- (* Grundlage dieses Textes ist ein Vortrag, den ich auf der Woche der Wissenschaft bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen 1980 hielt mit dem Titel: Die Rolle des Lehrers in demokratisch bestimmten Lernprozessen, Titel der Gesamtveranstaltung war: »Demokratie lernen — demokratisch handeln«.)
Reformen sind zumeist auch staatliche Beschwichtigungen, Zugeständnisse an vielstimmig vorgetragene Forderungen, Kanalisierung von Bewegungen. Was in die Bildungsreform der 60er Jahre einging, waren nicht nur Notwendigkeiten des Arbeitsmarktes, sondern damit zugleich — durch staatliche Maßnahmen unterstützt, genährt und zugleich gebremst — Hoffnungen auf Demokratisierung der Schule, der Lernprozesse. Diese Kraft »von unten«, von Schülern, Lehrern, Eltern gegen die Erlasse »von oben«, entwickelte vielfältige Formen, in denen Lernprozesse demokratisch sich vollziehen sollten, Lernziele anders erreicht werden könnten. Eine Flut von Angeboten mehr oder minder gut begründeter neuer Erziehungsstrategien überschwemmte den Büchermarkt. Viel diskutiert wurden z.B. der Projektunterricht, das Planspiel, das Rollenspiel, das Kinder- und Jugendtheater.
Inhalt und Form
Fragen wir zunächst, was das Gemeinsame der genannten Erziehungsstrategien ist, welches man u.U. als das demokratische Element bezeichnen könnte. Ein Blick zurück auf die Versuche der Demokratisierung der Schule zu den Hochzeiten der Bildungsreform belehrt uns: Zunächst verstand man unter Demokratisierung in schulischen Prozessen die Inhalte. Weggeräumt werden sollte inhaltlicher Müll. Das hieß: verspätete Entfaschisierung der Schulbücher, neue Inhalte in Deutsch, Biologie, Erdkunde usw. sowie Einführung neuer Fächer wie z.B. Arbeitslehre, Gesellschaftslehre. Junge Lehrer traten an mit viel kritischdemokratischem Wollen und trafen auf weitgehende Unlust bei den Schülern, diese kritischen Inhalte sich nun so ohne weiteres anzueignen. Das Mißlingen dieser inhaltlichen Reform ist eindringlich, wenn auch ein wenig pauschal, von Hartmut von Hentig artikuliert worden. Er schreibt (In Einleitung zu Philippe Aries, 1975):
»Die heutigen Kinder sind ganz offensichtlich die Kinder ihrer Zeit und ihrer Umwelt, sie sind ihr entlarvendster Spiegel. Sie sind nicht nur nervös, ungeordnet..., vital 'gestört' — sie terrorisieren einander, sie streiten sich ununterbrochen (um Gegenstände, als lebten sie in tiefer Armut; um Rangplätze, als lebten wir vor Leviathan; um die Zuwendung von Erwachsenen, als lebten sie in einer besonders lieblosen Welt), sie vandalisieren das Gemeingut, sie sind weitgehend unfähig, anderen und sich selbst Freude zu bereiten, sie scheinen unfähig, tiefere anhaltende Beziehungen zu Menschen oder Sachen einzugehen — und sie müssen ununterbrochen schreien.«
In den Mittelpunkt des Reforminteresses rückte das soziale Lernen. Es richtete sich auf dieForm des Lernens, statt auf die Inhalte, verlangte z.B. mehr demokratische Beteiligung der Schüler anstelle des Frontalunterrichts. Lernformen wie die oben genannten (Rollenspiele, Projektunterricht usw.) schössen wie Pilze aus dem Boden. Sie reichten von der aktiven Einbeziehung der Kinder in einzelnen Unterrichtsstunden bis hin zu den Vorstellungen der Alternativschulbewegung. (Vgl. dazu die Diskussion um die Alternativschule in Argument-Sonderband 21, 1978, und Päd Extra 1979) Der Streit um die verschiedenen Lernformen und ihren Bezug zu den Schulinhalten, ihren Erfolg, ihr mögliches Versagen hat seither die Diskussion beherrscht. Besonders umstritten ist bei allen Auseinandersetzungen die f?o//e dos Lehrers in den neuen Arrangements. Welche Aktivität wird von ihm erwartet, wenn der Unterricht auf der Aktivität der Schüler beruhen soll? Wo soll er eingreifen, was soll er vorgeben, um nicht autoritär zu sein oder tyrannisch oder sonstwie Herrschaft ausübend? Verstößt er nicht schon gegen ein selbstbestimmtes Lernen, wenn er Lernprozesse bloß anleitet? Was sollte er überhaupt tun? Die Frage nach der Bedeutung des Lehrers, nach seinem spezifischen Beitrag im Unterricht bringt uns zurück zu den Inhalten. Was ist mit diesen ehedem als undemokratisch befundenen Inhalten? Kommt es auf Inhalte überhaupt noch an?
Wir können wohl festhalten: Die ursprüngliche Kritik an den Inhalten war berechtigt. Der Bildersturm mußte sein — rassistische Erblehre, minderwertige Völker, große Männer in der Geschichte, enger Nationalismus mußten überwunden werden. Inhalte können also sehr wohl »undemokratischen« Gehalt haben. Aber können auch Formen undemokratisch sein?
Die Annahme unterstellt eine wichtige lerntheoretische Einsicht: Lernen ist eine Tätigkeit, ist Handlung, deren Durchführung nicht folgentos für die Haltung ist, die man hinterher einnimmt. Wir behaupten an dieser Stelle — ohne dies hier näher ausführen zu können — (vgl. dazu Nemitz 1981), daß das schulisch institutionalisierte Lernen normalerweise ausdrücklich in einer Form veranstaltet wird, daß Unterwerfung unter schulische Normen resultieren soll. Schulisches Lernen ist in erster Linie Erziehung von Mitgliedern der bestimmten Gesellschaft, in der sie geschieht. Es vollzieht sich gemeinhin ohne Einsicht in die Ziele des Lernens, ohne Beteiligung bei der Zwecksetzung in den Formen des Vorsagens und Nachsprechens, des Auswendig-Lernens, Wiederholens, auf Abruf Sprechens usw. Gelernt wird, »von oben nach unten« zu handeln. Funktion der Schule ist es also, die Vergesellschaftung zum Staatsbürger zu gewährleisten; gelernt wird, sich anzupassen und sich einzurichten. Man könnte in diesem Sinne das übliche schulische Lernen ein undemokratisches nennen, wenn man demokratisch begreift als Teilhabe und Mitbestimmung am gesellschaftlichen Prozeß. Schulisches Lernen, welches in dieser Form abläuft, scheint gewöhnlich ohne aktive Beteiligung der Schüler auszukommen, die schulische Institution ausdrücklich für Schüler-Passivität eingerichtet. Tatsächlich ist ein solches passives Lernen ein Widerspruch bzw. eine Unmöglichkeit. Lernen ist immer nur als Selbsttätigkeit möglich. Soweit die Form der Lernprozesse also auf den ersten Blick ohne diese Aktivität der Schüler auskommt, kann man davon ausgehen, daß die tätige Aneignung, die Lernpraxis hier in der Übernahme solcher »undemokratischer« Strukturen besteht. Insofern ist auch jeder Protest gegen diese »passivierende« Art des Eintrichterns, des Frontalunterrichts, des Auswendiglernens berechtigt. Noch immer aber haben wir das Verhältnis dieser Formen, die wir als undemokratisch begriffen, zu den Inhalten, denen wir dieses Attribute ebenfalls zuerkannten, nicht bestimmt. Zur Kritik an der Lernform faßten wir lernen als Tätigkeit auf, als eine Art Arbeitsprozeß. Diese Annahme richtet den Blick auf den Gegenstand, der bearbeitet wird, und den Prozeß seiner Bearbeitung. So ausgesprochen zeigt sich, daß das in Inhalt und Formüberlegungen auseinandergelegte Problem falsch formuliert war, eine falsche Abbildung schuf. Die Form ist nicht bloße Verpackung des Inhalts. Sie ist die Art, in der bearbeitet wird, selber. Selbsttätige Aneignung läßt dabei keinen so großen Spielraum in Bezug auf Inhalte oder Formen. Vielleicht können wir in der passiven Weise, in der hier aktiv gelernt wird, in der Struktur des unhinterfragbaren Bildungsvermächtnisses die Art und Weise entziffern, in der Erkenntnis und Wissen zugleich weitergegeben und in seiner wirksamen Aneignung beschränkt wird.
Lehrer und Schüler
Kommen wir nach diesen Zwischenüberlegungen zurück auf die vorweg als demokratisch eingestuften Erziehungsstrategien Projektunterricht, Rollenspiel, Jugendtheater usw. Sie alle bauen auf Eigenaktivität, auf mehr oder weniger große Selbstbestimmung beim Lernen. Aber bieten diese Bestimmungen allein schon eine Garantie, daß auf diese Weise nicht auch undemokratisches Verhalten gelernt wird? Schließlich ist auch dieses eine Aktivität. Nach meinem Dafürhalten verdanken sich diese Lernformen und ihr massenhafter Einsatz in den Schulen ebenso einer falschen Problemstellung. Sie sind eine Antwort
auf die Frage, was die Lehrer tun müssen, damit die Schüler demokratisch oder wenigstens motiviert lernen. Sie setzen damit eine Eigentümlichkeit in schulischen Prozessen (das Desinteresse) als natürliche Grundlage, auf der Lösungen gebaut werden müssen. Wäre es nicht vernünftiger, umgekehrt zu fragen, wozu Schüler eigentlich Lehrer brauchen und von daher Lösungen zu suchen? Wir unterstellen, daß nicht das schulisch institutionalisierte Lernen mit seinen Begleiterscheinungen des Motivationsverlustes und der Lernunlust das »Natürliche« ist, ebensowenig wie die sich darin ausdrückende Trennung von Arbeit und Lernen oder von Familie, Arbeit und Lernen. Statt dessen gehen wir davon aus, daß umgekehrt »natürlicherweise« geradezu mit einer Lernleidenschaft zu rechnen ist, die in den heute üblichen Lernprozessen zum Erlöschen gebracht wird. Gelingt es uns, unter diesen Voraussetzungen zu bestimmen, wozu Kinder mit »natürlichem« Lerneifer Lehrer brauchen, können wir versuchen, eben diese Anforderung als Aufgabe für demokratisches Lernen in den Schulen zu formulieren. Aber sind wir bei dieser umformulierten Problemstellung nicht wieder bei der Frage, von der wir ursprünglich ausgingen, nämlich ob es nicht die Strategien des Rollen- und Planspiels etwa seien, die — da sie ja auf Momenten vorschulischer, also vorinstitutioneller Aktivität beruhen — selbstbestimmtes Lernen garantieren?
Das Rollenspiel
Ich habe mich an anderer Stelle sorgfältig und umfassend mit der theoretischen Begründung und der Praxis des Rollenspiels befaßt (F. Haug, 1977) und beschränke mich hier auf eine zusammenfassende Kritik, um im Anschluß einen Aspekt, der in unserem Zusammenhang weiterführen soll, herauszugreifen. Der Einsatz des Rollenspiels war mir aus mehreren Gründen fragwürdig. Zunächst muß das Arrangement praktisch mitmachen, was zuvor theoretisch begründet wird, daß nämlich die Einzelnen tatsächlich als Träger von Rollen in der Welt agieren. Eigentümlichkeiten des Umgangs der Menschen miteinander in unserer bestimmten Geselllschaftsform werden als alltägliche so umstandslos durch verdoppelndes Spiel verallgemeinert. Aus der nachvollziehbaren Beschreibung von menschlichen Beziehungen im Rollenspiel wird durch seinen Einsatz zu Lernzwecken unter der Hand schon die Erklärung: »So, wie sich die Einzelnen im Spiel verhalten, verhalten sich Menschen immer und überall.« Die Verdoppelung im Spiel erschwert oder verunmöglicht es, Beziehungen anders zu denken, kritisch zu sein. In diesem Sinn-kann man von einem anpassenden widerspruchseliminierenden, kontrollierenden Effekt von Rollenspiel sprechen durch die Methode der Verdoppelung und durch die Verlagerung gesellschaftlicher Prozesse in die Privatsphäre. Zugleich scheint mir Rollenspiel geeignet, tatsächliches Rollenhandeln in der Gesellschaft als natürlich zu verankern und durch Einüben zusätzlich zu befestigen. Die Methoden, Welt sich anzueignen durch Identifikation und Imitation, die beide im Rollenspiel wirksam werden, deuten ebenso auf Erziehung zur Anpassung. Mit der Wahl des Spiels als Lernform wird einerseits nicht nur das Zugeständnis erwirkt, daß Lernen Spaß machen kann und soll, sondern auch, daß die Frage nach dem Sinn und Ziel dieser Handlungen in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Aber diese Vernünftigkeit des Verhaltens im Spiel hat andererseits den eigentümlichen Effekt, daß die Täuschung sich verbreitet, auch die Gesellschaft funktioniere nach Regelkonsens, Selbstbestimmung, Einsichtigkeit der Ziele usw. — Widersprüche seien hier und jetzt lösbar, Einfühlung sei eine geeignete Methode der Lebensbewältigung. — Leben und Lernen im Widerspruch ist gewiß schwieriger. Das Leben als Theatervorstellung, die zu diesem Zweck angenommene Gleichheit der Gesellschaftsmitglieder, die im Rollenspiel durchweg hergestellt wird, und die Personalisierung der Konflikte geben die Illusion herrschaftsfreier Kommunikation, ohne die wirkliche gesellschaftliche Herrschaftsstruktur auch nur anzutasten.
Die Rolle der Erfahrung
Wesentlich aber für unseren Zusammenhang ist das in allen Rollenspielen grundlegende Element der Erfahrung, welches zugleich ein Hauptdiskussionspunkt um das Lernen im allgemeinen ist, nicht nur in der Schule. Lernen ohne Erfahrung ist nicht möglich; aus Erfahrung muß man nichts lernen. Die Sätze scheinen einander zu widersprechen. Der Widerspruch umreißt das Problem. Erfahrungen sind schließlich nicht einfach wahrheitsgemäße Abbilder und als solche schon mögliche Grundlage von Erkenntnisprozessen. In gemachten Erfahrungen finden sich vielmehr bereits die Strukturen dieser Gesellschaft wieder — also, soweit sie undemokratisch ist, undemokratische Strukturen. Das unhinterfragte Aufnehmen solcher Erfahrungen, wie es den meisten Rollenspielen zugrundeliegt, bedeutet nach dieser Seite eine einfache Verdoppelung des Vorhandenen, damit eine Verfestigung der gegebenen Strukturen. Die bislang als Anpassung und Sich-Einrichten gelernten Verhaltensweisen werden noch einmal bestätigt, Normen können solcherart durch Aktivität unterstützt noch besser ver-innerlicht werden. Zugespitzt könnte man formulieren: Das einfache Einbringen und Spielen von Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben der Schüler befördert weder demokratisches Lernen noch Lernen überhaupt, es steht vielmehr dem Lernen entgegen.
Zum Verständnis einer solchen gewagten Behauptung bedarf es einiger Aussagen über die Besonderheit von Lernprozessen. Wir fassen Lernen grundsätzlich auf als Konfliktverarbeitung. Lernen bedeutet das Verlassen einer als sicher aufgefaßten Position, einer schon erreichten Handlungsfähigkeit, damit eine Verunsicherung, um auf einer höheren Stufe neue, erweiterte Handlungsfähigkeit zu erwerben. (Vgl. hierzu Holzkamp-Osterkamp 1976, S.326ff.) Das bedeutet für die schon gemachten Erfahrungen und ihre Verankerung in der Persönlichkeit der Lernenden, daß sie und ihre bisherige Interpretation grundsätzlich in Frage gestellt werden, um Raum für neue Sichtweisen und Erfahrungen zu geben. Der Einwand, daß Lernen doch immer mit der Zunahme an Kompetenz zusammenhinge und daß auch der Lernvollzug eben aus diesem Grunde Spaß mache, Neugier befriedigt werde, greift zu kurz, indem er vorausgreift. Er blickt auf das Lemergebnis, nicht auf den Prozeß der Aneignung. Wo das Lernen selbst als Lust gedacht wird, steht dies fälschlich im Gegensatz zum Risiko, zur Unsicherheit. Man muß gar nicht so extreme Beispiele wie das des Bergsteigens etwa wählen, um zu erkennen, daß Genuß und Anstrengung, Risiko und Spaß miteinander verwoben sind. Da das gesamte Lernen auf die Beherrschung der eigenen Lebensbedingungen gerichtet ist, also auf wachsende Befreiung von Abhängigkeit und Auslieferung an unbekannte Mächte, muß in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die Herrschaftsstrukturen hat, damit gerechnet werden, daß eben diesem Streben auf allen Stufen Schranken gesetzt sind, die notwendige Lebenskompetenz verhindert wird. Diese Inkompetenz erzeugt Angst und Handlungsunfähigkeit. Mit dauerhafter Angst läßt sich nicht leben. Daher werden die Einzelnen versuchen, dennoch Handlungsfähigkeit zu erreichen. Sie können das durch Verdrängung, Verleugnung, Illusion, Widerspruchseliminierung. Oder anders gesprochen, um handlungsfähig zu sein, werden unterschiedliche Strategien ergriffen, so solche, sich in den Schranken einzurichten und anzupassen (Vgl. dazu Willis 1979). Was jetzt als Erfahrung gespeichert wird und im möglichen Rollenspiel wiedergegeben wird, sind damit vorurteilsvolle, interessierte, verdrängende, die Schranken umdeutende Abbilder. Schließlich sind die Schüler »Kinder dieser Verhältnisse«, ihr Aktiv-Sein spiegelt die Verformung schon wieder. Ich erinnere nur an die extremen Beispiele, daß als spontanes Rollenspiel aus dem Erfahrungsschatz der Kinder Fernsehspiele nachgespielt werden. (Vgl. etwa Heiner 1974, S.541)
Die von den Schülern schon einseitig bearbeitete Erfahrung steht auf doppelte Weise dem Lernen entgegen: als Position, die sie nicht verlassen wollen, um handlungsfähig zu bleiben, und als besondere Deformation, als Einpassung in die Verhältnisse, deren demokratische Umgestaltung zur Aufgabe stand. Daraus ergibt sich das Paradox, daß mit den Erfahrungen nicht gelernt werden kann und mit ihnen gelernt werden muß. Zu diesem Problem werde ich abschließend einige Thesen formulieren, die zugleich die vorher aufgeworfene Frage nach der Rolle des Lehrers in selbstbestimmten Lernprozessen mitbeantworten sollen.
Einen Lernprozeß organisieren heißt Erfahrungen in die Krise führen. Dafür benötigen die Schüler ihre Lehrer — diese organisieren Verunsicherung, damit das Sich-Einrichten vermieden werden kann. Sie zerstören die friedliche Koexistenz widersprüchlicher Erfahrungen in den harmonisierenden Bemühungen der Schüler. Sie richten Erfahrung gegen Erfahrung. Die Formen, in denen die Erfahrungen der Schüler aufgegriffen werden, sind dabei vielfältig: Wichtig ist, daß an diesen Erfahrungen etwas gezeigt wird, sie selber als zu bearbeitende auftreten. »Ohne Ansichten und Absichten kann man keine Abbildungen machen, ohne Wissen kann man nichts zeigen, wie sollte man da wissen, was wissenswert ist?« (Brecht 1974, S.40) Dafür, daß man aus Erfahrungen etwas lernen kann, bedarf es des Erfahrungsvorsprungs des Lehrers. Er kann die Erfahrung, selbstverständlicher Bestandteil des Lebens, unselbstverständlich machen, Illusionen zerstören und damit Kompetenzen umstrukturieren. Dabei sind Lehrer in vielfacher Hinsicht notwendig. Sie müssen nicht nur die Verunsicherung herbeiführen, sie müssen zugleich die Absicherung dieser Lernprozesse gewährleisten. Dabei werden sie emotional ebenso gefordert wie als eine Art Vorbild, als Beweis, daß es sich auch mit der Verunsicherung leben läßt. Zugleich ist die Erfahrung der Lehrer nötig als Wissen um die besonderen Fähigkeiten der Abwehr und Verdrängung. Hier ließe sich formulieren, daß ein Mensch ein umso besserer Lehrer ist, je weiter er durch die Höllen eigener Erfahrung gegangen ist. Wesentlich ist die Erkenntnis, daß der Gegenstand, der zur Bearbeitung ansteht, der »Stoff«, selbst immer schon Teil der Persönlichkeitsstruktur ist. Er ist den Personen nicht äußerlich, über ihn herrscht eine aus praktischem Umgang gewonnene Auffassung, die einseitig ist, sich abfindet, tabui-siert, umwertet, nicht eingreift. Aus dieser Erkenntnis folgt, daß Erziehung zu demokratischem Verhalten einen Umgang mit sozialem Verhalten im Spiel verlangt, welches dieses vorgefundene Verhalten immer nur als eine Möglichkeit vorführt und zur Diskussion stellt, und also zunächst Distanz schafft. Dabei muß ein solcher Lernprozeß unbedingt kollektiv organisiert werden, da die Möglichkeit, einmal eingenommene Positionen zu verlassen, eine solche große Verunsicherung bedeutet, daß sie nur im Kollektiv, im massenhaften Lernprozeß aushaltbar ist.
Das forschende Lernen ist in solchen Fällen also auf eigene Erfahrung richtbar und auf das eigene Verhalten im Umgang mit Gegenständen und Personen. Da Verhalten immer das Resultat ist von Konfliktverarbeitungen, gilt es, die Konflikte zu zeigen, die zu dem jeweiligen Verhalten führten, um den Raum für andere entwickeltere Konfliktlösungen bzw. -Verarbeitungen zu schaffen. Ein solches Vorgehen sollte es ermöglichen, Wirklichkeit anders, differenzierter wahrzunehmen oder, anders gesprochen, das relevante Wissen zu vermehren.
Daß Lerninhalte Teil der Persönlichkeitsstruktur sind, mag abstrakt einleuchten, aber konkret nicht vorstellbar sein. Angesichts der zu »bewältigenden« Schülermengen hört sich das Pathos vom kollektiven Lernprozeß seltsam unbelebbar an. Zur Abhilfe versuche ich im folgenden ein Beispiel aus einem solchen massenhaften Lernprozeß zu geben, der Wissen als Teil der Persönlichkeitsstruktur zeigt, ebenso wie den Erkenntniszuwachs als Änderung der Haltung im kollektiven Lernprozeß.
Die Opfer-Täter-Diskussion
Daß Menschen die Verhältnisse, in denen sie leben, selber herstellen, ist in dieser allgemeinen Aussage bekannt und wird weithin akzeptiert. Die gleichen Menschen, die diese Auffassung selber vertreten und verbreiten, denken in ihrem eigenen Alltagsleben spontan ganz anders. Die Bedingungen sind schuld, wenn sie dies und jenes nicht können; die häusliche Enge, die Eltern, insbesondere die Mutter, wenn sie nicht wollen; sie finden sich ab mit eigenen Charakterstrukturen, als wären sie Schicksal, und denken spontan in Kategorien wie »die da oben« und »ich da unten«. Rückblickend erscheint ihnen ihre Kindheit als Wald von Verbotsschildern. Jedes theoretische Angebot, das ihnen Unverantwortlichkeit für sich selber bescheinigt, kommt ihnen gerade recht. Dennoch sprechen sie im allgemeinen davon, daß die Menschen ihre Produktionsverhältnisse selber herstellen. Der Satz hat also mit ihrer Erfahrung, so wie sie sich die Dinge privat zurechtlegen, nichts zu tun. Die abstrakte Kenntnis berührt die Haltung des »Ist doch mein Vater selber schuld, wenn ich kalte Hände habe, warum kauft er mir keine Handschuhe« nicht. Der Gedanke von den tätigen Menschen, die ihre eigenen Verhältnisse und damit sich selber machen, ist also äußerlich gelernt und hat keine Relevanz für die eigene Praxis. Wenn die eigene Erfahrung gegen ihn spricht, scheint er falsch zu sein. Daß er dennoch für richtig gehalten werden kann, bezieht seine Kraft aus der Perspektive. So kann man zugleich denken, daß die Verhältnisse einen total formen, wie, daß man sich dafür einsetzen muß, daß die Menschen die Verhältnisse machen. Das Einsetzen für die Veränderung bleibt als Politik aber ebenso abstrakt, bloße Parole ohne konkrete Vorstellung.
Der Widerspruch zwischen dem spontan Gedachten und dem theoretisch Gewußten ist nicht bloß einer zwischen Theorie und Praxis. Vielmehr haben sich die Einzelnen im Hier und Jetzt irgendwie eingerichtet. Ihre Handlungsfähigkeit erhalten sie u.a. durch eine interessierte einseitige Wahrnehmung und Verarbeitung von Erfahrung. Verleugnet und verdrängt sind alle Elemente, in denen die Einzelnen nicht bloße Opfer prägender Strukturen und unterdrückender Eltern waren, sondern in denen sie tätig bauten an ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur und an der Haltung, die sie zu ihrer Stellung in der Gesellschaft einnehmen. Ich habe diesen Vorgang unter dem Titel »Frauen — Opfer oder Täter?« auf der Westberliner Volksuni 1980 vorgeführt. Dabei habe ich Erfahrungen dargestellt, die die eigene Entscheidung deutlich machen, Wege, zu denen man verlockt wird, aber nicht gezwungen, um die Frauen aufzurufen, sich als selber produziert zu begreifen und also änderbar durch sie selbst. Diese Änderung sollte als notwendig für die Vermenschlichung der Gesellschaft ebenso wie für die Verminderung eigener Leiden gesehen werden. Der spontanen Empörung gegen die Zumutung, die eigene Lage und die ungenügende Bewältigung des Lebens nicht bloß als Zugefügtes zu begreifen, folgte Unruhe und Verunsicherung. Wie, wenn man wirklich sich selbst so hergestellt hätte? — Zwar gesellschaftlich erwartet, von Elterninstanzen unterstützt, aber doch selber gewirkt hätte an den Strukturen, die unterdrücken? Der kollektive Lernprozeß ging ungeheuer schnell. Erinnerungen, die dafür sprachen, wurden zusammengetragen. Es entwickelte sich ein Forschungseifer, möglichst umfassend und weitreichend die Strukturen aufzudecken, wo vereinzelt aus Angst, eine Schwäche zuzugeben, ein Geheimnis daraus gemacht worden wäre. Daß die Erforschung allen nützte, daß jede praktisch mit einer Erinnerung — wie es war — Änderungsmöglichkeiten für alle anbahnte, schuf ein Klima begeisterter wechselseitiger Unterstützung.
Die Diskussion wurde im Laufe des Jahres in verschiedenen Städten weitergeführt (sie dauert noch an*). (*Die Diskussion erscheint, soweit sie schriftlichen Niederschlag fand, als Studienheft im Argument-Verlag im Juni 1981.)
Wo immer allerdings Vereinzelte sich mit der Zumutung, ihre Erfahrungen zu hinterfragen, durch andere außer Kraft setzen zu lassen oder zu ergänzen, allein konfrontiert sahen, mußten sie diese Thesen auffassen als Schuldzuschreibung, als Angriff auf ihre Person, statt umgekehrt als Versuch, Handlungsräume zu erweitern und die Personen im Kollektiv zu festigen.
Der Exkurs sollte den Zusammenhang von Wissen, Persönlichkeitsstruktur und kollektivem Lernprozeß vorführen. Sicher ist dieses Beispiel nicht ohne weiteres auf die Schulsituation übertragbar. Doch stimmen die einzelnen Elemente, und es läßt sich in Schulsituationen ein Lernprozeß ebenso kollektiv durch Nutzbarmachung einzelner Erfahrungselemente organisieren, wie die vorhandenen Erfahrungen als Wissen, als Hindernis, als zu verändernde und zu ergänzende in den Lernprozeß Eingang finden müssen.
Ich fasse zusammen: Zwar muß man aus Erfahrung nichts lernen, jedoch gibt es kein Lernen ohne Erfahrung. Aber Lernen ist zugleich auch — und dies verbindet die beiden widersprechenden Thesen — die Krise der Erfahrung. Demokratisches Eingreifen — eine andere Formulierung für »Demokratie lernen« — setzt einen Eingriff in die Persönlichkeitsstruktur voraus, ja es ist eine andere Persönlichkeitsstruktur. Dieser »Eingriff« in die Persönlichkeitsstruktur geschieht über die Umorganisierung von Erfahrungen, das Erkennen von Widersprüchen. Darin tritt der Lehrer auf als Erfahrener, als Wissenschaftler und als einer, der die Lernprozesse emotional absichert. Die Verunsicherung, die jeder Lernprozeß bedeutet, ruft Widerstand hervor. Der Vorgang scheint auf den ersten Blick einem emotional freundlichen Lernen abträglich und kann zudem dem Bedürfnis der Lehrer, von ihren Schülern — sofern sie ihnen nicht gleichgültig sind — geliebt zu werden, widerstreiten. Tatsächlich ist jene spontane Zuneigung, die aus der Abhängigkeit der Schüler entspringt, keine Haltung, die durch solche Lernprozesse erhalten bleiben kann. Im Gegenteil wird ein Lehrer, dessen Interesse der Entwicklung der Schüler gilt, der aus Abhängigkeit geborenen Anhänglichkeit gegensteuern müssen, da sie Lernprozessen keinesfalls förderlich ist und im Grunde eine Zementierung des Lehrer-Schüler-Verhälntisses bedeutet In Wirklichkeit aber heißt Lehrer-sein nach einer Seite auch, beständig an der eigenen Abschaffung und dem Überflüssigwerden zu arbeiten. Die Beziehungen, die sich auf höheren Stufen von Handlungsfähigkeit entwickeln, haben zwar nicht den blindanhänglichen und so unmittelbar schrankenlosen Charakter jener oben geschilderten »spontanen« Lehrer-Schüler-Beziehungen, sie sind auf lange Sicht jedoch allein tragfähig und wechselseitig und durch gemeinsame eingreifende Weltveränderung auch einzig menschlich.