Vierzehntes Kapitel
Der grösste Teil des Jahres nach Phils Zusammenbruch verging mit seiner allmählichen Genesung. Er wies alle Symptome einer schweren Depression auf - überwältigende Zweifel an sich selbst und seinen Fähigkeiten, den Wunsch, sich von der Welt und anderen Menschen abzusondern, und eine tiefe Unsicherheit, die zu totaler Unentschlossenheit führte. Er konnte sich nicht einmal entscheiden, welche Schuhe er tragen wollte. Schließlich quälten ihn auch noch Schuldgefühle wegen aller möglichen Fehler und Irrtümer. Gelegentlich war sogar von Selbstmord die Rede.
Wann immer es möglich war, flohen wir nach Glen Welby - häufig nur zu zweit, ohne Kinder, denn sogar die Mahlzeiten mit den Kindern waren ihm oft schon zuviel. Diese langen Aufenthalte in Glen Welby waren für mich sehr hart, weil ich Phils einzige Stütze war. Während eines etwa sechs Monate dauernden Zeitraums war er so deprimiert, daß er überhaupt nicht mehr allein sein konnte. Wir gingen nicht mehr aus, und auch ich konnte das Haus nur noch verlassen, wenn Phil bei seinem Psychiater war. Zur Zeit seiner schlimmsten Depressionen war er vollkommen von mir abhängig, beinahe wie ein Kind. Einen Großteil der Zeit hatte ich »Dienst« und mußte mit ihm lange Gespräche führen. Ich gestehe, daß ich manchmal das Gefühl hatte, dem Ganzen entkommen zu müssen, um wieder ein normales Leben zu führen, zum Beispiel Freundinnen zu besuchen. Doch wenn man mit jemandem zusammen ist, der unter derart schweren Depressionen leidet, ist man wie gebannt. Obgleich diese Zeit äußerst anstrengend war, hatte sie auch etwas Aufbauendes: In einem solchen Ausmaß gebraucht zu werden, Phil dadurch helfen zu können, daß wir über alles sprachen, was ihm am Herzen lag, stärkte mich. Manchmal mußte ich auch Themen finden, mit denen ich ihn erreichen konnte. So lernte ich allmählich, hilfreiche Gespräche zu führen; ja ich lernte buchstäblich, überhaupt zu reden. Wenn ich später Stärke zeigen konnte, dann hatte sie ihre Wurzeln vor allem im Durchleben und Überleben dieser extrem anstrengenden Monate. Die meiste Zeit tat Phil, was für an schweren Depressionen Erkrankte typisch ist: Er ging zu seinem Psychiater, las und dachte über grundlegende Dinge nach. Leslie Farber, Phils Psychiater, schwor - als Anhänger von Dr. Rollo May, dem Begründer der humanistischen Schule der Psychologie - auf die Existentialpsychologie. Phil mußte existentialistische Werke lesen-, folglich auch ich. Doch auch Dostojewski, zu dem ich schon immer eine Affinität verspürt hatte, stand auf dem Lektüreplan.
Dr. Farber selbst arbeitete an einer Studie über die Bedeutung des Willens im Leben. Er war es, der in Phil ein Mißtrauen gegen Medikamente förderte, das sich zur Angst, ja regelrecht zum Horror steigerte. Medikamentöse Behandlungsformen oder gar eine Schocktherapie reduzierten laut Farber das Menschliche am Menschen und machten eine ruhiggestellte, vegetative, fischähnliche Existenz aus ihm.
Außerdem glaubte Farber, wenn man eine krankhafte Störung mit einem Etikett versehe, verändere dies die Selbstwahrnehmung des Patienten und die Sichtweise der Menschen in seiner Umgebung. Deshalb nannte er Phils Krankheit niemals beim Namen. Den Begriff »manisch-depressiv« hörte ich erst einige Jahre später. Zu jener Zeit aber war ich verwirrt und orientierungslos; ich verstand einfach nicht, was vorging.
Farber war kein sehr starker Mensch. Kraft seiner Persönlichkeit schien Phil schon von dem Augenblick an das Kommando zu übernehmen, da er Farbers Praxis betrat. Er sagte Farber sofort, das geforderte Honorar sei viel zu niedrig; er werde mehr bezahlen. Farber ließ es geschehen, und von da an war Phil selbst in seinen depressivsten Augenblicken offenbar der Beherrschende in dieser Beziehung. Alle Grundregeln der Psychiatrie wurden außer Kraft gesetzt, denn Farber wurde Phils persönlicher Freund und Bewunderer. Er besuchte uns sogar privat in Glen Welby, und Phil redigierte einige seiner Schriften.
Weil Phil mir überdies alles haarklein erzählte (daß er mir trotzdem nicht alles erzählte, merkte ich erst später), wurde ich indirekt in die gesamte Therapie mit einbezogen. Gleichzeitig mußte ich versuchen, das Leben unserer Kinder so normal wie möglich zu gestalten und den Rest der Welt nichts ahnen zu lassen. Das alles führte dazu, daß ich Ende Januar 1958, drei Monate nach Einsetzen von Phils schweren Depressionen, selbst kurz vor dem Zusammenbruch stand. Die Last wurde unerträglich, und eines Morgens war ich physisch fast gelähmt. Doch wie so viele Menschen war ich einfach nicht in der Lage zuzugeben, daß ich selbst Hilfe brauchte. Außer in Extremsituationen schien es mir ein Zeichen von Schwäche zu sein, psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Phil besprach all dies mit Dr. Farber, und gemeinsam kamen die beiden zu dem bizarren Lösungsvorschlag, auch ich solle bei Farber eine Therapie beginnen. So könne alles unter Kontrolle gehalten und im Zusammenhang gesehen werden.
Allerdings war es sicher recht ungewöhnlich, daß Phil und ich vom selben Arzt therapiert wurden. Farber indes sagte nie, daß es vielleicht doch keine so gute Idee sei, auf diese Weise fortzufahren. So unglaublich es klingt, es gab in den folgenden Jahren eine Zeit, in der ich häufig zu Farber ging, während Phil ihn überhaupt nicht mehr konsultierte. Ich habe Dr. Farber einmal gefragt, ob denn meine ständige Gegenwart an Phils Seite unverzichtbar sei und ob ich nicht bei einem Wochenende in Glen Welby auch einmal Reißaus nehmen könne. Doch er beharrte darauf, daß ich unbedingt weiter bei Phil bleiben müsse. Ich brauchte damals dringend eine leitende Hand und war dankbar dafür, und Farber war mir zweifellos eine gewisse Hilfe. Andererseits aber machte das ständige dreiseitige Gespräch die Sache auch kompliziert. Ich wußte einfach nicht genug, um ein anderes Programm vorschlagen oder gar aussuchen zu können.
Beinahe ein ganzes Jahr lang ging Phil fast überhaupt nicht ins Büro höchstens gelegentlich zu einer Sitzung oder zum Lunch. Er sagte fast alle Sitzungen und öffentlichen Termine ab und hielt keine Vorträge mehr. Allerdings nahm er gegen Ende des ersten Jahres nach Krankheitsausbruch an einer Podiumsdiskussion für Väter und Söhne in Donalds Klasse in der St. Alban's School teil. Mehrmals wöchentlich spielte er in Burning Tree mit unterschiedlichen Partnern Golf. Jedes Wochenende verbrachte er in Glen Welby, manchmal auch die Wochentage. Wenn er reiste, dann meistens im Zug, denn in seinen depressiven Phasen hatte er Angst vor dem Fliegen. Dinnereinladungen nahmen wir nur ausnahmsweise an - meistens im kleinen Kreis, selten auch einmal im größeren gesellschaftlichen Rahmen. Allerdings war es immer riskant auszugehen, weil Phil oft zuviel trank und sich dann sprachlich nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Viele Leute bei der Post brachten Verständnis für Phil auf. Sie wußten, daß er sich überanstrengt hatte und Ruhe benötigte, aber niemand wußte genau, was passiert war teilweise, weil Phil selbst seine Lage gut kaschieren konnte, und teilweise, weil ich dabei behilflich war, seine Abwesenheit zu erklären und seine Exzesse zu verbergen. Phil selbst wußte nicht genau, was wirklich mit ihm los war. Monate nach seinem Zusammenbruch erklärte er brieflich seine Antriebslosigkeit immer noch folgendermaßen: »Ich habe mir eine Art Freijahr genehmigt, nachdem mich die Grippe mehrfach gepackt und die Erschöpfung überhandgenommen hatte ...« Er habe »eineu Winter mit sterbenslangweilig schlechter Gesundheit« hinter sich. Seine Sekretärin schrieb, Phil sei »auf ärztliches Anraten mehrere Monate aus dem Verkehr gezogen« worden und müsse sich ausruhen.
Zum Glück fielen diese Jahre seiner Inaktivität mit einer Zeit zusammen, in der die wesentlichen Fortschritte bei der Zeitung bereits konsolidiert waren. Erfreulicherweise gab es damals auch einen starken landesweiten Boom in der Wirtschaft, folglich auch beim Anzeigenaufkommen. Davon profitierte unsere Zeitung geschäftlich: 1957 wurde ein Rekordgewinn von 2 Millionen Dollar ausgewiesen, und 1958 war die Post die einzige Washingtoner Zeitung, die ihr Anzeigenaufkommen vergrößern konnte. Der Vorsprung des Star vor der Post war innerhalb von nur fünf Jahren erheblich geschrumpft: Statt 18 Millionen war der Star uns nur noch um 3 Millionen Anzeigenzeilen pro Jahr voraus.
Phils Depression von 1957 war zwar schon schlimm, doch im Vergleich zu den Krankheitsschüben, die ihn später trafen, war sie noch relativ harmlos. Er war offenkundig krank und litt auch noch unter »normalen« Beschwerden, zum Beispiel häufigen Grippe- und Virusinfekten. Zu diesem Zeitpunkt konnte er jedoch mit gebremster Kraft seinen Aufgaben noch nachkommen, wenn es nötig war. Zwar mußte er sich schonen, aber er konnte schriftlich und telefonisch trotzdem eine Menge erledigen. Weiterhin arbeitete er mit Lyndon Johnson zusammen, traf sich gelegentlich mit ihm, beriet ihn brieflich oder entwarf Reden für ihn. Johnson schrieb ihm gelegentlich, wie sehr er seinen »Lieblingsratgeber« vermisse. Phil wurde nun auch schriftstellerisch aktiv - vielleicht ein Zeichen dafür, daß er sich insgeheim nach einem anderen Leben sehnte: Er schrieb Theaterstücke, unterhaltsame Verse und ausführliche Bulletins für den Lake Philip Yacht Club, deren Humor allerdings sehr anspielungsreich und gewunden war - aber auch seriösere Arbeiten, zum Beispiel im Sommer 1958 eine lange, sehr positive Besprechung von John Kenneth Galbraith' Buch The Affluent Society (Gesellschaft im Überfluß) für die Washington Post. Er begeisterte sich für ein Buch der französischen Autorin Germaine Tillion, Algerien, und empfahl es jedem; an seine Freunde verschickte er zahlreiche Exemplare, darunter auch an Lyndon Johnson und John F. (»Jack«) Kennedy. Kennedy schrieb er:
Ich sende Ihnen ein kleines Buch, das Sie in einer Stunde lesen können, Jackie braucht vielleicht nur fünfzig Minuten ... Ich hoffe, Sie werden es lesen. Vielleicht sagen Ihnen die speziellen Gedanken der Autorin zum Thema Algerien zu, vielleicht auch nicht. Aber ich schicke das Büchlein aus einem anderen Grund. Ich meine nämlich, daß die Autorin in ihrer allgemeinen Analyse unterentwickelter Länder Kluges und Wichtiges zu sagen hat - und damit über ein bedeutendes Problem unserer unmittelbaren Zukunft.
Ich kenne sonst fast niemanden in der Ersten Welt, der schon damals über die Dritte Welt nachdachte und die Bedeutung der Entwicklungshilfe erfaßte. In dieser Zeit sahen wir meine Eltern viel seltener als früher, aber die Jubiläumsparty zum fünfundzwanzigsten Jahrestag des Kaufs der Washington Post durch meinen Vater richteten wir 1958 natürlich wieder in Glen Welby aus. Viel Zeit verbrachten wir damals mit den Restons; Phil traf sich auch getrennt mit Scotty zu langen Gesprächen, in deren Verlauf er zum wiederholten Mal versuchte, ihn für die Post zu gewinnen. Doch Scotty gab ihm erneut einen Korb. Er gehörte zwar zu Phils engsten Freunden, lehnte aber Phils aktives politisches Engagement bei Fragen ab, über die er auch in der Post schreiben ließ. Daß Phil das Blatt zur Förderung seiner eigenen politischen Ziele benutzte, konnte er ebenfalls nicht gutheißen. Um diese Zeit lernte Phil den berühmten Strafverteidiger Edward Bennett Williams kennen. Die beiden waren sich im Frühsommer 1957 begegnet, als Williams den Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa, den berüchtigten Chef der Transportarbeiter, verteidigte. Hoffa war angeklagt, einen Mitarbeiter von Senator John McClellan bestochen zu haben. Gebannt verfolgte Phil den Prozeß, einen seiner Meinung nach für die Verteidigung hoffnungslosen Fall. Später erinnerte sich Ed lebhaft an seine erste Begegnung mit Phil:
- Wir begannen miteinander zu sprechen und verstanden uns auf Anhieb. Manchmal stimmt die Chemie eben, und dann entwickelt sich sofort eine gute Beziehung. Weil man sich wirklich versteht, kann man sich sogleich in Kurzform verständigen ... Ich hatte eigentlich vorgehabt, zu Hause noch zu arbeiten, denn für den nächsten Prozeßtag war noch allerhand vorzubereiten, doch dann kam Phil mit mir nach Hause, und wir unterhielten uns fast die ganze Nacht ... Nach sechs Stunden hatte ich das Gefühl, fast alles über ihn zu wissen, und er wußte über mich genausoviel ...Wir erhielten unsere Freundschaft aufrecht, unsere spontane Freundschaft, und dann merkte ich - nicht allzu lange, nachdem wir uns kennengelernt hatten, daß er unter depressiven Phasen litt; er erzählte mir, manchmal könne er morgens einfach nicht aufstehen. Schon in einem ziemlich frühen Stadium unserer Freundschaft sagte er mir: »Weißt du, wenn du mal überhaupt nicht aus dem Bett kommen kannst, wenn du dir am liebsten die Decke wieder über den Kopf ziehen und die Vorhänge wieder zuziehen willst, um die Sonne nicht hereinzulassen, dann mußt du dich zwingen. Du mußt dich einfach dazu zwingen. Du mußt dich antreiben, die Vorhänge zu öffnen und das Tageslicht hereinzulassen. Du kannst nicht in diesem Zimmer bleiben. Wie alle derart deprimierten Menschen wußte er nicht, warum er deprimiert war. Ich hatte immer das Gefühl, daß er unter schrecklichen Selbstzweifeln litt - ob er auch so erfolgreich hätte sein können, wenn er Dich nicht geheiratet hätte. Mit anderen Worten, ob er beruflich auch so hoch aufgestiegen wäre, wie es ihm gelungen war, wenn er nicht Kay Grahams Ehemann und Eugene Meyers Schwiegersohn gewesen wäre und wenn man ihm die Aktien der Post nicht geschenkt hätte. Ob er es auch geschafft hätte, wenn er nur Phil Graham gewesen wäre, der in Harvard einen glanzvollen Abschluß in Jura gemacht und dann als Felix Frankfurters Assistent gearbeitet hatte. Ich habe ihm dann immer gesagt: »Wie zum Teufel kannst du denn daran zweifeln, wenn du Felix Frankfurters Assistent gewesen bist?« Wer damals Assistent eines Richters am Supreme Court war, gehörte automatisch zu den achtzehn besten Juraabsolventen in ganz Amerika; und außerdem kam er aus der besten juristischen Fakultät des Landes und hatte dort Spitzenresultate erzielt. Da war es doch unvermeidlich, daß ihm eine absolute Topkarriere mit entsprechenden Erfolgen bevorstand. Aber nein, seine Selbstzweifel machten ihn total verrückt.
Phil erzählte mir in allen Einzelheiten von seinen Begegnungen mit Ed, aber er brachte ihn nie mit nach Hause. Ich kann mich erinnern, Ed und seiner ersten Frau Dorothy begegnet zu sein, doch damals entwickelte sich zwischen uns keine Freundschaft zu viert; die Beziehung blieb auf die beiden Männer beschränkt. Erst sehr viel später wurden Ed und ich enge Freunde. Phil erzählte mir über seine erste Begegnung mit Dorothy Williams, die mit einem deformierten Arm zur Welt gekommen war. Dabei erlaubte er sich etwas Waghalsiges, was ihm ja von Natur aus leichtfiel. Er sagte: »Hallo, meine Liebe, was ist denn mit deinem Flügel los?« Dorothy wußte seine ehrliche, wohlwollende Neugier offenbar zu schätzen, zumal sie sich wohltuend von der Art und Weise abhob, mit der viele andere ihren Arm einfach ignorierten oder woanders hinsahen. Außer mit Dr. Farber habe ich damals mit niemandem über Phil und seine Probleme gesprochen, und das machte mir zunehmend schwer zu schaffen. Deshalb stürzte ich mich, vielleicht auch als Teil meiner Verschleierungsstrategie bezüglich der wahren Situation, noch stärker als zuvor in meine ehrenamtlichen Aktivitäten im sozialen Bereich. Obwohl ich mir alle Mühe gab, verstand ich Phil damals wirklich nicht und reagierte auf seine tieferen Bedürfnisse sicher nicht optimal.
Ich weiß bis heute nicht, ganz zu schweigen von damals, wie stark der Druck war, den er als Schwiegersohn des Verlegers der Post verspürte. Möglicherweise wollte er wirklich aus der Ehe mit mir ausbrechen, hatte jedoch das Gefühl, dies sei wegen der Zeitung unmöglich. Als ich selbst soweit war, daß ich dieses potentielle Motiv erkennen konnte, war seine Krankheit allerdings schon so weit fortgeschritten, daß man nicht mehr trennen konnte zwischen dem, was Folge der Krankheit war, und den Gefühlen, die zur Erkrankung beigetragen hatten.
Auch in den ersten Jahren seiner Krankheit blieb Phil die bei weitem beherrschende Gestalt in unserer Familie. Und doch hatte auch ich etwas zu sagen, weil ich für Stabilität sorgte. Ich weiß nicht mehr genau, wann Phil den Vorschlag machte, einfach unsere Sachen zu packen, die Kinder aus der Schule zu nehmen und ein paar Jahre im Ausland zu leben, aber es muß irgendwann Anfang 1958 gewesen sein. Ich hielt diese Idee für abwegig. Daß Phil seine Arbeit aufgeben würde und die Kinder entwurzelt und in französische Schulen geschickt werden würden - das alles erschien mir völlig undenkbar. Aber hatte Phil vielleicht recht? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich mich damals mit dieser Idee absolut nicht anfreunden konnte. Im Sommer 1958, nach Monaten beruflichen Zurücksteckens, schrieb Phil seinem Vater: »Langsam geht es mir etwas besser, aber das war ein langwieriger Prozeß. Ich ermüde immer noch öfter, als mir lieb ist, und ich glaube, ich muß noch ein paar Monate lang mit reduziertem Tempo leben. Wenn das nicht so wäre, dann würde ich mich ins nächste Flugzeug setzen und zu einem Besuch angejettet kommen...«
In Wirklichkeit hatte Phil damals aber zu seiner eigenen Familie noch weniger Kontakt als zu meiner. Sein Bedürfnis, eine Weile zurückzustecken und wieder zu Kräften zu kommen, mußte somit die ganze Zeit über als Erklärung für seine Abwesenheit herhalten. Im Sommer und Herbst des Jahres 1958 nahm sich Phil allmählich etwas mehr vor, aber nur wenig. Seine Geschäftsinstinkte funktionierten jedoch immer noch auf hohem Niveau. Über einen längeren Zeitraum war er in Kaufverhandlungen engagiert, um für 7 Millionen Dollar die Greensboro News and Record zu übernehmen, die einzige Zeitung dieser Stadt in North Carolina und zugleich Besitzerin der einzigen lokalen Fernsehstation, WMFY, die mit CBS assoziiert war. Letztlich wurde aus diesem Deal leider nichts, weil ein Mitglied der Eigentümerfamilie der Zeitung sich nicht zum Verkauf durchringen konnte; aber Phil war monatelang am Ball. Danach ging er mit gleicher Energie an Neubauten in der eigenen Domäne: WJXT in Jacksonville erhielt ein neues Gebäude, und die Post bekam für 5 Millionen Dollar einen 1960 fertiggestellten Anbau. Mein eigenes Leben entwickelte sich damals so, daß ich mich an Phils veränderte Lage anpaßte, aber auch an die sich wandelnden Bedürfnisse meiner vier Kinder und meiner alternden Eltern. Meine Mutter rief oft bei uns an und ließ uns auf ihre Weise wissen, daß wir sie vernachlässigt hatten. Dann deutete sie an, wie oft sie ihre anderen Kinder sehe, und ließ Bemerkungen fallen wie: »Ruthie ist großartig, sie ruft jeden Tag an.« Oder sie kam gleich direkt zur Sache, indem sie etwa sagte, Bis habe sich sehr umsichtig um sie gekümmert.
Meine Besuche bei ihr wurden selten erwidert, was nach 1957 für mich sogar hilfreich war, weil ich ihr so Phils Krankheit und meine damit zusammenhängenden Gefühle leicht verheimlichen konnte. Wie üblich erkundigte sie sich nur selten nach meinem Wohlergehen; und wenn sie doch einmal gefragt hatte, nahm sie sich nicht die Zeit zum Zuhören. Wie Phil litt sie häufig unter Erkältungen, Grippe oder gar Lungenentzündung. Einen ganzen Winter mußte sie fast durchgängig im Bett bleiben. Vermutlich hatten auch ihre Erkrankungen eine depressive Komponente, und sie sprach ebenfalls ziemlich regelmäßig dem Alkohol zu. Dann verschlechterte sich - gerade als es Phil wieder etwas besser ging - der Gesundheitszustand meines Vaters, was mir große Sorgen machte. Er war jetzt dreiundachtzig Jahre alt und baute stark ab. Zunehmend wurde er zum Problem für meine Mutter, die sich hilfesuchend an Phil und mich wandte. Es fiel ihr sehr schwer, sich auf die eigene Arbeit zu konzentrieren, weil mein Vater oft schwierig und in düsterer Stimmung war. In einem Brief an mich schüttete sie ihr Herz aus und schrieb, daß sie sich über Papas geistigen Zustand immer größere Sorgen mache. Wir sollten wissen, »wie prekär die Balance zwischen Stabilität und Neurosen« bei ihm inzwischen geworden sei. Und sie fuhr fort:
- Die Zukunft macht mir regelrecht angst. Als er noch stark war, konnte ich mich wehren. Aber das kommt jetzt überhaupt nicht mehr in Frage. Er besiegt mich durch seine Schwäche, und ich bin hilflos. Ich seid deshalb die einzigen, die mir noch helfen können, Du und, offen gesagt, besonders Phil, der alles sagen darf, weil er der einzige ist, der überhaupt nichts verkehrt machen kann.
In den folgenden beiden Jahren, in denen Mutter immer mehr mit Papas zunehmender Schwäche zu kämpfen hatte, verließ sie sich mehr denn je auf uns, besonders auf mich; sie ging auf Vortragsreisen und überließ uns Papa. Eines Tages war ich doch sehr überrascht, als ich in einer New Yorker Zeitung ein Interview mit ihr las, in dem sie zur Rolle der Frau gesagt hatte, man könne zwar sehr wohl seine eigene Arbeit haben, aber zuallererst müsse man sich immer um den Ehemann kümmern. Sie sagte sogar, sie trage, bevor sie auf Reisen gehe, immer dafür Sorge, daß mein Vater etwas zu tun habe und nicht allein sei. Dieses »Arrangement« bestand allerdings nur darin, daß sie mich anrief und bat, ich möge Bridgepartien und Gesellschaft für ihn organisieren. Weil ich gerade zu dieser Zeit sehr viel zu tun hatte und mich (im Unterschied zu ihr) nicht auf die Dienste einer Sekretärin verlassen konnte, ganz zu schweigen von den nervenaufreibenden Anstrengungen im Zusammenhang mit Phils Erkrankung, war ich wirklich entrüstet, als ich diese Interviewäußerungen las. Während meine Mutter immer mehr in ihrer Arbeit aufging und mit sich selbst beschäftigt war, wurden Phil und ich Papas wichtigste Stütze, und auch er verließ sich immer stärker auf uns. Auf der Suche nach Gesellschaft kam er zu uns nach Hause, und gelegentlich ließ er uns an seinen Problemen teilhaben; oft beschwerte er sich über Mutters Trinkerei. Als seine verehrte ältere Schwester Rosalie Stern gestorben war, überbrachten wir ihm die Nachricht. Er war am Boden zerstört und brach in Tränen aus. Nach Phils Zusammenbruch fiel es mir jedoch schwerer, stets für meinen Vater da zu sein. Auch teilte ich, um Phil zu schützen, bedauerlicherweise weder meinem Vater noch irgend jemandem sonst mit, was bei uns wirklich los war. Dabei waren mir die Probleme eigentlich nicht peinlich; nein, sie waren nur etwas ganz Privates, das andere nichts anging. Wir gingen beide immer noch davon aus, daß Phil die Probleme überwinden könne. Allerdings spielte auch das mit seelischen Erkrankungen verbundene Stigma eine Rolle. Phil sagte einmal zu Don: »Das heißt, ich kann nie mehr Minister werden.« Papa muß wegen Phils Gesundheitsproblemen verunsichert und besorgt gewesen sein, doch zum Glück starb er selbst, ehe die Sache mit Phil wirklich kritisch wurde. Er war so total von Phil überzeugt, daß die Wahrheit ein unerträglicher Schlag für ihn gewesen wäre. Ich glaube, es gab überhaupt nur drei Leute, die mein Vater uneingeschränkt liebte und respektierte: seinen Bruder Edgar, seinen Partner Gerald Henderson (die beide schon in jungen Jahren verstorben waren) und Phil. Auch mir gegenüber waren die Gefühle meines Vaters sehr stark, aber ich konnte die Rolle, die jeder dieser drei Männer in seinem Leben gespielt hatte, nie in vergleichbarer Weise ausfüllen. Phil erwiderte Papas Gefühle und zeigte dies auch fast immer, wenn er mit ihm zusammentraf.
Anfang 1959 beschlossen Phil und ich, im Sommer unseren Kindern einige Monate lang Europa zu zeigen. Lally war bald sechzehn, Don vierzehn, und wir glaubten, daß dies die letzte Möglichkeit sei, die beiden Älteren auf eine solche Bildungsreise mitzunehmen. Doch eines Tages im Frühjahr hatte ich mit angesehen, wie mein Vater Blut spuckte, woraufhin er seinen Kopf geschüttelt und gesagt hatte: »Das sieht gar nicht gut aus.« Ich verstand in diesem Augenblick nicht genau, was er meinte, aber er muß gewußt haben, daß dies auf Lungenkrebs hindeutete. Mir wurde klar, daß sein Tod nun immer näher kam. Das machte mir schwer zu schaffen, und ich war innerlich furchtbar zerrissen, weil ich ihn gerade zu dieser Zeit allein lassen wollte; immer noch kann ich nicht verstehen, warum ich es tat. Wie lange die Verschlechterung des Zustands bei meinem Vater noch andauern sollte, war schwer abzusehen. Sein Arzt meinte, Vaters Verfassung sei ziemlich stabil und der Verfall werde wohl langsam, aber stetig voranschreiten. Allerdings sei eine Überraschung natürlich jederzeit möglich. Selbst meine Mutter gab meiner Reise ihren Segen, indem sie mir schrieb:
Mach Dir keine Sorgen um mich. Papa ist so geduldig, von solch stoischer Ruhe, daß es erhebend ist, bei ihm sein zu dürfen. Als Adlai hier war und mich bedauern wollte, habe ich ganz bestimmt zu ihm gesagt: »Ich brauche kein Mitleid. Man sollte mich beneiden.« So sieht es aus, Liebling. Genieße die Zeit und alle Erlebnisse in der Gewißheit, daß hier drüben bei uns alles in bester Ordnung ist.
Etwas beruhigter war ich erst, als Phil zunächst zu Hause blieb, um noch Arbeit zu erledigen und bei Papa zu sein. Phil brachte uns nach New York, und ich machte mich mit den vier Kindern am 24. Juni auf den Weg nach Paris. Die ganze Zeit war ich in Gedanken bei meinem Vater, besonders als ich von meiner Mutter einen Brief bekam, in dem sie berichtete, daß der Sohn meines Bruders Bill eine Radtour durch Frankreich unternehmen wolle. Sie schrieb: »So wird also die dritte Generation gerade in dem Augenblick flügge, da der Mann, der ihnen, ohne daß sie es wissen, die Sicherheit geschenkt hat, sich anschickt, seine Flügel für immer zusammenzufalten.« Trotz meiner Gewissensbisse, gerade jetzt nicht zu Hause sein zu können, hatte ich während unseres ganzen Europaaufenthalts das Gefühl, in eine andere Welt geraten zu sein. Wie ich Phil schrieb, fühlte ich mich »so weit weg, daß ich nicht einmal in meiner Phantasie zurück kann zu Crescent Place und R Street«. Phil kümmerte sich daheim um die Bedürfnisse meiner Eltern und nahm meiner Mutter ein wenig die Last der Besuche im Krankenhaus ab. Denn als sich der Zustand meines Vaters verschlimmert hatte, war er ins Krankenhaus gekommen. Ein Brief, den mir Phil aus Glen Welby schrieb, ehe er in Europa zu uns stieß, schenkt mir noch heute große Freude und Trost. Denn was in den folgenden Jahren über mich hereinbrach - die Krankheit, das Chaos und der Kummer - verwirrte mich hinsichtlich der wahren Gefühle, die Phil für mich hegte, so sehr, daß ich mich immer noch mit dem Gedanken tröste, daß dieser Brief aus einer ferneren Vergangenheit seine wahren Gefühle wiedergibt. Er wurde zu einem Zeitpunkt geschrieben, da sich Phils Depressionen gerade gelegt hatten und er sich seinem alten Gleichgewicht näherte. Hier kam der alte Phil wieder zum Vorschein, jener Phil, den ich kannte und liebte:
Dies ist ein so überaus seltsamer Ort, wenn man allein ist. Das gilt für alle Orte, aber am meisten für diesen, und danach für R St(reet). Vor ein paar Stunden dachte ich an J Alsop in unserem Haus am Sonntagnachmittag vor genau einer Woche, und daran, daß er sagte, er empfinde es als Verlust, keine Familie zu haben. Damals habe ich diesen Worten keinen Glauben geschenkt, das heißt, ich habe sie nicht mit dem Herzen geglaubt, und wenn ich nur mit dem Kopf an die Sache herangehe, scheint mir diese Art Verlust nicht so schlimm zu sein. Wenn aber auch das Herz und nicht nur der Kopf in Aktion tritt, kann man sich alles besser vorstellen - deshalb ist die Vorstellungskraft wahrscheinlich eine der größten Fähigkeiten des Menschen. Mir ist überhaupt nicht klar, wie stark J Alsop unter diesem Verlust leidet, aber es ist völlig klar, daß jemand, der zunächst keine Familie gehabt hat, ihren Verlust nicht so spüren kann wie jemand, der eine hat. Verlust ist eigentlich ein ziemlich ungenaues, hochtrabendes Wort für eine Abwesenheit von wenigen Tagen. Abwesenheit trifft ebenfalls überhaupt nicht, was ich denke. Und was denke ich? Erinnerungen sind, glaube ich, das, worum es hier eigentlich geht. Ein Heim ist - um den Ausspruch meiner Madame umzudrehen - kein Haus, sondern ein großer Erinnerungsspeicher, und wenn es aus diesem Grund guttut, ein Heim zu haben, dann ist dies auch der Grund, warum ein Heim, wenn man darin allein ist, fast unerträglich wird. Kurz vor Sonnenuntergang, um nur ein Beispiel zu nennen, ging das weiche Licht so sicher auf sein sanftes Ende zu, daß man es gar nicht ignorieren und drinnen, im Haus, verstreichen lassen konnte. Außerdem waren da noch unsere Freunde (die Hunde). Also bereitete ich mir schnell einen großen Becher Scotch mit Eis, pfiff sie herbei und stieß das Insektengitter an der Vorderseite auf, runter zum Tor, das auf die staubige Zufahrt führt. Dort rannten sie sofort los, Richtung Lake K. »Nein«, rief ich, »nein, nein«, und pfiff sie zurück. »Wir gehen heute den Zufahrtsweg bis zum Eingangstor, so wie sonst Mami!« Und dann setzten wir uns in Bewegung, George total müde, bis er in der Kurve beim Sägewerk plötzlich ein Kaninchen erspähte und schnell wie der Wind bis zur Brücke jagte (leider wieder ohne Erfolg). Als wir uns der Wegsenke bei der Brücke näherten, sah ich Dich vor mir, schwer und traurig, so wie ich Dich vor über einem Jahr gesehen habe, als ich unten bei der Scheune stand und Dich beobachtete, wie Du in einer ähnlichen Sonnenuntergangsstimmung allein und sorgenschwer spazieren gingst. Ja, voller Sorgen, die ich Dir bereitet hatte. Kann ich sie beiseite wischen, kann ich sie aufräumen, so wie man am Monatsende bei einem Bankkonto Bilanz zieht, und sagen: Aber da waren doch auch meine Sorgen, schwer und nicht unbegründet? O nein, aus meiner Erinnerung wird nichts verschwinden, nichts wird sich gegenseitig aufheben, und ich werde mich auch nicht mit einem leicht dahingesagten Lamento entlasten: mea culpa. Nein, diese Sorgen, mit denen Du so schwer belastet umhergegangen bist, auch sie gehören zu meiner Erinnerung. Als Teil einer langen Geschichte. Und das wußte ich, als wir zur Brücke kamen und die drei (Hunde) sich erhitzt durch die Pflanzen am Ufer ins kühle Naß des Baches stürzten. Auch diese Brücke war erinnerungsschwer, tausend Erinnerungen, ganz besonders eine bestimmte an eine tiefdunkle Nacht, als es in mir so dunkel war wie draußen die Nacht und ich auf dieser Brücke saß und mit meinem guten roten Hund redete. Direkt jenseits der Brücke war der Waldrand hell von Taglilienblüten, und sie übersprangen den Fahrweg und blühten an den Grundmauern des alten Tagelöhnerhauses weiter, wo sie sich mit dem leuchtenden Rot der Stockrosen vermengten. Und genau in diesem Augenblick riefen aus der Stille der Wälder hinter mir gleichzeitig drei Wachteln. Da sagte ich mir: Du mußt dir jede Einzelheit von allem, was du gesehen hast, merken und Kay davon berichten ... Und was haben wir getan? Großartiges Dinner gestern abend - Vickys und Nickys 13. Geburtstag (Kinder von Al Friendly) - mit Hähnchen von Erlene, Kuchen von Susiebelle und Champagner von Dir! Danach Bridge. Dann heute ein bißchen Tennis in brütender Hitze, und danach kam Agnes (die Schwiegermutter) zum Lunch heraus. Für sie war's wirklich zu heiß, um zum Lake K hinunterzugehen, da sind wir beide unter den Ulmen vor dem Haus in einem schönen Luftzug auf und ab gegangen, während die Friendlys schwammen. Dann Stühle und einen Tisch für die Gläser unter die Ulmen vor dem Haus geholt und in der Brise gesessen. Jean (Friendly) hat Rumcocktails gemixt, und dann gab's Geflügelsalat, den der Koch (aus Washington) mitgeschickt hatte, Erlenes Hamburger und danach noch mehr Kuchen und Eiscreme. Ein schöner Tag für Agnes, sie fuhr um halb vier; dann noch mehr Bridge bis fünf Uhr, bis die Es fuhren. Und dann dachte ich, was nun, wo Kate doch gesagt hat, ich solle hier nicht allein sein. Aber ich bin lieber hier einsam als in der Stadt. Also sind meine Perlen und ich im Jeep zum Lake P gefahren und haben uns ein wenig an der Angel versucht. Aber es war langweilig und zu heiß, und ich kam zurück. Dann wurde ich, wie gesagt, auf den Sonnenuntergang aufmerksam und ging in die sinkende Sonne. Ich werde also hier übernachten, einigermaßen zeitig aufstehen und zum Frühstück in die Stadt fahren. Den Sonnenuntergang am nächsten Sonntag werde ich mit Dir in Paris erleben - ebenfalls von einer Brücke, wenn Du so lieb sein willst, das zu organisieren. Bis dahin, meine Liebste, wirst Du diesen Brief hoffentlich als das nehmen, als was er gedacht ist - und bei Gott, er ist es wirklich! - als Liebesbrief. Deine Last und Dein Erhalter, und immer der Deine in Liebe,
Phil
Die Kinder waren von den Ferien von Anfang bis Ende begeistert. In Paris gingen sie oft allein auf Entdeckungsreise. Zu viert stiegen sie gemeinsam auf das Dach des Arc de Triomphe, und sie unternahmen Kutsch- und Busfahrten. Im Bus wurde Donny einmal in der Tür eingeklemmt, und als Lally ihm zu Hilfe kam, mußte sie von einer hilfreichen Engländerin aus einem hitzigen Streitgespräch mit dem Busfahrer errettet werden. Ich verbrachte die Zeit mit den Kindern in einer freundschaftlichen und harmonischen Atmosphäre. Es gab aufregende Momente, etwa als Don ganz alleine zu den Pferderennen in Saint-Cloud ging und als großer Gewinner zurückkam. Als Phil in Paris zu uns stieß, berichtete er, mein Vater sei nach Hause entlassen worden, dann aber wieder in die Klinik zurückgekehrt. Meine Mutter hatte versucht, für ihn in dem Haus am Crescent Place einen regelrechten Klinikbetrieb aufzuziehen, aber sie hatte, wie Phil anmerkte, weder das Naturell noch die Kompetenz für diese Aufgabe. Alle hatten sie überzeugt, daß Papa im Krankenhaus besser aufgehoben sei. Phil war sich sicher, daß es richtig gewesen war, bei unseren Reiseplänen zu bleiben. Trotz einiger alarmierender Situationen war die Lage seiner Meinung nach unverändert: eine langsame Verschlimmerung. Besuch am Krankenbett bedeutete Papa kaum noch etwas, und Mutter hatte Beistand von Bis, Bill und Ruth. Doch ich fühlte mich mit gutem Grund hin- und hergerissen. Aus heutiger Sicht war dieser Sommer für die Kinder herrlich, für mich jedoch verkehrt. Ich kann den Gedanken daran kaum aushalten, daß ich nicht bei meinem sterbenden Vater geblieben bin. Aus Venedig schrieb Phil meiner Mutter einen bewegenden Brief:
Heute morgen bin ich um Viertel vor sechs aufgewacht und habe an Dich und die letzten Wochen gedacht, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich Dich von nun an nur noch mit Deinem Namen ansprechen kann, wofür Du hoffentlich Verständnis hast. Kay ist etwas später ebenfalls aufgewacht, und wir haben uns im Dunkeln sehr warmherzig über Dich unterhalten, während im Hintergrund unter unseren Fenstern die Morgengeräusche auf dem Kanal gerade anfingen... Ich habe den Eindruck, daß Du Dich mit der Liebe sehr schwer tust (wie wir alle wahrscheinlich, und zu den meisten kommt die wahre Liebe nie und wird auch nicht vermißt) - und daß Du Dich schon immer schwer damit getan hast. Aber jetzt ist sie in Dir, eine mächtige, erschütternde, erschreckende, wunderschöne Liebe zu diesem tapferen alten Mann. Du sagst kümmerliche Worte wie, daß Du »eine Aufgabe zu erledigen« hast oder daß Du »in der Lage bist, alles auszuhalten«, und Du hast recht: Es ist besser, sich verhüllt auszudrücken, weil die wahren Worte zu große Erschütterungen verursachen. Aber er weiß, was in Dir ist, und das ist die Erfüllung seines Lebens. Der Kelch seines Lebens läuft über. Und mir geht das Herz ebenfalls über, vor Freude über Euch beide.
Aus Venedig zogen wir in ein einfaches Strandhotel im Badeort Forte dei Marmi um. Und dort erreichte uns die Nachricht, daß es meinem Vater nun wirklich sehr schlecht gehe; wir sollten sofort nach Hause kommen. Phil und ich überließen unsere Kinder der College-Studentin, die mit uns reiste, und flogen umgehend nach New York zurück und von dort weiter nach Washington, insgesamt sechzehn Stunden. Der Gedanke, beim Tod meines Vaters zugegen zu sein, beunruhigte mich so tief, daß ich hin- und hergerissen war zwischen dem Wunsch, ihn zu sehen, und der Hoffnung, es möge schon alles vorüber sein. Er starb zwei Tage nach unserer Rückkehr, und er wußte, daß ich da war.
Die Reaktionen der Menschen auf einen Todesfall, speziell den eines Elternteils, sind immer kompliziert, weil viel von den eigenen Gefühlen auch mit einem selbst zu tun hat sowie damit, daß nun nichts mehr zwischen der eigenen Person und dem Sterben steht. Auf einmal verkörpert man selbst die ältere Generation. Ich glaube, je enger und liebevoller die Beziehung ist, desto tiefer, aber auch eindeutiger ist der Schmerz.
Meine Mutter war emotional schon immer so kompliziert gewesen, daß Papas Tod sehr hart für sie war. Sie hatte unter der Last seines Alterns gestöhnt, doch als er starb, versank sie in tiefe Depressionen. Es war, als hätte sie sich gegen eine Tür gelehnt, die ganz plötzlich aufgesprungen war. Für meinen Vater fand am Crescent Place eine private Trauerfeier statt sowie ein mehr öffentlicher Gedenkgottesdienst in der nahe gelegenen All Souls Unitarian Church - obwohl er nie zu dieser Gemeinde gehört hatte. Ich vermute, daß es gar nicht so einfach war, einen geeigneten Ort für das Gedenken an einen nichtreligiösen Juden zu finden. Chief Justice Earl Warren, ein Freund meiner Eltern, hielt die Totenrede, die meiner Meinung nach aus der Feder von Sidney Hyman stammte. Rudolf Serkin spielte mit seinem Streichquartett. Die ganze Feier war schlicht und anrührend. Und ich konnte einfach nicht glauben, daß Papa verschieden war.
Eine Woche später verließen wir Washington wieder, um unsere Kinder in Rom abzuholen. Während unserer Abwesenheit hatten sie sich in Italien und in die verrückten Italiener verliebt. Die Kinder waren gute Touristen und fanden sich prima mit allem ab; sogar zu dem damals erst siebenjährigen Steve waren sie sehr rücksichtsvoll. Als wir in London ankamen, ging es uns allen so gut, daß wir uns entschlossen, den Aufenthalt um fast drei Wochen zu verlängern und mit dem Dampfer zurückzufahren, der »Mauretania«.
Für mich war die Reise auf ihre Weise wunderschön, trotz meiner Trauer und der Schuldgefühle meinem Vater gegenüber, die bis heute anhalten. Und für Phil war die Reise ein großer Schritt zur Genesung. In jenem Herbst war er schon wieder beträchtlich aktiver, vor allem politisch, aber auch als Redner.
Politisch war das ganze Jahr 1960 sehr aufregend. Wenn man weiß, daß jemand aus der eigenen Generation für das Präsidentenamt kandidiert (und sogar gewählt wird), dann ist das regelrecht packend. In den späten fünfziger Jahren hatten wir Senator Jack Kennedy kennengelernt. Er gehörte zu jenen, die wir dank Joe Alsop viel besser kannten, als es sonst möglich gewesen wäre. Alsop hatte sich schon sehr frühzeitig entschieden, Kennedy rückhaltlos zu unterstützen. Auch Phil und ich hatten die Kennedys schon auf großen Partys getroffen; sie sahen strahlend und schön aus, aber ich nahm Jack Kennedy zunächst nicht ernst.
Ich kann mich noch erinnern, daß ich, als Joe irgendwann um 1958 sagte, Kennedy werde eines Tages Präsident werden, ausrief: »Joe, das kann doch nicht dein Ernst sein. Du glaubst doch nicht wirklich, daß Kennedy Präsident sein könnte, oder?« Doch Joe blieb unbeirrt.
Kurz zuvor waren die Kennedys in ein Haus in der N Street in Georgetown gezogen, und irgendwann im Spätherbst oder Winter 1958/59 hatte uns Joe zusammen mit ihnen zum Essen eingeladen. Phil hatte zuviel getrunken, und er hatte sich sichtbar und hörbar nicht mehr unter Kontrolle. Mir war das peinlich - wahrscheinlich sogar mehr als nötig - und ich war von Kennedys gelassenem Verhalten sehr beeindruckt. Er ließ sich überhaupt nichts anmerken und behandelte Phil, als wäre er vollkommen nüchtern. Ich bewunderte das und war ihm sehr dankbar dafür. Als die anderen Gäste gegangen waren, blieben wir und die Kennedys auf Joes Drängen noch da. Phil blickte Kennedy direkt in die Augen und sagte: »Jack, Sie sind ein sehr guter Mann. Sie werden eines Tages Präsident sein.
Aber Sie sind noch sehr jung, und Sie sollten noch nicht ins Rennen gehen.« Worauf Kennedy erwiderte: »Na gut, Phil, ich gehe aber trotzdem ins Rennen, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens glaube ich, genausogut qualifiziert zu sein wie alle anderen, die ins Rennen gehen, mit Ausnahme von Lyndon Johnson. Zweitens, wenn ich jetzt nicht ins Rennen gehe, wird derjenige, der jetzt gewinnt, acht Jahre im Amt sein und dann Einfluß darauf nehmen, wer sein Nachfolger wird. Und drittens, wenn ich nicht ins Rennen gehe, muß ich noch mindestens acht weitere Jahre im Senat bleiben. Als potentieller Präsidentschaftskandidat muß ich dann im Senat politisch abstimmen und werde am Ende ein mittelmäßiger Senator und ein lausiger Kandidat sein.« Diese Worte beeindruckten mich außerordentlich, und je öfter ich Senator Kennedy traf, desto stärker war ich von ihm fasziniert. Auf verschiedenen anderen Partys lernten wir die Kennedys noch besser kennen; bei einer Gelegenheit, als Jack und Phil beide in Hochform waren, sprachen sie viele Stunden miteinander - für beide ein ganz wichtiger Abend.
Am 2. Januar 1960 gab Kennedy offiziell seine Entscheidung bekannt, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Johnson erklärte seine Kandidatur erst wenige Tage vor dem entscheidenden Parteikonvent. Welch ein Unterschied zwischen den damaligen Gepflogenheiten und heutigen Wahlkämpfen! Als Kennedy seine Absicht bekanntgab, schrieb die Post in einem Leitartikel, er habe »eine hartnäckige Zielstrebigkeit und ein reifes politisches Urteilsvermögen ... und er ist sich der großen Themen der Zeit sehr genau bewußt«.
Inzwischen ging es Phil schon wieder viel besser, obwohl er 1960 noch immer depressive Momente und mindestens zwei Perioden mit gesundheitlichen Problemen hatte, die zweiwöchige Ausfall- und Regenerationszeiten nach sich zogen. Er war wieder im Lot, aber das Gleichgewicht blieb prekär. Er stand am Anfang einer neuen manischen Phase, die sich mit seinem zunehmenden, zunächst noch konstruktiven Engagement durch die politische Dynamik jenes schicksalhaften Jahres 1960 stetig steigerte. Schon ziemlich früh sagte Phil voraus, Kennedy und Johnson würden die einzigen Kandidaten sein, die mit großen Blöcken von Delegiertenstimmen zum Nominierungsparteitag der Demokraten kommen würden fünfhundert für Kennedy, dreihundert für Johnson, wie er meinte. Und er hatte eine Vision, daß Kennedy es wohl nicht schaffen werde und daß dann Adlai Stevenson als Kompromißkandidat aus den Reihen der Nordstaaten-Liberalen auftreten werde.
Im Juni 1960 kam Kennedy, wie zuvor schon Nixon, zu einem Lunch in die Redaktion der Post. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits an sieben Vorwahlen teilgenommen, darunter der für ihn schwierigsten in West Virginia, wo der Bevölkerungsanteil der Katholiken nur 5 Prozent betrug. Ich kann mich noch erinnern, daß Jackie Kennedy später erzählte, die ersten Worte ihrer Tochter Caroline seien »West Virginia« gewesen. Jack Kennedy hatte eindeutig bewiesen, daß er Stimmen gewinnen konnte.
Ein großer Teil des Gesprächs beim Essen betraf Richard Nixon, den Vizepräsidenten und fast sicheren Präsidentschaftskandidaten der Republikaner. Eddie Folliard, damals noch der wichtigste politische Reporter der Post, fragte Kennedy, ob er mit Nixon im Fernsehen debattieren werde, wenn es sich erweisen sollte, daß sie beide die Kandidaten ihrer Parteien seien. Kennedy bejahte. Und als er an Nixons großen Ruf als Debattenredner erinnert wurde, fügte er ganz ruhig hinzu: »Ich glaube, ich bin ihm gewachsen.« Als er gefragt wurde, ob er sich Lyndon Johnson als seinen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft vorstellen könne, verwarf Kennedy diesen Gedanken. Er sagte, er habe das sichere Gefühl, daß Johnson diese Nominierung ablehnen würde. Russ Wiggins war anderer Ansicht. Er hatte das Gefühl, Johnson wolle gerne seinen Horizont erweitern und würde deshalb das Amt des Vizepräsidenten annehmen.
Dieses Interview wurde zwar nicht veröffentlicht, doch beide Bemerkungen - über die Fernsehdebatte und über den potentiellen Vizepräsidenten - waren eine große Hilfe für die Berichterstattung der Post über den Parteitag und den Präsidentschaftswahlkampf. Heutzutage werden solche Interviews ausnahmslos veröffentlicht und erhalten dadurch einen ganz anderen Stellenwert. Ich glaube, sie sind dadurch manchmal auch weniger wert.
Am 5. Juli verkündete Johnson auf einer Pressekonferenz seine Kandidatur. Phil, der ihm monatelang geholfen hatte, sich auf diesen entscheidenden Augenblick vorzubereiten, hatte ihm auch bei der Ausarbeitung dieses Statements zur Seite gestanden. Anschließend fuhr Johnson nach New York, um sich der Presse zu stellen und all die üblichen Rituale über sich ergehen zu lassen. Am nächsten Tag flogen Phil und ich nach Kalifornien, fünf Tage vor der offiziellen Eröffnung des Parteitags der Demokraten am Montag, den 11. Juli. Ich hatte mich bereits für Kennedy entschieden. Phil blieb loyal gegenüber Johnson, solange dieser noch Chancen auf die Präsidentschaftskandidatur hatte, aber er sah die Sache ganz realistisch; auch Phil gehörte ja zu Kennedys Bewunderern. Meine Mutter kam, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters, allmählich aus ihrer Depression heraus. Wie wir anderen hatte auch sie sich in diesem Wahljahr der Politik verschrieben. Bei ihrer Ankunft in Los Angeles zählte sie immer noch zu den treuen Anhängern Adlai Stevensons, der wie üblich von sich aus nicht Kandidat sein wollte, aber zur Verfügung stand, falls man ihn brauchen sollte.
Am Freitag, den 8. Juli, kam Johnson als erster der Kandidaten. Fast umgehend vertraute er seinen engsten Mitarbeitern an: »Die Sache ist gelaufen. Das wird ein Erdrutschsieg für Kennedy.« Kennedy hatte als einziger bereits eine hochentwickelte Organisation vor Ort in Los Angeles. Zum ersten Mal sahen wir elektronische Kommunikationsmittel zwischen Leuten, die an verschiedenen Orten arbeiteten, im Einsatz: Gegensprechanlagen und Funktelefone, die heute keine Sensation mehr sind, uns damals aber sehr beeindruckten. Phil besuchte Robert (»Bobby«) Kennedy, den Wahlkampfleiter seines Bruders, und bekam von ihm vertrauliches Zahlenmaterial über Kennedys Stärke. Diese Zahlen zeigten, daß Kennedy die für die Nominierung erforderlichen Stimmen schon fast beisammenhatte; er war seinem Ziel bereits so nahe, daß die Delegation aus Pennsylvania, oder auch nur ein größerer Teil ihrer Stimmen, ihn endgültig über die Ziellinie bringen konnte.
Am Montag trafen sich die Delegierten dieses Staates zur internen Abstimmung, und im Anschluß wurde verkündet, daß vierundsechzig der einundachtzig Stimmen an Kennedy gehen würden. Daraufhin schrieben Phil und die Post-Reporter, Kennedy werde die Nominierung bereits im ersten Wahlgang schaffen. In diesem Stadium traf sich Phil mit Joe Alsop, um über die Vorzüge von Lyndon Johnson als Kennedys möglichem Vizepräsidenten zu diskutieren. Joe überredete Phil, ihn zu begleiten; gemeinsam wollten sie Kennedy nahelegen, Johnson die Kandidatur zum Vizepräsidenten anzubieten. Joe kannte alle geheimen Paßwörter, um zu Kennedy vordringen zu können. Und als Joe und Phil im Raum vor Kennedys Hotelzimmer warteten, beschlossen sie, daß Joe das Thema anschneiden und Phil Kennedy überzeugen sollte. Als sie bei JFK vorgelassen wurden, eröffnete Joe das Gespräch mit den Worten: »Wir sind gekommen, um mit Ihnen über die Vizepräsidentschaft zu sprechen. Ihnen könnte ja mal etwas zustoßen, und dann wäre Symington ein viel zu unbeschriebenes Blatt für eine nationale Aufgabe in den USA. Außerdem, was wollen Sie denn mit Lyndon Johnson machen? Ein viel zu gewichtiger Mann, um ihn im Senat zu lassen!« Dann sprach Phil - laut Joe »clever und eloquent« - und erläuterte all die offensichtlichen Vorzüge Lyndon Johnsons, die dieser einbringen könne. Auch scheute Phil sich nicht vor dem Hinweis, wenn JFK Johnson nicht auf diese Weise einbinde, werde es sicher Probleme geben.
Kennedy stimmte den beiden sofort zu, »so schnell, daß mir bei diesem leichten Triumph durchaus Zweifel kamen«, wie Phil später in seinem Memo notierte (einem detaillierten Gedächtnisprotokoll sämtlicher Verhandlungen, die er auf diesem Parteitag hinter den Kulissen geführt hatte). »Also wiederholte ich die Sache nochmals mit anderen Worten und beschwor ihn, nicht darauf zu zählen, daß Johnson das Angebot ablehnen werde; vielmehr solle er Johnson die Vizepräsidentschaft so überzeugend anbieten, daß er ihn gewinnen könne.« Kennedy zeigte sich entschlossen, genau so vorzugehen, und verwies darauf, daß Johnson ihm nicht nur im Süden, sondern auch in anderen Teilen des Landes Vorteile bringen könne. Phil sagte daraufhin den Post-Reportern, sie könnten schreiben, daß man »in L. A. davon ausgeht, daß Kennedy Lyndon Johnson die Vizepräsidentschaft anträgt«.
Am Dienstagmorgen rief Kennedy Phil an, und Phil sagte ihm, er sei mit Lyndon zum Lunch verabredet und werde sich im Anschluß daran wieder bei ihm melden. Doch als Phil dann allein mit Johnson lunchte, konnte er das Thema nicht zur Sprache bringen. Durch ein Versehen hatte Kennedys Stab nämlich der Delegation aus Texas ein Standardtelegramm mit der Bitte geschickt, man möge Kennedy einladen, vor der Delegation zu sprechen. Johnsons Stab hatte die Gelegenheit beim Schopf ergriffen und zu einer Debatte zwischen Johnson und Kennedy vor den beiden Delegationen aus Massachusetts und Texas eingeladen, die noch am selben Nachmittag, am Dienstag um drei Uhr, stattfinden sollte. Johnson hatte bereits einen anstrengenden Morgen mit Auftritten vor drei oder vier anderen Delegationen hinter sich und war hundemüde. Aber die Aussicht auf die Debatte mit Kennedy machte ihn regelrecht euphorisch; das würde seine Kandidatur beleben. Um zehn vor zwei überredete Phil auf Drängen von Johnsons Stab den Senator zu einem kurzen Mittagsschlaf. Gemeinsam mit einem Ehepaar von der Ranch, das als Helfer mitgekommen war, bekam Phil LBJ in den Schlafanzug und ins Bett. Und noch während er ihn zu Bett brachte, sagte Phil: »Wir werden in der Debatte nicht personenbezogen argumentieren, sondern über Weltpolitik reden. Walter Lippmann hat sich heute morgen für Kennedy ausgesprochen mit der Begründung, du hättest von Weltpolitik keine Ahnung. Dem werden wir jetzt zeigen, was eine Harke ist!«
Johnson schlief umgehend ein, und während er schlief, entwarf Phil Redenotizen und ließ sie tippen. Um zehn vor drei bekam ein noch schlaftrunkener Johnson seinen Notizzettel in die Hand, und um Punkt drei Uhr erschien er ausgeruht und gesund aussehend zur Diskussion. Zuerst sprach Kennedy, dann Johnson, der Phils Notizen benutzte und improvisierend auch einige Seitenhiebe auf Kennedy einfließen ließ. Sie blieben jedoch, wie Phil in seinem Memo vermerkte, »im Rahmen des Angemessenen«. Am späten Dienstagabend hatte Phil einen verrückten Einfall: Adlai Stevenson solle vor dem Parteikonvent am Donnerstag eine Botschaft Kennedys verlesen, in der die Delegierten gebeten wurden, Johnson als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft aufzustellen. Kurz bevor er zu Bett ging, hinterließ mir Phil eine schriftliche Nachricht: Ich solle am Morgen (während er noch schlief) bei Kennedy anrufen und ihm einen Gesprächstermin besorgen. Am Mittwochmorgen um 9.30 Uhr weckte ich Phil mit der Nachricht, er habe um 10.40 Uhr seinen Termin bei JFK. Kennedy erschien mit der Aura wachsender Siegeszuversicht und schlug Phil vor, mit ihm im Auto durch die Stadt zu fahren.
Unterwegs trug Phil seinen Plan vor, und Kennedy bat ihn, diesen Plan bei seiner (Kennedys) Sekretärin zu hinterlegen. Aber JFK sagte auch, noch fehlten ihm vielleicht zwanzig Stimmen zur Nominierung. Die alles entscheidende Sitzung aber sollte in vier Stunden beginnen. So fragte er Phil, ob ihm die Nominierung Johnsons für die Vizepräsidentschaft noch irgendwelche weiteren Stimmen einbringen werde. Phil erwiderte, er kenne keine weiteren Möglichkeiten, es sei denn, George Smathers (Phils Freund vom College aus Florida) sei mit seinem Versuch erfolgreich, einen Teil der Delegierten aus Florida noch umzustimmen. Kennedy konterte jedoch mit dem Hinweis, das Problem bei diesem Vorschlag sei, daß Smathers selbst Vizepräsident werden wolle. Phil versicherte Kennedy jedoch, er werde niemals um zwanzig Stimmen an der Nominierung scheitern. Tatsächlich wurde JFK dann ja auch an diesem Nachmittag auf Anhieb nominiert. Was Phil jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht wußte, war, daß Kennedy die Vizepräsidentschaft am Dienstagnachmittag bereits offiziell (über Clark Clifford) Stuart Symington angetragen hatte. Nachdem dieser mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen konferiert hatte, die aber von der Idee nichts hielten, hatte er über Clark ausrichten lassen, er nehme die Kandidatur an. In weiser Voraussicht hatte Symington jedoch hinzugefügt: »Ich wette mit dir um hundert Dollar, daß Jack, ganz gleich was er jetzt sagt, mich nicht zu seinem Partner machen wird. Er wird Lyndon nominieren müssen.« Clark hatte Kennedy telefonisch mitgeteilt, Symington sei zur Kandidatur bereit. Am frühen Donnerstagmorgen rief Kennedy nun Johnson an und verabredete sich mit ihm. Bei diesem Treffen bot er LBJ die Vizepräsidentschaft an - zum einen, weil er nicht umhinkam, dies zu tun, zum anderen aber auch, weil er damit rechnete, daß Johnson ablehnen werde. Bei der Rückkehr in sein Hauptquartier soll er laut Arthur Schlesinger (Robert Kennedy and His Times) zu seinem Bruder gesagt haben: »Du glaubst es nicht, aber er will sie wirklich.« Phil hatte recht gehabt. Johnson war in der Tat bereit, Kennedys Vizepräsident zu werden.
Alle im Umkreis der Kennedys, insbesondere die den Gewerkschaften nahestehenden Berater, waren schockiert. Offenbar verbrachten sie einen großen Teil des Donnerstags damit, zu überlegen, wie sie wieder rückgängig machen könnten, was sie sich da eingebrockt hatten. Bobby ging zweimal zu Lyndon, einmal, um ihm auf den Zahn zu fühlen, und ein weiteres Mal, um ihm mitzuteilen, daß es jede Menge Widerstand gebe, daß die Sache sehr unerfreulich zu werden drohe und ob Johnson nicht lieber Parteivorsitzender der Demokratischen Partei werden wolle. In der Zwischenzeit war ich mit Joe Alsop und einigen anderen zum Lunch im Biltmore Hotel eingetroffen. Phil sagte: »Bestell mir doch bitte ein Roastbeef-Sandwich, ich bin gleich wieder da.« Er verschwand und ward nicht mehr gesehen. In den folgenden Stunden kamen immer neue Leute vorbei, aßen Phils Sandwich, gingen und machten Platz für andere. Mehrmals bestellten wir Phils Sandwich neu, und immer wieder fanden sich andere Abnehmer. Phil kam einfach nicht wieder. Schließlich brachen wir auf, und als ich den langen Flur zum Hauptquartier der Post entlangging, traf ich Betty Beale, die Gesellschaftskolumnistin des Evening Star. Sie rannte auf mich zu und rief: »Haben Sie's schon gehört?« »Nein, was denn?« »Johnson ist es.« »Wer sagt das?« fragte ich. »Kennedy selbst«, antwortete sie mit voller Überzeugung. Kennedy hatte es gerade in der Bowl im Biltmore Hotel verkündet, einem kleineren Saal im Stockwerk unter den Pressebüros, der für öffentliche Ankündigungen genutzt wurde. Ich ging weiter in unser Büro, wo kurz darauf Phil erschien, in einem Zustand höchster Anspannung, fast am ganzen Körper zitternd. Er sagte: »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was ich gerade durchgemacht habe. Laß uns hier rausgehen, dann erzähle ich's dir.«
In einem Restaurant im Kongreßzentrum holte er sich etwas zu trinken und ein Sandwich, und dann berichtete er mir, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. Als Phil mittags um Viertel vor zwei in Johnsons Suite erschienen war, nahm ihn Johnson beim Arm und sagte, Bobby Kennedy sei gerade bei Sam Rayburn, dem Sprecher des Repräsentantenhauses und Lyndons großem Mentor, um ihn, Johnson, die Vizepräsidentschaft anzutragen. Phil redete ihm gut zu und sagte, er müsse diese Aufgabe übernehmen. Lady Bird schwankte dagegen zwischen Unentschiedenheit und Ablehnung. Am Abend zuvor hatte Rayburn nämlich extra angerufen, um Lyndon zu sagen, er solle das Angebot ablehnen, wenn es käme. Dann trat Rayburn ins Zimmer und sagte, Bobby wolle Lyndon sprechen. Doch Lady Bird meinte, Lyndon solle lieber nicht zu Bobby gehen. Phil pflichtete ihr bei und sagte: »Du brauchst sie (die Vizepräsidentschaft) nicht so sehr, daß du darüber verhandeln solltest. Du nimmst sie nur, wenn Jack dich von sich aus nominiert, und redest mit keinem anderen darüber.« Schließlich war, wie Phil in seinem Memo schrieb, »so plötzlich, wie Entscheidungen manchmal nach einem langen Hin und Her fallen, alles entschieden«. Sam Rayburn ging, um Bobby Lyndons Standpunkt klarzumachen, und Phil sollte Jack anrufen, um diesem LBJs Position zu erklären. Zu diesem Zeitpunkt waren noch Jim Rowe und John Connally zum harten Kern um LBJ gestoßen, und Phil ging über den von der Presse belagerten Flur in ein leeres Schlafzimmer der Suite. Schließlich bekam er Jack Kennedy ans Telefon und übermittelte Johnsons Botschaft. JFK antwortete, er habe Schwierigkeiten mit Leuten, die ihn drängten, er solle Symington - als problemlosen Kandidaten - nominieren; Phil solle in drei Minuten nochmals anrufen. Um diese Zeit waren Phil und Jim Rowe schon einem Nervenzusammenbruch nahe.
Als Phil ihn dann wieder erreichte, war Kennedy ganz ruhig. »Alles klar«, sagte er. »Sag Lyndon, daß ich ihn will.« Er bat Phil, dies auch Adlai Stevenson auszurichten und diesen um seine volle Unterstützung zu bitten. Also rief Phil zunächst Adlai an und ging dann wieder den Gang hinunter, um Lyndon die Botschaft zu überbringen. Dieser wollte aber noch Details von ihm wissen. Dann ging Phil aus dem Zimmer, um die Post anzurufen. Doch schon sehr bald bat ihn LBJ, zurückzukommen. Vor ungefähr zwanzig Minuten sei Bobby zurückgekommen, um nochmals mit Rayburn zu konferieren. Er habe gesagt, Jack werde ihn (LBJ) direkt anrufen; aber bisher sei kein Anruf gekommen. Was er denn nun machen solle? Phil erklärte sich nochmals bereit, Jack Kennedy anzurufen, und dieser sagte, er habe angenommen, daß Phils Übermittlung seiner Botschaft an Johnson genüge. Phil sagte ihm daraufhin, was Bobby Rayburn gesagt hatte. Jack erwiderte, er werde Lyndon sofort persönlich anrufen. Laut Phil erwähnte Jack aber erneut die Widerstände gegen LBJ und fragte Phil nach seiner Meinung zu diesem Thema. Phil antwortete, »die Gewinne im Süden machten die möglichen Verluste bei den Liberalen mehr als wett« und es sei jetzt »ohnehin zu spät, seine Meinung nochmals zu ändern. Er solle daran denken: >Sie sind doch nicht Adlai.<« Phil versuchte um kurz nach vier Uhr immer noch, Bobby zu erreichen, als LBJs Terminsekretär Bill Moyers hereinkam und sagte, Lyndon müsse Phil sofort sprechen. Er zog ihn praktisch am Arm durch die überfüllte Hotelhalle in Johnsons Suite. LBJ, drauf und dran, endgültig aus der Haut zu fahren, schrie Phil an, Bobby Kennedy habe ihm und Rayburn gesagt, es gebe so viel Widerstand gegen ihn, daß er doch bitte der Einheit der Partei zuliebe auf die Kandidatur verzichten möge. »Es war ein beträchtlicher Tumult mit viel Palaver«, schrieb Phil hinterher in seinem Memo, »und schließlich sagte Mr. Rayburn: >Phil, ruf Jack an! <« Als Phil JFK schließlich am Telefon hatte, sagte dieser ganz ruhig: »Das ist schon alles in Ordnung. Bobby ist nicht mehr auf dem laufenden, er weiß nicht, was in der Zwischenzeit geschehen ist.« »Na gut, und was soll Lyndon jetzt tun?« fragte Phil. »Ich möchte, daß er sofort eine Erklärung abgibt; ich habe mein Statement gerade abgegeben.« Um fünf Minuten nach vier hatte er in der Biltmore Bowl die definitiven Sätze gesprochen. »Das sagen Sie jetzt besser Lyndon selbst«, erwiderte Phil. »Okay«, antwortete Kennedy, »aber ich will anschließend noch mal mit Ihnen reden.«
Phil, der zwischen zwei Betten stand, reichte Lyndon, der sich auf dem Bett vor Phil ausgestreckt hatte, den Hörer. Lyndon sagte nur »Ja ... ja ... ja« und schließlich: »Gut, ich übergebe wieder an Phil.« Dann redete Kennedy wieder über die diversen Probleme, die Johnsons Nominierung mit sich bringe. Später fand Phil die Johnsons in der Eingangshalle. Sie standen da, »als hätten sie gerade einen Flugzeugabsturz überlebt«. Lyndon hielt eine maschinenschriftliche Erklärung über die Annahme der Kandidatur in der Hand. »Ich wollte diese Erklärung gerade im Fernsehen verlesen, als Bobby reinkam, und jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich noch tun soll.« Phil, »mit mehr Talent zum Schmierenschauspieler, als ich mir selbst je zugetraut hätte«, platzte heraus: »Natürlich weißt du, was du tun sollst. Schultern straff, Kinn raus, und dann marschierst du da raus und gibst deine Erklärung ab. Dann geht's weiter, und du siehst zu, daß du gewinnst. Ist doch alles wunderbar!« Phil bezeichnete diesen »Einschlag von Seifenoper« als »irgendwie wunderbar passend«. Wie er schrieb, sekundierte ihm Bill Moyers »mit lauter Zustimmung, riß die Türen der Halle auf und schubste Johnson hinaus ins Scheinwerferlicht der Fernsehkameras und ins Blitzlichtgewitter«. Phil sah zu, wie Lyndon und Lady Bird auf Stühlen standen, »ihre Gesichter wie verwandelt. Jetzt strahlten sie Enthusiasmus und Selbstvertrauen aus.« In diesem Augenblick, als sich die Nachricht verbreitete, Johnson habe die Nominierung angenommen, füllte sich der ganze Raum mit Menschen, und Phil suchte schnell das Weite. Er kam ins Büro der Post und traf mich dort an. Wie gesagt, Phil schrieb für seine Unterlagen über all diese Vorgänge ein Memo, das vertraulich blieb, bis Phil es drei Jahre später Teddy White auslieh, als dieser für den Präsidentschaftswahlkampf von 1964 an seinem Buch The Making of the President arbeitete.
Zu meiner Überraschung druckte White Phils Memo in voller Länge als Anhang zu seinem Buch ab - was Phil, so meine ich, bestimmt nicht recht gewesen wäre. Als Whites Buch erschien, war Bobby Kennedy extrem verärgert. Er behauptete, Phils Darstellung sei nicht korrekt - Phil habe nicht die ganze Geschichte gekannt. »Und was war daran nicht korrekt?« fragte ich ihn. »Mein Bruder und ich sind nie getrennte Wege gegangen«, sagte er.
Noch später, als LBJ Präsident war und die Spannungen zwischen ihm und Bobby enorme Ausmaße erreicht hatten, war Bobby bei einem Essen in unserem Haus mein Tischnachbar. Ich erzählte ihm, ich hätte den Präsidenten auf dessen Wunsch kurz vor dem Essen getroffen. Recht seltsam sei jedoch gewesen, daß Johnson eigentlich gar nicht richtig mit mir gesprochen habe. »Was soll das heißen? Nicht mit Ihnen sprechen?« hakte Bobby ein. »Wo doch Phil ihn zum Präsidenten gemacht hat?« »Ich dachte, Sie hätten mir mal gesagt, Phils Memo sei nicht korrekt«, erwiderte ich ungläubig. »Ja, ist es auch nicht«, antwortete Bobby, »aber vor allem, weil Phil vieles nicht wußte. Gerade weil er es nicht gewußt hat, war seine Rolle noch wichtiger, als Sie glauben, nicht etwa weniger wichtig.« Ich bat ihn, mir näher zu erläutern, was er damit meine. Doch seine Antwort lautete, das würde er mir eines Tages mal ausführlicher erzählen. Leider hatte er dazu keine Gelegenheit mehr. Die Erklärung läßt sich aber aus verschiedenen Büchern entnehmen, besonders aus Arthur Schlesingers Buch über Bobby. Nach der Lektüre dieser Darstellungen und nach meinen eigenen Erinnerungen habe ich keine Zweifel mehr, daß beide Kennedys, Jack genauso wie Bobby, Lyndon Johnson nicht wirklich in ihr Team aufnehmen wollten. Nach drei- oder vierstündigem Schwanken waren sie laut Bobbys eigenen Aussagen »auf die Idee gekommen, den Versuch zu machen, ihn wieder loszuwerden; aber es hat nicht geklappt«.
Als Johnson die Kennedys dadurch überraschte, daß er die nur pro forma ausgesprochene Einladung tatsächlich annahm, schickte Jack Bobby vor, um Lyndon zum Rückzug zu überreden. Und als JFK merkte, daß Bobbys Mission gescheitert war, machte er Phil gegenüber am Telefon die unaufrichtige Bemerkung, Bobby sei zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf dem laufenden gewesen. Noch ein Jahr später sagte Bobby einem befreundeten Zeitungsredakteur, sie seien an jenem Donnerstag alle zu müde gewesen: »Morgens um acht hatten wir recht, um zehn und auch um zwei, aber um vier lief alles daneben.« Doch ganz gleich, was die Kennedys an jenem Tag wirklich fühlten, ohne Johnson hätten sie die Wahl auf keinen Fall gewonnen. Das hatten Phil und Joe schon ganz richtig gesehen. Weil zwischen den Nominierungsparteitagen der beiden großen Parteien nur eine Woche lag, wollten wir nicht zwischendrin nach Washington zurückfahren, sondern ließen unsere Söhne Bill und Steve im Flugzeug nach Kalifornien nachkommen und genossen mit ihnen einen Kurzurlaub mit einem wunderschönen Tag in Disneyland. Noch wichtiger aber war, daß wir auch einen Tag mit meiner Schwester Florence verbrachten, die inzwischen in Kalifornien lebte. Zuvor hatte sie in der Schweiz gewohnt, in der Nähe ihrer engen Freunde und Ratgeber Otto und Maria Halpern. Maria Halpern war Graphologin, und zu ihren zahlreichen wohlhabenden Anhängerinnen, auf deren Leben sie Einfluß nahm, gehörte auch Flo. Flos Spannungen mit meinen Eltern hatten sich auch auf ihr Verhältnis zu Phil und mir ausgewirkt, so daß wir Schwestern schon jahrelang nur noch rein äußerlich Kontakt miteinander gehabt hatten. Auf Phils Anregung hin rief ich Flo einfach an und schlug ihr ein Treffen vor. Dieses Familientreffen wurde ein großer Erfolg; sogar die Kinder kamen alle bestens miteinander aus. Phil, Flo und ich genossen das Beisammensein und waren glücklich, uns wieder begegnet zu sein.
Zu diesem Zeitpunkt war meine Schwester recht korpulent geworden, aber sie war immer noch die alte Flo: gebildet, witzig, interessant, intelligent und sensibel. Mit diesem Besuch begann eine neue Beziehung, die über die zwei Jahre andauerte, welche ihr noch vergönnt waren - eine Beziehung, die uns beiden viel bedeutete.
Der Parteikonvent der Republikaner in Chicago verlief natürlich ganz anders als der der Demokraten. Nixon war der einzige Kandidat, doch Nelson Rockefeller, der das Rennen schon im Dezember aufgegeben hatte, saß Nixon und der Partei als Stachel im Fleisch. In einer Rede im Juni hatte er beispielsweise gesagt: »Wir können weder als Nation noch als Partei weiter so in die Zukunft marschieren, wenn unser Banner als einziges Emblem ein großes Fragezeichen enthält.« Aus Chicago kehrten wir nach Glen Welby heim, wo wir den größten Teil des Monats August verbrachten. Doch die Politik ließ uns auch dort nicht in Ruhe. Joe Alsop besuchte uns oft, aber auch andere, darunter Arthur Schlesinger, der sein Wahlkampfmanifest mitbrachte ein Profil beider Kandidaten, bei dem JFK gegenüber Nixon sehr gut abschnitt. Ich erinnere mich, es damals überflogen zu haben.
Und mitten in all meinen Aktivitäten in diesem geschäftigen Wahljahr hatte ich auch noch begonnen, unser Haus in Georgetown gründlich zu renovieren. Im Juni waren wir ausgezogen und hatten im Haus meiner Mutter am Crescent Place unser Quartier aufgeschlagen. Unbeeindruckt vom Scheitern ihrer Bemühungen, Adlai Stevenson zum Präsidentschaftskandidaten oder wenigstens zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten zu machen, und obwohl sie nie eine Kennedy-Anhängerin war, setzte sich Mutter nun nach Kräften für die Kandidaten der Demokraten ein und wurde auf nationaler Ebene stellvertretende Vorsitzende der Wählervereinigung »Citizens for Kennedy and Johnson«.
Sie schrieb Kennedy und bat ihn um einen Termin, damit sie seine Wahlkampfstrategie für New York mit ihm erörtern könne. Auch wollte sie ihm - als Protestantin, die »im Ruf steht, antikatholisch zu sein« - helfen, religiöse Vorurteile gegen seine Person zu überwinden.
Ich war eine echte Kennedy-Enthusiastin geworden und übertrug meine Begeisterung für diesen charismatischen Kandidaten, wo immer ich konnte, auf andere. Noch beim Parteitag in Los Angeles hatte ich Marian Sulzberger Dryfoos, der Frau von Orvil Dryfoos, dem Verleger der New York Times, im Schwimmbecken erzählt, wie stark mich Kennedy beeindruckt hatte und warum ich eine so glühende Anhängerin dieses Kandidaten geworden war. Diese Unterhaltung im Wasser führte zu einer Dinnereinladung, die Phil und ich am 16. August im Haus meiner Eltern für Jack Kennedy gaben, damit er Orvil kennenlernen und sich noch eingehender mit Scotty Reston unterhalten konnte. Wir hatten das Gefühl, daß Dryfoos und Reston noch nicht genau wußten, was sie von Kennedy halten sollten, und wollten Jack Gelegenheit geben, sich der New York Times von seiner besten Seite zu zeigen. Was mir heute immer noch erstaunlich vorkommt, ist, daß Kennedy damals ganz allein in einem Cabriolet mit offenem Verdeck vorgefahren kam. Phil und ich hatten entschieden, daß er als Verleger nicht für den Wahlkampf spenden könne; wenn ich es täte, wäre es dagegen in Ordnung. Dieses Spiel mit verteilten Rollen spielten wir auch in mehreren anderen Situationen, aber ich weiß heute, daß es fragwürdig war, weil wir letztlich glaubten, ein Verleger müsse unparteiisch sein. Uns beiden machte allerdings die problematische Situation des District of Columbia[1] solche Sorge, daß Phil sagte, wenn ich eine Chance hätte, Kennedy allein zu erwischen, ehe die anderen Gäste kämen, dann solle ich ihm meinen Scheck persönlich übergeben und ihm sagen, er könne als Gegenleistung tatsächlich etwas für mich tun - nämlich den Problemen der Hauptstadt ausreichende Aufmerksamkeit widmen.
Ich machte es genau so, wie Phil vorgeschlagen hatte, und kann mich noch erinnern, wie JFK ein wenig überrascht dreinschaute, als ich den ersten Teil meiner kleinen Rede vortrug - daß ich etwas von ihm wolle. Obwohl mir diese Reaktion peinlich war, konnte ich meine Rede zu Ende bringen. Kennedy dankte mir und nahm den Scheck entgegen. Die ganze Atmosphäre, die in jenem Herbst in Washington herrschte, und die wahre Intensität von Phils Gefühlen für Kennedy zeigen sich anschaulich in seinem Brief an Isaiah Berlin vom 9. Oktober 1960:
- Deine ... Freunde hier klettern im wesentlichen auf der Kurve des Kennedy-Enthusiasmus steil nach oben. Joe und ich sind (wobei er mir drei Monate voraus ist) schon über den Enthusiasmus hinaus; das ist schon Leidenschaft. Auch bei Kay ist es Passion (sie war schon früher in diesem Stadium angekommen als ich), aber Passion mit einem irritierend weiblichen Einschlag - sie sieht manchmal Warzen auf seiner Nase oder leidet unter vorübergehenden Depressionen wegen seiner Wahlaussichten. Joe und ich schweben auf Wolke sieben, unsere Heldenverehrung macht uns blind für seine Fehltritte, wir sind zuversichtlich, daß er triumphieren wird. Seltsamerweise kommen unserem Geisteszustand am nächsten ... (a) Walter Lippmann, (b) Scotty Reston. Felix (Frankfurter) ist fast schon pro Nixon oder gehört jedenfalls zu den ernsthaften Zweiflern an Kennedy (wegen seines Papas) ... Ein großer Teil von Kennedys Kampagne ist reine Schaumschlägerei (vgl. FDR im Jahre 1932). Aber er hat auch Stil und Energie und vermittelt das Bewußtsein, daß er weiß, daß wir im Jahre 1960 leben. Er zeigt Entschlossenheit, wenn erforderlich, und ist herrlich vage und ausweichend, wenn sie fehl am Platze wäre ... Der andere Kerl (Richard Nixon) hat überraschenderweise in seinen Augenblicken der Wahrheit fast keinerlei Stil bewiesen. Er ist auf eine so verschlagene und absichtsvolle Weise künstlich, daß die Pose inzwischen zu seiner Realität geworden ist.
Trotz seines Eifers für Kennedy und seiner Sorgen wegen Nixon setzte Phil die Politik unserer Zeitung fort, keinen Kandidaten ausdrücklich zu unterstützen. Im nachhinein war er zu der Überzeugung gelangt, daß es für eine unabhängige Zeitung in der Bundeshauptstadt schon damals weiser gewesen wäre, sich aus dem Nominierungswahlkampf der Republikaner von 1952 herauszuhalten, anstatt Eisenhower ausdrücklich zu unterstützen. Die Post kommentierte die Wahlkampfthemen, wie sie kamen, und Phil meinte, die Möglichkeit, frei kommentieren zu können, dürfe dem Blatt nicht genommen werden. 1960 ließen unsere Leitartikel jedoch kaum einen Zweifel, auf wessen Seite wir standen. Und als Privatmann arbeitete Phil weiter mit Nachdruck daran, die gewünschten Wahlresultate herbeizuführen. Ende Oktober entwarf er eine lange Presseerklärung für Lyndon Johnson, in der dieser die Bevölkerung aufrief, sich bei der Wahl Anfang November hinter JFK zu sammeln. Er schrieb Lyndon auch eine Rede speziell für dessen Zwecke in Texas, wiederum mit dem Appell an die Texaner, für Kennedy zu stimmen.
Endlich war der Wahlabend da. Joe Alsop und ich blieben in Phils Büro, während Phil zwischen der Nachrichtenredaktion und seinem Büro hin- und herrannte. Der Wahlausgang war während der ganzen Nacht so knapp, daß wir das Gebäude erst nach Redaktionsschluß für die letzte Ausgabe der Post verließen, ungefähr um drei oder vier Uhr morgens. Zu diesem Zeitpunkt lautete die Schlagzeile: »Kennedy kurz vor dem Sieg«. Chalmers Roberts schrieb in seiner (1977 erschienenen) Geschichte der Post, Phil habe, eingedenk der Peinlichkeiten bei der Präsidentenwahl von 1948, als Truman entgegen allen Prognosen gewann, Eddie Folliard, der die Titelstory schrieb, nicht erlaubt, »nur wegen einiger tausend lumpiger Zeitungen« die Wahl voreilig als entschieden zu melden. Nach Redaktionsschluß am frühen Morgen gingen wir drei zu Joe Alsop, wo die schlafende Haushälterin als einzige einen Fernsehapparat besaß. Aber wir hörten noch weiter Radio, bis ich uns gegen sechs Uhr morgens Rühreier machte. Später, als klar war, daß weitere Wahlergebnisse erst ab elf Uhr bekanntgegeben würden, sagte ich Joe, ich wolle jetzt nach Hause, worauf Joe auf seine übliche Art erwiderte: »Ja, geh nur nach Hause, Liebling. Vielleicht muß ich am Morgen mein Haus verkaufen.« Phil und ich zogen uns in das Haus am Crescent Place zurück. Es war schon spät am Vormittag, als wir endlich Gewißheit hatten, daß Kennedy tatsächlich gewonnen hatte. Phils Verhandlungen hinter den Kulissen beim Wahlparteitag in Los Angeles hatten letztlich dazu geführt, daß unser Freund zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden war und ein weiterer, sogar noch engerer Freund, zu seinem Vizepräsidenten. Um uns von den Aufregungen des Kennedy-Sieges zu erholen, fuhren Phil und ich zwei Wochen nach Arizona ins Biltmore Hotel in Phoenix. Direkt nach unserer Heimkehr aber stürzte sich Phil sofort wieder in die Politik. Außer an den Wochenenden, die wir immer noch mit den Kindern in Glen Welby zu verbringen versuchten, ging er ganz in der Politik auf. Direkt nach der Wahl begann er, sich mit dem zukünftigen Präsidenten mündlich und schriftlich über Kandidaten und Ernennungen für die neue Administration auszutauschen. Sowohl Phil als auch Joe Alsop meinten, Kennedy solle unseren Freund Douglas Dillon zum Finanzminister machen - was dann auch geschah, obgleich Dillon schon unter den Republikanern wichtige Ämter innegehabt hatte. Phil und Joe empfahlen, ebenfalls gemeinsam, David Bruce als Außenminister, doch hier spielte Kennedy nicht mit. Später erreichte Phil, daß David als Botschafter nach London gesandt wurde - und nicht nach Rom, wie der Präsident es David versprochen hatte. Dieser war so bescheiden gewesen, daß er Kennedy nicht gesagt hatte, daß er eigentlich lieber nach London wollte. Phil erfaßte die Situation, dachte vor allem, daß David für London genau der richtige Mann sei, und ging zu JFK, um die Sache zu regeln. Also wurde David zum Botschafter in London ernannt und blieb während der gesamten acht Jahre der Kennedy/Johnson-Administration auf diesem Posten. Er und Evangeline waren in London ein enormer Gewinn, und David wurde einer von Kennedys Lieblingen, weil er den Präsidenten nicht nur über alles Wesentliche in England und Europa gut auf dem laufenden hielt, sondern ihn obendrein noch mit Londoner Klatschgeschichten unterhielt. Phil war es auch, der Robert Weaver für ein hohes Amt vorschlug. Weaver war Schwarzer und ein hervorragender Ökonom; er hatte in Harvard studiert. Als Experten für Wohnungsbau und Stadtentwicklung hatte ihn Phil bei der Zusammenarbeit im Vorstand von ACTION kennengelernt (einem Projekt zur Sanierung von Washingtoner Slums). Weaver hatte unter anderem schon die Roosevelt-Administration beraten und war Mitglied in Averell Harrimans New Yorker Landeskabinett gewesen. Kennedy ernannte ihn zum Behördenchef der Federal Housing and Home Finance Agency, und schließlich wurde Weaver unter Präsident Johnson der erste farbige Minister in einer amerikanischen Bundesregierung. Johnson ernannte ihn 1966 zum ersten Minister für Wohnungsbau und Stadtentwicklung. Eine wichtige Rolle spielte Phil auch bei einer spektakulären Meldung in der Post, als es um die Ernennung von Dean Rusk zum Außenminister ging. Chal Roberts hatte bei seinen Recherchen die Zahl der möglichen Kandidaten reduziert und war bereit, die Prognose zu wagen, wahrscheinlich werde die Wahl auf Rusk fallen, als Phil in Chals Gegenwart Kennedy in Palm Beach anrief. Kennedy bestätigte Rusks geplante Ernennung, und die Post brachte die Meldung mit einer Riesenschlagzeile. Kennedy war äußerst verärgert und beauftragte seinen Pressesprecher Pierre Salinger, die undichte Stelle im System sofort ausfindig zu machen. Innerhalb von zwei Stunden kam Salingers Rückruf. Er sagte dem Präsidenten, er habe den Informanten ausfindig gemacht: »Sie waren es selbst!« »Was soll das heißen?« erwiderte Kennedy. Salinger fragte, ob Kennedy denn nicht am Vorabend mit Phil darüber gesprochen habe. Kennedy bejahte. »Und haben Sie ihm gesagt, daß die Sache vertraulich behandelt werden müsse?« Wie Salinger später in seinem Buch berichtete, herrschte zunächst langes Schweigen, »ehe Kennedy zu kichern begann und antwortete: >Nein, vermutlich nicht.<«
Der Beginn der neuen Regierungsära war für uns eine aufregende und umtriebige Zeit. Für Phil und mich persönlich sollte der große Augenblick am Nachmittag vor den abendlichen Galaveranstaltungen zur Amtseinführung stattfinden: am 19. Januar 1961, dem Vortag der offiziellen Vereidigung. In der Tradition meiner Familie hatten wir einen großen Empfang in unserem Haus an der R Street geplant, in das wir kurz zuvor wieder eingezogen waren. Phil hatte dem künftigen Präsidenten geschrieben, um ihn persönlich einzuladen und daran zu erinnern, daß Jack und Jackie zu unserem Empfang anläßlich der Inauguration Eisenhowers im Januar 1957 gekommen waren. Phil verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, Kennedy werde auch diesmal hereinschauen - »es sei denn, Sie wären mit Ihrem Fortkommen in den vergangenen vier Jahren nicht zufrieden«.
Sowohl der künftige Präsident als auch der künftige Vizepräsident hatten versprochen zu kommen, obwohl Jackie, die kurz vorher ihr zweites Kind, ihren Sohn John, geboren hatte, brieflich um Verständnis dafür gebeten hatte, daß sie all ihre Kräfte dafür benötige, die offiziellen Feierlichkeiten an den beiden Tagen zu überstehen.
Am frühen Nachmittag, direkt vor unserem Empfang, setzte jedoch ein Schnee- und Eisregen ein, der Washingtons Straßen in Windeseile in Rutschbahnen verwandelte. Der Verkehr kam praktisch zum Erliegen. Manche Leute brauchten Stunden, um nach Hause zu kommen; andere gaben auf und suchten irgendwo Zuflucht. Es herrschte ein Chaos wie nie zuvor. Der Geheimdienst meldete sich bei uns und hielt das Versprechen aufrecht, entweder Kennedy oder Johnson oder auch beide würden es noch möglich machen, zu uns zu kommen. Doch am Schneetreiben und an den wenigen Gästen, die sich durch den Schnee bis zu uns durchkämpfen konnten, war zu ersehen, daß die Wahrscheinlichkeit dafür nicht allzu groß war.
Schließlich erhielten wir die Nachricht, es sei hoffnungslos - selbst mit Eskorte kämen die Autos nicht mehr voran. Die Stadt und der Geheimdienst würden nun alles daransetzen, den künftigen Präsidenten und seine Frau wenigstens zur abendlichen Gala zu transportieren. So hatten wir statt einer großen Party für sechshundert Personen mit einem ständigen Kommen und Gehen nur ungefähr zweihundert Gäste, die unser Haus weitgehend zu Fuß erreicht hatten und nicht mehr weiterzogen - eine fröhliche Versammlung, aber alles ganz anders als geplant.
Am folgenden Tag waren die Straßen weitgehend geräumt, aber es war bitterkalt. Wir gingen zur Vereidigung auf den Stufen des Kapitols und amüsierten uns köstlich, als, während Kardinal Cushing lange Segenswünsche sprach, das Podium sich wegen eines Kabelschadens plötzlich in Rauch zu hüllen begann. Wie so viele andere waren wir von Kennedys berühmter Inaugurationsrede völlig hingerissen, die weitgehend Ted Sorensen - mit Hilfestellung von Ken Galbraith - ausgearbeitet hatte.
Dann sahen wir uns gemeinsam mit den Familien einiger Post-Mitarbeiter von einem Hotelzimmer an der Pennsylvania Avenue aus die Parade an.
Joe und Phil hatten vor dem Inaugurationsball im Armory Hotel ein gemeinsames Essen in Joes Haus geplant. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wer dabei war, zu den Gästen gehörten aber auf jeden Fall Mrs. Longworth, die Bohlens, die Joyces und die Bundys. Letztere waren in Washington noch ziemlich neu. Ich erinnere mich auch, daß Bob Weaver da war - und damit wahrscheinlich zum ersten Mal ein schwarzer Gast an Joes Tisch. Alle waren vor Aufregung ein wenig überkandidelt. Phil hatte verschiedene Limousinen gemietet, die uns alle zum anschließenden Ball bringen sollten. Wir fuhren zusammen mit den Bundys, die ich noch nicht gut kannte, mit Joe und einem anderen Paar, und wir hatten einen Eiskübel mit Champagnerflaschen dabei. Als wir im Verkehr steckenblieben und eine Weile warten mußten, während die offizielle Fahrzeugkolonne vorübersauste, machte jemand den Vorschlag, eine Flasche zu öffnen. Ich war daraufhin (aus den bekannten Gründen) mal wieder brav und gehemmt und schlug nervös vor, wir sollten damit doch lieber warten, bis wir tanzten.
Doch Mac Bundy, der neue Sicherheitsberater des Präsidenten, der zuvor Dekan in Harvard gewesen war, drehte sich vom Vordersitz aus um und befahl gebieterisch und fröhlich: »Macht den Champagner auf!« Beim Ball sahen die Kennedys sehr gut aus - geradezu königlich. Weil Joe Alfreda Fonda, Henry Fondas bildhübsche italienische Frau, und Flo Smith, eine alte Freundin der Kennedys aus Palm Beach, anschließend noch zu einem Drink in sein Haus eingeladen hatte, entschloß er sich, den Ball früh zu verlassen, und versuchte, auch Phil und mich zum Gehen zu bewegen. Doch Phil amüsierte sich mal wieder viel zu gut. Joe fand aber jemand anders, der ebenfalls aufbrach und ihn im Auto durch die immer noch verschneiten Straßen Washingtons mit nach Hause nahm. Er war rechtzeitig daheim, um seine Gäste empfangen zu können. Man saß in Ruhe am Kamin, ließ es sich wohl sein und genoß den bedeutsamen Tag. Flo und Alfreda hatten allerdings durch Flüsterpropaganda den Treff ziemlich publik gemacht. Als wir schließlich nach dem Ball mit den Bohlens und den Bradens nach Hause fuhren und unser Auto an der Dumbarton Avenue vorbeikam, schauten wir die Straße hinunter zu Joes Haus und sahen, daß alles hell erleuchtet war. Die Straße war abgesperrt und voller Polizei. Da sagte Avis Bohlen: »Entweder steht Joes Haus in Flammen, oder der Präsident ist da.« Und so war es tatsächlich. Nun tat es uns wirklich sehr leid, nicht mit Joe gegangen zu sein, denn auf diese Weise hatten wir den aufregenden Augenblick verpaßt, als es bei Joe leise an die Tür geklopft hatte: Da stand er vor Joe, der frischgebackene junge Präsident der Vereinigten Staaten, mit Schnee im Haar und einem Lächeln auf dem Gesicht, und begehrte Einlaß.