner Fliege etwas zu leide, sympathisiere möglicherweise sogar mit den »Benachteiligten«. In der humanistischen Psychologie ist der Begriff der Verantwortung auf die Fähigkeit reduziert, auf die Situation zu antworten und auf die Bereitschaft zu sein, was man ist (Perls 1976, 72f.). Die so gefaßte Verantwortung besteht zugleich in der Ablehnung jeder Verantwortung für die Situation und das Verhalten der Mitmenschen. Wir müssen Verantwortung »für jedes Gefühl, jede Bewegung, jeden Gedanken« übernehmen »und die Verantwortung für jeden anderen abschütteln« (72). Verantwortung für andere zu übernehmen bedeutet für Perls nichts anderes, als daß man sich allmächtig fühlt, sich in das Leben anderer einmischt (72; siehe auch Prengel 1983, 21; Petzold und Sieper 1977, 29).
Die Doppeldeutigkeit aller Verhaltensweisen unter kapitalistischen Lebensbedingungen, d.h. die Tatsache, daß alle Bemühungen um andere — infolge der allgemeinen existentiellen Verunsicherung — in der Regel zugleich auch zur individuellen Absicherung/Aufwertung und damit in Instrumentalisierung und Abwertung des anderen geschehen, wird zum Anlaß genommen, die Verantwortung füreinander, die eine absolute Voraussetzung der Entfaltung menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten ist, von vornherein zum neurotischen Fehlverhalten zu erklären. Diese Abschirmung gegenüber der Situation der Mitmenschen schließt die Abschirmung gegenüber den eigenen kritischen Emotionen, d.h. gegenüber allen Angst- und Schuldgefühlen ein. Angst ist nach Auffassung Perls nichts weiter als die Diskrepanz zwischen dem Hier und Später. Sie ist dadurch zu bewältigen, daß man sich diszipliniert (58) und alles nutzlose Denken über zukünftige Gefahren abwehrt oder das Leben halt als ein Spiel nimmt, bei dem man — je nachdem, wie schnell man zugreift — gewinnen und verlieren kann (54). Die humanistische Psychologie in all ihren Spielarten geht davon aus, daß die Entwicklungsbehinderungen und Einschränkungen im wesentlichen im Individuum liegen. So hindern sich z.B. nach Perls die Menschen selbst am Wachstum: weil sie Angst haben, authentisch, sie selbst zu sein (36, 20); weil sie Risiken und Schmerzen scheuen (z.B. 54, 60); weil sie »verzogen« sind und nicht »durch das Höllentor des Leidens hindurchgehen« wollen (63); weil sie sich lieber versorgen lassen als selbst et-
was zu tun (66); weil sie stets in Katastrophenerwartung leben, kontrollversessen, auf Sicherheit aus, halbe Leichen sind (z.B. 40,47, 53); weil sie sich dummstellen (41); weil sie krankspielen (68), statt sich auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen (68) etc., etc. Vor dieser Publikumsbeschimpfung verflüchtigen die objektiven Bedrohungen und Behinderungen sich ins Nichts. Irgendwo gibt es diese — als »allgemeine Rahmenbedingungen« — zwar auch, aber mit dem konkreten Verhalten der Menschen haben sie nichts zu tun. Warum der einzelne »sicherheitsbesessen« etc. ist — das hängt allein mit seiner spezifischen Psyche, nicht aber etwa mit der objektiven Ungesichertheit seiner Existenz zusammen.
Der von Freud herausgestellte Sachverhalt, daß die Folgen der Anpassung an die unterdrückende Realität eine Verinnerlichung des Konflikts, d.h. aber die — progressive — Selbsteinschränkung bedeutet, verführt offensichtlich zu der Vorstellung, daß diese Selbsteinschränkung — da vom bzw. »im« Individuum vollzogen — auch »im« Individuum, d.h. unabhängig von den äußeren Verhältnissen aufgehoben werden kann. Übersehen wird, daß diese innere Selbstbeschränkung nur durch äußere Unterdrückung in Gang gesetzt und nur vor dem Hintergrund realer Einschränkung/Unterdrückung aufrechterhalten wird, bzw. daß diese psychische Abkapselung genau die Funktion hat, das Einvernehmen mit der Umwelt zu wahren, den Konflikt mit der — als übermächtig eingeschätzten — äußeren Realität zu umgehen. Die humanistischen Therapievorstellungen gelten bestenfalls für den (fiktiven) Fall, daß alle Behinderungen nur eingebildet sind, die objektiven Ursachen der Unterdrückung, wenn sie überhaupt je bestanden haben, längst verjährt sind. Die Individuen werden quasi als Opfer ihrer eigenen Machenschaften hingestellt, die dadurch »frei« werden, daß sie von diesen Machenschaften lassen.
9. Emanzipation durch »Wir-Gefühl«?
Obwohl die humanistische Psychologie ständig von »awareness« = »Bewußtheit« und von der »Ganzheitlichkeit« des Menschen spricht, ist sie — wie ausgeführt — in Wirklichkeit auf die Abwehr der gesellschaftlichen Verantwortung, d.h. aber auch der »kritischen« Gefühle ausgerichtet. Die Trennung von Kopf und Herz, die zu überwinden sie vorgibt, verfestigt sie eher noch.
Die Kritische Psychologie geht von der Einheit und Vermitteltheit von Erkenntnis, Emotionalität und Handlungsfähigkeit aus (Osterkamp 1978): Emotionen stehen keineswegs im Gegensatz zur Erkenntnis oder gar Körperlichkeit. Sie sind vielmehr bestimmte (Vor-)Formen der Erkenntnis und Handlungsbereitschaft, die sich immer auch als körperliche Vorgänge äußern. Die Emotionen haben dieser Konzeption nach einerseits erkenntnisleitende und handlungs(an)leitende Funktion; auf der anderen Seite hängt die Bereitschaft, sie in wirkliches Handeln umzusetzen, von meinen objektiven Hand-lungsmöglichkeiten/-beschränkungen und deren psychischen Implikationen ab. Unter Bedingungen, wo die Äußerung der Gedanken und die Umsetzung der Handlungsimpulse in wirkliches Handeln Folgen haben, die mich überfordern und meine gesellschaftliche »Integration« zu gefährden drohen, werde ich die spontane Tendenz haben, mich von meinem Denken und Fühlen, d.h. aber auch, von mir selbst zu distanzieren. Der Zugang zu meinen Gefühlen und die Fülle meiner Erlebnisfähigkeit hängen daher von meiner realen oder als möglich erkannten Handlungsfähigkeit ab; diese ergibt sich wiederum aus meinen gesellschaftlichen Beziehungen etc. Im Gegensatz dazu wertet die humanistische Psychologie die Emotionen nicht als Quelle der Erkenntnis. Die Emotionalität wird vielmehr völlig inhaltsleer als »steckengebliebene Erregung« (Perls 1976, 72) und »gefrorene Energie« (Fatzer 1983, 94) gefaßt, die es aufzutauen und abzureagieren gilt: etwa indem man Aggressionen an einem Kissen ausläßt etc. Die additive Sichtweise der humanistischen Psychologie (der Mensch ist nicht nur Kopf, sondern auch Herz, was keiner ernsthaft bezweifeln wird) bietet die Möglichkeit, sich mit seinen Emanzipationsansprüchen auf die Beziehungspflege zurückzuziehen und sich damit aus den inhaltlichen/gesellschaftlichen Auseinandersetzungen herauszuhalten. So reduziert sich z.B. die Kritik der Gestaltpädagogen an dem herkömmlichen Unterricht im wesentlichen darauf, daß er zu kopflastig, zu inhaltsbetont, zu vernunftgeleitet sei (z.B. Völker 1980, 33; Signer 1977, 266). Als wenn nicht gerade die Inhalte, die in Schule und Hochschule vermittelt werden, unter kapitalistischen Bedingungen zu einem großen Teil verkürzt, einseitig interessiert und damit falsch und irreführend sind! Und genau diese Tatsache herauszuarbeiten, ist eine wesentliche Aufgabe kritischer Wissenschaft — als Voraussetzung dafür, daß man sich nicht unversehens entgegen den eigenen fortschrittlichen Absichten verhält. Das erfordert nicht primär »Kreativität, Improvisationsfähigkeit und besonders Einfühlungsvermögen« (z.B. Besems 1977, 65), sondern vor allem Kenntnisse und die Bereitschaft, diese auch dann einzubringen und zu vertreten, wenn sie unerwünscht sind, den herrschenden Interessen nicht entsprechen: wenn sie also die »Integration« gefährden, einen aktuell »unbeliebt« oder gar zur öffentlich »unerwünschten Person« machen. Es genügt z B. keineswegs, gefühlsmäßig gegen Faschismus/Rassismus zu sein, sondern zum wirklichen, d.h. wirkenden Antifaschismus/Antirassismus gehört, daß man um seine objektiven Entstehungsbedingungen weiß und darüber hinaus auch die durch diese bedingten subjektiven — und unter Umständen auch eigenen — Verhaltenstendenzen kennt, die ihn mit ermöglichen: unter anderem die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der Situation der Mitmenschen, wie sie von der Gestalttherapie/-pädagogik propagiert/praktiziert wird.
Wenn man im Unterricht die Ebene der »wertfreien« Darstellung der verschiedenen Theorien und der bloßen Beschreibung der Phänomene (oder der eigenen Gefühle) verläßt, und die objektiven Ursachen und Interessenshintergründe z.B. von Faschismus, Krieg, Ausländerfeindlichkeit, Arbeitslosigkeit und der verschiedenen Ideologien zur Diskussion stellt, dann kommt man schnell in Konflikt mit anderen Instanzen, dann hört der Spaß auf, und die Politisierung ist nicht mehr »angstfrei« und »nicht-repressiv«, wie Claudio Hofmann und Helmut Quitmann sie gern hätten (1984, 35). Wenn man, wie die Gestaltpädagogen, die in der Schule vermittelten Inhalte unberührt läßt und sich darauf beschränkt, diese durch emotionale und soziale Komponenten zu »ergänzen«, dann hat man zwar einerseits in der Tat einen »Freiraum«, der einem solche Probleme erspart, der andererseits aber identisch mit dem Verzicht auf selbstbestimmte Entwicklung ist. Und auch die sozialen Beziehungen werden unter solchen Bedingungen zurückgenommen, im wesentlichen darauf beschränkt sein, eine oberflächliche harmonische Atmosphäre, die Illusion des sich gegenseitigen Verstehens, ein »Wir-Gefühl« zu schaffen, das durch ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzungen eher gefährdet würde. Die soziale Sensibilität besteht dann im wesentlichen in der formalen Fähigkeit, Fingerspitzengefühl für das »Zumutbare« zu entwickeln, sich »beliebt« zu machen und damit unnötigen Ärger zu ersparen und die Schüler/Studenten sogleich so weit auf Distanz zu halten, daß man nach Möglichkeit von vornherein gar nicht erst in die Situation gerät, notwendige Hilfe eindeutig verweigern, die Illusion der eigenen »Integrität« etc. aufgeben zu müssen.
Die »emotionalsten« Unterrichtsstunden sind meiner Erfahrung nach immer die, in denen bestimmte Selbstverständlichkeiten, gängige Theorien und damit auch eigene Ansichten/Einstellungen auf ihre objektive und subjektive Funktion hintertragt werden. Statt sich darauf zu beschränken, den Kindern über den Kopf zu streichen und diverse Berührungs- und Beziehungsspiele zu machen, mit denen man sich gegenseitig bestätigt und die Offenheit schafft, um Träume, Wünsche etc. austauschen zu können, wäre allen mit Sicherheit in ihrer Persönlichkeitsentwicklung mehr geholfen, wenn man den Jugendlichen (natürlich in der ihren Möglichkeiten entsprechenden Form) Kenntnisse über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und ihre eigene faktische Einbezogen-heit in diese vermitteln würde. Und wenn man darüber hinaus die allgemeine — zumindest unter unseren Bedingungen vorherrschende — Tendenz, Konflikten aus dem Wege zu gehen und sich mit den je gegebenen Bedingungen abzufinden, in ihren gesellschaftlichen und persönlichen Ursachen und Konsequenzen an konkreten Beispielen veranschaulichen würde. Statt das türkische Kind mit einer positiven Personenbeschreibung, nämlich witzig, charmant und höflich zu sein (z.B. Zeuner 1983, 36), oberflächlich aufzubauen, nähme man es ernster, wenn man sich auf seine Probleme einließe und die Ausländerfeindlichkeit in ihren gesellschaftlichen Hintergründen und in ihrer objektiven und subjektiven Funktion diskutieren und somit die Kinder/Jugendlichen befähigen würde, sich mit dem Problem, wo immer es auftaucht, aktiv auseinanderzusetzen.
Das Hinterfragen der oberflächlichen bzw. vorherrschenden Sichtweisen ist — aus vielen Gründen — an der Universität mit Sicherheit leichter als in der Schule, wo schon der bloße Versuch, die Jugendlichen auf die gesellschaftlichen Probleme vorzubereiten (antifaschistische Stadtrundfahrten, Friedenswochen, die Beschäftigung mit den Forderungen der 35-Stunden-Woche) als Indoktrinierung geahndet wird. Das kann, zumindest für gewerkschaftlich organisierte Lehrer, jedoch kein Grund sein, sich diesen Problemen zu entziehen, sondern im Gegenteil Ansporn, sich um so mehr auf sie einzustellen. Die herkömmliche Wissenschaft hat sich bisher um die Behandlung solcher Aufgaben im wesentlichen gedrückt. Wenn man jedoch die Kraft und Zeit und das Geld, die an Hochschulen und Schulen — und möglicherweise jetzt auch noch in der Gewerkschaft — in die Gestalttherapie/-pädagogik etc. gesteckt werden, darauf verwenden würde, das zur Überwindung der oberflächlichen Sichtweise notwendige Wissen zu erarbeiten, dann wären wir alle — auch in unserer Persönlichkeitsentwicklung und Selbsterkenntnis — ein ganzes Stück weitergekommen. Statt — von einem scheinbar entwickelteren Standpunkt aus — ungeduldig oder auch in seelischer Abgeklärtheit darauf zu warten, daß die Arbeiter bzw. »Massen« endlich ihre »subjektive« Entfremdung abstreifen und vom »Prestigeauto« und der Bildzeitung lassen (z.B. Portele 1980, 65), könnte man in diesem Fall in der Tat bei sich selbst ansetzen: indem man die verselbständigte »Selbsterforschung« hinterfragt. Diese ist auch nichts anderes als eine Art Bildzeitung: die Flucht in die Scheinwelt des Allgemein-Menschlichen und in die Unverbindlichkeit des bloß emotionalen Angesprochenseins/Berührtwerdens, bei der nicht weniger Plattheiten/Verdrehungen als bei der Bildzeitung produziert werden — was nicht zuletzt ihre spezielle Attraktivität ausmachen mag: Man wird unmittelbar in seinem spontanen Denken und Fühlen bestätigt und ist »integriert«. Die Gegner sind so zwangsläufig diejenigen, die diese innere Ruhe und Selbstzufriedenheit in Frage stellen. Man kommt aus dieser Position heraus — entgegen den eigenen Absichten — dann auch sehr schnell zu politischen Einschätzungen, die denen der Springer-Presse sehr ähnlich sind: So in den durch die Gestalttherapie/-pädagogik permanent vollzogenen Abgrenzungen nach links unter Zuhilfenahme aller gängigen Klischees wie »Dogmatismus«, »Indoktrination«, politische Manipulation der Schüler durch deren Vergatterung auf den Klassenkampf etc. (vgl. Hofmann und Quitmann 1984, 35).
Da die humanistische Psychologie bzw. Gestalttherapie/-pädagogik, wie eingangs gezeigt, auf programmatische Weise vieldeutig und nicht festgelegt sind, hat sicherlich jeder die Möglichkeit, den einen oder anderen der ausgeführten Kritikpunkte mit dem Argument abzuwehren, daß diese Kritik zwar auf manche humanistischen bzw. gestalttherapeutischen Aussagen, aber gerade auf ihn bzw. den eigenen Gewährsmann nicht zutrifft. Was ich aber mit meinen Überlegungen zeigen wollte, ist, daß gerade die in dieser Weise zur Selbstimmunisierung nützliche Vieldeutigkeit eben jene politische Standpunktlosigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal anderer und jenen Rückzug vor der sozialen Verantwortung auf die Riege der eigenen Innerlichkeit impliziert, die die Gestaltpädagogik m.E. prinzipiell unvereinbar mit gewerkschaftlichem Engagement im Kampf um bessere Lebens- und Lernbedingungen für alle macht (siehe auch Karl-Heinz Schubert 1984).
Wer in seiner eigenen Person eine solche Vereinigung versucht, der nützt sich demnach — trotz mancher kurzfristigen Erleichterungen und Erlebnisquellen — nicht wirklich. Er erschwert sich damit nicht nur eine eindeutige und langfristige Perspektive seines politisch-gewerkschaftlichen Engagements, sondern beeinträchtigt letztendlich auch seine persönliche Entfaltung und sein individuelles Wohlbefinden.