Phil und ich kamen allmählich ins mittlere Alter. Obwohl seine Arbeit höchste Ansprüche stellte, ging sie Phil leichter von der Hand; mit Ausnahme seiner zunehmenden körperlichen Anfälligkeit sah alles bestens aus. Zwar behauptete der Star auch weiterhin seine Spitzenstellung in der Washingtoner Zeitungsszene, aber die Post hatte an Stabilität gewonnen und eine klare Zukunft vor sich. Phils persönlicher und geschäftlicher Erfolg war über jeden Zweifel erhaben. Für mich definierte sich Erfolg in diesen Jahren anders: Ich liebte mein Leben und war glücklich im Kreis meiner Familie - auf der einen Seite meine Eltern, auf der anderen meine Kinder. Ich hatte einen Ehepartner, der Mittelpunkt dieses Kreises war und um den sich bei uns alles drehte. Wir besaßen zwei große, komfortable Häuser: das Domizil in der R Street und die Farm in Virginia. Kurz und gut, wir gehörten zu den Privilegierten. Aber wir waren uns dessen bewußt und versuchten, dieser Tatsache Rechnung zu tragen, indem wir, so gut es ging, unseren Beitrag zum Wohlergehen anderen leisteten. In jenen Jahren war unser Leben so geschäftig, daß Glen Welby zum Refugium wurde. Hier konnten wir uns fallen lassen und neue Kräfte sammeln. Hier verbrachten wir die meiste gemeinsame Zeit, und hier waren die Kinder am glücklichsten - vielleicht mit Ausnahme Dons, der sich nicht für das Landleben interessierte und oft bei Friendlys und seinem Freund Nicholas blieb; überdies litt er stark unter Allergien. Unsere Tage in Glen Welby waren mit Aktivitäten vollgestopft, aber längst nicht so hektisch wie die Tage in Washington. Das Leben verlief entspannt und außerordentlich leger. Die Farm wurde von einem Farmer aus dem Nachbarort Rectortown bewirtschaftet - mit Unterstützung von Buck Nalls, einem Landwirt, der auf unserem Anwesen wohnte. Als wir die Landwirtschaft später in eigener Regie übernahmen, blieb Buck mit zweien seiner Söhne auf dem Hof und wurde eine große Stütze für uns. Es war meine - recht arbeitsintensive - Aufgabe, Glen Welby für unsere Bedürfnisse einzurichten. Auf den Resten eines älteren Tennisplatzes bauten wir einen neuen Hartplatz. Am Fuße des Abhangs vor dem Haus legten wir einen kleinen See zum Schwimmen und Angeln an; mit einem Damm stauten wir den Bach und schufen durch ein Röhrensystem unter dem Damm einen Zulauf zu unserem Teich. Jedes Frühjahr ließ ich eine Lastwagenladung Sand anfahren, woraus am Damm ein kleiner Badestrand entstand. Wir bauten auch noch einen Steg mit Sprungbrett, und als der Teich fertig war, sorgte Phil mit Barschen und Brassen für den Fischbesatz. Dieser ungefähr 4 000 Ouadratmeter große See erhielt den Namen Lake Katharine - wie auch andere kleine Seen in der Nachbarschaft immer nach den Ehefrauen der Hausbesitzer benannt wurden. Einige Jahre später legte Phil etwas weiter bachabwärts noch einen wesentlich größeren See an: Lake Philip. In dessen Mitte lag eine kleine Insel, die wir nach Lally benannten. Weil dieser zweite See zum Bootfahren groß genug war, kaufte oder baute Phil eine buntgemischte kleine Flotte zusammen: ein Segelboot, ein Ruderboot, ein Kanu und eine seltsame kleine Nußschale aus Segeltuch. Das Bootshaus wurde Lake Philip Yacht Club getauft. Bei der Galaeröffnung verteilten wir kleine Streichholzschachteln, auf denen die Initialen LPYC prangten. Lally hatte zu diesem Anlaß sogar ein kleines Lied komponiert. Als die Kinder größer wurden, kam zur Flotte noch ein kleines Motorboot hinzu, das die Kinder beim Wasserskifahren auf dem See ziehen konnte. Unser Leben in Glen Welby spielte sich weitgehend an diesen beiden Seen ab. Dort schwammen wir, fuhren mit den Booten, erfreuten uns an den Enten und beobachteten die kanadischen Wildgänse, die im Herbst kamen und im Frühjahr wieder fortzogen. Wir wanderten, spielten stundenlang Tennis und Softball oder schlugen Golfbälle quer über die Felder. Phil und die Kinder, besonders Bill, angelten leidenschaftlich gern an beiden Seen; Phil blieb manchmal sogar die ganze Nacht draußen.
Auf der Farm besaß er ein ganzes Arsenal von Gewehren, und alle Kinder lernten schon früh das Schießen. Selbst ich mußte den Umgang mit einem Jagdgewehr erlernen, obwohl ich mir dabei immer blaue Flecken an der Schulter holte; ich kam mit dem Rückstoß einfach nicht zurecht. Phil machte Jagd auf Waldmurmeltiere und, wenn Saison war, auf Wachteln. Wir alle übten uns im Tontaubenschießen. Bill war ein eifriger Schütze und besaß schon in jungen Jahren sein eigenes Gewehr. Leider schoß er damit auch ich muß es gestehen - Tauben vom Scheunendach. Auf der Farm besaßen wir einen alten Militärjeep aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem alle Kinder das Autofahren lernten. Stundenlang fuhren sie damit durch die Felder. Unsere Mahlzeiten orientierten sich ganz an den Wünschen der Familie. Oft machten wir am Strand Picknick und benutzten dabei einen Grill, auf dem ich Steaks, Hähnchen und sogar Lammkeule sowie Maiskolben zuzubereiten lernte. Da wir in Glen Welby meistens auch noch Freunde zu Besuch hatten, waren außer den üblichen zehn Personen (Phil, den Kindern und mir sowie dem Kindermädchen und diversen College-Studentinnen, die mir im Haushalt und bei der Kinderbetreuung halfen) noch weitere Gäste zu verköstigen. An den meisten Tagen aßen wir mittags an einem langen Picknicktisch unter zwei Goldregenbäumen.
Das Essen und der Eistee wurden auf der Ladefläche unseres Lieferwagens zu den Bäumen gefahren, und ich verteilte das Essen dort auf Teller, die in der langen Reihe am Tisch weitergereicht wurden. Eines Sonntags (natürlich mit Gästen) rief mir Phil vom anderen Ende der Tafel zu, ich solle ihm seinen Teller doch einfach zuwerfen. Ich erfüllte ihm den Wunsch, und er konnte den Teller sogar auffangen. Kartoffelbrei und Soße blieben, wo sie hingehörten. Ein zweiter Versuch bei anderer Gelegenheit mißlang allerdings kläglich. Lally entwickelte von Anfang an eine Leidenschaft für das Reiten, und sie war wirklich eine sehr gute Reiterin. Ständig trat sie auf Turnieren in Erscheinung, oft als jüngste und als einzige ohne Hut und Mantel. Und als sie auch noch das Jagen vom Pferderücken aus lernte, mußte ich sie schon morgens um fünf Uhr zu den jeweiligen Treffpunkten chauffieren. Bei den Geländeritten sah ich sogar eine Zeitlang gerne zu, während ich Reitturnieren überhaupt nichts abgewinnen konnte. Mit Ausnahme Dons, der das Reiten haßte, waren auch die anderen Kinder im Sattel aktiv. Don war ein großartiger Leichtathlet, und er spielte auch sehr gern Tennis. Oberhaupt lagen ihm alle Ballspiele am Herzen, aber Reiten, Schwimmen und Skifahren interessierten ihn absolut nicht. Phils unerschöpfliche Energie sprang auf uns alle über. Beim Abendessen veranstaltete er mit den Kindern Wissensspiele: Er stellte Fragen zur Geschichte, erzählte ihnen vom Amerikanischen Bürgerkrieg und weckte in ihnen die Liebe zu ihrem Land. Mit Taschenlampen ausgerüstet, unternahmen er und die Kinder abendliche Froschfang-Exkursionen zum See leider oft gerade dann, wenn ich zum Essen gerufen hatte. Phil erzählte Geschichten und brachte uns zum Lachen.
Eines Abends veranstaltete er während des Abendessens, als ihm die Hausgäste zu steif vorkamen, einen Handstandwettbewerb. Alle mußten mitmachen, auch die College-Studentinnen. Weil sie nicht unschicklich erscheinen wollten, klemmten die i armen Mädchen dabei ihre Röcke zwischen die Knie. In diesem Lebensabschnitt stimmte in unserer Welt anscheinend alles. Meine Eltern waren immer noch aktiv und nahmen Anteil, obwohl mein Vater zunehmend auch Zeichen des Alters zeigte. In den fünfziger Jahren schrieb meine Mutter viel und gut und hielt zahlreiche ausgezeichnete Vorträge. An diversen Debatten im Wohlfahrts- und Bildungsbereich nahm sie engagiert teil, erhielt mehrere akademische Ehrungen und genoß die weitverbreitete positive Anerkennung, die ihrem Wirken zuteil wurde. Mein Vater zog sich indessen immer mehr vom Tagesgeschehen bei der Post und in der Washington Post Company zurück; sein Interesse daran blieb jedoch bestehen. Wenn er sich nicht am gleichen Ort aufhielt, schickte ihm Phil zahlreiche Briefe und Memos mit Berichten von Sitzungen, Ansprachen und allen Aktivitäten, die irgendwie mit der Post zu tun hatten. Daß Papa älter wurde, ließ sich nicht mehr übersehen, aber geistig war er nach wie vor rege. Phil und andere waren weiterhin sehr an seiner Meinung und seiner klaren Sichtweise der Dinge interessiert. Im Jahr nach der Übernahme der Times-Herald wurde er achtzig, und unverkennbar beschäftigte er sich mit Alter und Tod. Im April 1955 schickte er Russ Wiggins ein Memo, in dem er auf die Bedeutung zweier Todesfälle innerhalb kurzer Zeit hinwies. Es handelte sich um zwei legendäre Zeitungsveteranen: »Joe Pulitzer starb am Mittwoch, Bertie McCormick am Donnerstag; und ich bin gerade auf dem Weg zu meinem Arzt.« Schon eine ganze Weile hatte sich mein Vater mit dem Gedanken beschäftigt, den Mitarbeitern der Post testamentarisch Aktien zu vermachen. Doch Phil riet ihm, es sei doch viel schöner, wenn er der Belegschaft die Aktien noch zu seinen Lebzeiten schenke. Dann könne er die Dankbarkeit noch selbst erleben. Papa stimmte zu und sagte den Empfängern anläßlich der Schenkung:
Schon seit geraumer Zeit denken Mrs. Meyer und ich an die wunderbaren Leute in diesem Unternehmen. Wir erinnern uns noch lebhaft an die wertvollen Dienste all jener unter Ihnen, die jahrelang zum Erfolg dieses Unternehmens beigetragen haben. Wir haben uns bemüht, einen angemessenen Weg zu finden, um unsere Anerkennung zum Ausdruck zu bringen. Manche Menschen bedenken alte Weggefährten in ihren Testamenten, doch Mrs. Meyer und ich waren der Ansicht, daß dies doch eine recht melancholische Weise sei, sich zu bedanken.
Mein Vater hatte einen detaillierten Plan für die Schenkung von stimmrechtslosen Anteilscheinen im Wert von einer halben Million Dollar an 711 Mitarbeiter der Zeitung und unabhängiger Vertriebsstellen ausgearbeitet. Im Prinzip kam dadurch jeder, der ohne Unterbrechung fünf Jahre oder länger dem Unternehmen angehört hatte, in den Genuß dieser Schenkung. Die einzelnen Mitarbeiter erhielten zwischen vier und zwanzig Aktien, wobei der von Price Waterhouse ermittelte Marktwert einer Aktie bei 59,44 Dollar lag. Mein Vater schrieb allen Empfängern und erklärte die Zusammenhänge der Schenkung. Er fügte hinzu, er und meine Mutter hofften, die Beschenkten würden ihre Aktien wenigstens so lange behalten, wie sie bei der Post beschäftigt seien: »Wir glauben, daß diese Aktien eine gute Investition sind. Wenn alle im Gesamtunternehmen Post mit Begeisterung bei der Sache sind und mitmachen, wird sich der Wert dieser Papiere im Lauf der Jahre sogar noch steigern.« Viele sahen den Wert der Papiere schon von Anfang an und kauften von ihren weniger wertbewußten Kollegen, was sie bekommen konnten. Wer seine Aktien behielt und vielleicht noch fünf, zehn oder mehr Papiere hinzukaufte, wurde später reich belohnt, als das Unternehmen an die Börse ging. Die Schenkung wurde bei einem denkwürdigen Lunch im Juni 1955 im Statler Hotel aus Anlaß des zweiundzwanzigsten Jahrestages des Erwerbs der Zeitung durch meinen Vater bekanntgegeben. Für die Mitarbeiter sprach bei diesem Essen Eddie Folliard, der für das Weiße Haus zuständige Korrespondent der Post. Er eröffnete seine Ansprache mit den Worten »Liebe Mitaktionäre«. Als sich das Gelächter gelegt hatte, fuhr er fort: »Ja, man kann nie wissen. Morgens geht man als Gehaltsempfänger zur Arbeit und kommt abends als Kapitalist nach Haus.«
Trotz meiner Freude an dem Leben, das ich in jenen Jahren führte, kann ich heute erkennen, daß ich auch Probleme hatte, die ich mir damals jedoch nicht eingestand. Je älter ich wurde, desto schüchterner und befangener wurde ich auch. Ich wußte immer noch nicht, wie ich am vorteilhaftesten aussah oder mich in gesellschaftlichen Situationen einigermaßen gewandt verhalten sollte. Ich hatte Angst, andere zu langweilen, und glaubte weiterhin, die Leute seien am Umgang mit uns allein Phils wegen interessiert. Ich kann nur schwer vermitteln, wie unsicher ich mich damals fühlte oder warum das so war. Auch kann ich mir nicht erklären, warum es mir damals gar nicht bewußt wurde. Irgendwann in jenen Jahren war ich bei einem Lunch für Damen zu Gast, den Lady Bird Johnson für die Gattinnen von Kongreßabgeordneten und Senatoren gab und zu dem auch einige Frauen aus der Zeitungsbranche eingeladen waren - Helen Lippmann, Sally Reston und ich. Nach dem Essen bat Lady Bird jede Teilnehmerin, aufzustehen und den anderen zu berichten, was sie im zurückliegenden Sommer unternommen habe. Die meisten Frauen hatten sich im Wahlkampf für ihre Männer engagiert und erzählten davon. Ich jedoch war bei dem Gedanken, in dieser Runde etwas sagen zu müssen, regelrecht gelähmt vor Angst und brachte kein einziges Wort heraus. Schlimmer noch, ich weigerte mich, es auch nur zu versuchen. Bei einer anderen Gelegenheit las ich vor ungefähr sechzig Zuhörern eine Rede vom Blatt, in der es um ein Projekt zur Kinderadoption ging, dem ich mich ein Jahr lang an führender Stelle gewidmet hatte.
Diese Ansprache muß so etwas wie meine Jungfernrede gewesen sein, und ich hatte schreckliche Angst. Mit Phils Hilfe schrieb ich den Text mehrfach um und brachte die Sache dann auch irgendwie hinter mich, doch der emotionale Aufwand wegen meiner Ängste stand in krassem Mißverhältnis zum Anlaß. Vielleicht bekamen meine wirklich guten Freundinnen - im Gegensatz zu mir - damals mit, was mir fehlte. Jedenfalls veranstalteten sie Anfang 1956 unter Führung von Polly Wisner eine Party zu meinen Ehren, die sie »Salute to Katharine Graham« nannten. Ich war gerührt, aber auch verwirrt, weil ich mir ihre Motive nicht erklären konnte. Zweifellos wollten sie mein Selbstbewußtsein stärken, weil sie meinten, das täte mir gut. Ich jedoch hatte überhaupt nicht das Gefühl, eine solche Geste der Aufmerksamkeit zu benötigen. Meine Unsicherheit hatte sowohl mit meiner Mutter als auch mit Phil zu tun. Meine Mutter schien so viel von dem, was ich tat, herabzuwürdigen; ständig ließ sie auf subtile Weise meine Entscheidungen und Aktivitäten klein und unbedeutend erscheinen, gemessen an all den Großtaten, die sie selbst vollbrachte. Meine recht merkwürdige Beziehung zu ihr läßt sich gut an einem Beispiel aus jenen Jahren verdeutlichen. Ich besuchte sie oft, wenn sie sich zur Ruhe oder ins Bett gelegt hatte. Dann sprachen wir endlos lange über all ihre Aktivitäten und Vorträge; nur gelegentlich konnte ich ein paar Bemerkungen über mich und meine Kinder unterbringen.
Eines Tages faßte ich den festen Entschluß, auch einmal eines meiner eigenen Projekte zur Sprache zu bringen: Kinder aus Washingtoner Slums in Heimen und bei Pflegeeltern unterzubringen. Ich mußte dafür schon gehörigen Mut aufwenden, aber ich sagte einfach, vielleicht wolle sie ja auch einmal hören, welchen Aufgaben ich mich widmete. Doch ich kam nicht sehr weit. Sie schnitt mir das Wort mit der Bemerkung ab: »Ach, weißt du, Liebes, mit Problemen der Stadt Washington gebe ich mich schon seit Jahren nicht mehr ab.« Damit endete mein Versuch, mit ihr auch einmal über Dinge zu sprechen, die mir etwas bedeuteten. Und was nun Phil betrifft: Er baute mich zwar auf, zog mich aber auch immer wieder herunter. Je präsenter er auf der journalistischen und politischen Bühne war, desto mehr sah ich meine Rolle als die seines Anhängsels - und je mehr ich das Gefühl hatte, in seinem Schatten zu stehen, desto mehr wurde dieses Gefühl zur Realität. Er hatte schon immer einen scharfen Witz und einen manchmal grausamen Humor gehabt - in vielen gesellschaftlichen Situationen hatte ich das beobachten können, und gelegentlich wurden auch Freunde von uns zur Zielscheibe dieses Witzes. Phil brachte dann harte Wahrheiten in so komischer Weise zur Sprache, daß man ihm diese Äußerungen meistens durchgehen ließ. Was blieb dem Betroffenen auch anderes übrig, als mitzulachen? Zunehmend richteten sich seine Witze jedoch auch gegen mich. Ich wurde in der Familie zur Zielscheibe des Spotts.
Seltsamerweise war ich von Phil immer noch derartig gebannt, daß ich gar nicht merkte, was da geschah, und sogar selbst dazu beitrug. Weil ich etwas Gewicht zugelegt hatte, wenn auch nicht viel, begann er mich »Schweinchen« (»Porky«) zu nennen. Er schenkte mir sogar das Firmenschild einer französischen Metzgerei in Form eines Schweinskopfes, das ich auf der Veranda in Glen Welby anbrachte im Glauben, das sei ein lustiger Einfall. Eine weitere Angewohnheit, die sich bei Phil verfestigte, bestand darin, daß er mich in Gesellschaft immer so ansah, daß ich das Gefühl bekam, zu langatmig zu reden und die anderen zu langweilen. Allmählich sagte ich deshalb, wenn wir zusammen ausgingen, fast gar nichts mehr. Damals erkannte ich diese Arroganz noch nicht, aber sie wird auch in folgender Passage aus einem längeren Brief deutlich, den Phil 1955 meiner Mutter schrieb. Sie hatte ihm einen Artikel über Thomas Mann geschickt, und seine Antwort verrät, daß er mir gegenüber die herablassende Einstellung meiner Mutter teilte:
Du hast es leider versäumt, den wichtigsten Satz im ganzen Beitrag zu unterstreichen, daß nämlich »keine großartige Bildung erforderlich ist, um sich an Felix Krull zu erfreuen«. Dieser Gedankensplitter hat mich dazu verleitet, mit der Idee zu spielen, den Band der Gefährtin meines Lebens zur Lektüre zu empfehlen.
Eine recht eigenartige Bemerkung, wenn man bedenkt, daß ich wahrscheinlich mehr von Thomas Mann gelesen hatte als er! Und doch fiel mir überhaupt nicht auf, wie aggressiv sein Verhalten mir gegenüber bereits geworden war. Ich hatte von ihm so viel gelernt, daß ich mir ganz wie sein Geschöpf vorkam und das Gefühl hatte, vollkommen von ihm abhängig zu sein. Noch heute fällt es mir schwer, Klarheit über meine Gefühle für Phil zu gewinnen: Ich kann nur schwer trennen zwischen dem, was Ausdruck seiner schrecklichen Krankheit war, die sich erst später zeigte, und dem, was an grundlegenderen Problemen zwischen uns bestand. In Wahrheit bewunderte ich ihn über die Maßen und sah deshalb nur das Positive, das er für mich tat. Meinen Mangel an Selbstvertrauen brachte ich einfach nicht mit Phils Verhalten mir gegenüber in Verbindung. Das Tempo in Phils Arbeitsleben war brutal, und doch schien er dabei aufzublühen. Sicher, es wurden auch Schattenseiten erkennbar, aber sie waren so schwach, daß ich sie nicht sah - oder wenigstens nicht als Schattenseiten wahrnahm. Im Rückblick erkenne ich jedoch, daß sein ständiges Kränkeln das Vorspiel zu seelischen Problemen war, zu einer latenten Krankheit, von der weder ich noch er die geringste Ahnung hatten. Die Tatsache, daß er ständig mit Viruserkrankungen zu kämpfen hatte, hatte zur Folge, daß er anschließend an einen überquellenden Schreibtisch zurückkehren und sich, wie er einem Freund einmal sagte, lauter »aufgeschobenen Krisen und gehäuften Katastrophen« widmen mußte. Wenn er jedoch gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte war, konnte niemand solche Krisen und Katastrophen besser bewältigen als er. Phil managte nun die wesentlich umfangreichere Washington Post and Times-Herald. Die wichtigste direkt ihm nachgeordnete Position hatte John Sweeterman inne. John übernahm den größten Teil der Verantwortung für die wirtschaftlichen Entscheidungen, doch der Chefstratege war und blieb Phil. Phil hatte mehr als John mit dem redaktionellen Geschehen zu tun, mit Russ Wiggins und - soweit es die Kommentarseite betraf - Robert Estabrook, doch John und Russ hielten Phil den Rücken frei und gaben ihm Gelegenheit, sich auf die großen Themen zu konzentrieren. Das Tagesgeschäft mußte Phil nur in dem Maße interessieren, wie er sich selbst daran beteiligen wollte. Obwohl er in diesen Jahren sehr viel Zeit außer Haus verbrachte, schaffte Phil es trotzdem, seinen Laden in Schuß zu halten und ihn sogar noch weiter voranzubringen.
Im Herbst 1954 hatte Phil mehr zu tun »als acht Jagdhunde zusammen« - vor allem weil er Verhandlungen mit CBS führte, um deren Minderheitsbeteiligung an unserem Fernsehsender WTOP zu übernehmen. Der Zeitpunkt war zwar nicht gerade optimal, weil wir erst sechs Monate zuvor die Times-Herald gekauft hatten, aber wir waren schon immer sehr daran interessiert gewesen, die Fernseh- und Radiostation WTOP ganz zu besitzen, und jetzt hatte sich die Gelegenheit dazu ergeben. Der Preis der Minderheitsanteile von 45 Prozent belief sich auf 3,5 Millionen Dollar. Phil ging ein großes Risiko ein, als er nach der Übernahme der Times-Herald unsere Schuldenlast noch weiter vergrößerte, doch es zeigte sich, daß die Rechnung letztlich wieder einmal mehr als nur aufging. 1955 sah auch der Washington Star endlich die Notwendigkeit gekommen, sich ein wenig ins Zeug zu legen. Innerhalb eines Jahres nach dem Erwerb der Times-Herald hatten wir mit dem Star auf vielen wichtigen Geschäftsfeldern bereits gleichgezogen oder ihn überholt. Nachdem er ein Jahrhundert lang die führende Zeitung Washingtons gewesen war, mußte der Star jetzt feststellen, daß er schon 125 000 Leser weniger hatte als die Post. Den Rückstand beim Anzeigenaufkommen hatten wir allerdings noch nicht aufgeholt. Gerade in diesem Bereich aber war Frank Gatewood von der alten Times-Herald ein großer Gewinn für uns. Der Einzelhandel schwor zwar nach wie vor auf den Star, aber Gatewood schaffte es, einige Großkunden zu überzeugen, so daß sie uns einen größeren Anteil ihres Werbeetats anvertrauten als zuvor. Frank war für uns so wertvoll, daß mein Vater einmal im Scherz sagte, er habe seine 9,5 Millionen nur ausgegeben, um Frank Gatewood zur Post zu holen.
Nachdem erst einmal Bewegung in die Sache gekommen war, verbesserte sich unsere Situation auf dem Anzeigenmarkt sehr schnell, wie sich Gatewood erinnert. In nur drei Jahren verbesserte die Post ihren Marktanteil von 28 auf 50 Prozent. Von 1955 an übertrafen die Gewinne der Post die des Star, nicht zuletzt dank strikter Kostenkontrolle. Angesichts der heutigen Größe der Post und ihrer zahlreichen Auslandskorrespondenten in Büros rund um die Welt kann man sich die Zeit kaum noch vorstellen, in der die Auslandsberichterstattung aus dem Washingtoner Redaktionsgebäude kam oder wir uns ganz auf andere Zeitungen und Agenturberichte verlassen mußten. Doch das liegt noch gar nicht so weit zurück. Als Phil im Januar 1957 Murrey Marder als ersten Auslandskorrespondenten der Post nach London schickte, mußten wir uns Murreys Berichte noch mit WTOP teilen, denn der Sender kam für einen Teil der Kosten auf. Erst fünf Jahre später kamen nochmals zwei Korrespondenten hinzu, und Phil Foisie übernahm die außenpolitische Redaktion. Er war im Grunde der erste Redakteur der Post, der eigens für dieses Gebiet zuständig war. Unter Foisie wuchs diese Redaktion später auf dreiundzwanzig Mitarbeiter im Ausland an, von denen allerdings einige nur aushilfsweise die Korrespondenten unterstützten - und diese Kräfte waren nicht immer erstklassig. Im Lauf der Zeit engagierte sich Phil aus Überzeugung immer mehr in öffentlichen und politischen Angelegenheiten; die Post beanspruchte einen immer geringeren Teil seiner Zeit. Trotz seines intensiven Einsatzes für Eisenhower im Wahlkampf von 1952 war Phil von dessen Regierung schnell enttäuscht und setzte daraufhin einen wachsenden Anteil seiner Zeit und seiner politischen Energie für Senator Lyndon B. Johnson ein, den späteren Präsidenten. Ich weiß nicht genau, wie diese Beziehung ursprünglich zustande kam, doch im Rückblick scheint es mir, als sei sie vorhersehbar, ja geradezu vorherbestimmt gewesen: Johnson betrieb eine aktive Pressearbeit, und Phil hatte sich schon immer zur Politik hingezogen gefühlt. Beide liebten die Macht und deren Einsatz für ihrer Meinung nach erstrebenswerte Ziele. Beide stammten aus den Südstaaten, und beide hatten Humor - wenn auch einen Humor der eher bissigen Art. Eine natürliche Affinität verband sie.
Schon 1953 unterhielt Phil einen ständigen Gedankenaustausch mit dem Senator. Im Januar 1953 (zu Beginn der neuen Legislaturperiode nach den Wahlen von 1952) schickte ihm Johnson eine Aufstellung der für 1953/54 geplanten Ausschußbesetzungen aus den Reihen der demokratischen Abgeordneten. Auf dieser Liste hatte er die Namen all jener eingekreist, die seiner Meinung nach in der neuen Konstellation Schlüsselpositionen innehatten. In einer Begleitnotiz erinnerte er Phil an frühere Gespräche mit ihm »über die Notwendigkeit einer besseren Berücksichtigung Eurer Abgeordneten (d.h. der Liberalen) und widerstreitender Standpunkte in den ständigen Kongreßausschüssen«. In seinem Dankesbrief verwies Phil den Senator auf einen gerade in der Post erschienenen Leitartikel mit dem Titel »Ein großer Schritt voran«, in dem die vom Steuerungsausschuß der Demokraten (»unter der Führung von Senator Lyndon Johnson«) vorgenommenen Ausschußbesetzungen sehr gelobt wurden. Sie gewährten »den liberalen Parteiangehörigen aus dem Norden in den wichtigsten Ausschüssen großzügige Möglichkeiten« und signalisierten überdies »ein Maß an Einheit« in der Partei, »das es niemals gegeben hat, solange die Partei noch an der Macht war«. »Wie Sie sehen«, schrieb Phil, »sind wir der Meinung, daß Sie Ihre Sache gut gemacht haben.« LBJ gefiel dieser Leitartikel natürlich, und er bedankte sich bei Phil. Dieser Austausch belegt ein Verhältnis zwischen Presse und Regierung, das eigentlich schon enger ist, als es Journalisten guttut - wenigstens nach heutigen Maßstäben. Doch damals war Derartiges nicht ungewöhnlich. Das Problem bestand überdies eher darin, daß die Beziehungen zwischen Phil und LBJ sogar noch enger wurden. Dabei gab es durchaus konstruktive Aspekte, doch später sollte ich auch gewisse Kehrseiten kennenlernen. Im Wahlkampf zu den Kongreßwahlen von 1954 wurde Vizepräsident Nixon, der Phil 1952 noch stark beeindruckt hatte, regelrecht giftig. Nixons Wahlkampftaktik inspirierte Herblock zu einer seiner berühmtesten Karikaturen: Aus einem Abwasserkanal kriechend, wird Nixon von einer Band und einem offiziellen Empfangskomitee begrüßt, dessen Anführer ein Plakat mit der Aufschrift »Da kommt er endlich!« in die Höhe hält. Trotz Nixons Bemühungen übernahmen die Demokraten mit ihrer Mehrheit wieder die Kontrolle in beiden Häusern des Kongresses; Lyndon Johnson wurde Mehrheitsführer im Senat. Von da an arbeiteten Phil und der Senator sogar noch enger zusammen. Ein besonderes Interesse Phils galt sauberen Wahlen und einer Reform der Wahlkampffinanzen; Anfang 1955 begann er damit, die Rolle des Geldes in der Politik zu untersuchen. Schriftlich und mündlich brachte er die Sache offen zur Sprache in der Hoffnung, daß etwas geschehen würde.
Doch wie üblich war Phil seiner Zeit voraus; zunächst verschlimmerte sich das Problem sogar noch dramatisch. Den Leuten seien die tatsächlichen Wahlkampfkosten überhaupt nicht klar, argumentierte Phil. Zwischen den Ausgaben, die in den Berichten der nationalen Parteivorstände der beiden großen Parteien genannt wurden, und den tatsächlichen Aufwendungen herrschte eine enorme Diskrepanz. Laut Phil kamen die Wahlkampfmittel im wesentlichen aus drei Quellen: aus der Unterwelt, von speziellen Interessengruppen und von Aspiranten, die mit finanziellen Zuwendungen ein Anrecht auf hohe politische Ämter erwerben wollten. In einer Rede formulierte er das Grundproblem wie folgt: »Wie können wir genug ehrliches, sauberes Geld aufbringen, mit dem unsere Politiker ihren Wahlkampf führen können, ohne sich in die Hände korrupter oder allein aus Eigeninteresse handelnder Kreise begeben zu müssen?« Eine Lösung des Problems sah Phil im rechtschaffenen einzelnen Bürger und dessen Spendenbereitschaft. Eine Gallup-Meinungsumfrage hatte ergeben, daß ein Drittel der amerikanischen Familien bereit war, für politische Zwecke zu spenden. Phil meinte nun, mit einer Anzeigenkampagne die Öffentlichkeit informieren zu können und dadurch das genannte Drittel und weitere politisch Interessierte zu Spenden bewegen zu können, um der Korruption ein Ende zu setzen.
Darin sah er »die wichtigste politische Reform unserer Zeit«. Über Phils Rede wurde in der Washington Post ausführlich berichtet, und seine Idee wurde unter dem Namen »Graham-Plan« bekannt. Im folgenden Jahr konnte Phil Lyndon Johnson überzeugen, daß eine entsprechende Gesetzgebung erforderlich sei. Obwohl der Senat, so Phil, »vor Angst erstarrt« sei bei dem Gedanken, »was alles aus dieser Büchse der Pandora kommen könnte, wenn man sie erst einmal geöffnet habe«, war Johnson »beunruhigt genug, um für fast jede Reform empfänglich zu sein, zu der ich Vorschläge machen konnte!« Phils Arbeit spielte sich hinter den Kulissen ab, denn er sah bereitwillig ein, »daß wir nur so lange von Nutzen sein können, wie all die Primadonnen (im Senat) zu ihrem Recht kommen«. Nach zahlreichen Diskussionen mit LBJ über ein mögliches Reformprogramm der beiden großen Parteien wurde ein Gesetzentwurf formuliert, den fünfundachtzig Senatoren gemeinsam einbrachten. Das hatte es anscheinend in der gesamten Geschichte des Senats noch nie gegeben. Doch das Repräsentantenhaus spielte nicht mit und ließ den Gesetzentwurf scheitern. Ich hatte, vielleicht zu Unrecht, bezweifelt, daß Johnson dieses Gesetz wirklich wollte, und dies Phil auch deutlich gesagt. Mein Gefühl sagte mir eher, daß Johnson auf diese Weise seine Beziehung zu Phil pflegen wollte. Doch Phils Begeisterung für das Gesetz und den Senator nahm weiter zu; trotz des Fehlschlags rückten die beiden nach dieser gemeinsamen Anstrengung noch enger zusammen. Anders als Phil fühlte ich mich immer noch zu Adlai Stevenson hingezogen. Vor mir hatte ihn bereits meine Mutter kennengelernt. Mutter machte wieder mal einen Wandlungsprozeß ihrer politischen Ansichten durch, der - wie alles in ihrem Leben - extrem verlief. Ihre Zweifel an Eisenhower wurden bestätigt, als sie vergeblich versucht hatte, ihn und seine Regierung für die sozialen Themen zu interessieren, die ihr so sehr am Herzen lagen. Über seinen Mangel an Entgegenkommen war sie zutiefst enttäuscht. »Es führt leider kein Weg an der Einsicht vorbei, Phil«, schrieb sie in einem Brief, »der Mann ist einfach dumm!«
Ihre Bekanntschaft mit Adlai Stevenson hingegen blühte auf und entwickelte sich zu einer ihrer hochemotionalen Beziehungen zu prominenten Männern. In den folgenden Jahren entstand zwischen beiden eine rege Korrespondenz. Mutters Briefe an ihn waren voll von persönlichen und politischen Ratschlägen. Doch Adlai wurde wirklich ihr Freund. Er schrieb ebenso persönliche und etwas gefühlvolle Briefe zurück. Im Juni 1955 mußte sich meine Mutter einer Operation unterziehen: Gebärmutterkrebs. Obwohl ihr die Ärzte gesagt hatten, das Karzinom sei genau lokalisiert, hatte sie, wie jeder, der mit einer solchen Operation konfrontiert ist, einige letzte Wünsche für den Fall, daß etwas schiefgehen sollte. Als ich sie am Abend vor der Operation besuchte, bat sie mich, Phil herbeizuholen. Ihre Instruktionen an ihn betrafen drei Dinge: Ihren Schmuck sollten bestimmte Enkelinnen erben; bis die Kinder alt genug seien, sollte er jedoch von deren Müttern getragen werden. Ihrer Freundin Ruth Taylor war ein kleiner Geldbetrag zugedacht. Doch ihr dringendster Wunsch lautete, wir sollten Adlai Stevenson sofort eine Spende von 25 000 Dollar zukommen lassen. Aus Zeitungsberichten hatte sie erfahren, daß Stevenson kein Geld für seinen nächsten Wahlkampf hatte, und ihr lag viel daran, ihm diese Sorge zu nehmen. Phil kam ihrem Wunsch prompt nach. Da Phil in jenem Herbst einen Vortrag in Chicago halten sollte, schrieb er Adlai, wir drei könnten uns doch treffen. Und die Begegnung kam auch tatsächlich zustande. Adlai selbst chauffierte uns in die Vororte von Chicago, wo er eine schöne Farm mit einem hübschen, gemütlichen, weitläufigen Haus besaß, in dem seine drei Söhne aufgewachsen waren und in dem er jetzt allein wohnte. Für mich war dies der Beginn einer angenehmen, aber auch komplizierten Beziehung, während Phil und Adlai sich weniger zu sagen hatten. Phil kannte Adlai schon eine ganze Weile und hielt ihn für einen zweifellos fähigen, talentierten Mann. Sehr zu Phils Bedauern konnte Adlai als Politiker Lyndon Johnson jedoch nicht das Wasser reichen.
Phil teilte später die Ansicht vieler, daß Stevenson einfach zu unentschlossen und zu weich sei. Gleichwohl legte er als Linie der Post eine Rückkehr zur alten Politik fest, der zufolge keiner der Kandidaten ausdrücklich unterstützt werden durfte. Wie erwartet wurde Eisenhower 1956 mit großem Vorsprung wiedergewählt. Stevensons Eingeständnis seiner Niederlage war wegen seiner gutgelaunten, zu Herzen gehenden Formulierungen bemerkenswert. Als er am Wahlabend gefragt wurde, ob er sich je wieder um die Präsidentschaft bewerben werde, lautete seine Antwort: »Ich bin nur noch ein Kandidat fürs Bett.«
In einem seiner Briefe im Sommer vor der Wahl hatte LBJ Phil und mich beiläufig zu einem Besuch auf seiner Ranch in Texas eingeladen. Lady Bird und er wollten uns »ein wenig texanische Gastfreundschaft« zukommen lassen. Den ganzen Herbst über drängte er uns zu kommen, ehe sich am Ende des Jahres schließlich eine Gelegenheit ergab: Phil sollte einen Vortrag an der Texas A.& M. University halten und nahm diese Einladung nicht zuletzt deshalb an, weil es von dort zu Johnsons Ranch nicht weit war. Das College besaß ein kleines Privatflugzeug, das uns im Anschluß an den Vortrag nach Fredericksburg brachte, in die Johnsons Rauch nächstgelegene Kleinstadt. Der Senator holte uns am Rollfeld ab und fuhr uns, wie er es liebte, sofort stundenlang durch seine Ländereien, selbst auf dem Familienfriedhof mußten wir Station machen - ein festes Ritual für Besucher. Am nächsten Tag gingen wir auf die Rotwildjagd. Johnson war geradezu versessen darauf, daß Phil einen Hirsch schießen müsse. Doch Phil war die Idee zuwider, ein solches Tier einfach zu töten - er liebte die Vogeljagd, nicht zuletzt weil es schwieriger war, fliegende Vögel zu treffen; meistens schoß man vorbei. Für unseren Gastgeber indes war es ein unverzichtbarer Teil seiner Gastfreundschaft, den Besucher mit einem erlegten Hirsch nach Hause zu schicken. Als wir auf einem Hügel direkt vor uns auf ein kleines Rudel stießen, mußte Phil auf LBJs Kommando hin anlegen. »Los, Phil, schieß doch«, herrschte Johnson ihn an. Doch Phil erwiderte, das Gewehr im Anschlag: »Ich kann ihm doch nicht in den Hintern schießen, Lyndon!« Als sich nun eins der Tiere uns zuwandte, drängte Johnson Phil erneut zu schießen. Diesmal antwortete Phil: »Geht nicht, Lyndon, der sieht so treuherzig aus wie Little Beagle Johnson« - Johnsons Lieblingshund, dessen Namen die Initialen seines Herrn trug. Der Hirsch rannte davon, und der Senator war auf seinen zimperlichen Gast nun wirklich sauer.
Bei der nächsten Gelegenheit blieb Phil daher keine andere Wahl mehr; er mußte »seinen« Hirsch erlegen. Für mich war dieser Besuch etwas eigenartig - Phil und Lyndon gingen vollkommen entspannt miteinander um, doch mich sah Lyndon in anderem Licht. Er fixierte mich häufig mit seinen Blicken, wodurch er mich von Phil und sich ausschloß, und begann alles, was er sagen wollte, mit den Worten: »Ihr Liberalen aus dem Norden ...« Er hämmerte regelrecht auf mich ein, als wolle er mir endlich mal erklären, wie die Welt wirklich funktioniert. Zum Beispiel mit folgender Anekdote darüber, wie die Bürgerrechte in Johnson City Einzug gehalten hatten:
Es wurde eine Straße gebaut, die durch den Ort gehen sollte. Unter den Straßenarbeitern waren auch Neger. Doch kein Neger hatte zuvor je in Johnson City übernachten dürfen. Die Straße kam nun immer näher an die Stadt heran, und schließlich war die Stadt erreicht. Da fand der Wortführer der Männer aus der Stadt den Vorarbeiter des Bautrupps im Friseurladen und sagte zu ihm: »Sieh bloß zu, daß du die Nigger heute abend wieder aus der Stadt schaffst!« Da riß sich der Vorarbeiter den Frisierumhang vom Leib und sprang aus dem Stuhl hoch. Die beiden gingen vor die Tür und machten einen Ringkampf, die ganze Hauptstraße rauf und runter, bis der Vorarbeiter den anderen schließlich am Boden hatte. Mit den unablässig wiederholten Worten: »Kann ich meine Nigger hierbehalten? Kann ich meine Nigger hierbehalten?« schlug er den Kopf des Rivalen aufs Pflaster, bis dieser schließlich ja sagte. So sind die Bürgerrechte nach Johnson City gekommen.
Um ehrlich zu sein: Ich begegnete LBJ damals durchaus mit gemischten Gefühlen. Ich glaubte immer noch, daß er Phil bis zu einem gewissen Grad nur benutzte, und war jedenfalls anders als Phil - nicht bereit, mich ohne Vorbehalte auf ihn einzulassen. An einem Abend tranken Phil und er während des Essens und danach eine beträchtliche Menge Whiskey. Und als wir uns nach dem Essen noch unterhielten, begann Johnson sich über die Presse zu beschweren - so wie es Politiker jeglicher Couleur eben tun. Mitten in seiner Suada sagte er dann: »Du kannst sie alle mit einer Flasche Whiskey kaufen.« Ich war viel zu zurückhaltend, um mich an diesem Gespräch zu beteiligen oder Einspruch zu erheben, doch als ich mit Phil nach oben in unser Schlafzimmer ging, kritisierte ich Lyndon wegen dieser Aussage - und Phil, weil er sie hatte durchgehen lassen. Anscheinend hatte Lady Bird ihrem Lyndon ebenfalls ein paar passende Worte gesagt, denn am nächsten Morgen war er wie verwandelt. Er drängte uns, noch einen weiteren Tag zu bleiben - was wir auch gerne taten. Beim Lunch vor unserer Abreise schenkte er uns beiden etwas: Phil einen riesigen Cowboyhut und mir ein Armband mit Anhängern. Daran befanden sich eine kleine Landkarte von Texas, ein kleines Mikrophon und andere Symbole aus der Welt der Johnsons. Als ich das Armband in der Hand hielt, spürte ich an seinem Gewicht, daß es aus massivem Gold sein mußte. Solche Geschenke anzunehmen paßt nicht zum Ehrenkodex der Presse, und ich war entsprechend tief beunruhigt - zumal wenn ich an die verletzende Bemerkung dachte, die Johnson in dem Gespräch spätabends hatte fallenlassen. Einige Tage nach unserer Rückkehr vom Besuch auf der Ranch sandte Phil Lyndon Johnson ein handgeschriebenes Memo mit einem recht langen thematischen Rohentwurf für zukünftige Diskussionen. Was Phil hier letztlich tat, war, LBJ einen Rat für die Verbesserung seines Images auf nationaler Ebene zu geben. Der Senator müsse etwas gegen seinen Ruf als konservativer Politiker unternehmen, der die Interessen der Öl- und Gasindustrie und überdies nur einen Teil des Landes (die Südstaaten) vertrete.
Phil hielt dieses Image für ein unzutreffendes Stereotyp, das Johnsons politische Wirkungsmöglichkeiten im nationalen Maßstab schwäche. Allerdings sei es in gewissem Maß sogar von LBJ selbst und dessen Mitarbeitern akzeptiert worden, die sich ausschließlich auf die Wiederwahl des Senators in Texas im Jahre 1960 zu konzentrieren schienen. Phil argumentierte dagegen, daß Johnson eine bedeutende Rolle in der nationalen Politik zu spielen habe, und wenn er das selbst auch so sehe, müsse man ihn vielleicht nur daran »erinnern, daß Angriff die beste Verteidigung ist«. Johnson solle der nationalen Gesetzgebung stärker seinen Stempel aufprägen. Phil rief Johnson ferner dazu auf, das Gesetzgebungsprogramm der (demokratischen) Kongreßmehrheit in einer Pressekonferenz Anfang 1957 vorzustellen, und zwar so, daß diese Pressekonferenz nicht mit der Jahresansprache des (republikanischen) Präsidenten zur Lage der Nation kollidiere und damit im Schatten der Rede des Präsidenten stehe. Lyndon solle bald darauf eine große Rede »vor bestmöglichem Publikum« folgen lassen, um mehrere Hauptthemen herauszustellen. Ganz besonderes Augenmerk solle er jedoch der »Entwicklung und Artikulation einer realistischen Haltung zu den Bürgerrechten« widmen. Die Bürgerrechte müßten im Rahmen des Machbaren gestärkt werden. Und ein solches Programm dürfe sich nicht nur an dem ausrichten, was in Texas akzeptabel sei. In der Johnson Presidential Library befindet sich ein Memo an Senator Johnson von George Reedy, der damals als Mitarbeiter zu LBJs Stab gehörte. Dieses Memo ist an das eben zitierte von Phil geheftet und enthält einen Kommentar zu Phils Vorschlägen. Reedy hielt Phils Ideen für »solide, aber ich stimme seinen Vorschlägen zum Timing nicht zu«. Ferner meinte Reedy: »Phil lebt in der Atmosphäre der Washington Post, und dieses Umfeld hat in Washington großen Einfluß. Ich habe jedoch das Gefühl, daß Sie draußen im Land wesentlich populärer sind, als man angesichts der Kolumnen von Drew Pearson und der Karikaturen von Herblock meinen könnte. Die Atmosphäre der Washington Post ist hochspezialisiert und nicht unbedingt auf andere politische Gemeinschaften zu übertragen.« Ich glaube allerdings, daß hier Phils Eindrücke der Wahrheit näher kamen als diejenigen Reedys.
In den ersten Monaten des Jahres 1957 war Phil immer noch an allen Fronten gleichzeitig aktiv. Eine seiner bedeutsamsten Leistungen jener Zeit war der Austausch von Aktien, die sich im Besitz der Meyer Foundation befanden, woraufhin sich die Zeitung endlich ganz in unserem Besitz befand. Ferner war Phil ständig in Arbeitskämpfe verwickelt, besonders in Auseinandersetzungen mit der Newspaper Guild. Ein im Frühjahr 1956 unterzeichneter Tarifvertrag war der Gewerkschaft in achteinhalb Monate dauernden Verhandlungen mühsam abgerungen worden-, dafür hatte er aber eine Laufzeit von fünf Jahren, was damals ohne Vorbild war. Wichtig war auch eine um diese Zeit vor der Belegschaft der Post gehaltene Rede Phils gegen die Transportarbeitergewerkschaft, die Teamsters Union, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließ. Darin erteilte Phil Bestrebungen eine glatte Absage, unsere Vertriebsabteilung gewerkschaftlich zu organisieren, so wie es beim Star schon geschehen war. Man hatte uns gewarnt, Jack Kauffmann, der damalige Verleger des Star, habe sich bereit erklärt, mit den Teamsters zu verhandeln, wenn es ihnen gelinge, auch uns von der Post an den Verhandlungstisch zu bringen.
Phils damals gehaltene Rede ist handschriftlich auf einem Notizblock erhalten. Darin heißt es, wenn die (notorisch korrupte) Transportarbeitergewerkschaft mit dem Star handelseinig sei, dann werde unweigerlich auch die Belegschaft der Post aufgefordert werden, sich »den Teamsters anzuschließen. Sie werden euch wahrscheinlich weismachen wollen, daß ihr alles zu gewinnen und nichts zu verlieren habt. Doch die Situation ist genau umgekehrt. Ihr habt alles zu verlieren und nichts zu gewinnen.« Und dann erläuterte Phil, daß seine Aussagen nichts mit Gewerkschaftsfeindlichkeit zu tun hätten. Vielmehr warnte er vor den korrupten Machenschaften dieser Gewerkschaft und sagte, wir hätten die beste Vertriebsorganisation im ganzen Land. Wir wollten sie noch weiter verbessern und den Zwischenhändlern noch bessere Verdienstmöglichkeiten verschaffen. »Wir werden euch nicht im Stich lassen«, sagte Phil, »indem wir mit diesen Leuten irgend etwas aushandeln. Und ich verlasse mich darauf, daß auch ihr uns nicht im Stich laßt.« Was dann auch nicht geschah. Da ich weiß, wie solche Dinge laufen, nehme ich an, daß damals viele in Phils Umgebung versucht haben, ihn von dieser Rede abzubringen. Eine solche Ansprache wäre heute wohl gesetzlich auch nicht mehr zulässig; vielleicht war sie es schon damals nicht. Und doch ist sie ein bedeutsames Beispiel für Phils ausgeprägte Fähigkeit, zu wissen, wann man ein hohes Risiko in Kauf nehmen muß, um entscheidende Punkte zu machen. Daß sich der Star mit den Teamsters eingelassen hatte, erwies sich als kapitaler Fehler. Für die unabhängigen Verteiler der Post war der Verkauf zusätzlicher Exemplare gleichbedeutend mit mehr Geld in der eigenen Tasche. Für den gewerkschaftlich organisierten Fahrer des Star hingegen bedeutete jedes zusätzliche Zeitungsexemplar nur Mehrarbeit. Daß wir unser eigenes unabhängiges Vertriebssystem beibehielten, erwies sich als wichtiger Schritt für das zukünftige Wohl unserer Zeitung. In einer später etwas modifizierten Form wurde es von vielen anderen Zeitungen kopiert. Im Sommer 1957 war Phil unverkennbar erschöpft und brauchte Ruhe. Gemeinsam beschlossen wir deshalb, uns nach Glen Welby zurückzuziehen.
Es war ein idyllischer Sommer, den wir mit den Kindern spielend und faulenzend verbrachten. Wie Phil seinem Vater Ende August schrieb, war er »so gut wie vollständig vor jeglicher Arbeit geflohen«. Erst später wurde deutlich, daß er zu diesem Zeitpunkt bereits ernsthafte gesundheitliche Probleme hatte-, mir jedenfalls war es damals noch nicht aufgefallen. Offenkundig waren dagegen Phils Überreizung und Überanstrengung. Im Rückblick erkenne ich, daß er wie eine verglühende Rakete war - immer noch Funken sprühend, gelegentlich auch eine Stichflamme ausstoßend und doch allmählich fast ausgebrannt. Die nachhaltigste Unterbrechung unserer ländlichen Idylle auf der Farm in jenem Sommer ergab sich Anfang August, als Lyndon Johnson Phil bat, nach Washington zurückzukehren und ihm dabei behilflich zu sein, das Bürgerrechtsgesetz von 1957 endgültig durch den Kongreß zu bringen. Das paßte gut zu Phils Empfehlungen, LBJ solle auf nationaler Ebene die innenpolitische Führung übernehmen. Als Südstaatler konnte Johnson indes beim Civil Rights Act weder so schnell noch so weit vorangehen, wie es Phil wohl lieb gewesen wäre. Doch mit seinen anerkannten parlamentarischen Fähigkeiten war Lyndon Johnson gleichwohl in der Lage, das Land einen Schritt voranzubringen. Während viele politische Beobachter zu dem Schluß kamen, Johnson habe während des langwierigen Gesetzgebungsverfahrens mit Ausnahme des Wahlrechts fast alles Wichtige aus dem ursprünglichen Entwurf beseitigt oder verwässert, lautete Phils zentrales Argument: Das einzige, was wirklich zählt, ist das Wahlrecht.
Phils engagierte Beteiligung an diesem Gesetzgebungsverfahren begann - wenn man davon absieht, daß er LBJ schon seit Beginn ihrer Bekanntschaft dazu gedrängt hatte, der großen Bedeutung dieses Themas Rechnung zu tragen - im Juli 1957. Damals lud Phil Joe Rauh zu uns auf die Farm ein. Phils Einladungen kamen oft Befehlen gleich, und dies war ein solcher Befehl. Er brauchte Joes Hilfe, weil Joe gute Beziehungen zu den Führern der Schwarzen unterhielt - besonders zu Roy Wilkins, dem damaligen Generalsekretär (und tatsächlichen Führer) der NAACP[1] Darüber hinaus war Joe ein einflußreicher Liberaler, und deshalb war es von Bedeutung zu wissen, was er von diesem Bürgerrechtsgesetz hielt. Phil hatte Joe gebeten, auch Felix Frankfurter mitzubringen. Später erinnerte sich Joe, zunächst keine Ahnung gehabt zu haben, daß mit dieser Einladung bestimmte Pläne verbunden waren. Auf keinen Fall habe er eine Verbindung zum laufenden Gesetzgebungsverfahren gesehen. Doch als er dann mit seiner Frau Olie und Felix im Auto zu uns gefahren sei, habe er bereits gemerkt, daß man etwas mit ihm vorhatte. Schon während der gesamten Fahrt habe Frankfurter versucht, ihn von der überragenden Bedeutung des Wahlrechts für Schwarze zu überzeugen. Beim Abendessen in Glen Welby nahmen Felix und Phil Joe dann in die Mangel. Unablässig versuchten sie ihm klarzumachen, er verlange zuviel, wenn er auch all die anderen Verbesserungen, die damals auf der Tagesordnung der Bürgerrechtler standen, in diesem Gesetz verankern wolle: etwa die faktische und schnelle Integration der schwarzen Bevölkerung oder die Aufhebung der Rassentrennung an den Schulen, vor allem deren tatsächliche Durchsetzung. Phil und Felix wurden nicht müde zu betonen, daß der wichtigste erste Schritt im ersten Bürgerrechtsgesetz seit 1870 das Wahlrecht sein müsse.
Heute sehe ich natürlich, wie ungewöhnlich - und höchst bedenklich - es für einen Richter des Obersten Bundesgerichts war, die Grenzen des Systems der Gewaltenteilung derart weit zu überschreiten. Damals war mir das nicht klar. Aber so war Felix Frankfurter eben, und er hatte obendrein ein so enges Verhältnis zu Phil und Joe, als wären sie seine eigenen Söhne. Natürlich glaubte er auch, daß es außerordentlich wichtig war, Phil bei der Werbung um Joe beizustehen und Joe zu überzeugen, daß dieses Gesetz das unter den gegenwärtigen Umständen bestmögliche sei und darum seine Unterstützung verdiene. Bald nach dieser »Gehirnwäsche« für Joe rief Johnson, wie gesagt, Phil nach Washington zurück. Er wollte ihn in der Endphase des parlamentarischen Verfahrens an seiner Seite wissen. Obwohl mir das Sorgen bereitete, kehrte Phil in die Stadt zurück und wich mehrere Tage lang nicht mehr von Johnsons Seite. Er arbeitete Tag und Nacht. Ich glaube, daß seine Rolle im wesentlichen darin bestand, Kontakt zu Joe und zu den liberalen Bürgerrechtsgruppen zu halten, mit denen Joe in Verbindung stand. Springender Punkt war die Frage der gemischtrassigen Besetzung der (damals noch ausschließlich Weißen vorbehaltenen) Geschworenenbänke in Strafprozessen. In dieser Frage hatte Johnson im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens politische Kompromisse schließen müssen, und auf diesen Punkt konzentrierten sich nun die Verhandlungen der unterschiedlichsten Lobbyisten. Mit Hilfe hochkarätiger Juristen arbeitete Phil fieberhaft an einer Kompromißformel, die für alle Seiten akzeptabel sein könnte, um die Verabschiedung des gesamten Gesetzesvorhabens sicherzustellen.
Letztlich mußten die Liberalen in dieser Frage Federn lassen, aber sie bekamen ihr Bürgerrechtsgesetz. Joe und seine gleichgesinnten Freunde übernahmen Phils Argument, letztlich sei dieses Gesetz besser als gar nichts. Auch Roy Wilkins stimmte zu und berief eine Sitzung der Leadership Conference of Civil Rights ein, die einen ganzen Tag lang debattierte. Dazu schrieb Wilkins in seinen Memoiren: »Joe argumentierte für den Gesetzentwurf mit der Begründung, nach 87 Jahren sei die Zeit endlich reif für ein neues Bürgerrechtsgesetz, selbst eines in verwässerter Form. Wenn der Kongreß in dieser Frage erst einmal seine Jungfräulichkeit verloren habe, werde die Sache weitergehen, und die Verluste bei diesem Gesetz würden dann später wettgemacht.« Diesen Gesetzentwurf zu unterstützen sei die schwierigste Entscheidung seines Lebens gewesen, schrieb Wilkins. Doch im Rückblick wußte er, daß die Entscheidung richtig gewesen war. Und er erinnerte sich auch an Hubert Humphrey, der ihm mitten im Kampf gesagt hatte: »Roy, wenn ich eines in der Politik gelernt habe, dann dies: Verachte niemals die Brosamen!« Für Lyndon Johnson lief es bestens. Schließlich war er damals noch ein Senator aus Texas, der sich um seine Wiederwahl Sorgen machen mußte, und das einzige Entgegenkommen, aus dem sie ihm in Texas keinen Strick gedreht hätten, war jenes beim Wahlrecht. Darum war die ganze Strategie, sich in erster Linie auf das Wahlrecht zu konzentrieren, für seine Bedürfnisse geradezu ideal - und Phil war der Architekt dieser Idee. In ihren Erinnerungen an jene Tage beschrieb Lady Bird Johnson Phil und LBJ gemeinsam als eine Art Brücke zwischen zwei sehr festgefahrenen Blöcken der Gesamtbevölkerung. Phil konnte mit beiden Gruppen reden, LBJ jedoch nicht mit eingefleischten Liberalen. »Er redete«, sagte Lady Bird, »aber sie glaubten ihm nicht.«
Am Tag nach der Verabschiedung des Gesetzes schrieb Lyndon an Phil: »Du bist in einer kritischen Situation in die Bresche gesprungen. Das ist etwas, das ich Dir nie vergessen werde. Und ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, dem Land offen zu sagen, daß Du einen ganz entscheidenden Beitrag dazu geleistet hast, daß ein praktikabler Gesetzentwurf verabschiedet werden konnte.« Phil nutzte die Gelegenheit, um Johnson nachdrücklich daran zu erinnern, wie wichtig es sei, seine politische Zukunft im Auge zu behalten. Er riet Lyndon, keine offenen Ambitionen auf die Präsidentschaft zu zeigen: »Deine gegenwärtige Einstellung scheint mir genau richtig zu sein. Jeder, der erkennbar leidenschaftliche Absichten hegt, nach diesem speziellen Amt zu greifen, schadet sich selbst auf doppelte Weise. Er beginnt, die Kontrolle über sein eigenes Urteilsvermögen zu verlieren, und außerdem gibt er seinen politischen Feinden Trost und Hilfestellung. Also verhalt Dich ganz ruhig«, riet Phil. »Dementiere nichts, bestätige nichts - und erst recht keine Spekulationen. Drei Jahre sind eine lange, lange Zeit. Die ganze Hektik und Hechelei solltest Du den Jungs aus Tennessee und Massachusetts überlassen.« Damit waren die Senatoren Kefauver und John F. Kennedy gemeint. Die Anstrengungen, die Phil unternahm, um das Bürgerrechtsgesetz für Johnson über die Hürden zu bringen, waren außerordentlich - zumal zu einer Zeit, da Phil selbst wußte, wie erschöpft er war. Wäre die Hektik an diesem Punkt zu Ende gewesen, dann hätte er vielleicht die Möglichkeit gehabt, nach Glen Welby zurückzukommen, sich zu erholen und seine Kräfte zu regenerieren. Nur knapp einen Monat später entschloß sich jedoch der Gouverneur von Arkansas, Orval Faubus, mit Hilfe der Nationalgarde neun schwarzen Schülern den Zutritt zur Central High School in Little Rock, Arkansas, zu verwehren, die bis dahin weißen Schülern vorbehalten gewesen war. Damit war die nächste Runde im Kampf um die Bürgerrechte eingeleitet. Weil sich Präsident Eisenhower allenfalls theoretisch für die Sache interessierte und ihm ein ungestörter Golfurlaub anscheinend wichtiger war, gab es an diesem Punkt ein Vakuum in der Regierung.
Am Tag, als der Regierungssprecher aus dem High-Society-Ferienort Newport, Rhode Island, vermeldete, der Präsident halte in dieser Situation Geduld für angebracht, hatte die Arkansas Gazette telegrafisch ein Pressefoto erhalten, das den Präsidenten in aller Ruhe beim Golfspielen zeigte. Sie brachte das Bild mit einem entsprechenden Artikel auf der Titelseite und setzte als Unterschrift darunter: »Wie man Geduld übt« (»Study in Patience«). In das Machtvakuum in Washington stieß Phil schnell und entschlossen vor. Er war ein glühender Befürworter der Aufhebung der Rassentrennung in den Schulen, aber er wußte auch, wie hart der Kampf um die Durchsetzung angesichts des erbitterten Widerstands in den Südstaaten werden würde. Also stürzte er sich mit wildem Aktionismus ins Getümmel. Er meinte, genügend über die Hauptakteure zu wissen, um das Problem hinter den Kulissen lösen zu können, und hielt deshalb diverse Telefone Tag und Nacht in Betrieb. Indirekt hatte er ständig Kontakt zum Präsidenten, zu Altpräsident Truman und zu Vizepräsident Nixon. Als Präsident Eisenhower schließlich doch Bundestruppen in Marsch setzte, hörte die Gewalt in Little Rock auf, doch die Affäre sorgte noch zwei Jahre lang für viel Getöse. Der Akt indes, der die unmittelbare Krise beendete, die Entsendung von Bundestruppen, bedeutete für Phil einen schweren Schlag. Er sah darin nicht nur eine schlimme Niederlage für den Süden, sondern auch für sich persönlich.
Phils Aktivitäten im Zusammenhang mit den Vorfällen in Little Rock waren für mich das erste Anzeichen, daß mit ihm irgend etwas nicht stimmte, daß er seine gewaltigen Fähigkeiten zwar aus idealistischen Motiven einsetzte, zugleich aber auf verwirrende Weise irrational handelte. Seine ohnehin schon angeschlagene Gesundheit wurde physisch wie psychisch weiter beeinträchtigt. Nach Little Rock konnte er seine Aktivitäten und seine Fassung - noch einen weiteren Monat aufrechterhalten, doch dann setzte ein erster massiver Depressionsschub ein. Am 28. Oktober erfolgte mitten in der Nacht der totale Zusammenbruch. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Er winselte vor Schmerzen und Verzweiflung und verfiel in eine totale, überwältigende Depression. Er weinte und weinte und konnte überhaupt nicht wieder aufhören. Er sagte, er fühle sich in einer Falle gefangen und könne nicht mehr weitermachen; es sei einfach alles tiefschwarz. Wir waren beide die ganze Nacht auf, und ich versuchte verzweifelt, aber vergeblich, ihm zu helfen, ihm Bestätigung zu geben, ihn zu überzeugen, daß alles schon wieder in Ordnung kommen werde. Ich konnte kaum etwas anderes tun, als in seiner Nähe auszuharren. Wir fanden heraus, daß ein heißes Bad etwas Erleichterung brachte, und so nahm Phil während der Nacht mehrere Bäder, um seine Verzweiflung zu lindern und die Tränen zum Stillstand zu bringen. Am frühen Morgen rief ich meinen Bruder in Baltimore an, der zu jener Zeit im Johns Hopkins Hospital als Psychiater arbeitete.
Ich beschrieb ihm, was geschehen war, und fragte ihn, was ich tun solle. Er gab mir den Namen eines Arztes im National Institute of Mental Health; dieser Psychiater sollte Phil untersuchen, feststellen, wo die Probleme lagen, und ihm dann einen Arzt zur weiteren Behandlung empfehlen. Für uns beide bedeutete es eine Erleichterung, wenigstens irgend etwas tun zu können, wenigstens irgend jemanden zu haben, auf den wir uns in dieser schrecklichen, unbegreiflichen Krise stützen konnten. Phil ging einmal oder zweimal zu dem von meinem Bruder genannten Arzt und wurde dann zu Dr. Leslie Farber überwiesen, zu dem sich eine lange, bizarre Beziehung entwickelte, die letztlich mehr Schaden als Nutzen stiftete. Ich hatte keine Idee, was da geschehen war, und erkannte auch nicht, was sich vor meinen Augen abspielte. Ich konnte die Dinge nicht benennen - noch lange nicht. Ich wußte nur, daß Phil anscheinend einen heftigen und totalen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Dazu hatten meiner Meinung nach all die Aktivitäten geführt, in die er sich im Zusammenhang mit dem Geschehen in Little Rock gestürzt hatte - Tag und Nacht, und dann am Ende die Enttäuschung. Phils Krise wurde so gut es ging geheimgehalten; unser ganzes Bestreben war darauf gerichtet, das Geschehene nicht nur vor der Öffentlichkeit, sondern auch vor unseren Freunden, meiner Familie und sogar vor unseren Kindern zu verbergen. Aus irgendeinem Grund sprach ich nach dem anfänglichen Telefonat nicht einmal mit meinem Bruder über die Vorfälle und über die mutmaßlichen Hintergründe der Krise. Folglich hatte ich auch niemanden, an den ich mich mit der Bitte um Rat wenden konnte.
Ich konzentrierte mich allein auf den Versuch, Phil irgendwie behilflich zu sein. Und doch glaubte ich trotz meines Unwissens über die Krankheit und ihre Zusammenhänge, daß wir die Sache schon meistern würden. Wenn Phil nur genügend Ruhe bekäme, würde er sich erholen, und dann könnte bei uns alles so weitergehen wie bisher. Phil, so dachte ich, müßte doch mit all seiner Selbstsicherheit, seinem Zauber, seinem Humor, seinem Esprit und Scharfsinn in der Lage sein, wieder gesund zu werden. Und dann würde alles wieder seinen normalen Gang gehen. Mithin bestand keine Veranlassung, eine vorübergehende Krise an die große Glocke zu hängen. Alles sprach für Verschwiegenheit.