Bildung statt Ideologie?

Antwort auf A. und B. Rang*

  • (*Vgl. ihren Aufsatz »Schule und Ideologie« in diesem Heft. Zitate aus diesem Text habe ich im folgenden mit »ABR« gekennzeichnet.)

Adalbert und Brita Rang sagen: Die Hauptfunktion der Schule ist die systematische Korrektur von Alltagsbewußtsein. Daß sie diese Funktion erfüllt, zeigt die historische Entwicklung. Sie ist gekennzeichnet durch die Abnahme ideologischer Elemente: durch die Verwissenschaftlichung der Inhalte und durch die Verallgemeinerung des Zugangs zu diesen Inhalten. Das Ideologische ist nur eine sekundäre Funktion der Schule, die meist überschätzt wird. Das wird klar, sobald man sich einmal mit dem offen zutage Liegenden - Lehrplänen, Inhalten, Unterricht - befaßt, statt mit den Disziplinierungs-, Selektions-und Legitimierungsprozessen, mit »heimlichem Lehrplan« usw. Adalbert und Brita Rang geben eine eigene Definition von »ideologisch«: Für sie ist ideologisch das Vorenthalten von Wissen, das heute in Form der Fragmentierung und Enthistorisierung des Wissens existiert. Speziell an die Adresse des Projekts Ideologie-Theorie (für das ich hier antworte) richten sie folgende Vorwüfe: Unsere Definition von »ideologisch« als »ideeller Vergesellschaftung von oben nach unten« ist sozialromantisch, da sie suggeriert, die Vergesellschaftung »von unten« sei der einzig richtige Weg gewesen.***443-12.1*** Die Behauptung, daß der Staat ursprünglich »horizontale« Kompetenzen der Vergesellschaftung an sich gezogen habe und so eine gesellschaftliche Inkompetenz geschaffen habe, ist falsch, da die Schule niemandem Kompetenzen genommen habe, sondern Kompetenzen hinzugefügt habe. Das Projekt Ideologie-Theorie unterschlage den Zusammenhang von Vergesellschaftung und Naturbeherrschung und in diesem Zusammenhang die Funktionalität gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Der wesentliche Vorgang: die Vorenthaltung von Wissen lasse sich mit den Kategorien, die wir bisher entwickelt haben, nicht zureichend erfassen.
Ideologie ist Nicht-Wissen: So kann man diese Konzeption des Ideologischen zusammenfassen, oder auch: Ideologie ist unwissenschaftliches (alltägliches, fragmentarisches, unhistorisches) Bewußtsein. Oder noch einfacher: Ideologie ist falsches Bewußtsein. Diese Auffassung von Ideologie steht auf dem Standpunkt wissenschaftlichen Bewußtseins und bildet die Schule ab in der Perspektive zunehmender und allgemein werdender Wissenschaftlichkeit.
Wir haben unsere Umrisse zu einer Theorie des Ideologischen (PIT 1979, 178ff.) von einem anderen Standpunkt aus in einer anderen Perspektive entworfen: »Historischer Ausgangspunkt wie Fluchtpunkt der Analyse ist die Selbstvergesellschaftung der Menschen im Sinne einer gemeinschaftlich-konsensuellen Kontrolle der gesellschaftlichen Lebensbedingungen.« (ebd., 178) Nicht das wissenschaftliche Begreifen der Gesellschaft ist für uns der Ausgangspunkt, sondern die gemeinschaftliche Kontrolle der Lebensbedingungen. Das Ideologische sehen wir deshalb zunächst auch nicht in den Köpfen, sondern in den gesellschaftlichen Verhältnissen, als deren Modifikation und spezifische Organisationsform. Ein Schlüssel für unsere Konzeption des Ideologischen, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen statt vom Bewußtsein ausgeht, ist Engels Begriff der »ideologschen Mächte« und der »ersten ideologischen Macht«: des Staates. Wir begreifen ihn mit Engels als gesellschafltiche Macht über die Gesellschaft oder als entfremdete gesellschafltiche Macht. Eine Theorie in der Perspektive des Abbaus des Ideologischen ist dann zugleich eine Theorie in der Perspektive des Abbaus des Staates. Wir stehen hier im Gegensatz zu Alt-hussers Ideologie-Theorie, der das Ideologische zwar auch vom Staat her begreift (von den »ideologischen Staatsapparaten«), aber als eine omnihistorische Verfassung aller Gesellschaften (vgl. PIT 1979, 105ff.). Wir halten daran fest, daß der Staat mit der Klassenherrschaft entsteht; er zieht früher »horizontal« wahrgenommene Kompetenzen zur Vergesellschaftung an sich und greift »von oben nach unten« regulierend in die Gesellschaft ein. Die Staatsmacht ist durch einen Gewaltapparat gesichert, aber von Anfang an ideologische Macht. Damit fassen wir den Wirkungszusammenhang ideeller Vergesellschaftung von-oben-nach-unten (ebd., 181).
Die Frage nach dem richtigen oder falschen, wissenschafltichen oder unwissenschaftlichen Bewußtsein ist bei dieser Konzeption nicht die Ausgangsfrage, sondern ein abgeleitetes Problem. »Abgeleitet« heißt nicht: weniger wichtig, sondern, daß Wissenschaft und Alltagsbewußtsein in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt werden. Sie zeigen sich dann in einem anderen Licht.

I. Thesen über Wissenschaft, Alltagsbewußtsein und Ideologie

1) Für Gramsci finden sich im Alltagsbewußtsein »lokale Vorurteile aller vergangenen geschichtlichen Phasen und zugleich Intuitionen einer zukünftigen Philosophie, die dem in der ganzen Welt geeinten Menschengeschlecht eigen sein wird« (Gramsci 1967, 130). Bei A. und B. Rang erscheint das Alltagsbewußtsein ausschließlich unter dem Ge-
Sichtspunkt der »lokalen Vorurteile« - von den »Intuitionen einer zukünftigen Philosophie« ist jedoch nirgendwo die Rede. Aber wäre nicht gerade die innere Widersprüchlichkeit des Alltagsbewußtseins für den Unterricht fruchtbar zu machen? Man müßte dann nicht Unterricht gegen das Alltagsbewußtsein machen, sondern könnte gewissermaßen in das Alltagsbewußtsein hineingehen und die darin bereits enthaltenen Widersprüche in die Krise bringen (vgl. F. Haug 1981). Da gibt es das Situationsverhaftete, die Versimpelung, das Zirkuläre im Alltacjsbewußt-sem, aber auch Elemente des Antiideologischen, des Protests gegen Unterdrückung, der Amoralität, der Solidarität, die zu unterstützen und zu befreien wären. Sonst ist unser Blick auf das Volk und die Volkskultur so abstrakt wie der Blick der Aufklärer aufs finstere Mittelalter. Sonst können wir dem Alltagsbewußtsein Wissenschaft nur entgegensetzen, statt in es einzugreifen.
2) Das Rangsche Konzept von Ideologie als Vorenthaltung von Wissen unterstellt eine Wissenschaft, die den Schülern nur noch zugeführt werden muß. Daß wir es auf fast allen Gebieten mit völlig entgegengesetzten Auffassungen von Wissenschaft zu tun haben (und, unter antagonistischen Verhältnissen, haben müssen), kommt nicht vor, auch nicht die Frage nach Standpunkt und Perspektive der Wissenschaft. Weiter führt ihre Kritik an Fragmentierung und Enthistorisierung des Wissens. Aber auch dabei besteht für sie das Problematische eines Wissens immer in dem, was ihm fehlt. Das ist ein wichtiger Punkt, aber nur einer. Diese Betrachtungsweise lenkt den Blick weg von dem, was als Wissen positiv angeboten wird. Sie sieht dieses Wissen als fertiges, nur noch zu ergänzendes Ergebnis, nicht als Produkt einer theoretischen Praxis: von bestimmtem Standpunkt aus betrieben, in bestimmter Perspektive. Das Ideologische einer Wissenschaft besteht nicht nur in dem, was ihr fehlt, sondern auch darin, wie sie gebaut ist, wie sie ihre Begriffe bildet und wie sie sich in ihrer Bauweise zur Vergesellschaftung der Arbeit und zur Selbstvergesellschaftung in Beziehung setzt.
3) Die Wissenschaftlichkeit des Wissens ist nicht gegeben, sie muß überprüft werden, auch im Unterricht. Damit ergibt sich eine Verschiebung von der Frage nach der Wissenschaft im Unterricht zur Frage nach der Wissenschaftlichkeit des Unterrichts. Sie ist nicht gegeben mit dem Wissenschaftscharakter des »Stoffs« oder »Inhalts«, sondern erst mit der Wissenschaftlichkeit seiner Aneignung. Die Wissenschaftlichkeit, die gegen Ideologie mobilisiert werden kann, ist nicht der Stoff, sondern die Lerntätigkeit der Schüler: dort, wo sie in Richtung auf eine wissenschaftliche Rezeption des Wissens geht.***443-12.2*** Die Lerntätigkeit an bestimmten Gegenständen, nicht der isolierte Gegenstand ist deshalb auch der Zusammenhang, an dem ideologische Vergesellschaftung in der Schule untersucht werden muß. Wenn man, wie A. und B. Rang, die Entwicklung der Lehrpläne betrachtet, so befindet man sich auf dem umkämpften Feld, in dem das Rohmaterial für den Unterricht festgelegt wird, aber noch nicht im Zentrum, wo der Schüler lernend, seine Aufgaben lösend, sich dieses Rohmaterial aneignet. Für das Verhältnis von Schule und Ideologie wäre also nicht so sehr der Sprach-, Lese-und Rechenstoff interessant, als vielmehr die Sprech-, Lese- und Rechenaktivität der Schüler an bestimmten Stoffen. Die Untersuchungsfrage ist dann: Ist die Lerntätigkeit der Schüler so organisiert, daß die Aneignung von Wissenschaft zugleich ihre »freiwillige« Unterstellung unter höhere Mächte befördert, das Sich-Einrichten in den eingeschränkten Handlungsräumen? (Ich versuche im zweiten Teil meiner Antwort, dieses Programm an Beispielen aus dem Sprach- und Leseunterricht skizzenhaft einzulösen.)
4) »Wesentliche Kompetenzerweiterungen gehen ». mit einschneidenden Kompetenzbeschränkungen einher«, schreiben A. und B. Rang. Genau dies ist der für das Verhältnis von Schule und Ideologie relevante Zusammenhang. Im Rangschen Konzept ist Kompetenzbeschränkung jedoch gewissermaßen das Wissen, was draußen vor der Tür des Klassenzimmers bleibt. Aber das Einklemmen von Wissen in die beschränkten ideologischen Praxen ist in den Aneignungsaktivitäten präsent. Wie wird dieses eingeschränkte Wissen von den Individuen gelebt, so daß sie nicht weiter fragen, und sich mit dem fragmentierten und enthistorisierten Wissen in den beschränkten Handlungsräumen einrichten? Dazu müssen in ihnen allerhand Fragehemmungen, Widerspruchsverdrängungen usw. aufgerichtet werden. Das partialisierte Wissen braucht eine bestimmte Identität, in der aller Zündstoff entschärft wird. Das fragmentierte Wissen braucht eine Abteilungsstruktur des Erlebens und Denkens, das enthistorisierte Wissen eine ahistorische Subjektivität. Selbst wenn man also Ideologie ausschließlich als Vorenthaltung, Fragmentierung und Enthistorisierung faßt, bleibt immer noch die Frage nach den ideologischen Subjekten und danach, wie im Unterricht ideologische Subjektivtät hergestellt wird (vgl. hierzu Nemitz 1979 und 1980).
5) Adalbert und Brita Rang stellen die Prozesse der Verallgemeinerung und der Verwissenschaftlichung des Unterrichts ins Zentrum. Wenn Humboldt oder Pestalozzi einen Blick auf den gegenwärtigen Zustand des Schulwesens werfen könnten, würden sie vieles sehen, vor dem ihre utopischsten Träume verblassen. Wir Heutigen haben eine neue Erfahrung gemacht: Entprivilegisierung und Verwissenschaftlichung des Unterrichts sind mit der Reproduktion von Klassen und von Herrschaft keineswegs unvereinbar. Was geht da vor sich, wenn ein zunehmend quer zur Klassenstruktur liegendes Bildungswesen zugleich die Klassen beharrlich reproduziert? Was geschieht mit dem wissenschaftlichen Wissen in den Köpfen der Millionen, die mit den antagonistischen Verhältnissen einverstanden sind? Noch immer müssen Entprivilegisierung und Verwissenschaftlichung des Bildungswesens in politischen Kämpfen durchgesetzt werden. Aber ohne daß wir diese Aufgabe aus den Augen verlieren, können wir doch bereits sagen, daß es eine automatische Beseitigung von Herrschaft und Ausbeutung auch bei allgemeiner wissenschaftlicher Bildung nicht geben wird. Das liegt nicht daran, daß Bildungsprivilegien und Vorenthalten von Wissen für die Stabilisierung von Herrschaft unbedeutend wären. Die Kämpfe um Gesamtschulen und wissenschaftlichen Unterricht sind keine Scheingefechte. Aber offenbar ist das System insgesamt von einer ungeheuren Anpassungsfähigkeit, und was von der einen Seite noch als Kommunismus bekämpft wird, wird von anderer Seite bereits in die Reproduktion der Produktionsverhältnisse eingebaut. Was geht da vor sich? Das ist die Frage, worauf Althusser mit seiner Behauptung von der Schule als dem dominierenden ideologischen Staatsapparat eine Antwort zu geben versucht, das ist das Problem, mit dem Bourdieu und Passeron sich herumschlagen oder die Theoretiker des »heimlichen Lehrplans«. Ihre Antworten mögen falsch sein, aber sie stellen ein richtige Frage. Die Kritik von A. und B. Rang an all diesen Konzepten wird so lange wenig fruchtbar sein, wie sie sich nicht auf das Problem der Vereinbarkeit von allgemeiner und wissenschaftlicher Bildung mit Ausbeutung und Herrschaft einlassen. Diese Vereinbarkeit ergibt sich nicht nur spontan. Sie wird auch politisch hergestellt. Auch die Unvereinbarkeit von allgemeiner und wissenschaflicher Bildung mit Ausbeutung und Herrschaft entsteht nicht von selbst. Wissenschaftliche Bildung muß antiideologisch gemacht werden. Dafür sind entscheidend die Zusammenhänge von Wissenschaft und Arbeiterbewegung und von Wissenschaft und Kultur.
6) Für die Gewerkschaften stellt sich die Frage nach einer wissenschaftlichen Ausbildung meist als Problem, wie durch Qualifizierung stabile Arbeitsplätze und steigende Löhne gesichert werden können. Die Gefahr besteht hier darin, daß die Qualifizierung eingegliedert ist in eine individuelle Rette-sich-wer-kann-Strategie oder gar in den gewöhnlichen Karrierismus. Dem kommt entgegen die ideologische Anrufung der Individuen, durch Bildung autonom zu werden. Wie kann verhindert werden, daß Qualifizierung zur Auflösung von Solidarität führt? Wie kann sie so in das gewerkschaftliche Handeln eingebaut werden, daß sie die kollektive Handlungsfähigkeit verstärkt? Praktische Antworten auf diese Fragen gibt es erst in Ansätzen.
7) Umfassend läßt sich Wissenschaft nur dann gegen das Ideologische stabilisieren, wenn sie in ihrer kulturelen Dimension gefaßt wird. Mit Kultur meinen wir entgegen der umgangssprachlichen Bedeutung nichts Höheres, sondern die »Dimension der Ausbildung und des einverständigen Lebens von Gruppenidentität, Lebensformen, in denen Individuen, Gruppen oder Klassen das praktizieren, was ihnen lebenswert erscheint und worin sie sich selber als Sinn und Zweck ihrer Lebenstätigkeiten fassen« (PIT 1979, 184ff.; vgl. auch W.F. Haug 1979a und 1980). Wissenschaftliches Wissen verbessert unter antagonistischen Verhältnissen unsere Kompeten. nicht widerspruchsfrei. Indem es die Widersprüche bewußter macht, destabilisiert es die Handlungsfähigkeit in den beschränkten Handlungsräumen, ohne daß eine neue Handlungsfähigkeit immer schon in Sicht ist. Der Konflikt ist strukturell, nicht individuellem Unvermögen geschuldet, Theorie in Praxis zu übersetzen. Denn die Wissenschaft, die die Verhältnisse kritisch zu begreifen lehrt, zeigt auch die unüberspringbaren Bedingungen, von denen die Veränderung abhängt. So gibt es eine Spannung zwischen wissenschaftlicher Einsicht und politisch Machbarem, deren Ausmaß vom Stand der sozialen Bewegungen abhängt. Individuell kann diese Spannung kaum gelebt, werden, sie droht ständig, in Praktizismus umzukippen oder in Ideologie: Wissenschaft ist dann etwas Höheres, über dem niedrigen Alltag Stehendes. Ohne theoretische Kultur steht Wissenschaft immer in der Gefahr, ideologisch zu werden. In welche Konflikte, Widersprüche, Unlösbarkeiten stürzt der verwissenschaftlichte Unterricht die Lernenden? Und welche Möglichkeiten gibt es, diese Widersprüche produktiv zu machen? Man muß diesen Fragen nachgehen, wenn man verhindern will, daß der verwissenschaftlichte Unterricht letztlich zur ideologischen Vergesellschaftung beiträgt (vgl. hierzu W.F. Haug 1979b).

II. Historische Notizen zum Verhältnis von Schule und Ideologie

Eigentlich müßte ich jetzt auf die Rangsche Kritik am Projekt Ideologie-Theorie im einzelnen eingehen. Ich fürchte aber, daß es nicht sehr viel bringt, wenn ich beteure, daß die Entstehung von Staatsapparaten natürlich notwendig gewesen ist, daß in der Schule vieles gelernt wird, was ohne Schule niemand wissen würde, daß die Schulentwicklung letztlich vom Stand der Naturbeherrschung abhängt (aber nur letztlich) usw. Stattdessen will ich im zweiten Teil dieser Antwort zu zeigen versuchen, daß sich die bisher vom Projekt Ideologie-Theorie entwickelten Begriffe und Theoreme für die Analyse der historischen Entwicklung von Schule und Ideologie fruchtbar machen lassen. Das Ganze wird sich weniger gut lesen lassen als die Darstellung von Adalbert und Brita Rang. Ich habe mir von ihnen die historischen Orte vorgeben lassen und nachgebohrt. Es sind Fragmente, kein Gesamtüberblick.

Initiationen
Adalbert und Brita Rang setzen die Entstehung der Schulen mit den frühen Hochkulturen an. Sie verstehen »Schule als Ausdruck ausgelagerten, aus der unmittelbaren Lebens- und Arbeitspraxis entfernten, von ihr mit guten Gründen abgehobenen Lehrens und Lernens« (ABR). »Schon in der Zeit der frühen Hochkulturen ist es ». zur Auslagerung bestimmter Lernprozesse gekommen.« (ABR) »Schulen« in diesem genauen Sinn hat es jedoch längst vorher gegeben. Die Initiationen in traditionellen Gesellschaften lassen sich ohne weiteres durch die Merkmale der Trennung (vgl. van Gennep 1969) und der Lehre cha-lakterisieren. Die Jugendlichen werden vom Stamm abgesondert, oft in eigenen Häusern, manchmal über ein Jahr, und unter Anleitung von Älteren in verschiedene soziale Praxen eingeführt. Es sind dies kultische, sexuelle, produktive und militärische Praxen. Mit »helfendem Mitvollzug« (ABR) lassen sich diese Lernformen nicht begreifen. Von einem »stufenweisen Einbezug der Heranwachsenden in die von den Erwachsenen ausgeübten, für die Produktion und Reproduktion des Lebens erforderlichen ». Verhaltensweisen und Tätigkeiten« (ABR) zu sprechen ist zumindest mißverständlich. Denn diese Stufen sind scharfe biographische Brüche. Die Initianden gelten häufig für den Stamm als gestorben und kehren als Wiedergeborene in ihn zurück. »Diese Initiationen zeigen uns das Urbild der Schule, und der Ausdruck Buschschule, den man anfangs in ironisch herablassender Absicht dafür gebraucht hatte, greift völlig das Richtige.« (Alt 1975, 355) Wie Alt darlegt, ist die Initiation auf frühen Entwicklungsstufen gekennzeichnet durch Gleichheit und Universalität: Alle lernen alles. Man kann die Entstehung ausgelagerter Lernprozesse deshalb nicht auf die Trennung von Kopf-und Handarbeit zurückführen, wie A. und B. Rang es tun. Es gibt also ursprünglich Kompetenzen zur Vergesellschaftung von Wissen und Fähigkeiten in schulartiger Form, die »horizontal, das heißt zwischen Gesellschaftsmitgliedern ohne vertikale Dazwischenkunft einer übergeordneten Macht wahrgenommen werden.« (PIT 1979, 181)

Protoideologische Erziehungsformen: Geheimwissen
Mit den ersten Anfängen gesellschaftlicher Arbeitsteilung entwickelt sich ein SpezialWissen und damit ein Spezial-Lernen. Ursache ist allerdings auch hierfür nicht die Trennung von Kopf- und Handarbeit, sondern ganz allgemein die Entwicklung von Arbeitsteilung. Die erste große soziale Trennung ist die zwischen Mann und Frau; und sie führt zur ersten Differenzierung in der schulartigen Initiations-Erziehung. Dann sind es nicht nur Schamanen oder Medizinmänner, die eine besondere ■Schulung erhalten, sondern auch Schmiede, Weber, Zimmerleute, Bootsbauer usw. Ihr Spezialwissen, das ihnen eine abgehobene Stellung verschafft, wird vor Verallgemeinerung durch Tabus geschützt: Es entsteht ein Geheimwissen, das in besonderen Erziehungsinstitutionen gelehrt wird, und der Gegensatz von Eingeweihten und Uneingeweihten. (Vgl. Alt 1975, 357ff.)
Diese Abhebungen müssen unterschieden werden von einer anderen Entwicklung: der Entstehung des Staates, den Engels als »erste ideologische Macht über den Menschen« begreift (MEW 21, 302). Der Staat ist eine gesellschaftliche Macht über der Gesellschaft, der »von oben nach unten«, vertikal, in sie regulierend eingreift. Geheimwissen und Geheimlehre sind jedoch in die Grundstruktur »horizontaler« Vergesellschaftung noch eingebunden. Wir sprechen hier deshalb noch nicht von ideologischen, sondern von protoideologischen Formen. Damit sind gemeint »die Ausdifferenzierungen von Funktionen, die auf den Gesellschaftszusammenhang gerichtet sind, das Gesamt von ansatzweisen Spezialisierungen, Ritualisierungen und die Erfahrungsgrundlage überschießenden Imaginationen usw., die später von der abgehobenen staatsförmigen Macht entrückt und umstrukturiert werden« (PIT 1979, 183).

Entrückung protoideologischen Materials: staatliche Adelserziehung
Bei den Inka erhebt sich über den unterworfenen Völkern der Staatsapparat. Er zerstört die alten Sippenordnungen jedoch nicht, sondern greift »von oben nach unten« regulierend in sie ein. Die Kompetenzen, deren die Stammesgemeinschaften bei Unterordnung unter den Zentralstaat beraubt werden, lassen sich sehr genau bestimmen: Es sind Kompetenzen zur Verteilung des Bodens und der Arbeit auf die Gesellschaftsmitglieder, zur Verteilung der Produkte, zur Schlichtung von Streitfällen, zur Entscheidung über Krieg und Frieden, zur Durchführung bestimmter kultischer Handlungen. Natürlich ist dieser Kompetenzentzug nicht absolut. Aber er begründet ein Konfliktfeld, in dem die Interessen des Staates und der Stammesgemeinschaften gegeneinan-derstehen.
Der Staat beläßt den Stammesgemeinschaften ihre Religionen, aber
er »entrückt« ihre Götter, dieses protoideologische Material, in die Hauptstadt und transformiert sie in einen Teil der Staatsreligion. Auch die einheimischen Häuptlinge bleiben an der Macht. Die »Entrückung« und Umstrukturierung von deren protoideologischer Stellung setzt nun genau an der Erziehung an: Die Häuptlinge müssen ihre Söhne zum »Studium« in die Hauptstadtschicken. (Katz 1975, 503f.) Sie werden hier zusammen mit den Nachkommen der Inka-Aristokratie erzogen. Aus der proloideologischen Geheimerziehung, die in die »horizontale« Vergesellschaftung des Stammes eingebunden wird, wird so eine Erziehung durch die erste ideologische Macht, den Staat, unter Kontrolle besonderer Erzieher aus der Priesterschaft. Die staatliche Erziehung trägt hier dazu bei, die unterworfenen und einander feindlichen Häuptlinge in eine eng miteinander verbundene herrschende Klasse umzuschmelzen.

Staatsschulen
Unsere Kenntnisse über die Entstehung des Schulwesens in den frühen Hochkulturen sind nicht besonders reichhaltig. Immerhin gibt es für Ägypten eine umfassende Darstellung des Schulwesens (Brunner 1957). Danach muß man annehmen, daß es im Alten Reich überhaupt keine Schulen gab, sondern daß die Schreiber durch »helfenden Mitvollzug« bei höheren Beamten ausgebildet wurden. Erst zum Beginn des Mittleren Reiches scheint es zu einer Zusammenfassung von Kindern zu Klassen und Schulen gekommen zu sein. Nach den sozialen Umwälzungen und Aufständen, in denen das Alte Reich untergegangen war, wurde ein neuer Zentralstaat errichtet, der »auf straffe Verwaltung mit einem technisch wie ethisch durchgeformten Beamtenapparat besonderen Wert legte« (Brunner 1957, 14). Die Schule scheint demnach in Ägypten von vornherein ein Staatsprodukt zu sein, der Schüler von vornherein ein Staatsbeamtei, der in die Regulation des gesellschaftlichen Lebens »von oben nach unten« hineingebildet wird. Lehrstoff sind zuerst »Einleitungsformeln für Briefe, Gruß und Wendungen, mit denen ein Untergebener Mitteilungen für seinen Herrn einzukleiden hat.« (ebd., 83f.) Wichtig sind außerdem Lehren über die Regeln, wie man sich als Beamter gut zu benehmen hat. Erziehungsziel ist der »rechte Schweiger«, Schweigen heißt, »sich in die Welt, wie sie von Gott geschaffen ist, einfügen, dazu schweigen, d.h. nicht aufbegehren« (ebd., 4). Die Kompetenz zu lesen, schreiben, rechnen wird also von vornherein vermittelt als »ideologische Kompetenz«: als Fähigkeit, sich in den Staatsapparat »freiwillig« einzufügen.

»Kopf- und Handarbeit«
A. und B. Rang stellen die Trennung von Kopf- und Handarbeit in den frühen Hochkulturen so dar, daß sie zunächst funktional und produktiv gewesen sei, und dann Herrschaft, Ausbeutung und Ideologie begünstigt habe. Für die »historische Beurteilung« sei es das Entscheidende, »daß es sich zunächst nicht um ideologische Praxis, sondern um gesellschaftliche (Über-)Lebensnotwendigkeiten gehandelt hat« (ABR). Notwendig - ideologisch: Das scheint mir ein falscher Gegensatz zu sein. Die Entstehung der »ersten ideologischen Macht«, des Staates, ist eine Überlebensnotwendigkeit. Hier klingt eine Bedeutung von »ideologisch« mit, die kaum mehr bedeutet als »überflüssig falsches Bewußtsein«. Auch der Gegensatz zwischen ideologisch und produktiv ist unfruchtbar. Man unterschätzt damit den Staat als eigene materielle Praxis, in die hinein sich Kompetenzen der Naturbeherrschung entwickeln. Die ersten Großbauten, die die Priester in den frühen Hochkulturen Amerikas errichteten, waren nicht die riesigen Bewässerungssysteme der Inka, sondern Tempel und Pyramiden. Sie setzen eine hohe Produktivität in der Landwirtschaft voraus und damit eine Arbeitsteilung mit relativ selbständigen Planungsfunktionen. Aber der Staat ist hier selbst eine Produktivkraft und zwar nicht neben seinen herrschaftmäßigen und ideologischen Aspekten, sondern in ihnen, als Tempel-Bauherr. Wenn man die Entwicklung der Kopfarbeit in den frühen Hochkulturen Amerikas vergleicht, findet man den höchsten Entwicklungsstand von Kalender, Mathematik und Schrift bei den Maya, derjenigen Kultur mit dem niedrigsten Entwicklungsstand der Landwirtschaft, während es die Inka mit ihren riesigen Bewässerungsanlagen nicht einmal zur Entwicklung einer Schrift brachten. »Es scheint ein charakteristisches Merkmal gewisser Wissenszweige im vorkolumbiischen Amerika gewesen zu sein, daß sie im umgekehrten Verhältnis zur Entfaltung einer Reihe von Aspekten der materiellen Kultur stand. Je fortgeschrittener die Nahrungsmittelproduktion, je intensiver die Landwirtschaft war, desto praxisbezogener wurde die Wissenschaft, desto geringer ihr theoretischer Inhalt.« (Katz 1975, 191) Für die Landwirtschaft reicht ein relativ einfacher Kalender, wie ihn viele Völker Mesoamerikas entwickelten. Er ermöglicht es, innerhalb eines 52-Jahre-Zyklus jeden Tag genau zu fixieren, nicht aber anzugeben, ob ein bestimmter Tag 52 Jahre oder 520 Jahre zurückliegt. Das ist gleichgültig, wenn man damit Bewässerung betreiben will, nicht aber, wenn man Geschichte schreibt. Die Maya lösten das Problem der Datierung der einzelnen Zyklen. Ihr Kalender war zur Zeit der Ankunft der Europäer genauer als der Julianische Kalender, der damals in Europa verwendet wurde. Diese Berechnungen verfolgten in erster Linie religiöse Zwecke. (Vgl. Katz 1975, 119ff.) Wenn man diese Vorgänge begreifen will, zeigt sich die Schwäche der Kategorien Kopf- und Handarbeit. Dieser Begriffsgegensatz suggeriert nicht nur fälschlicherweise, daß die »Handarbeiter« ohne Kopf arbeiten, sondern stellt die Kopfarbeiter auch allzu umstandslos in Bezug zur »Handarbeit«, als dessen Gegenstück. Weiter führt die Kategorie der Intellektuellen, so wie Gramsci sie versteht (vgl. PIT 1979, 68ff. und 199ff.) »Intellektueller« ist für ihn keine besondere Tätigkeit - so wie Kopfarbeiten das Mit-dem-Kopf-Arbeiten beschreibt - sondern eine gesellschaftliche Funktion.Intellektuelle haben die Aufgabe, einer Klasse »Homogenität und Bewußtheit der eigenen Funktion nicht allein auf ökonomischem, sondern auch auf gesellschaftlichem und politischem Gebiet (zu) verleihen« (Gramsci 1967, 405f.). Sofern sie in den ideologischen Mächten die Vergesellschaftung »von oben nach unten« organisieren, handeln sie als Ideologen. Als Ideologen sind sie nicht abgegrenzt von Produktion und Wissenschaft, das Ideologische bezeichnet vielmehr eine funktionelle Dimension ihrer Tätigkeit - die Vergesellschaftung »von oben nach unten« -, die praktisch Teilnahme an materieller Produktion sein kann oder an der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Unter »Kopfarbeit« versteht man im allgemeinen schriftliche Produktionen. Wenn man die Entwicklung der Schule mit der Trennung von Kopf- und Handarbeit erklärt, gerät man in die größten Schwierigkeiten überall dort, wo das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen nicht im Vordergrund steht. In Griechenland entstehen Schulen mit der polis. Von einer »Schreibererziehung« ist man jedoch zunächst weit entfernt. Zunächst gibt es Schulunterricht in Sport und Musik, am spätesten entsteht die Schreibschule (vgl. Marrou 1957). Erst allmählich gibt es eine Verschiebung zur Dominanz des Literarischen. Mag man das Singen zur Not noch als Kopfarbeit bezeichnen, fällt das beim Instrumentalspiel und Tanz, die gleichfalls in der Musikschule gelernt wurden, schon schwerer. Vollends unsinnig wird es beim Sportunterricht. Wir müssen also die schriftorientierte Tätigkeit, die wir uns bei »Kopfarbeit« gewöhnlich vorstellen, als eine besondere Form schulischer Erziehung begreifen und kommen so zu einem interessanten Problem, das ich hier nur stellen, nicht beantworten kann: Unter welchen Bedingungen gewinnt das Schriftliche Dominanz in der schulischen Erziehung?
Die Dominanz des Sports und des Musischen kann man nicht unmittelbar aus der Produktion ableiten. Hier geht es vielmehr um die »Qualifizierung zum Bürger«, der sich in den großen religiösen Festen - z.B. bei den Olympischen Spielen oder bei den Dionysos-Feiern - als Po-Iisbürger »performiert«, in Bedeutungshandlungen, in denen sich die Einheit der Polis oder ganz Hellas in den großen sportlichen und musischen Wettbewerben herstellt (wobei im Hintergrund der sportlichen Übungen die militärische Erziehung steht, von der sie dennoch relativ abgelöst ist). Ohne die Entstehung der ideologischen Form des Musischen (Theater als Einheit von Literatur, Musik und Tanz) durch Einbindung ursprünglich »horizontaler« Kulte (Dionysos-Kult) in eine staatliche Vergesellschaftung »von oben nach unten« ist die Entstehung des musischen Unterrichts nicht begreifbar.

Latein- und Religionsunterricht
Genuin bürgerlich seien die Stadtschulen. »Diese Stadtschulen hatten zwar zunächst noch oft den Charakter von Lateinschulen ». Aber die auf Handel und Gewerbe gerichteten bürgerlichen Bedürfnisse setzten sich zunehmend durch. Wo Stadt- bzw. Ratsschulen in der Tradition befangen blieben, konnte man sehr bald auf modernere Stadtschulen oder auch auf Privatschulen ausweichen. Sie hießen vielerorts teutsche Schulen »., und vermittelten Lesen und Schreiben in deutscher Sprache, oft auch elementare Rechenkenntnisse, gelegentlich sogar Fremdsprachen« (ABR). Ein wesentliches Merkmal der frühen bürgerlichen Schulen war demnach, daß der Unterricht zunehmend in Deutsch stattfindet, weil dies im Interesse der städtischen Handwerker und Kaufleute liegt. Wenn noch Latein unterrichtet wird, so ist das ein Befangensein in der Tradition. Schreitet man jedoch weiter bis ins 15. Jahrhundert, findet man einen ungeheuren Aufschwung des Lateinischen - und zwar vorangetrieben von den bürgerlichen Humanisten, zugleich mit einem Schub in der Entwicklung des Deutschen. Es ist bekannt, daß diese Begeisterung an den alten Sprachen zugleich mit einem Bruch mit dem bisherigen Latein einhergeht. In den Augen der humanistischen Gelehrten ist die Verkehrssprache des internationalen Klerus ein vulgäres Küchenlatein. Sie wenden enorme Anstrengungen vor allem auf eins: schön zu sprechen. Aus dem lebendigen »schlechten« Latein des Mittelalters wird Latein jetzt zu einer toten »schönen« Sprache. Das neue, feine Latein (und Griechisch) ist schwerer zu lernen als das alte; damit ist ein Privilegisierungsschub verbunden. Diese im Gegensatz zum Mittelalter rhetorische Wendung des Lateinischen ist kein Traditionsrest, sie ist ganz und gar nicht unbürgerlich. Hier wird ein neues Jenseits geschaffen, nicht mehr religiöser, sondern ästhetischer Natur, das für die Vergesellschaftung der Bürger eine zentrale Rolle spielt.
A. und B. Rang schreiben: »Schule nimmt Kompetenzen nicht fort, sondern fügt Kompetenzen hinzu und erweitert damit den vorhandenen Kompetenzrahmen - und zwar auch im Hinblick auf die Fähigkeil der Selbstvergesellschaftung.« Als Beispiel geben sie die preußische Küsterschule im 17. oder 18. Jahrhundert: Sie nimmt dem Bauernkind nichts von seinen Fähigkeiten, sondern fügt etwas, wenn auch weniges hinzu: Katechismus, Bibel- und Gesangbuchverse, vielleicht auch schon einige elementare Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten. Die Cchule fügt Kompetenzen hinzu: Doch was ist das für eine Kompetenz, den Katechismus, Bibel- und Gesangbuchverse zu kennen? Es ist die Fähigkeit zur Teilhabe an religiösen Praxen, durch das Beherrschen (Auswendiglernen) von Kernstücken des Dogmas (Katechismus) und des heiligen Textes (Bibelverse) und durch das Beherrschen von Gesängen im Rahmen des Kultes. Die Schüler erwerben durch das Beherrschen von Katechismus, Bibel- und Gesangbuchversen eine eigentumliche Handlungsfähigkeit im Apparat der ideologischen Macht Religion. Wir nennen sie »sekundäre ideologische Kompetenz«, in Abgrenzung von der »primären ideologischen Kompetenz«, die beim ideologischen Apparat bleibt, und die der Klerus wahrnimmt. Diese »sekundären ideologischen Kompetenzen« sind entscheidend für die aktive, freiwillige Unterstellung der Individuen unter die religiöse Macht. Die Vermittlung dieser »sekundären ideologischen Kompetenz« in der Schule ist nichts Vorbürgerliches. Der Feudalismus kennt keinen Religionsunterricht. Das Musterbeispiel aller Katechismen ist der Luthersche Kleine Katechismus. Die Kompetenzen, die die preußische Küsterschule zusätzlich vermittelt, bilden die Kinder also in eine umfassende Inkompetenz hinein. Diese Inkompetenz ist nicht absolut, wir sprechen deshalb von Formen der Kompetenz/Inkompetenz, wodurch die ideologischen Mächte bestimmt sind. Für die Untersuchung des Zusammenhangs von Schule und Ideologie ist die zentrale Frage, wie es in der Schule bewerkstelligt wird, daß die Vermittlung von Kompetenzen in eine umfassende Unzuständigkeit eingebunden bleiben.
Adalbert und Brita Rang bieten zur Erklärung der wirklichen Komplexität der Entwicklung die Kategorien »widersprüchlich« und »Rückschläge« an. Die Errichtung eines antiken Himmels über der bürgerlichen Erde ist kein Rückschlag und steht zur Bürgerlichkeit nicht im Widerspruch. So etwas wird notwendig, sobald die Bürger mehr sind als die Agenten feudalistischer Warenproduktion, sobald sie sich als Klasse zu formieren beginnen und damit zugleich im Raum politischer und ideologischer Kämpfe. Die Schule spielt - in einigen wichtigen ihrer Formen - hierbei eine entscheidende Rolle.
Die höheren Regionen der antiken Literatur und der christlichen Religion sind durchaus bürgerlich. Ja, man muß sich vielleicht fragen, in welchem Sinn denn eigentlich der Handwerker des 12. Jahrhundert, der seine Söhne in die Stadtschule schickt, ein Bürger ist. Er ist eingespannt in die Zwänge der Zunft, die erst im 19. Jahrhundert durch eine große bürgerliche Reform allgemein beseitigt werden. Kein Handwerksmann soll etwas Neues erdenken oder erfinden oder gebrauchen, heißt die alte Zunftregel Ist das bürgerlich^ Mit dem späteren Bürger ist dem Zunftbürger gemeinsam, daß er Privatbesitzer ist. Aber gibt es Sinn, von jedem Privatbesitzer als von einem Bürger zu reden? Ist der private Schuhmacher in der DDR ein Bürger9 Vielleicht sollte man vom Bürger im entwickelten Sinne überhaupt erst dann reden, wenn er es gelernt hat, nicht nur ökonomisch aktiv zu sein, sondern sich bis auf die Ebene des Politischen, Religiösen, Literarischen usw. hinaufgearbeitet hat, wenn er gelernt hat, seine Interessen in diese Formen hineinzuartikulieren und diese Formen umzuartikulieren: d.h. wenn er gelernt hat, in den ideologischen Mächten und Formen wirksam zu sein. Das hieße dann aber, daß Religion, antike Literatur keine Nebensachen für ihn sind, nichts Auch-noch-Hinzukommendes, sondern elementare Bedingungen, um als umfassende gesellschaftliche Kraft wirken zu können. Die Schule spielt hierbei eine wichtige Rolle. Man muß das, was »bürgerlich« ist, komplexer verstehen, als es bei Adalbert und Brita Rang erscheint. Es ist ein gegliederter Zusammenhang von Instanzen, der vom Standpunkt einer Klasse organisiert wird und dabei fortwährend umgegliedert wird. Als stabile Größe hält sich nur eins durch: die Verteidigung des Privateigentums.

Industriosität
In den Schulordnungen und Lehrplänen im 18. Jahrhundert »wurden kognitive (auf den Erwerb von Kenntnissen gerichtete) und soziale (auf Einstellungen und Verhalten bezogene) Lernziele nicht voneinander getrennt, sondern als vermittelt und verschränkt angesehen.« (ABR) Was sind das für Einstellungen und Verhaltensweisen? Der Schlüsselbegriff ist Industrie. Damit wird Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht die maschinelle Produktion bezeichnet, es ist vielmehr eine sozialpsychologische Kategorie und bedeutet soviel wie »erfinderischer Fleiß« (vgl. hierzu ausführlich Leschinsky/Roeder 1976, 283ff.). »Industrieschulen« sind solche Schulen, in denen die Vermittlung dieses »erfinderischen Fleißes« im Zentrum steht. Das Leitbild des Schulunterrichts ist der »in-dustriöse« Mensch. Dazu kommt es vor dem Hintergrund einer umfassenden Krise der Landwirtschaft. (Das folgende nach: Leschinsky/Roeder 1976, 214ff.) Noch beruhte die gesellschaftliche Produktion im wesentlichen auf dem agrarischen Sektor und jede Agrarkrise war eine Krise der gesamten Wirtschaft, Gegen Ende des 18. Jahrhunderts scheint die landwirtschaftliche Produktion auf dem gegebenen Produktivkraftniveau und in den feudalen Produktionsverhältnissen an ihre absoluten Schranken gestoßen zu sein. Es kommt zu einer umfassenden Subsistenzkrise. Überall beginnt man, sich mit landwirtschaftlichen Detailfragen auseinanderzusetzen, an den Höfen, in den Akademien, im Klerus. Kartoffelanbau erscheint als die Lösung, Klee wird zürn Inbegriff des Fortschritts, die Sommerstallfütterung wird propagiert. Hemmnis für die Weiterentwicklung sind nicht nur die feudale Ausbeutung, sondern auch die Zwänge der Dorfgemeinschaft. Für intensivere Anbaumethoden ist eine Flurbereinigung Voraussetzung; die Bestellung der Brache ist solange nicht möglich, als hier, wie auf der Allmende, das Vieh weidet. Ein Hemmnis für die Neuerungen ist aber auch der Bauer selbst. Er hat Vorbehalte gegen das Neue. Er erstickt in Abgaben und hat Angst, auch diesmal das Opfer zu sein. In diesem Zusammenhang muß man die neuen Bemühungen um das Elementarschulwesen sehen, »So groß waren die Anforderungen der krisenhaft zugespitzten Situation an die Menschen, daß einige Zeitgenossen meinten, nur ein neues Menschengeschlecht könne ihnen gewachsen sein.« (Le-schinsky/Roeder 1976, 264) Die Agrarreform wird (noch) verhindert, die gan<e Entwicklung wird gewissermaßen durch das Nadelöhr der individuellen bäuerlichen Qualifikation gepießt. Nicht die Verhältnisse, nur die Menschen sollen geändert werden, sie sollen »industnös« werden - und das ist die Aufgabi: der Elementarschulen. »Je weniger man den Kern der bestehenden sozialen Ordnung anzutasten wagte, umso höher mußten sich die Ansprüche an die - nur pädagogisch zu beeinflussenden - Eigenschaften der vielen schrauben, die unter diesen Verhältnissen zu überleben hatten. Insofern dabei im Grunde moderne Einstellungsmuster und kognitive Anforderungen formuliert wurden, ergab sich ein doppeltes Paradox: Um ihrer pragmatischen Absicht willen haftete den pädagogischen Projekten etwas Irreales an, und im Interesse einer modifizierenden Bewahrung des Alten postulierten sie Verhaltensweisen und Dispositionen, die bereits auf die Industriegesellschaft vorwiesen.« (Leschinsky/Roeder 1976, 282f.) Der Schub an schulisch vermitteltem Kompetenzzuwachs bekommt seine Kraft also nicht zuletzt daher, daß diese Kompetenz in die weiter befestigte Inkompetenz hineingepreßt wird. Die Produktivkraft-Kompetenz muß in dem Maße steigen, in dem sie eine Inkompetenz für die Produktionsverhältnisse ist. Gefordert ist vom feudalen Bauern zugleich das Verhalten des kapitalistischen Privatmanns. Im Leitbild der »Industriosi-tät« wird der Bauer als autonomes Subjekt angerufen, die gesellschaftliche Krise aus individueller Kraft zu lösen. Mit Althusser können wir von einer »ideologischen Anrufung« sprechen. Ideologisch ist diese Anrufung insofern, als die individuelle Kompetenz im Umgang mit der Natur die kollektive Kompetenz für die Produktionsverhältnisse besetzt, und so die Herrschaftsverhältnisse befestigt werden. Es findet eine Verschiebung statt von der Hauptfrage nach den Produktionsverhältnissen auf die individuelle Kompetenz der Naturbeherrschung und damit eine Uberdeterminierung schulischer Kompetenzvermittlung: Sie ist nicht nur ein Mehr an Wissen, sondern zugleich das Ausklammern und Verhindern einer umfassenden Lösung. Das Mehr an Kompetenz bedeutet also Gegensätzliches: Es ist die Form, in die das Herrschaftssystem die beherrschten Kräfte hineinzwingt, »eine Verdichtung antagonistischer Kräfte ». im Rahmen der Herrschaftsstruktur« (PIT 1979, 190). (Zur Verschiebung, Verdichtung und Überdeterminierung vgl. PIT 1979, 189ff.)

Leseunterricht
Was ist im Leseunterricht das Ob]ekt der Tätigkeit und was ist die Tätigkeit? Für die Entwicklung eines deutschen Leseunterrichts an Volksschulen ist von Rochows »Kinderfreund« aus dem Jahre 1776 das klassische Werk (vgl. den Reprint 1979). Es ist eine Sammlung von moralischen Beispielerzählungen. An die Stelle kirchlicher Texte treten Geschichten aus dem Alltag des Volkes: Landarbeit, städtische Lohnarbeit, Krankheit, dörfliche Konflikte, Aushebung von Rekruten, Gerichtsverhandlungen usw. Die moralische Erzählung macht diesen Alltag zum Beweis der Richtigkeit einer moralischen Maxime, der berühmten »Moral von der Geschieht«. Die Tugend siegt über das Laster: das ist der Rahmen, in den der Dorfalltag gestellt wird. Ein tugendhaftes Leben ist gekennzeichnet durch Fleiß, Vernunft, Gehorsam gegen Eltern, Vorgesetzte und Obrigkeit, Wohltätigkeit, Gottvertrauen, Zufriedenheit mit dem Platz, an den Gott einen gestellt hat. Der Alltag wird präsentiert als der Ort, in dem die Tugend sich zu bewähren hat. Die Tätigkeit von Schülern und Lehrern besteht, neben dem Lesen dieser Geschichten, im Katechisieren (das folgende nach Petrat 1979, 21 Off.), das ist eine in der religiösen Unterweisung entwickelte Frageform; ursprünglich ein ritualisiertes Fragen und Antworten, das nach der Reformation auf die Schule übertragen wird. Zunächst geht es um die wortwörtliche Reproduktion auswendig gelernter Inhalte (Vaterunser, Einmaleins); vom Pietismus wird die Form weiterentwickelt und gegen das Auswendiglernen gerichtet: Angeleitet durch das, was heute »zergliedernde Lehrerfrage« genannt wird, soll das Ergebnis gerade aus dem Inneren der Befragten kommen. Der Fragende weiß die richtige Antwort und steuert die Antworten so lange, bis das Richtige genannt wird. Im religiösen Bereich haben wir hier einen Schub an ideologischer Subjekfion: Jeder einzelne hat in seinem Inneren die Fähigkeit zu erkennen, was gut und böse ist. Diese Art des Katechisierens wird auf die Schule übertragen. Die Wahrheit wird aus dem Inneren des Individuums vom Lehrer durch geschicktes Fragen herausgeholt. Die Methode wird auch »Sokratisie-ren« genannt. Auf die moralischen Beispielerzählungen angewandt, verknüpft das Katechisieren den erzählten moralischen Alltag mit dem gelebten Alltag der Kinder. Auch er wirkt zum Beweis der Richtigkeit der Tugendlehren: Die Kinder finden die Lehren, die sie zunächst im Buch gelesen haben, durch das »Sokratisieren« als längst in ihrem eigenen Inneren vorhandene Regulative. Das Individuum wird, lesen lernend, zugleich als autonomes moralisches Subjekt konstituiert.

Sprachunterricht
»Bevor überhaupt daran gedacht werden konnte, neue Kenntnisse und Einsichten zu vermitteln, mußte zunächst einmal jene eigentümliche Sprachlosigkeit aufgehoben werden, in der sich große Teile der Bevölkerung befanden.« (ABR) Adalbert und Brita Rang schreiben Sprachlosigkeit in Anführungszeichen. Denn natürlich ist das Volk nicht sprachlos. Es spricht Mundart, und diese Mundart verleiht auch ihm eine kommunikative Kompetenz. Es kann sich in dieser Sprache darüber verständigen, wie die Felder zu bestellen sind und wann geerntet werden soll, es drückt in dieser Sprache den Protest gegen Unterdrückung aus, es kann in ihr solidarische Beziehungen herstellen. Aber diese Kompetenz ist zu einer Inkompetenz geworden: Diese Sprache reicht nicht mehr für die neuen Anforderungen, die von der Entwicklung der Produktivkräfte und der Zirkulation ausgehen, von der staatlichen Administration usw. Wie sah nun der Unterricht in der nationalen Hochsprache aus? »Das Interesse an Sprache«, schreiben Adalbert und Brita Rang, »führte in den Elementarschulen zu Formen der sprachlichen Bildung, die zunächst einmal beim schlichten Wahrnehmen und Benennen konkreter Gegenstände (Dinge, Pflanzen, Tiere) einsetzten.,« (ABR) Es ist dieses »schlicht«, das ich bezweifle. Es suggeriert, daß es sich um einen banalen, selbstverständlichen Vorgang handelt, und daß man ein abwegiges Interesse an Nebensachen haben muß, um hier einen Zusammenhang von Schule und Ideologie zu sehen. Wie sah dieses »schlichte Wahrnehmen und Benennen konkreter Gegenstände« aus? Ich zitiere den Bericht eines ehemaligen Schülers über Pestalozzis berühmten Anschauungsunterricht:
»Das Beste waren die Sprachübungen, die er an den Tapeten des Schulzimmers mit uns vornahm und die wahre Anschauungsübungen waren Diese Tapeten waren sehr alt und zerrisssen und vor dieselben mußten wir uns oft 2 - 3 Stunden nacheinander hinstellen und von den darauf gemalten Figuren und eingerissenen Löchern sagen, was wir hinsichtlich ihrer Form, Zahl, Lage und Farbe sahen und das Gesehene in immer größere Satze zusammen fassen Dann (ragte er: Buben, was seht ihr?
Antwort: Ein Loch in der Wand.
Pestalozzi: Gut, sprecht mir nach! Ich sehe ein Loch in der Tapete Ich sehe ein langes Loch in der Tapete Hinter dem Loch sehe ich die Mauer. Hinter dem langen schmalen Loche sehe ich die Mauer.
Pestalozzi fährt fort: Sprecht mir nach: Ich sehe Figuren in der Tapete. Ich sehe schwarze Figuren an der Tapete. Neben der viereckigen gelben Figur sehe ich eine schwarze. Die viereckige Figur ist durch einen dicken schwarzen Strich mit der runden verbunden u s w« (Ramsauer, zit. nach Petrat 1979, 302).
Ziel dieser Sprachübungen ist die Schulung einer elementaren Denkfähigkeit. Pestalozzi schlug auch vor, daß der Lehrer im Unterricht die Satzform vorgibt - der X ist ein Y - und die Kinder auffordert, den Satz zu vervollständigen. Durch solche Sprachübungen sollten »die logischen Beziehungen der Wörter, die notwendigen und in allen Sprachen wiederkehrenden Gesetze des Redens und Denkens« »habituell« werden (Pestalozzi, zit. n. Frank 1973, 161). Dahinter steht die damals vorherrschende philosophische Konzeption über das Verhältnis von Logik und Sprache. Demzufolge steckt in jeder Sprache eine Logik, die von der Grammatik expliziert wird. Die Grundformen der Grammatik sind daher Grundformen der Logik: der Satz ist ein logisches Urteil mit Subjekt und Prädikat usw. Diese Auffassung von Sprache wird über K.F. Beckers »Organism der Sprache« (1827) und deren Popularisierung in R.J. Wursts »Sprachdenklehre« (1836) zu einer der wirksamsten Grammatikkonzeptionen im 19. Jahrhundert (vgl. Frank 1973, 153-179; Vesper 1980); aus diesem Zusammenhang stammt auch die im 20. Jahrhundert dann für den Lateinunterricht angeführte Begründung, daß er es erlaube, das »logische Denken« zu lernen. Dabei sind die Unterschiede etwa von Humboldts »organistischem« und historischem Sprachbegriff zur strikt formal-logischen Richtung oder zu Pestalozzis Sprachphilosophie weniger interessant, als vielmehr die in den Sprachübungen selbst gewissermaßen in praktischem Zustand enthaltene Konzeption über das Verhältnis von Sprache und Logik. Das Objekt der Tätigkeit ist hier der grammatische Beispielsatz, die Tätigkeit besteht im Zergliedern und Neukonstruieren. Das Zergliedern führt auf logische Elemente zurück, die dann beim Zusammensetzen in logische Verhältnisse gebracht werden. Dieses Konzept von Sprache und Logik ist metaphysisch: Logik ist darin eine hinter der Sprache liegende jenseitige Welt des Geistes, die in der wirklichen gesprochenen Sprache in Erscheinung tritt. Jede Sprachübung wird zur Bestätigung einer hinter der Sprache stehenden metaphysischen Logik. (Diese logische Struktur wird von Becker übrigens auf eine Grundstruktur zurückgeführt: den Gegensatz von Materie und Geist, wobei er den Geist als Tätigkeit faßt. Aus diesem Dualismus von Materie und tätigem Geist wird dann zunächst die Opposition Lautseite und logisch-begriffliche Seite (Bedeutungen) abgeleitet, die logisch-begriffliche Seite wird in Verben (Tätigkeit) und Substantive (Sein) aufgeteilt, die Substantiva in Konkreta und Abstrakta usw., vgl. Vesper 1980, 107ff.) Der Sprachunterricht ist auf diese Weise die Einübung des sprachlichen Idealismus. Die jeweilige Sprache wird zum mehr oder weniger vollkommenen Ausdruck einer allgemeinen Logik.
Der logisch orientierte Sprachunterricht (den ich wegen seiner massenhaften Verbreitung vor allem an Volksschulen herausgegriffen habe) bildet die Mundart sprechenden Kinder in die nationale Hochsprache hinein. Für sie ist es ganz praktisch die Sprache, mit der sie eine kommunikative Kompetenz gegenüber der staatlichen Verwaltung, den Gerichten, der Kirche erwerben. »Richtig sprechen« als Vollstrecken der in der Sprache sich ausdrückenden logischen Gesetze verbindet sich hier mit der Staatsförmigkeit dieser Sprache. Das 17. und 18. Jahrhundert - auf das A. und B. Rang sich in ihrern Beispiel beziehen - sind der Zeitraum, in dem sich eine deutsche Hochsprache entwickelt. Diese Hochsprache schreiben oder vielleicht sogar sprechen zu können, ist eine besondere kommunikative Kompetenz. »Zugleich mit dem Eindringen von Bürgern in den Verwaltungs- und Machtapparat des bürgerlichen Staates ». hat sich die Bougeoisie ». sprachmächtig gemacht« beschreiben A. und B. Rang diesen Prozeß. Die kommunikative Kompetenz bezieht sich auf bestimmte gesellschaftliche Instanzen, hier den staatlichen Verwaltungsapparat. Das Ideal ist der galante Stil, der sich locker, elegant, wie natürlich, abgrenzt gegen die »Geschraubtheit« der barocken Sprache. Eine andere kommunkative Kompetenz entwickelt sich auf religiösem Gebiet. Im Pietismus wird eine gefühlsbetonte Sprache ausgeprägt, die es erlaubt, seelische Vorgänge als religiöse zu artikulieren. Und schließlich trägt die Entwicklung einer nationalen bürgerlichen Literatur zur Entwicklung einer deutschen Hochsprache bei. Diese Hochsprache grenzt sich in zwei Richtungen ab: als Nationalsprache nach außen, vor allem gegen das höfische Französisch, und nach unten, gegen die Mundarten: »Hochdeutsch« wird im 17. Jahrhundert aus einer Landschaftsbezeichnung (Oberdeutsch) zu einem Qualitätsbegriff: über den Mundarten stehend (vgl. Eggers 1977, 18). Genetisch verweist uns die Nationalsprache also auf die ideologischen Mächte Staat und Religion sowie auf die Literatur als »ideologische Form«, nämlich in deren Bedeutung für die Herausbildung von nationaler Sprache und Identität (vgl. PIT 1979, 195f.). Die hochsprachliche Kompetenz ist also zunächst die Kompetenz, sich in diesen ideologischen Mächten und ideologischen Formen bewegen zu können.
Die verschiedenen Sprachnormen (ästhetisch, politisch, religiös usw.) überlagern sich und organisieren zusammen eine mehr oder weniger homogene nationale Hochsprache. In diese Nationalsprache geht viel Material »von unten« ein. Kristallisationskern ist zunächst die städtische Sprache. Aber dieses Material wird von den ideologischen Mächten wie Staat und Recht emporgehoben, assimiliert und wirkt dann umgekehrt von oben nach unten zurück. Dasselbe geschieht mit der Volkssprache: Gegen die Verselbständigung der politisch und ästhetisch normierten Hochsprache richten sich immer wieder Versuche, die vom Volk wirklich gesprochene Sprache in die Nationalsprache einzubringen (etwa in der Opposition von Bodmer und Breitinger gegen Gottsched, im Sturm und Drang, in der Romantik). Durch Klassenherrschaft und darüber aufgerichtete Staatsmacht mit ausdifferenzierten ideologischen Mächten wird auch dieses »horizontale« Material aufgeriffen und von oben nach unten zurückgeschickt. Die Verbindung von Volkssprache und nationaler Hochsprache ist mehr oder minder friedlich. Bis heute können wir beobachten, daß das Hinaufarbeiten einzelner aus ihrer Mundart in die Hochsprache mit der Entfremdung von den alten Sozialbeziehungen verbunden sein kann, bis heute finden wir auch in Europa massenhaften Widerstand gegen die administrative Durchsetzung der Hochsprache, bis hin zu regelrechten Sprachkriegen. Was wir für das Literarische geschrieben haben, gilt auch für die nationale Hochsprache: In die allgemeine Struktur ideologischer Vergesellschaftung von oben nach unten werden Ideologien des Schönen gebildet - des schönen und richtigen Sprechens -, dies wird mystifiziert als Entdeckung vermeintlich ewiger und höchster Werte. Als deren Anwendung wird dann das sprachliche Gebilde begriffen. (Vgl. PIT 1979, 196) Ideologisch ist die Sprache also soweit, als sie teilhat an der Vergesellschaftung von oben nach unten und als Niederlassung ewiger letzter Werte begriffen wird.
Auch der Erwerb kommunikativer Kompetenzen im Sprachunterricht ist nur als Verschmelzung »horizontaler« und »vertikaler« Beziehungen begreifbar. Er verbessert die Fähigkeiten zur Naturbeherrschung und zur Selbstvergesellschaftung, ist aber von vornherein zugleich eingebunden in die ideologische Subjektivierung: selbsttätige Unterstellung unter ein Amalgam aus metaphysischer Logik und höherer Staatssprache.