Zwei extreme Positionen stehen sich in der Diskussion um Frieden und Friedensbewegung gegenüber: Die einen sehen Angst und Betroffenheit als Hindernis bei der rationalen Abwehr atomarer Bedrohung. Sie werfen der Friedensbewegung vor, in irrationalen Gefühlen steckenzubleiben und deshalb nicht zu wirklicher Problemlösung fähig zu sein. Die anderen bekennen sich etwas zu inbrünstig zu ihren Gefühlen und sehen jeden Versuch, sie für das rationale Handeln nutzbar zu machen, als Verrat an der guten Sache. Daß beide Haltungen unsinnig und gefährlich sind, zeigt Klaus Holzkamp im folgenden Beitrag: Nur die von Gefühlen energetisierte Massenbewegung für den Frieden kann die Gefahr des Krieges abwenden. Das Gefühl muß zum Orientierungspunkt vernünftigen Handelns werden.
Wenn es um politische Phänomene und deren wissenschaftliche Analyse geht, ist von Gefühl normalerweise nicht die Rede. Gefühle werden als die persönliche Angelegenheit jedes Einzelnen betrachtet, die innerhalb der öffentlichen Diskussion nichts zu suchen hat. Mit der Friedensbewegung verhält es sich dagegen ganz offensichtlich anders. Wenn mit der atomaren Katastrophe die Vernichtung der physischen Existenz jedes einzelnen Individuums zur Frage steht, kann auch das Gefühl der Angst und Bedrohtheit als subjektive Resonanz auf diese Aussicht nicht außen vor bleiben. Vielmehr wird hier die subjektive Betroffenheit der ungezählten Einzelnen selbst zum Massenphänomen und drängt an die Öffentlichkeit, und ohne eine solche Veröffentlichung von Gefühlen der Angst und Bedrohtheit hätte sich der Kampf für den Frieden sicherlich nicht von einer Sache weniger politisch Engagierter zu einer machtvoll weltweiten Massenbewegung entwickelt. Wenn der mögliche Beitrag der Wissenschaft zur Fnedenssicherung diskutiert wird, so müßte demnach auch die emotionale Betroffenheit als Massenphänomen innerhalb der Friedensbewegung zum Thema wissenschaftlicher Analyse gemacht werden.
Ich will versuchen, einige Gesichtspunkte zu einer solchen Klärung beizusteuern und dabei mit meinen Überlegungen an einer in unserer Gesellschaft nur selten hinterfragten Selbstverständlichkeit ansetzen: dem Gemeinplatz, »Gefühl« und »Verstand« seien ihrer Natur nach Gegensätze. Rationalität und Emotionalität schlössen einander notwendig aus, und man könne demnach das rationale Argument immer nur in Zurückdrängung der als bloß »subjektives« Phänomen das abwägende und verallgemeinernde Denken »störender« Emotionalität zur Geltung bringen, und umgekehrt.
Eine naheliegende Konsequenz aus diesem Gemeinplatz besteht darin, der Friedensbewegung ihre emotionale Betroffenheit als genuine Schwäche ihrer politischen Urteilsfähigkeit anzulasten. So wird die Friedensbewegung ja von etablierten politischen Instanzen, die durch deren Existenz und Ausmaß verunsichert sind, immer wieder beschworen, sie möge um Gottes Willen ihre »Emotionalisierung« überwinden und zur politischen Vernunft, d.h. zum herrschenden Konsens, zurückfinden. In diesem Sinne ist etwa die Äußerung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt zu verstehen, es sei für ihn ja nachvollziehbar, daß diese jungen Leute Angst vor einem Atomkrieg hätten, man müsse sie jedoch davon überzeugen. daß sie sich durch die Angst nicht ihren realistischen Blick für die Wirklichkeit trüben lassen dürften; dann würden sie schon einsehen, daß die Nato die beste Friedensbewegung und der Doppelbeschluß der sicherste Garant für den Frieden sei.
Diese Konsequenz ist noch zugespitzt, wenn man die Friedensbewegung, indem man die Emotionalisierung als ihr Wesensmerkmal betrachtet, prinzipiell als politisch unheilbar einstuft, oder gar - wie der bekannte Journalist Wolfgang Pohrt - die vorgebliche »Angst« als Motor der Friedensbewegung für lediglich vorgeschoben halten will, um so eine kollektive Irrationalität zu verdecken und zu rechtfertigen, die in Wirklichkeit ganz anderen, politisch totalitären, Zielen diene als dem Ziel der Erhaltung des Friedens (»Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation«, Rotbuch Verlag Berlin 1982). Derartige Auffassungen scheinen mir extremer Ausdruck der generellen, durch ihre priviligierte Klassenlage bedingten Abneigung bürgerlicher Intellektueller gegen politische Massenbewegungen zu sein. Die kritische Selbstständigkeit des eigenen Urteils erscheint von solchen Positionen aus als mit der Beteiligung an Mas-senbeweeuneen unvereinbar, und es wird Widerstand entwickelt gegen die »Vereinnahmung« und Nivellierung des »freien« Denkens durch kollektive Irrationalität. Andere Intellektuelle. die - über den Schatten ihrer Klassenlage springend - sich der Friedensbewegung angeschlossen haben, werden somit als unkritisch und verfuhrbar. als Verräter humaner Vernunft oder als opportunistische Konjunkturritter denunziert. Von da aus bis zur Beschwörung von Assoziationen an faschischti-sche Massenaufmärsche und (wie bei Pohrt) der tendenziellen Ineinssetzung der Friedensbewegung mit braunem »Totalitarismus« ist dann kein allzu weiter Weg mehr.
Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, um zu sehen, daß die Kritik an der »Emotionalisierung« der Friedensbewegung - auch da. wo sie deswegen nicht schon als genuin irrationalistisch denunziert wird - sich in Wirklichkeit -gegen die Friedensbewegung selbst richtet. Nicht nur. daßso die Friedensbewegung als machtvolle Massenerscheinung bekämpft wird: Mit der politischen Verdächtigung der kollektiven Angst wird darüberhinaus auch die atomare Bedrohung als Ursache der Angst selbst entwichtigt. entweder, indem man sie auf die verschiedenste Weise demagogisch herunterspielt und die Bevölkerung wieder in Sicherheit wiegen möchte, oder indem man (wie Pohrt) die Abwendbarkeit einer atomaren Katastrophe durch politische Massenaktivitäten generell für illusionär und die Selbstvernichtung der Menschheit als zwingende Konsequenz der Technisierung und des damit verbundenen Kulturverfalls nur für eine Frage der Zeit hält.
r3a die massenhafte emotionale Betroffenheit ein wesentlicher Motor der Friedensbewegung als politischer Kraft ist. wird man mit dem Versuch, diese Emotionalität zu denunzieren und zurückzudrängen der besonderen Qualität und Bedeutung dieser Bewegung nicht gerecht. Also müssen auch in der öffentlichen Friedensdiskussion meine ganz persönlichen Gefühle der Bedrohtheit und Angst zugelassen und ernst genommen werden. Aber was heißt dies nun genau, und was folgt daraus für die politische Arbeit?
Auf der Grundlage der geschilderten »Selbstverständlichkeit«, daß Emotionalität und Rationalität unvereinbar
seien, könnte sich hier die schlichte. Umkehrung als Ausweg anbieten: Da - so könnte man meinen - die Zurückdrängung des Emotionalen als Störfaktor abwägend-rationalen Denkens der Friedensbewegung nicht gemäß ist. müsse eben der emotionalen Betroffenheit, dem Gefühl der Bedrohtheit und Angst, bestimmendes Gewicht beigelegt werden, womit der rationalen Analyse, dem Sammeln und Beurteilen von Fakten und Argumenten, zwangsläufig höchstens zweitrangige Bedeutung zukommen könne. Diese Auffassung charakterisiert nun zwar nicht den organisatorischen Kern der Friedensbewegung, liegt aber dennoch nicht wenigen Anhängern der Friedensbewegung nahe. So war z. B. auf dem Schriftstellertreffen in Berlin/DDR im Dezember 1981 das globale Beharren auf der eigenen Angst im Widerstand gegen alle differenzierende Argumentationsversuche geradezu ein Grundtenor eines Teils der Diskussionsbeiträge (»Berliner Begegnung zur Friedensförderung«. Darmstadt Neuwied. Luchterhand 1982). Vielleicht am meisten zugespitzt kam dies in der Äußerung von Günter Herburger zum Ausdruck: »Ich habe nicht die Absicht, Raketenpotentiale aufzurechnen. Ich will es gar nicht können. Es läßt mich eigentlich kalt. Ich fühle mich schon lange sehr bedroht, nicht nur von Raketen« (S. 145). Mit der gleichen Tendenz hielt Günter Grass der Argumentation von Gerhard Kade, das atomare Aufrüsten sei in all ihren Stadien von den Amerikanern initiiert worden, und die UDSSR hätte jeweils nur nachgezogen, entgegen: »Meine Angst konzentriert sich nicht nur auf die Pershing-Raketen, vor denen habe ich auch Angst, aber ich habe auch vor SS-20-Raketen Angst, und die gibt es auch« (S. 48).
Womöglich noch deutlicher kommt die Tendenz einiger Schriftsteller auf der »Berliner Begegnung«, ihre Bedrohtheitsgefühle zur letzten, unhinterfragbaren Instanz zu erheben, in der Art und Weise zum Ausdruck, wie die politische Realität im Lichte dieser Gefühle gedeutet und strukturiert wird. Für Günter Grass sind die beiden »Blocksysteme« anscheinend riesenhafte Individuen: »Sie wollen geliebt werden und ernten zunehmend Haß oder Verachtung. Man fürchtet sie und insgeheim fürchten auch sie sich« (S. 45). Christa Wolf treibt solche personalisierende Mythisierung gesellschaftlicher Verhältnisse noch einen Schritt weiter, indem sie gleich die gesamte menschliche Kultur anspricht:
»was hat diese Kultur getan, daß sie zu überleben verdient?« (S. 116). »Diese Raketen, diese Bomben sind keine Zufallsprodukte dieser Zivilisation. Wenn diese Zivilisation imstande war, ihren eigenen Untergang derartig genau zu planen und vorzubereiten, sich die Mittel dafür zu beschaffen, unter solchen furchtbaren Opfern, dann ist sie krank, wahrscheinlich geisteskrank, vielleicht todkrank« (S. 117).
Die Neigung, sich gesellschaftliche Widersprüche mit Hilfe psychiatrischer Diagnosen verständlich zu machen, vom »Irresein«, »Wahnsinn«, dem »Verfolgungswahn«, der »Paranoia« gesellschaftlicher Kräfte und Gruppen zu reden, fand sich nicht nur bei Christa Wolf, sondern auch bei anderen Diskussionsteilnehmern (so Lattmann, Kipphardt und Härtling.
Hier führt das übermächtige Gefühl der Existenzbedrohung offensichtlich zu einer Regression auf egozentrisch-animistische Denkweisen, wie sie etwa für die sogenannten »Naturvölker« charakteristisch sind. Dabei wird der Bedrohungsanlaß unmittelbar als persönlicher Verursacher in die Realität hineinprojiziert und so das Böse, das mir geschieht, auf unsinnlich-übersinnliche personale Kraftträger zurückgeführt, die wie ich selbst gute oder böse Absichten haben können. Bei einem Gesellschaftsbild, das durch dieses amnestische Denken bestimmt ist. bevölkert man mithin zur Reduzierung und Strukturierung der eigenen Angst die gesellschaftliche Wirklichkeit mit guten oder bösen Dämonen, Supermächten, die geliebt werden wollen und sich insgeheim fürchten, Kulturen, die ihren eigenen Untergang planen, also geisteskrank, wahnsinnig, paranoisch sein müssen, etc. Es ist sicherlich kein Zufall, daß dieses aus der Überwältigung von der eigenen Angst geborene amnestische Denken mit reaktionären Ideologien konvergiert, in welchen Völkern über die Lebensbedingungen der Menschen hinweg eine eigene Wesenhaftig-keit und Wertigkeit zugesprochen wird, zugespitzt in der faschistischen Mythologisierung des eigenen Volkes als Herrenvolk und des »Judentums« als bösem Dämon der Weitgeschichte. Hier deutet sich an. daß solche Ideologien nur dann eine Massenbasis gewinnen können, wenn aufgrund objektiver Bedrohungen die kurzschlussige Angst um die eigene Existenz tur das Denken und Handeln der Mensehen unmittelbar bestimmend wird (vgl. dazu H-Osterkamp. 19S2).
Wir sehen also; Der einfache Umkehrschluß, da nicht die Rationalität gegen das Gefühl durchgesetzt werden darf, müsse eben das Gefühl gegen die Rationalitat durchgesetzt werden, tragt nicht. Wenn man sich so seinen Be-drohtheitsgefühlen ausliefert und sie als letzte, unhinterfraghare Instanz betrachtet, können sogar Denkweisen und Weltsichten begünstigt werden, die einen ungewollt in die Nachbarschaft reaktionärer Tendenzen führen. Für meinen Darstellungszusammenhang besonders wichtig ist aber, daß sich in einer solchen amnestischen Gefühlsbestimmtheit die politische Handlungsfähigkeit der Friedensbewegung nicht gründen laßt. Wenn einen die eigene Angst zu der Sichtweise treibt, die Menschheit im Ganzen sei offensichtlich verrückt geworden, dann ist der Gegensatz zwischen den Herrschenden, deren partikulare ökonomisch-politische Interessen die Dynamik einer Vorbereitung auf den Atomkrieg enthalten und den Beherrschten, denen diese Perspektive gegen ihre genuinen Lebensinteressen aufgezwungen werden soll, schon verdrängt. Wo es keinen Imperialismus mehr gibt, der nur in der Kriegsvorbereitung seinen Verfall noch aufhalten kann, sondern nur noch »die« todessüchtige Kultur, die als mit sich identisch ihren eigenen Untergang plant, da gibt es auch kerne Parteinahme für die Masse der Menschen, die in diesem Krieg geopfert werden soll, mithin kein Engagement für den Friedenskampf.
Wenn einem angesichts der Größe der Betroffenheit von der Bedrohung die Zurkenntnisnahme und Analyse von Fakten über deren Ursachen kleinlich erscheint, wenn einen die Aufrechnung von Raketen potentialen »kalt läßt«, so ist man tatsächlich auch an Möglichkeiten der Abrüstung uninteressiert, man hilft nicht bei der Suche nach dem notwendigen nächsten Schritt, und kann demnach letztlich nur noch die eigene Handlungsunfähigkeit
und Ohnmacht als elitäres Los des Dichters zelebrieren. Es war offensichtlich denjenigen auf der Berliner Begegnung, die diese Art von Schriftstellern repräsentierten und sich damit teilweise militant geeen andere zur Gel* tum: bringen wollten überhaupt nicht klar, wieweit mc sich mit ihren dunklen Unkenrufen und Endzeit-Visionen von den Menschen draußen auf dem Alexanderplatz, oder ein Stück weiter auf dem Kurfürstendamm, entfernt haben: Menschen, die weder wahnsinnig sind noch ihren eigenen Untergang planen, sondern die in Frieden überleben wollen, und durch die deshalb eben die Friedensbewegung hervorgebracht wurde, von deren äußerstem Rand jene Dichter nun auf sie herabblicken.
Unsere bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß keine der beiden diskutierten Alternativen - weder die Zurückdrängung der Emotionalität durch die Rationalität noch die Zurückdrängung der Rationalität durch die Emotionalität - der Bedeutung und Funktion massenhafter emotionaler Betroffenheit in der Friedensbewegung gerecht wird, daß also daraus auch keine adäquaten Gesichtspunkte für den Umgang mit der je eigenen emotionalen Betroffenheit gewonnen werden können.
Aus unseren Forschungen über die Genese und Funktion der Emotionali-tät im Gesamt der menschlichen Lebenstätigkeit hat sich ergeben, daß die Abgetrenntheit der Emotionahtät vom Denken und Handeln und die Icheingeschlossenheit von Gefühlen als »bloß subjektive«, folgenlose »Innerlichkeit« zwar Realität ist. aberdieses Verhältnis keineswegs universell charakterisiert. Es handelt sich hier vielmehr lediglich um eine historisch bestimmte Erscheinungsweise von Gefühlen, nämlich die Befindlichkeit des Individuums; soweit es in den bürgerlichen »Privatformen« befanden und so von der Verfügung über die gesellschaftliche Realität isoliert und gegenüber anderen Individuen durch Konkurrenz vereinzelt ist. Wenn man die allgemeinen Bestimmungen der Emotionahtät die hier in historisch verkürzter Form erscheinen, auf ihre Funktion im gesellschaftlichindividuellen Lebensgewinnungsprozeß hin analysiert. so erweist sich dagegen: »Gefühle« sind keineswegs genuin folgenlose, antirationaie »Innerlichkeit«, sondern im Gegenteil zentrale Voraussetzungen dafür, daß aus der bloßen Erkenntnis der Wirklichkeit die Handlungsfähigkeit der Individuen zur gesellschaftlich-individuellen Existenzerhaltung werden kann.
Aus der emotionalen Wertung der erkannten Realität geht nämlich hervor, was dies jeweils für mich in meiner konkreten subjektiven Situation bedeutet, und gleichzeitig sind dann die verschiedenen Teilaspekte der Realität zu einer emotionalen GYsimirwertung zusammengefaßt. Nur aus einer solchen Gesamt wertung der objektiven Realität am Maßstab subjektiver Notwendigkeiten können Erkenntnissem Handlungen umgesetzt werden. Demnach hängt es prinzipiell von der Art meiner emotionalen Realitätsbeziehungen ab. ob beziehungsweise in welcher Weise ich angesichts bestimmter realer Konstellationen und Ereignisse handlungsfähig oder handlungsunfähig bin. Die Angst ist in diesem Zusammenhang als emotionaler Zustand zu fassen der daraus resultiert, daß für mich in einer konkreten Situation einerseits gravierende subjektive Notwendigkeiten zu ihrer Überwindung bestehen, daß ich aber andererseits in der Situation für mich keine Möglichkeiten zu veränderndem Handeln sehe. Angst ist also die Befindlichkeit der Ausgeliefertheit an eine existentielle Bedrohungssituation aufgrund erfahrener Handlungsunfähigkeit. Angstüberwindung gelingt mithin in dem Maße, wie durch einen ersten Schritt der Beteiligung an der gesellschaftlichen Verfügung über die bedrohenden Lebensumstände die Handlungsfähigkeit perspektivisch zurückgewonnen und so die Ausgeliefertheit aufhebbar ist.
Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist demgemäß die scheinhaft bloße »Innerlichkeit« der Emotionalität, deren Losgelöstheit vom Denken und Handeln, womit sie diesem gegenüber lediglich eine Störfunktion hat, als Spiegelung der realen Isolation vereinzelter Individuen von der bewußten Bestimmung gesellschaftlicher Lebensbedingungen nur eine Seite eines widersprüchlichen Verhältnisses. Die andere Seite ist die emotionale Betroffenheit als notwendige subjektive Voraussetzung des Handelns zur kollektiven Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen, damit Überwindung der Angst durch Zurückdrängung realer Ohnmacht und Ausgeliefertheit. Die Angst selbst hat demnach den widersprüchlichen Doppelaspekt, sowohl subjektiver Reflex der Ohmmacht und Ausgeliefertheit wie zwingende subjektive Notwendigkeit zu deren Überwindung zu sein.
Wenn man nun unter solchen Gesichtspunkten das Verhältnis zwischen Emotionalität, Denken und Handeln betrachtet, so wird deutlich, daß nur. wenn man die bürgerliche Privatform der Emotionalität blind reproduziert, also die Gefühle als unhinterfragbare Letztheit stehen läßt, die eigene Betroffenheit und die rational abwägende Argumentation einen nicht aufzulösenden Gegensatz zu bilden scheinen, und das Individuum hin- und hergerissen zwischen »Gefühl und »Verstand« letztlich handlungsunfähig bleibt. Soweit man hingegen in der Perspektive handelnder Realitätsveränderung die -eigene Emotionalität zwar einerseits ernst nimmt und akzeptiert, aber andererseits auf die objektiven Bedingungen hin durchdringt die sich in ihr subjektiv spiegeln, und so den in ihr selbst liegenden Erkenntnisgehalt für sich fruchtbar macht, so manifestiert sich darin die »erkenntnisleitende Funktion der Emotionalität«.
Im Weiterdenken solcher Zusammenhänge verdeutlicht sich, daß ein so gefaßtes emotionsgeleitetes Denken nicht nur durch die »Emotionalisierung« unbeeinträchtigt, sondern im Gegenteil in seinem rationalen Siveau dem geschilderten entemotionalisier-ten Denken überlegen ist. Da die emotionale Erfahrung, wie dargestellt, die Wertung meiner Gesamrsituation am Maßstab ihrer subjektiven Bedeutung enthält, kann man nämlich in einem Denken, das diese Erfahrung expliziert, zu Verallgemeinerungen kommen, die den objektiven Zusammenhang zwischen dem Gesamt gesellschaftlich-natürlicher Lebensverhältnisse und meiner, also unserer Betroffenheit davon, nicht aus-, sondern einschließen.
Jedes Einzelargument und jede Information ist daraufhin zu bewerten, welche Funktion ihnen für die Überwindung des Ausgeliefertseins zukommen. In jedem noch so spezialisierten Gedankengang ist so immer als erkenntnisleitend mitgedacht, was dies unter dem Gesichtspunkt unserer verallgemeinerten Beiroffenheit für uns bedeutet, und jede Konsequenz aus der rationalen Argumentation hat sich daran zu bewähren, wieweit sich dadurch der jeweils nächste Schritt der Erweiterung unserer Handlungsfähigkeit zur Zurückdrängung der Ausgeliefertheit und Ohnmacht gegenüber unbeeinflußbaren Lebens- und Herrschaftsverhältnissen verdeutlicht. Daraus ergibt sich aber, daß ein Denken, das nicht in der so durchdrungenen emotionalen Erfahrung sich gründet, sondern sich zu einer unhinterfragbaren emotionalen Innerlichkeit im Gegensatz sieht, in einem elementaren Sinne orientierungsloses Denken sein muß. Was ist das also für eine »Rationalität die vorgeblich nur auf Kosten der Emotionalität. unter Ausklammerung subjektiver Betroffenheiten, durchsetzbar ist? Eine »Rationalität« verselbständigter »Sachzwänge«, unübersehbarer, isolierter »Ansätze und Resultate«, denen gegenüber auch und gerade die ratlos sind, aus deren Denkanstrengungen sie hervorgingen. Ein solches losgelöstes Denken hat quasi sein Subjekt verloren. es ist. auch wenn es an uns stattfindet, nicht mehr »unser« Denken, also recht eigentlich das Gegenteil von dem. was es zu sein vorgibt: Irrationalität im Gewande des Rationalen.
In dem Maße, wie es innerhalb der Friedensbewegung gelingt, die massenhafte emotionale Betroffenheit in der geschilderten Weise als Orientierungsrahmen ihres Denkens zu verallgemeinern, hat sie im Prinzip auch die Überlegene Rationalität auf ihrer Seite. In der Tat ist uns hier offensichtlich millionenfach ein Licht aufgegangen, durch welches uns die vorgebliche »Logik« des subjektlosen Denkens, das uns z. B. die Abschreckungs-Spirale als einzige, also beste Friedenspolitik verkaufen will, nicht nur in ihrer Menschenfeindlichkeit, sondern in ihrer eigentümlichen Beschränktheit und Dummlichkeit erkennbar geworden ist. Dies schließt auch die Erkenntnis ein. daß das geschilderte Mißtrauen vieler Intellektueller gegen die Friedensbewegung als Massenbewegung emotionaler Betroffenheit alles andere ist als ein Ausdruck kritischer Selbständigkeit des autonomen Denkens. Wie sollte man jemanden, der das Einzige was die Bedrohung der Menschheit durch die atomare Vernichtung abwenden kann, die massenhafte Erhebung der Betroffenen, als emotionalisierte Vermassung denunziert und sich da heraushalten will, wohl anders charakterisieren denn als dümmlich - um nicht zu sagen dämlich?
Mit dem Orientierungsrahmen verallgemeinerter Betroffenheit als Leitlinie des Denkens sind nun zwar die Voraussetzungen geschaffen, um die kollektive Handlungsfähigkeit der Friedensbewegung zu entwickeln. Dies bedeutet auch, daß hier für jeden Einzelnen der Ansatz sichtbar wird, wie er mit seiner emotionalen Betroffenheit im eigenen Interesse umzugehen hat: Er darf den blinden Gegensatz zwischen seiner Angst und der Ebene rationaler Argumentation nicht hinnehmen, sondern muß versuchen, die Betroffenheit auf ihre wirklichen Ursachen hm zu durchdringen, so den jeweils nächsten Schritt der Erweiterung kollektiver Handlungsfähigkeit, das heißt Überwindung der Ausgeliefertheit und Angst, erkennbar und realisierbarzumachen. Damit ist die Aufgabe allerdings erst gestellt, aber nicht schon erfüllt.