Wenn es um Individualität oder Psyche geht, muß man die Gesellschaft berücksichtigen: Da gibt es wohl keinen, der das bezweifelt. Die Frage ist nur: Wie tut man das? Auf welche Weise berücksichtigt man die Gesellschaft? Dabei gibt es eine sehr verbreitete und gängige Auffassung, in welcher die Gesellschaft lediglich als Umwelt angesehen wird, die auf die Menschen einwirkt. Das fängt an mit dem Bedingtheitsmodell der traditionellen Psychologie, die ja — die das studieren, die kennen das — mit »unabhängigen« und »abhängigen Variablen« operiert, Experimente macht, in welchen Bedingungen hergestellt werden, unter denen das Verhalten von Individuen untersucht werden soll: Wenn hier die Gesellschaft vorkommt, dann als eine »unabhängige Variable«, z.B. als sozioökonomischer Status, der in seiner Wirkung auf das individuelle Verhalten untersucht wird. Ähnliche Vorstellungen von Gesellschaft bestehen aber z.B. auch in der soziologischen Rollentheorie: Hier erscheint die Gesellschaft als ein Geflecht von Erwartungen, dem das Individuum ausgesetzt ist, in das es sich hineinentwickeln muß. Und da gibt es sogar Marxisten, die die Gesellschaft in einer ähnlichen Form fassen, indem sie die 6. Feuerbach-These falsch zitieren und behaupten, der Marxismus sieht das Individuum als Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse an. Sie gehen also auch davon aus, daß die gesellschaftlichen Bedingungen den einzelnen Menschen determinieren. Nun, was aber im Widerspruch steht, zum Grundansatz der Marx'schen Theorie, daß nämlich die Spezifik des Menschen darin besteht, daß er seine Lebensbedingungen und Lebensmittel selbst produziert — daß er also nicht nur unter Bedingungen steht, sondern die Bedingungen, unter denen er lebt, selbst produziert: Der Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Produktion und menschlichen Lebensbedingungen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist der Hauptgegenstand der Marx'schen Theorie.
Was nun die Kritische Psychologie versucht, ist, diesen Zusammenhang auch auf der individuellen Ebene zu realisieren — also sich gegen die gängige Sichtweise des Individuums als lediglich bedingt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu wenden — und das Psychische oder die Subjektivität zu entwickeln aus dieser Doppelbeziehung — daß der Mensch also sowohl unter gesellschaftlichen Bedingungen steht wie auch selbst diese Bedingungen schafft. Wobei von vornherein schon klar ist, daß das ein kompliziertes Verhältnis ist. Daß also die Art und Weise, in der wir hier unter diesen Bedingungen stehen, in dem Hörsaal, in Berlin oder in der Bundesrepublik oder sonstwo, und die Art und Weise, in der wir darauf Einfluß nehmen können, daß diese Bedingungen nicht einfach platt symmetrisch sind, sondern auf sehr komplexe Weise vermittelt. Aber die Grundauffassung der Kritischen Psychologie ist, daß man nicht von der Annahme ausgehen kann, daß auf gesamtgesellschaftlicher Ebene der Mensch seine Lebensbedingungen produziert, aber in dem Moment, wo man anfängt, Psychologie zu machen, Auffassungen vertreten werden, von denen uns eigentlich völlig unverständlich wird, wie rmn je in der Lage ist, sich daran zu beteiligen. Wir nennen diese Konzeption der traditionellen Psychologie eine »Humunculus-Theorie«, die eine Art von Menschenbild entwirft, aus dem nie verständlich wird, daß die Menschheit auch nur drei Minuten überleben könnte: Wenn der Mensch so wäre, wie die bürgerliche Psychologie ihn darstellt, dann wäre er schon ausgestorben, bevor er je in die Naturgeschichte eingetreten wäre. Unser Versuch ist also, um das noch einmal zu sagen, die Herausarbeitung dieser Doppelbeziehung als Wechselprozeß: Der Mensch als Produzent von Lebensbedingungen, denen er gleichzeitig untersteht, zu analysieren und die Vermittlungen zwischen den Lebensnotwendigkeiten der Erhaltung des gesellschaftlichen Gesamtsystems und den subjektiven Lebensnotwendigkeiten des einzelnen Individuums zu erfassen. Und dahinter steht also das Konzept, daß der Mensch sowohl unter Bedingungen steht, wie über diese Lebensbedingungen verfügen muß, um sein eigenes Leben zu bewältigen: Wir produzieren die Bedingungen unter denen wir leben, d.h. der einzelne ist in irgendeiner Form beteiligt an der Schaffung, Veränderung, Bestätigung, Reproduktion der Bedingungen, unter denen er dann wieder lebt. Und diesen Zusammenhang psychologisch zu konkretisieren, ist unsere Hauptaufgabe. Das wäre also auch der erste Punkt auf dem Zettel, wenn jemand den Zettel überhaupt gekriegt haben sollte.
Jetzt komme ich zu dem zweiten Punkt*, erläutere das, was dort steht, damit es auch verständlich wird, da es wohl ziemlich kompakt und hermetisch ist, was auf dem Zettel steht. Die Grundkategorie, von der aus die Kritische Psychologie diesen Zusammenhang zu entwickeln versucht, ist die Kategorie der Handlungsfähigkeit, wobei Handlungsfähigkeit keine nur individuelle Möglichkeit ist, sondern eigentlich die Vermittlung zwischen individueller und gesellschaftlicher Lebenstätigkeit. Unter Handlungsfähigkeit wird verstanden die Fähigkeit, im Zusammenschluß mit anderen Verfügung über meine jeweiligen individuell relevanten Lebensbedingungen zu erlangen. Die zentrale psychologische Grundkonzeption, die wir entwickelt haben und auch versucht haben zu begründen in unserer Arbeit, ist der Zusammenhang zwischen Art und Grad der Handlungsfähigkeit und der Qualität der subjektiven Befindlichkeit. Jeweils meine Befindlichkeit ist ein subjektiver Aspekt des Grades und der Art meiner Handlungsfähigkeit, sowohl meiner Handlungsmöglichkeiten wie der Beschränkung meiner Handlungsmöglichkeiten. D.h., daß menschliches Leiden, überhaupt jede Art von Beeinträchtigung usw., auch etwa Angst, die Qualität hat der Ausgeliefertheit und Abhängigkeit von aktuellen Bedingungen, Isolation von den Verfügungsmöglichkeiten über die wesentlichen, langfristigen Lebensbedingungen, also Einschränkung der Handlungsfähigkeit. Überwindung des Leidens, Überwindung von Angst, Befriedigung in menschlicher Lebensqualität ist dementsprechend nicht allein durch die aktuelle Befriedigung und Absicherung zu erreichen, sondern nur durch Verfügung über die Befriedigungsquellen, d.h. Verfügung über die Bedingungen, von denen meine Lebens- und Entwicklungsmöglichkeit abhängt. Ein ganz zentraler Punkt: z.B. Hunger. Hunger ist auf der einen Seite eine schmerzliche, aktuelle Erfahrung, aber nicht nur Leiden an dieser unmittelbaren Beeinträchtigung, sondern auch das Leiden daran, daß ich in einer Situation bin, in der ich Hunger leiden muß: in der ich so ausgeliefert bin, daß ich Hunger leiden muß. Diese beiden Momente, die Ausgeliefertheit an die Situation und das unmittelbare Mangelerlebnis, sind auf menschlichem Niveau zwei Seiten derselben Situation. Ebenso ist auch die Überwindung von solchen unmittelbaren Mangelsituationen nicht einfach nur dadurch zu leisten, daß einem gegeben wird, daß man befriedigt wird und satt geworden ist, sondern durch die Überwindung dieser Ausgeliefertheit und Angst, indem man gleichzeitig mit der Überwindung dieses Mangels Verfügung gewinnt über die Quellen der Befriedigung selber, also über die Bedingungen, von denen
es abhängt, ob ich zukünftig meinen Hunger werde stillen können ... Da ist z.B. die Situation des Arbeitslosen, dem in seiner sozusagen menschenunwürdigen Grundsituation noch nicht dadurch wirklich gehollen ist, wenn man ihm genug zu essen gibt. Denn der entscheidende Punkt ist, daß er selbst ausgeliefert ist an Kräfte, auf die er keinen Einfluß hat, und angewiesen ist auf Vergünstigungen, die ihm jederzeit wieder entzogen werden können. Und diese Ausgeliefertheit an aktuelle Situationen, die Unmöglichkeit, Einfluß auf meine eigene Lebensperspektive zu gewinnen, das ist das zentrale Moment der Beeinträchtigung meiner Subjektivität, und die Überwindung dieser Ausgeliefertheit ist sozusagen die zentrale perspektivische Entwicklung meiner individuellen Lebensqualität. Das erst einmal als zentraler Aspekt, d.h. also, daß unserer Grundkonzeption nach das Psychische nicht nur eine individuelle oder innere Angelegenheit ist, sondern die subjektive Seite der Art und des Grades meiner Verfügung über die objektiven Lebensbedingungen. Meine Befindlichkeit ist die subjektive Erfahrungsqualität meiner Handlungsfähigkeit bzw. deren Einschränkung. Dies heißt auch, daß psychische Befindlichkeit nicht wiederum nur durch Psychisches veränderbar ist, sondern eine wirkliche Verbesserung meiner subjektiven Lebensqualität identisch ist mit der Erweiterung meiner Verfügung über die objektiven Lebensbedingungen, damit auch identisch mit meiner Bündnisbreite, mit der Möglichkeit meines Zusammenschlusses mit anderen. Von da aus haben wir eine sehr differenzierte Kritik an verschiedenen Konzepten der traditionellen Psychologie entwickelt, mit der Neufassung verschiedener psychischer Funktionsaspekte, wie etwa Denken, Motivation, Emotio-nalität usw. Ich will das nur kurz hier andeuten.
Die traditionelle Psychologie reduziert das Denken im wesentlichen auf Problemlösen in einer naturhaften Umwelt, in der die Individuen zurechtkommen müssen. Wir versuchen, das Denken als »Entwicklungsdenken« zu fassen, in welchem die realen Widersprüche selber erfaßt werden können. Während also in der traditionellen Psychologie Widersprüche nur im Denken vorkommen und man so tut, als wenn man sie im Denken, also durch rein psychische Prozesse, auch nur lösen könnte, versuchen wir aufzuweisen, daß Denken eigentlich die Möglichkeit ist, reale Widersprüche im Denken widerspruchsfrei abzubilden, womit sie als Aspekte der Realität selbst erkannt und praktisch überwunden werden können. Das bedeutet auch: Denken ist innerhalb der traditionellen Psychologie ein Prozeß vom Standort außerhalb. Der Denkende steht außerhalb des Prozesses, den er denkt, ist sozusagen eine neutrale Instanz jenseits der Geschichte, die irgendwie versucht, die Realität zu erfassen, während wir den Subjektstandpunkt des Denkens hervorheben, also das Denken als Denken des Subjekts, das selber im Prozeß drinsteckt, den es erfassen muß, zu begreifen. Das Problem ist ja, daß wir selber Teil der Gesellschaft sind, die wir im Denken reproduzieren müssen. Da steckt zunächst eine Art von Zirkel darin, der aber durch eine bestimmte Erkenntnisdistanz des Subjektes wieder aufgehoben werden kann. In der Ausführung solcher Ansätze versuchen wir, über die individualistische Verkürzung des Denkens in der traditionellen Psychologie hinauszukommen.
Ebenso haben wir versucht zu zeigen, daß Emotionalität in ihrer entwickelten Form, also als Moment der Handlungsfähigkeit, eine Wertung der Lebens- und Handlungsmöglichkeiten der Umwelt am Maßstab meiner subjektiven Notwendigkeiten ist, und von da aus kritisieren wir dann die Auffassung der Emotionen als bloße Innerlichkeit, abgekoppelt von Erkenntnissen und Handlungen. Wir wenden uns gegen die bürgerlichen Emotionstheorien, in denen Emotionalität im wesentlichen als Störfaktor der rationalen Durchdringung der Realität gefaßt wird. Wir versuchen zu zeigen, daß die Emotionalität eine zentrale erkenntnis- und handlungsleitende Funktion hat, daß die Emotionalität also eigentlich die Voraussetzung ist für eine adäquate kognitive Abbildung der Welt. Von da aus wird dann die bloße »Verinnerlichung« der Emotionalität in ihrer Entgegensetzung zur Rationalität als Aspekt der bürgerlichen Privatexistenz, in welcher die emotionale Engagiertheit gegen unmenschliche Lebensverhältnisse ausgeklammert ist, zu begreifen versucht.
Als drittes Moment noch Motivation. Wir haben versucht zu zeigen, daß man die Motiviertheit, also die Möglichkeit, ein Ziel motiviert zu verfolgen, nicht trennen kann von dem Inhalt des Ziels; daß ich nämlich nur dann ein Ziel motiviert verfolgen kann, wenn ich vorwegnehmen kann, daß in der Realisierung des Ziels ich selber ein Stück Erweiterung meiner Lebensmöglichkeiten, also Verbesserung meiner Lebensqualität erreiche. Es hängt also von der objektiven Beschaffenheit der Ziele ab, ob idh sie motiviert verfolgen kann oder nicht. D.h., daß es keine bloß psychische Angelegenheit ist, ob jemand zu irgendetwas motiviert ist oder nicht. (Das werde ich nachher noch in einem anderen Zusammenhang genauer ausführen.)
Punkt drei auf dem Expose: Ich habe bisher die Kritik an der traditionellen Psychologie von dem unserer Meinung nach entwickelteren Konzept der Handlungsfähigkeit aus dargestellt. Die Frage ist nun, warum die bürgerliche Psychologie das Psychische in dieser verkürzten Form faßt und mehr noch, warum wir auch in unserer eigenen Alltagserfahrung diese Art von Verkürzungen in irgendeiner Form wiederfinden, so daß man nicht sagen kann, die bürgerliche Psychologie ist einfach falsch: irgendetwas von unserer Realität bildet sie offensichtlich ab. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären, daß hier eine Theorie, die auf der einen Seite kritisiert wird, auf der anderen Seite doch Aspekte unserer subjektiven Realität offenbar adäquat abbildet? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich vergegenwärtigen, daß wir ja nicht in einer allgemeinen Gesellschaft leben, sondern unter ganz bestimmten historischen Bedingungen, nämlich unter den antagonistischen Klassenverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft. Dies bedeutet, daß der Versuch der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, also der Erweiterung der Bedingungsverfügung, auf allen Ebenen mit dem Risiko verbunden ist, mit den Herrschaftsinstanzen, die ja selber für sich die Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß beanspruchen, in Konflikt zu geraten. Der Versuch der Verfügungserweiterung oder der Erweiterung meiner eigenen Lebensmöglichkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft ist kein widerspruchsfreier Prozeß, er läßt sich nicht glatt und einfach realisieren, sondern enthält immer eine Konfliktkonstellation, indem auf der einen Seite die subjektive Notwendigkeit der Erweiterung meiner Lebensqualität steht durch Erweiterung der Verfügung über die Lebensbedingungen, ich auf der anderen Seite aber damit gleichzeitig das Risiko eingehe, in Konflikt mit den herrschenden Instanzen auf allen Ebenen zu geraten, weil sie die Verfügung über den gesamtgesellschaftlichen Prozeß für sich beanspruchen. Das liegt zunächst auf der allgemeinen politischen Ebene, läßt sich aber weiter verfolgen bis hin in die konkreten Situationen meines eigenen Lebens. Diese bürgerlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen sind ja nicht etwas, das nur in einem von mir getrennten politischen Bereich stattfindet, sondern hineinwirkt bis in unsere intimsten Bereiche und selbst da, wo wir glauben, allein zu sein, sind wir immer noch unterworfen den Beeinträchtigungen, Widersprüchen, Konkurrenzerlebnissen, Privatisierungstendenzen usw., die in den allgemeinen Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft enthalten sind.
Wenn dies aber so ist, dann heißt das, daß man Handlungsfähigkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft auf zweierlei Weise anstreben kann, je nach der Art und Weise, wie man diesen Widerspruch auflöst: Den Widerspruch nämlich zwischen der subjektiven Notwendigkeit der Erweiterung der Lebensmöglichkeiten und der Vorwegnahme
des Risikos des Verlustes der Handlungsfähigkeit durch die Herrschenden. Je nachdem, nach welcher Seite ich einen solchen Widerspruch auflöse, besteht offensichtlich nicht nur die Möglichkeit, meine Handlungsfähigkeit durch die Erweiterung meiner Bedingungsverfügung zu erweitern, sondern liegt in vielen Situationen für jeden von uns der Versuch nahe, Handlungsfähigkeit im Rahmen der bestehenden Verhältnisse zu erlangen, also quasi eine Art von Arrangement mit den jeweils Herrschenden in der Weise zu treffen, daß man an deren Macht so weit teilhat, oder zumindest deren Bedrohung so weit neutralisiert, daß man in diesem Rahmen noch einen bestimmten Bereich an freiem Raum oder Handlungsmöglichkeit hat. Diese zweite Alternative, unter Anerkennung bestehender Grenzen und unter der Komplizenschaft, dem Arrangement — wie man es auch immer ausdrücken will — mit den herrschenden Verhältnissen eine bestimmte Handlungsfähigkeit zu erlangen — die nennen wir die restriktive Alternative der Handlungsfähigkeit. Wir haben sehr viel Mühe darauf verwandt, die spezifische Erfahrungsqualität und Widersprüchlichkeit dieser restriktiven Handlungsfähigkeit im einzelnen darzustellen. Dabei mußte der zentrale Widerspruch dieser Art von Versuch, durch Teilhabe an der Macht der Herrschenden in Ausnutzung der gewährten Spielräume Handlungsmöglicfikeiten zu erlangen, berücksichtigt werden, daß man damit gleichzeitig seine eigene Abhängigkeit bestätigt und befestigt: Soweit ich im Rahmen der bestehenden Herrschaftsverhältnisse Freiraum zu erlangen versuche, negiere ich in gewisser Weise den Freiraum selber, weil der Freiraum ja von den Herrschenden gewährt ist und jeder Zeit entzogen werden kann. Ich bin also in der Situation, daß ich eigentlich um kurzfristiger Sicherheit, kurzfristiger Befriedigung willen längerfristig meine eigenen allgemeinen Lebensinteressen verletze. Das ist ein Widerspruch, den wir »Selbstfeindschaft« nennen. Wir haben dann versucht zu zeigen, daß diese Art von Selbstschädigung durch Arrangement mit den jeweilig bestehenden Verhältnissen nicht bewußt sein kann, sondern unbewußt sein muß. Von da aus haben wir unser Konzept des »Unbewußten« entwickelt, unser Konzept von »Abwehrmechanismen«, von »Verdrängung« usw.
Dieses für die konkrete psychologische Analyse ganz zentrale Konzept: diese restriktive Alternative der Handlungsfähigkeit ist faßbar zu machen mit ihrer Widersprüchlichkeit zur Durchdringung der »Oberfläche« der eigenen Befindlichkeit im Hinblick auf solche Momente, wo man mit sich selbst in Widerspruch gerät, indem man sich kurzfristig nützen will, aber langfristig eigentlich schadet. Oder, indem man sich unmittelbar helfen will, die eigene Basis für die Erweiterung seiner Lebensmöglichkeiten einschränkt. Wobei ein Aspekt dabei noch besonders wesentlich ist: Daß bei dieser restriktiven Handlungsfähigkeit an die Stelle der Verfügung, der gemeinsamen Verfügung über unsere gesellschaftlichen Lebensbedingungen die Kontrolle und die Herrschaft über andere Menschen tritt. Und zwar deswegen, weil man die Unterdrückung durch die jeweiligen Herrschaftsinstanzen, indem man sie akzeptiert und daran teilhaben will, zur Absicherung der eigenen Lebensmöglichkeiten automatisch aktiv weitergibt an noch abhängigere Menschen, also dieses Moment der Kontrolle über Menschen — ich selber sichere mich ab, indem ich andere zu kontrollieren versuche —, eine Grundeigenart dieser restriktiven Handlungsfähigkeit ist. Und gerade darin wird noch einmal diese Widersprüchlichkeit deutlich: In dem Moment, wo ich auf Kosten anderer lebe, beschränke ich ja meine eigene Lebensmöglichkeit. Ich reduziere meine Bündnisbasis, reduziere meine Zusammenschlußmöglichkeiten, isoliere mich, indem ich auf Kosten anderer lebe. Indem ich versuche, mich selber durchzusetzen gegen die anderen, wird meine eigene Lebensbasis, meine eigene Lebensgrundlage gleichzeitig schmaler. Das ist also auf der sozialen Ebene diese Art von »Selbstfeindschaft«, die sich darin ausdrückt, daß man in dem Versuch, auf Kosten anderer zu leben, sich auch selber die eigenen Lebensmöglichkeiten beschneiden muß.
Punkt vier: Unsere These, die wir versuchen näher zu belegen, ist, daß die traditionelle Psychologie genau genommen eine Art von wissenschaftlicher Stilisierung dieser restriktiven Alternative der Handlungsfähigkeit ist, daß in der Art und Weise, in der die bürgerliche Psychologie Denken, Emotionalität, Motivation usw. faßt, sie eigentlich so tut, als ob diese Situation des Sich-Abfindens mit den jeweiligen bestehenden Verhältnissen und der Versuch des Zurechtkommens unter diesen Verhältnissen die allgemein menschliche Art und Weise, sein Leben zu bewältigen, ist. D.h. also, zu dem, was ich vorhin sagte: Die traditionelle Psychologie bildet zwar realitätsadäquat ab, aber sie bildet unsere Lebensverhältnisse so ab, als wenn nur diese Möglichkeit des Sich-Abfindens mit den bestehenden Verhältnissen und des Arrangements besteht und faßt das Psychische genau so, daß es auf diese Alternative paßt. Und die andere Möglichkeit, nämlich die Erweiterung der Handlungsfähigkeit und die damit verbundenen Bestimmungen etwa von Emotionalität, Motivation usw., die werden weggelassen. Damit wird gleichzeitig implizit für die herrschenden Verhältnisse Partei genommen, weil die ja so beschrieben werden, als wenn sie unveränderbare Naturverhältnisse sind. Um jetzt hier die Zeit nicht zu sehr zu strapazieren, will ich das nicht mehr am Beispiel des Denkens und der Emotionalität verdeutlichen (darauf werden wir vielleicht sowieso später kommen), sondern nur am Beispiel der Motivation. Ich habe vorhin dargestellt: Wir versuchen zu zeigen, daß motiviertes Handeln nur zu verstehen ist durch den Inhalt der jeweiligen Ziele. Ich kann nur Ziele motiviert verfolgen, die inhaltlich in ihrer Realisierung mir die Möglichkeit der Erweiterung meiner Lebensmöglichkeiten geben. Motiviertheit hängt also von den Zielen ab und ist nicht nur eine rein psychische Angelegenheit. Ich kann nicht Ziele motiviert verfolgen, mit denen ich mir bewußt selber schade, mit denen ich mich einschränke oder bei denen mir auch nur unklar ist, was sie für mich bedeuten. In der bürgerlichen Psychologie versucht man nun, die Motivation zu fassen, obwohl diese Inhalte ausgeklammert werden, der inhaltliche Bezug, auf die Interessen, die jeweils in den Zielen stecken, und die Frage, wieweit diese Interessen meine Interessen sind, wessen Interesse ich eigentlich diene, wenn ich bestimmte Ziele verfolge, weggelassen werden. Indem sie das aber weglassen, bleibt eigentlich nur noch übrig als Motivationsgrundproblem: Wie kann man Menschen dazu bringen, freiwillig zu tun, was sie tun sollen? Der Motivationsprozeß der traditionellen Psychologie ist also eigentlich ein Konzept des »inneren Zwanges«, einer motivationsförmigen Verinnerlichung von äußeren Zwängen, so daß ich selbst mir vormachen kann, daß ich bestimmte Ziele motiviert verfolge, wobei ich die Frage, in wessen Interesse sie sind, von vornherein aus meinem Bewußtsein ausklammere. D.h. also, daß hier in dieser Art von »Motivation« als innerer Zwang, motivationsförmiger innerer Zwang, so eine Art von Handlungsspielraum für mich dadurch fingiert wird, daß ich die Grenzen meines Handlungsspielraums selber aus meinem Bewußtsein verdränge. Es läßt sich nun zeigen — das haben wir in verschiedenen Zusammenhängen versucht —, daß das eine Art von subjektiver Fassung dessen ist, was man den bürgerlichen Freiheitsbegriff nennen kann. Freiheit ist so lange gegeben, wie ich die Spielräume, die meine Freiheit begrenzen, nicht kenne, und in dem Moment, wo ich anfange, an diese Grenze zu stoßen, wird sofort klar, daß es mit der Freiheit nicht so weit her ist. Hans Apel hätte also nicht auf dem SEW-Parteitag den Vortrag halten dürfen. Er hat ihn gehalten und hat deswegen — obgleich Euer Kollege und Beamter auf Lebenszeit — seinen Job verloren. Er hat also von unserer Freiheit falschen Gebrauch gemacht. D.h. also, wenn ich mich frei fühlen will, muß ich gleichzeitig mich selber daran hindern, solche Grenzen
zu berühren. Eigentlich kann ich mich aber nur dann frei fühlen, wenn ich die Grenzen noch nicht einmal kenne, d.h. sie verdränge. Denn sonst weiß ich ja, daß ich nicht frei bin. Wir haben für diese Situation ein schönes Bild, nämlich das eines Goldfisches in so einem kleinen Glas. Wenn in dem Goldfisch ein Mechanismus drin sitzt, durch den er immer so schwimmt, daß er niemals die Wände des Glases berührt, dann kann er sich einbilden, daß er im Atlantischen Ozean schwimmt. Das ist sozusagen die Freiheit der »freien Welt«.
Jetzt kommt Punkt fünf: Von da aus wird unsere Art der Kritik an der traditionellen Psychologie klar, indem gezeigt wird, daß sie einen bestimmten Aspekt unserer Realität, nämlich den des sich Abfindens mit den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen, zur allgemein-menschlichen Lebensform stilisiert und es auf dieser Ebene durchaus adäquate Spiegelungen gibt; aber gleichzeitig den Menschen festnagelt auf dieses Ausgeliefertsein an die jeweilig bestehenden Verhältnisse. Von da aus ist auch klar, daß in dieser positiven Wendung der Entwicklung des Konzeptes der Handlungsfähigkeit eigentlich unsere Hauptkritik sich richtet gegen jede Art von Psychologisierung und Personalisierung unserer Behinderungen und Konflikte. D.h. wir kämpfen dagegen, die realen objektiven Behinderungen unserer Lebensmöglichkeiten als lediglich psychisch, lediglich sozial usw. zu fassen, indem wir von unserer entwickelteren Position versuchen, die Beschränktheit dieser Konzeption aufzuweisen. Dabei ist wichtig, daß unserer Meinung nach die Zurückverweisung der Individuen auf die unmittelbare Subjektivität und unmittelbaren sozialen Beziehungen nur scheinbar an dessen subjektiven Lebensnotwendigkeiten orientiert ist. Und zwar deswegen, weil diese Behinderungen und Widersprüche zwar in meiner unmittelbaren Befindlichkeit in Erscheinung treten, aber weder dort entstanden noch allein auf dieser Ebene veränderbar sind. Es ist demnach eine Illusion, wenn die Psychologen oder Therapeuten den Eindruck vermitteln: es ist doch so einfach: ich bin doch nur ich und daist der Partner, und wir brauchen nichts weiter als unsere unmittelbaren Verhältnisse in Ordnung zu bringen; ich muß meinen Umgang mit mir selber verbessern; ich muß meine Emotionen umbauen; ich muß irgendwo mich entspannen lernen; ich muß mit meinem Partner usw., usw. Es sollte nach dem Gesagten klar sein, daß damit im Grunde eine Zentrierung auf die Erscheinungsebene, in der diese Probleme prinzipiell nicht lösbar sind, erfolgt. Und wenn die Betroffenen den Zusammenhang nicht durchschauen, dann werden sie ihr Leben lang vergeblich damit beschäftigt sein, zu versuchen, auf diese Art und Weise ihre Probleme zu lösen. Wenn man dann im therapeutischen Kontext steht, heißt das, man wechselt dauernd die Therapie, weil die vorhergehende nicht die richtige war. Oder man kann es noch nicht richtig. Man kann sich noch nicht richtig entspannen. Man muß mehr üben, meinetwegen die Beziehung zum Partner, man muß eben noch toleranter werden. Dabei gibt es doch objektive Gründe für unsere Probleme, da wir in Verhältnissen stehen, unter denen man nur auf Kosten des anderen leben kann, weil die Verhältnisse eine andere Art von Lebensführung nicht zulassen. Wenn man diesen Aspekt nicht einsieht und wegläßt, ist man in einer Art von echter Beziehungsfalle oder Sackgasse drin, in der man immer nur die Methoden zu ändern sucht, mit denen man jetzt unmittelbar seine Probleme bewältigen möchte und gar nicht kapiert, daß es nicht an den Methoden liegt, sondern an der Vorstellung, man könne seine subjektive Befindlichkeit und Lebensqualität wirklich und nachhaltig /erbessern, ohne seine Lebensbedingungen zu verbessern, d.h. seine Handlungsfähigkeit als Verfügung über die allgemeinen / individuellen Daseinsverhältnisse zu entwickeln.