Bei der Rückkehr nach Washington lag eine ungewisse Zukunft vor Phil. Trotz seiner früheren Absprache, zur Post zu gehen, schien er immer noch unentschlossen zu sein, was er beruflich machen wollte. AL Friendly hatte ihm geschrieben und von seinem eigenen Wunsch gesprochen, zur Post zurückzugehen, vor allem aber hatte er an Phil appelliert, auch zur Post (»Postward«) zu kommen. Ende August 1945 berichtete Phil AL, daß er im Jahr zuvor eine unverbindliche Abmachung mit meinem Vater getroffen habe, daß seither aber nie wieder darüber gesprochen worden sei. Außerdem ließ Phils Vater Ernie nicht locker in seinem Drängen, Phil solle nach Florida zurückkommen und ihm bei der Leitung der Milchfarm helfen.
Doch irgendwann um diese Zeit kam Phil zu einem definitiven Entschluß. Am 28. Dezember wurde in der Post gemeldet, daß er zum 1. Januar 1946 als stellvertretender Herausgeber in die Zeitung eintreten werde. Am folgenden Tag erschien ein Leserbrief von Phils Freunden und Kollegen bei Lend-Lease auf der Kommentarseite der Zeitung, in dem diese Personalentscheidung gelobt wurde; man listete seine bisherigen Leistungen auf und gratulierte der Post zu diesem hochkarätigen Neuzugang.
Phils Freunde wollten den Post-Lesern offenbar mitteilen, daß er seine Berufung nicht allein der Tatsache zu verdanken habe, daß er der Schwiegersohn des Verlegers war, sondern daß er bereits eine eigenständige, beeindruckende Leistungsbilanz vorzuweisen habe.
Und so markierte das Jahr 1946 den Beginn einer neuen und völlig unterschiedlichen Epoche in unserem Leben. Bislang waren wir junge Leute gewesen, die Spaß am Leben und kaum Verantwortung zu tragen hatten.
Die Veränderung ging indes allmählich, von Tag zu Tag, vor sich, so daß ich damals noch nicht gleich erkannte, wie anders unser Leben jetzt wurde. Doch in Wirklichkeit hatten wir einen Riesenschritt in ein neues, ernsteres Leben getan. Nach einem Abschlußurlaub zum Ende seiner Militärzeit in Phoenix, Arizona, begann Phil sein Nachkriegsleben im Alter von dreißig Jahren als stellvertretender Herausgeber der Washington Post. Mein Vater hatte gesagt, er selbst sei inzwischen zu alt, als daß er Phil klein anfangen lassen könne. Der normale Weg durch alle Abteilungen vor der Übernahme der Verantwortung blieb Phil auf diese Weise verwehrt. Er mußte sogleich als Vertreter meines Vaters beginnen und dabei ein für ihn vollkommen neues und höchst wettbewerbsintensives Geschäft kennenlernen - Lernen von oben sozusagen.
Und weil Phil so hart arbeiten mußte, übernahm ich weit mehr als meinen normalen Anteil an der Organisation unseres häuslichen und familiären Lebens. Ich mußte den Wechsel vom Leben als mitziehende Soldatenfrau in Kriegszeiten und von langen Zeiten des Alleinseins bewältigen und eine ganze Palette von Fertigkeiten und Aktivitäten erlernen - im Haushalt wie im gesellschaftlichen Leben. Alles schien neu für mich zu sein, nicht zuletzt das Familienleben mit einem Ehemann und Kindern.
Wenigstens kommt bei einer am Morgen erscheinenden Zeitung wie der Post niemand vor zehn Uhr morgens ernsthaft in Gang. So war Lally unser Morgenwecker. Meistens kam sie um acht voll freudiger Energie hereingestürmt und rief: »Aufwachen, Papa!« Das war dann mein Signal zum Aufstehen - Phil drehte sich grummelnd auf die andere Seite und schlief nochmals eine Stunde.
Obwohl wir nach wie vor Mamie Bishop als Kindermädchen beschäftigten, war ich jetzt aktiver an Kinderpflege und Haushaltsführung beteiligt. Weil Mattie niemals wieder ganz gesund geworden war, hatten wir nun neben einer Köchin, Bessie, auch eine Wäscherin, Ethel Beverley, die es tatsächlich schaffte, alle Wäschestücke zu zerreißen. Phil sagte, ihr Mann müsse eigentlich Peg Leg (»Holzbein«) Beverley heißen, weil es sonst nicht zu erklären sei, daß von jedem seiner Sockenpaare nur noch ein Strumpf übrig war. Leider brachte ich es nie über mich, jemanden zu entlassen - ein Problem, mit dem ich mich noch viele Jahre später auseinandersetzen mußte, als ich ins aktive Arbeitsleben einstieg -, und so durfte Ethel bleiben. Damit blieb aber auch das Sockenproblem ungelöst.
Die Kinder entwickelten sich schnell zu kleinen Persönlichkeiten, doch leider hielt die Entwicklung meiner eigenen mütterlichen Fertigkeiten damit nicht Schritt. Trotz des Hilfspersonals schien jeder Tag wieder hektisch zu sein, und an Mamies freien Tagen geriet ich regelmäßig ins Rotieren. Dann schien ich mehr denn je nur linke Hände zu haben. In einer Woche, in der Mamie weg war, fiel Donny aus seinem Kinderbett, weil ich vergessen hatte, die Seite zu verschließen, und aus der Schaukel, während ich im Garten Unkraut jätete. Am Ende sah er aus wie Donald Duck, seine geschwollene Oberlippe ragte einige Zentimeter hervor. Und in derselben Woche hatte ich die Sauger für seine Flaschen zum Auskochen aufgesetzt und vollkommen vergessen, während ich mir Zeit nahm, telefonisch Leute zu einer Party einzuladen. Als ich durch den Brandgeruch aufmerksam wurde, schossen die Flammen schon dreißig Zentimeter hoch aus dem Glastopf. Ich stellte ihn schnell in den Ausguß und öffnete den Wasserhahn, um das Feuer zu löschen, woraufhin er explodierte und die Küche von Glasscherben übersät war. Ich mußte mich fragen, was wohl geschehen würde, wenn die Kinder ganz allein meiner Obhut überlassen wären.
Zeitweilig war Donny ein schwieriges Baby, das jede Menge Geduld erforderte, die ich nicht hatte. Im Alter zwischen sechs Monaten und einem Jahr schwankte er zwischen heftiger Aktivität und anschließender Erschöpfung und Quengeligkeit. Es war oft schwer, ihn zum Essen zu motivieren. Eines Tages, als er sein gesamtes Abendessen auf den Fußboden geworfen hatte, war ich so verzweifelt, daß ich Lally fragte, was ich tun solle. Wie der personifizierte gesunde Menschenverstand schlug sie vor: »Versuch's doch mal mit einem Sandwich.« Ich muß sagen, das funktionierte ganz gut. Danach wurde sie meine ebenso fähige wie begeisterte Helferin.
Lally liebte es schon als Dreijährige, »erwachsen« zu sein. Lally und Donald wurden anscheinend niemals müde, und nachdem wir auch noch einen kleinen Springerspaniel gekauft hatten, schafften es die drei zusammen, Phil und mich (mit Phils Worten) in einer »permanenten Laune unterdrückter Müdigkeit« zu halten.
Trotz gelegentlicher Unglücksfälle nahm mein praktisches Wissen jedoch immer mehr zu: im Haushalt, bei der Erziehung der Kinder und bei der Entwicklung eines guten mütterlichen Verhältnisses zu ihnen. Vor allem aber mußte ich lernen, zu Phil selbst in einem neuen Kontext, der sich vom zuvor Gewohnten deutlich unterschied, das richtige Verhältnis zu finden. Er war von Anfang an chronisch überarbeitet. Das gesteigerte Tempo und die gewachsene Verantwortung ermüdeten ihn, zugleich aber blühte er dadurch geradezu auf.
Unser Freundes- und Bekanntenkreis wurde größer, und wir blieben auch mit einigen unserer Freunde aus Vorkriegszeiten, die die Stadt verlassen hatten, in enger Verbindung. Das galt unter anderem für Prich. Er hatte verschiedene Stellenangebote in Washington ausgeschlagen, darunter das Amt des stellvertretenden Justizministers mit dem Aufgabengebiet Bürgerrechtsfragen, und war zurück nach Kentucky gegangen, um eine Anwaltskanzlei zu eröffnen. Doch bei der Arbeit für seine Klienten hatte er häufig in Washington zu tun.
In der unmittelbaren Nachkriegszeit begann auch unsere lebenslange Freundschaft mit Joseph Alsop, der gemeinsam mit Robert Kintner eine beliebte Kolumne für den New York Herald-Tribune schrieb, die über den Pressedienst der Zeitung auch in anderen Blättern erschien. Joe war zu dieser Zeit in Washington schon prominent und gab viele Dinnerpartys oder ging, wenn er nicht selbst den Gastgeber spielte, zu anderen. Joe lebte immer über seine Verhältnisse - teils auf Spesen, noch mehr aber, weil er ein Lebenskünstler von Format war.
Phil und ich bauten aber noch einen anderen, ganz unterschiedlichen Freundeskreis auf, zu dem der Kolumnist Walter Lippmann und seine Frau Helen gehörten, ferner unter anderen William (Bill) und Betty Fulbright, Arthur und Marian Schlesinger und der Post-Redakteur Herbert Elliston mit seiner Frau Joanne.
Walter Lippmann war der meistgelesene politische Kolumnist seiner Zeit. Er war sehr intelligent, aber auch eine Primadonna. Er hatte seinem besten Freund Harn Armstrong die Ehefrau ausgespannt und Helen 1938 selbst geheiratet. Sie bemutterte Walter entsetzlich, der deshalb ein sorgfältig kontrolliertes Leben führte. Seine Kolumne verfaßte er handschriftlich am Morgen, und in dieser Zeit durfte man ihn nicht stören; Helen sorgte für Ruhe im Haus. Die Nachmittage waren für Interviews, Lektüre und Spaziergänge mit den beiden schönen Pudeln reserviert. Helens umfassende Fürsorge für Walter war schon legendär. Einmal war Robert Schuman, der ehemalige französische Premier- und Außenminister, Ehrengast bei einer Dinnerparty der Lippmanns. Als der Wein serviert wurde, unterbrach Schuman Walter beim Reden, um mit dem Kellner über Herkunft und Jahrgang des Weins zu diskutieren, wie man es in Frankreich eben macht.
Als er fertig war, beugte sich Helen vor und sagte zu Walter: »Et tu di-sais?« - »Was hattest du doch gesagt?« Auf dem Platz am Haus meiner Eltern spielten wir oft mit Walter und Helen Tennis. Dann standen oft die kleinen Jungen aus der Nachbarschaft am Zaun und riefen: »Mista, schenken Sie mir einen Ball.« Als dies wieder einmal geschah, drehte sich Helen um und rief: »Seid still, Kinder, Mr. Lippmann will aufschlagen.«
Zu den Leuten, die wir in den ersten Nachkriegsjahren besser kennenlernten, gehörten Avis und Chip Bohlen - Chip war der neue Berater des Außenministeriums und hatte bei den Treffen der »Großen Drei« während des Krieges als Dolmetscher fungiert. Ferner Bob Lovett und Frau, John McCloy und Frau, Bob Joyce (ebenfalls im Außenministerium tätig) und seine Frau Jane sowie David Bruce und Frau. Diese Ehepaare bildeten zusammen mit den Alsops und Frank und Polly Wisner einen Freundeskreis, in den wir allmählich hineinwuchsen.
Zwei weitere Personen, die ein Leben lang unsere Freunde blieben, waren James (»Scotty«) Reston, damals Starreporter für die New York Times, und seine Frau Sally. Scotty war auf dem besten Weg, der einflußreichste Reporter in Washington zu werden, später betätigte er sich auch als Kolumnist. Über die Restons kann ich nur sagen, daß Phil und ich ihnen für den Fall der Fälle testamentarisch unsere Kinder überantwortet hatten. Zu einer Zeit, da wir beide sehr viel reisten, mußten wir entscheiden, ob wir gemeinsam fliegen oder getrennte Flugzeuge nehmen wollten. Weil wir jedoch so häufig unterwegs waren, daß es nicht praktikabel erschien, immer getrennt zu fliegen, entschieden wir uns gegen diese Lösung.
Andererseits hielten wir es für unverantwortlich, bezüglich der Kinder keine eindeutigen Abmachungen zu treffen. Wir glaubten, daß Scotty und Sally im großen und ganzen mit unseren eigenen Wertvorstellungen übereinstimmten und ähnlich liebevoll wie Phil und ich waren; außerdem kannten sie die Kinder gut, und die Kinder sie. Durch ihre Zustimmung zu diesem Arrangement erwiesen uns die Restons den äußersten Freundschaftsdienst.
Meine beste Freundin war Polly Wisner. Sie war mit Frank direkt nach dem Krieg aus New York nach Washington gezogen. Polly hatte immer gute Laune, sie schien geradezu vor Freude und Lachen zu bersten. Ständig hatte sie gute Ideen für gemeinsame Unternehmungen zu viert. Wir wurden sofort die besten Freundinnen, und daran hat sich nichts geändert.
Bald nachdem Phil seine Arbeit bei der Post aufgenommen hatte, gaben wir eine Dinnerparty für Cissy Patterson. Natürlich waren die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Mrs. Patterson und unserer Familie beendet gewesen, nachdem sie damals im Gefolge des Streits um die Comics meinem Vater - in Anspielung auf Shylock - ein Pfund rohes Fleisch geschickt hatte. Doch nun war Phil zum Vorsitzenden der Verhandlungsdelegation aller Washingtoner Zeitungen für die Gespräche mit den Gewerkschaften gewählt worden, und deshalb sagte mein Vater: »Wenn du in dieser Position bist, solltest du Cissy persönlich kennenlernen.«
In meiner Erinnerung war es immer mein Vater gewesen, der trotz der einst turbulenten Beziehungen zu Cissy Phil zu dessen Antrittsbesuch in Cissys Haus am Dupont Circle animiert und begleitet hatte. Erst kürzlich erfuhr ich nun von Frank Waldrop - damals Redakteur des Washington Times-Herald, doch in Wahrheit Cissys wichtigster Berater -, daß es Phil war, der Frank angerufen und den Vorschlag gemacht hatte, sie sollten sich verbünden, um die beiden alten Rivalen wieder zusammenzubringen.
Frank hatte eingewandt, das würde sicher ein interessantes Schauspiel geben, »etwa so ähnlich wie zwei Skorpione in einer Flasche«, hatte dann aber zugesagt und - quasi in der Rolle des Sekundanten - vorgeschlagen: »Kümmern Sie sich um Ihren Mann, ich bemühe mich, meinen in den Griff zu kriegen.«
Frank kam schon eine Stunde vor dem festgesetzten Besuchstermin um drei Uhr nachmittags und fand Cissy total nervös vor. Sie rannte herum und gab Anweisungen in alle Richtungen. Schließlich befahl sie dem Butler auch noch, den Alkohol beiseite zu schaffen: »Ich will nicht, daß Eugene hier rauskommt und sagt, ich sei eine Säuferin.« Also wurden die Flaschen im Schrank verschlossen. Phil und mein Vater kamen an, man setzte sich, und alle benahmen sich wie erwachsene Menschen. Laut Frank sagte mein Vater nach einiger Zeit: »Cissy, hättest du vielleicht etwas zu trinken?« Sie klingelte den Butler herbei und sagte: »Holen Sie die Sachen raus.« Und so kamen die Flaschen wieder zum Vorschein.
Phils und Cissys Charme führten dazu, daß sich die beiden sofort verstanden. Cissy sagte: »Oh, Eugene, du hast ja ein solches Glück, daß du einen so charmanten Schwiegersohn bekommen hast; denk doch nur an den Hurensohn, den ich gekriegt habe.« Damit meinte sie den Kolumnisten Drew Pearson, der zu dieser Zeit schon von Cissys Tochter geschieden und ein guter Freund von uns war. Direkt nach der Scheidung hatte Drew noch freundschaftlichen Kontakt zu Cissy gehalten, doch Cissy und ihre Zeitung waren politisch stark rechtslastig und isolationistisch, während Drew als Quäker und Liberaler für die Alliierten eintrat. Das führte zur Trennung, und so konnte die Post mit Drews Kolumne, der damals meistgelesenen überhaupt, einen wahren Schatz an Land ziehen.
Wie dem auch sei, Phil und ich waren der Ansicht, daß es nach dieser Wiederbegegnung an der Zeit sei, die Beziehungen zu Cissy wieder aufzunehmen, und so gaben wir ihr zu Ehren eine kleine Dinnerparty. Inzwischen hatten wir bereits ein Ehepaar in unseren Diensten, das für Haus und Küche sorgte. Ich hatte allerdings nicht bedacht, daß die Küche rechtzeitig Bescheid wissen muß, damit gut geplant und eingekauft werden kann, und sagte leider erst am Morgen, daß wir zum Abendessen vierzehn Personen seien. Trotz kleinerer Pannen war Cissy reizend und sehr angetan. Sie schickte mir einen riesigen Veilchenstrauß mit einem warmherzigen Dankesbrief und sprach darin eine Gegeneinladung aus.
Weil ich nach meinen Schwangerschaften ein »Bäuchlein« bekommen hatte, ging ich mit mehreren anderen Frauen zur Gymnastik. Wir trafen uns morgens in Joey Ellistons großem Haus. Eines Tages erzählte mir Joey, daß das Nachbarhaus zum Verkauf stehe und Phil und ich es kaufen sollten. Obwohl wir noch kein Jahr in unserem Haus an der O Street wohnten, hatten wir schon angefangen, sporadisch nach einem Haus zu suchen, das sich für eine Familie mit kleinen Kindern besser eignete. Das Haus, von dem Joey jetzt sprach, hatte mir schon immer gefallen; es gehörte General »Wild Bill« Donovan. Von außen sah es ganz ähnlich aus wie das Haus der Ellistons, ein imposantes cremefarbenes Ziegelsteinhaus, doch in meinen Augen war es für uns viel zu groß und prachtvoll; ganz bestimmt kosteten Kauf und Unterhalt mehr, als wir uns leisten konnten. Doch Joey ließ nicht locker. »Es ist nicht so groß, wie es aussieht, und du solltest es dir ansehen.« Das tat ich dann auch und verliebte mich fast auf den ersten Blick in dieses Haus.
Es sah aus wie eine Art bequemes Landhaus, um das die Stadt herumgewachsen war; es war länglich mit einfacher Linienführung und hatte an der Frontseite eine große Rasenfläche mit einer langen, kiesbedeckten Zufahrt. Auf der Rückseite lagen eine altmodische Veranda und ein großer, etwas abschüssiger Garten mit vielen Bäumen. Am Fuß des Abhangs lag ein altes Stallgebäude, das als Garage diente, über der sich eine Wohnung befand.
Etwas zögerlich bat ich Phil, sich das Haus ebenfalls anzuschauen. Ich wußte, daß, wenn schon mir die Größe von Haus und Grundstück Sorgen bereitete, dies bei Phil in noch stärkerem Maße zutreffen würde. Aber ich sagte ihm, daß in einer idealen Welt genau dies das Haus wäre, in dem ich wohnen würde. Also machten wir einen Sonntagnachmittags-Spaziergang von der O Street zur R Street. Als wir an der hohen steinernen Umfassungsmauer entlanggingen, erschien sie mir höher und länger denn je; sie schien den ganzen Straßenblock einzunehmen. Und als wir schließlich von der Seite den Treppenaufgang zur Haustür hinaufstiegen, konnte Phil nicht länger an sich halten: »Bist du denn völlig verrückt geworden?« »Wart doch erst mal ab, bis du einen Blick hineingeworfen hast«, murmelte ich nervös. »Drinnen ist es längst nicht so gewaltig, und es ist gar nicht so schlecht, wie es aussieht.« Und wirklich, als Phil das ganze Haus sah, verliebte auch er sich auf Anhieb. Nachdem wir schon so redeten, als gehöre es bereits uns, und darüber diskutierten, welches die Kinderzimmer werden und wo die Möbel stehen sollten, kamen wir schließlich überein, einen Kaufversuch zu unternehmen. Ich beauftragte unseren Agenten, ein Angebot über 115.000 Dollar abzugeben, das geringfügig unter dem von den Donovans geforderten Kaufpreis von 125 000 Dollar lag. Mir erschien dieses Angebot, das mehr als das Doppelte des Kaufpreises für unser gegenwärtiges Haus betrug, geradezu astronomisch hoch.
Mein Vater hatte sich die Häuser, die ich von Zeit zu Zeit in Augenschein nahm, ebenfalls angesehen, und ich hatte ihm eines oder zwei gezeigt, die mich wirklich interessierten. Doch dieses war nun endlich ein Haus in Georgetown, das auch er interessant fand. Es war aus Stein und daher solide gebaut, allein stehend, geräumig und hatte auch Platz um das Haus herum. Eines Tages, als über mein Angebot immer noch nicht entschieden war, kam mein Vater herüber und sagte zu mir: »Also, das Haus gehört dir.«
»Was soll das heißen?« fragte ich befremdet. »Ich habe Bill Donovan gestern abend beim Dinner getroffen und ihn gefragt, wieviel er wirklich für sein Haus haben will. Und er sagte: >Ich will, was ich fordere, weil ich den Wert des Hauses so einschätze. Und da habe ich gesagt: >In Ordnung, Kay wird diesen Preis zahlen.<« Als ich ihn fragte, wie er eigentlich dazu komme, sich in meine Kaufverhandlungen einzumischen, denn schließlich sei doch ich diejenige, die den Preis zu zahlen hätte, antwortete er: »Wenn dies der Ort ist, an dem du wirklich leben möchtest, dann feilsche nicht herum.«
Also kauften wir das Haus und haben es nie bereut. Es war und ist immer noch das Heim meiner Familie, ein liebenswertes Haus mit Charakter. Es war großartig, als wir eine große Familie waren, und ich komme auch allein gut darin zurecht.
Von Anfang an hatte Phil bei der Post mit Volldampf gearbeitet. Obwohl er sich im Zeitungsgeschäft - wie auch in anderen Geschäftszweigen - nicht auskannte, kamen ihm sein Verstand und seine Fähigkeiten sehr zustatten.
Umgehend wurde er intern wie nach außen hin zum engen Mitstreiter meines Vaters. Zusammen mit ihm arbeitete er auch im Advertising Council mit, einer Interessengemeinschaft, die mein Vater ins Leben gerufen hatte, um die Kooperation der großen Werbeagenturen und Inserenten bei öffentlichen Angelegenheiten im Rahmen der Kriegsanstrengungen zu sichern. Diese Position nützte meinem Vater, aber auch Phil, der ja weder in der Zeitungsbranche noch in der Geschäftswelt jemanden kannte, auf lokaler
wie auf nationaler Ebene.
Auch öffentliche Verpflichtungen nahmen die beiden gemeinsam wahr.
Schon ganz zu Anfang seiner Präsidentschaft hatte Harry Truman die Nation aufgefordert, sich konzentriert dem Problem des Hungers im Nachkriegseuropa zu widmen. Als Reaktion auf diesen Appell hatte mein Vater dem Landwirtschaftsminister ein Freiwilligenprogramm vorgeschlagen, um in der Öffentlichkeit für eine Unterstützung der Aktionen zur Linderung der Hungersnot zu werben. Sein Plan wurde von Truman im wesentlichen übernommen, als er das Famine Emergency Committee (Komitee zur Beseitigung der Hungersnot) ins Leben rief. Anschließend arbeitete mein Vater mit anderen Beschäftigten der Post daran, die Zeitungen und die Öffentlichkeit für die Idee zu gewinnen, daß man zur Linderung der Hungersnot in der Welt beitragen müsse. Dieses Komitee war ein interessantes Beispiel für gemeinsame Anstrengungen von Regierung und Presse, wie sie heute kaum noch möglich wären. Im allgemeinen sieht es die Presse heute als ihre Aufgabe an, über ein Thema wie den Hunger in der Welt zu berichten und gescheite Kommentare zu verfassen, nicht jedoch, sich aktiv an der Linderung des Hungers zu beteiligen. Diese Aufgabenteilung mag journalistisch zwar korrekt sein, stellt aber - denke ich - für die Gesellschaft gleichwohl einen Verlust dar.
Weil sich in den ersten Monaten Phils Aufgaben und Verantwortlichkeiten häuften, mußte er noch während seines eigenen Lernprozesses bereits Entscheidungen treffen. Es war klar, daß mein Vater hocherfreut war, Phil neben sich zu haben. Phil war ihm bei vielen Dingen, die ihm schon vor langer Zeit jemand anders hätte abnehmen sollen, eine außerordentliche Hilfe. Doch im Juni 1946 rief Präsident Truman an und fragte meinen Vater, ob er nicht erster Präsident der neu gegründeten Weltbank werden wolle. An jenem Abend saßen meine Eltern mit Phil und mir beim Essen zusammen und beratschlagten gemeinsam, was zu tun sei. Papa zögerte sehr, sich diese große, komplizierte Aufgabe noch im Alter von siebzig Jahren aufzuladen, doch war er andererseits der Ansicht, daß es von entscheidender Bedeutung sei, diese internationale Bank auf einer gesunden Grundlage zu errichten. Er konnte überhaupt nicht verstehen, warum andere sich vor dieser »herausragenden Chance für einen Banker, im Dienste der Welt und der Weltgeschichte« tätig zu werden, drücken wollten. Als erfahrener Geschäftsmann und langjähriger Regierungsbeamter konnte
mein Vater die Situation genau einschätzen: Es würde ein anstrengender Vollzeitjob werden, der seine gesamte Energie erforderte. Er wußte auch, daß er im Fall seiner Annahme des Bankjobs Phil zum Verleger der Post machen müßte. So stellte er Phil die Entscheidung anheim, indem er sagte: »Auf diesem Gebiet hat immer mein primäres Interesse gelegen, aber wenn du nicht willst, daß ich gehe, dann gehe ich nicht.« Natürlich ermutigte ihn Phil, die neue Aufgabe zu übernehmen, und versicherte ihm, er selbst und die Zeitung würden es auch ohne ihn schaffen.
So verkündete die Post also am 18. Juni 1946, daß mein Vater sich aus der aktiven Leitung der Zeitung zurückziehen werde und keine Kontrolle und Verantwortung für den Nachrichtenteil oder redaktionelle Angelegenheiten mehr übernehmen könne; die Zeitung bleibe jedoch weiterhin in seinem Besitz. Nominell und de facto werde jetzt Phil Verleger der Zeitung sein. Phil war damals gerade erst gut fünf Monate dabei und sollte im Monat darauf einunddreißig werden. Er war damit der jüngste Verleger einer großen Zeitung in den Vereinigten Staaten.
Obwohl unsere Freunde und die Presse Phils Aufstieg zum Verleger allem Anschein nach positiv sahen, wußten wir, daß die Dinge nicht einfach sein würden. Er hatte ein Aufgabengebiet übernommen, für das er schlecht vorbereitet war, und praktisch aus dem Stand auch die Verantwortung für den weiteren Weg der Zeitung zu einem überlebensfähigen Unternehmen. Er leitete ein Blatt, das Verluste einbrachte und in einer Stadt erschien, die sich immer schneller zur Hauptstadt der ganzen Welt entwickelte.
In der Tat war der Überlebenskampf der Post immer noch nicht beendet. Sie hatte zwar in den Kriegsjahren meistens Profite gemacht, war danach aber wieder in die Verlustzone abgeglitten. Es war uns bewußt, daß die Post im Washingtoner Zeitungsgeschäft nicht die Hauptrolle spielte:
Das große Geld verdiente der Star, und unser schärfster Konkurrent war immer noch die Times-Herald, weil auch sie eine Morgenzeitung war. Die redaktionelle Qualität der Post, das Anzeigenaufkommen und das allgemeine Prestige waren zwar kontinuierlich weiter gewachsen, aber nach dem Krieg war eine Menge Reform- und Wiederaufbauarbeit zu leisten.
Der Zeitungsmarkt war hart umkämpft, und die Post war nur ein recht kleiner Betrieb. Hinzu kam natürlich, daß es sich um ein privates Familienunternehmen handelte. Nachdem mein Vater zur Weltbank übergewechselt war, mußte sich Phil nun noch schneller einarbeiten. Aber er hatte einen guten Blick für das Ganze, und so konzentrierte er sich darauf, Leute zu finden, die die Zeitung redaktionell und finanziell voranbringen konnten.
Einige bereits von meinem Vater getroffene Personalentscheidungen erleichterten Phil die Arbeit und machten sich bei der Zeitung langfristig positiv bemerkbar.
Gene Elderman etwa, seit 1932 Karikaturist der Post, hatte sich schleichend um seinen Job gebracht, weil er zunehmend dem Alkohol verfallen war. Von Anfang 1943 bis Anfang 1946 hatte die Post deshalb keinen eigenen Zeichner mehr, und mein Vater war ständig auf der Suche nach einem Nachfolger gewesen. Er hatte von einem Mann gehört, der gerade aus der Armee entlassen worden war und der vor dem Krieg für die Chicago Daily News und für die Newspaper Enterprise Association in Cleveland Karikaturen gezeichnet hatte. Beim ersten Treffen mit Herbert Block im Yale Club in New York hatte mein Vater den Wunsch geäußert, einige von Herbs Vorkriegsarbeiten sehen zu dürfen, denn in der Armee hatte Herb ja keine politischen Karikaturen geschaffen. Im Gegenzug schickte er Herb ein Abonnement der Post, damit dieser sich ein eigenes Urteil bilden könne, »wie wir Ihnen gefallen«, womit er auf Gegenliebe stieß. Herb wurde eingestellt und kam zugleich mit Phil in die Redaktion. Als »Herblock« zeichnet dieser außerordentliche Mann nun schon seit über fünfzig Jahren Karikaturen für die Post. Sein schöpferisches Genie ist auch nach all den Jahren zuverlässiger Arbeit ausgeprägt wie eh und je. Dabei ist Herb inzwischen schon siebenundachtzig.
1946 war Herbert Elliston noch zuständiger Redakteur für die Kommentarseite. Kaufmännischer Geschäftsführer war Charles Boysen, ein alter Mitstreiter meines Vaters. Mit Donald Bernard gab es auch einen erfahrenen Anzeigenmanager. Wayne Coy, Phils Freund und Kollege in Kriegszeiten, fungierte als Assistent des Verlegers. In Produktion und Vertrieb gab es allerdings niemanden, auf den man sich wirklich verlassen konnte; ebenso lagen die Betreuung der Belegschaft und die Beziehungen zu den Gewerkschaften im argen.
Phil hatte in seinem Aufgabenbereich mehr als genug zu tun. Als Chefredakteur war ihm Casey Jones direkt unterstellt, der, seit er 1935 zur Post gekommen war, meinem Vater entscheidend geholfen hatte, das Blatt voranzubringen. Doch schon nach kurzer Zusammenarbeit mit Jones kam Phil zu dem Schluß, die Zeitung brauche jetzt auf diesem Posten jemanden mit mehr intellektuellem Profil. Jones hatte seine Verdienste, aber er war mehr der altmodische Typ eines Zeitungsmachers wie im Theaterstück Front Page (von Ben Hecht und Charles MacArthur, auf deutsch Reporter), und Phil hatte größere Ambitionen. Also begann er mit der Suche nach einem Chefredakteur, der besser zu ihm paßte. Er hatte von einem Mann gehört, der schon als Kommentator, Chefredakteur und Washington-Korrespondent für St. Paul Dispatch - St. Paul Pioneer Press gearbeitet hatte. Also flogen wir beide nach Minnesota, um besagten Journalisten zu treffen. Phil war von Russ Wiggins sofort begeistert, einem wahren Energiepaket, einem Mann, der zwar nur einen High-School-Abschluß hatte, jedoch ungemein belesen war. Phil bot Russ den Job des Sonntagsredakteurs an, sicher in der Hoffnung, ihn allmählich zum Chefredakteur aufzubauen. Doch nach einigem Kopfzerbrechen gab Russ, der in der beneidenswerten Lage war, zwischen zwei guten Angeboten wählen zu können, Phil einen Korb und entschied sich für das Angebot, Assistent von Arthur Sulzberger zu werden, dem damaligen Verleger der New York Times.
Phil engagierte sich auch in der Nachrichtenredaktion der Zeitung. Er glaubte, die Nachkriegswelt werde wesentlich durch die Entscheidungen mitgestaltet, die damals auf der Friedenskonferenz in Europa getroffen wurden. Deshalb ging er selbst im August mit Herbert Elliston auf Europareise, während ich mit den Kindern auf der Farm in Mount Kisco blieb.
Dies war Phils erste journalistische Reise und überdies seine erste nach Europa. Wenn es einen großen Bonus im Journalistenleben gibt, sei es als Reporter, Redakteur oder Verleger, dann sind es solche Touren. Und wenn man Wissen und Dazulernen so liebt wie Phil und ich, dann bringen solche Reisen endlose Befriedigung. Zugleich kann man bisweilen auch für die eigene Zeitung - und für die beteiligten Regierungen - noch etwas Gutes tun, indem man einfach über das Gesehene, Erlebte und Erfahrene berichtet. Dies war für Phil genau eine solche Reise, und sie hinterließ bei ihm einen tiefen Eindruck. Isaiah Berlin hat immer behauptet - mit einigem Recht, wie ich glaube -, diese Reise habe enorm zu Phils intellektueller Entwicklung beigetragen und ihn vom extremen Liberalismus seiner Studentenzeit und der ersten Berufsjahre weggeführt.
Als wir im Herbst 1946 nach Washington zurückkehrten, war Phil nicht nur damit beschäftigt, die Zeitung zu leiten und an ihrer Verbesserung zu arbeiten, sondern er mußte überdies meinem Vater moralische Unterstützung geben, dem das Amt des Präsidenten der Weltbank sogar noch schwerer fiel, als er gedacht hatte. Phil gab sich alle Mühe, Vaters Moral zu stärken und ihm zu helfen, wann und wie immer er konnte - als Ratgeber wie als Redenschreiber.
Schwierigkeiten hatten sich bei der Bank für meinen Vater fast von Anfang an ergeben. Die zwölf Direktoren waren schon vor ihm ernannt worden, und die Zusammenarbeit zwischen ihnen hatte sich bereits eingespielt. Viele sträubten sich nun innerlich dagegen, daß jemand hinzukam, der wirklich Ordnung schaffen wollte; eine reine Galionsfigur wäre ihnen lieber gewesen. Aber auch ohne solche politischen Grabenkämpfe wäre die Arbeit meines Vaters schwer genug gewesen. Er wußte, daß er wahrscheinlich gewinnen könnte, wenn er bliebe und den Kampf annähme, aber er fühlte sich zu alt und zu müde, um sich diese Auseinandersetzung noch zuzumuten.
Ende Oktober begann er, über die langfristige Zukunft der Bank nachzudenken - in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren. Dabei wurde ihm klar, daß er selbst dann nicht mehr da wäre, um seine eigenen Pläne in die Tat umzusetzen. Ebendies aber wäre bei derartigen Planungen mehr als sinnvoll gewesen. Also reichte er am 4. Dezember 1946 seinen Rücktritt ein. Er wollte nur noch zwei Wochen bleiben und hatte nicht einmal mehr die Energie abzuwarten, bis sein Nachfolger bestimmt war. Ironischerweise bewirkte sein Rücktritt jedoch, daß einige der notwendigen Reformen durchgesetzt wurden; sein Nachfolger John McCloy konnte effizienter arbeiten.
Als mein Vater im Januar 1947 zur Post zurückkehrte, war der Übergang an der Spitze bereits vollzogen. Während Vaters sechsmonatiger Abwesenheit hatte Phil die Chance gehabt, seine Führungsposition zu festigen; inzwischen war er eindeutig der Chef. Am Ende seines ersten Jahres als Verleger war Phil allgegenwärtig und an allem beteiligt. Mein Vater gab sich mit dem Titel des Vorsitzenden eines nicht existierenden Vorstands zufrieden und besaß die Großzügigkeit und Weisheit, Phil die Position des Verlegers zu überlassen und auf den Versuch zu verzichten, die sechs Monate zuvor abgetretenen Kompetenzen zurückzubekommen. Seine Rolle beschränkte sich fortan im wesentlichen darauf, Phil bei allem, was er tat, den Rücken freizuhalten.
Phils Respekt vor der Erfahrung und dem Wissen meines Vaters sowie sein fester Glaube an das gesunde Urteilsvermögen des alten Herrn führten dazu, daß er ihn aus eigenen Stücken und gern in alle bedeutenden Entscheidungen und Ereignisse einbezog. Umgekehrt war mein Vater von Phils Fähigkeiten und Talenten, insbesondere seinem geschickten Umgang mit Menschen, höchst angetan und deshalb entschlossen, Phils Bemühungen zu unterstützen und die Zeitung weiterhin finanziell zu stärken.
Zwischendrin beanspruchte auch meine Mutter Phils Aufmerksamkeit ein wenig. Nach dem Krieg reiste sie weiterhin im Land umher, hielt Vorträge und schrieb Reportagen oder Artikel über verschiedene Themenbereiche. Eine Serie von vierundzwanzig Artikeln über Nachkriegsprobleme war das Ergebnis einer viermonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten; sie erschien im April und Mai 1946 in der Post. Phil hielt die gesamte Serie für erstklassig.
Zugleich intensivierte meine Mutter ihr Engagement im Sozial- und Wohlfahrtsbereich. In einer Anhörung vor dem Kongreß bekräftigte sie ihre Überzeugung, daß Regierung und Verwaltung in Fragen des Gesundheits- und des Erziehungswesens auf allen Ebenen noch wesentlich effizienter werden müßten. Sie setzte sich nachdrücklich für einen ursprünglich von den Senatoren Taft und Fulbright unterstützten Gesetzentwurf zur Schaffung eines im Kabinett vertretenen Ministeriums für Gesundheit, Erziehung und Soziale Sicherheit ein. Irgendwie fand sie darüber hinaus sogar noch Zeit, Präsidentin des Social Legislation Information Service und Mitglied der vom US-Präsidenten eingesetzten Commission on Higher Education zu sein. Ferner arbeitete sie im Federal Hospital Council und im District of Columbia Planning Committee mit. 1947 war sie an der Gründung der National Citizens' Commission for Support of the Public Schools (Nationale Bürgerkommission zur Unterstützung des öffentlichen Schulwesens) beteiligt und blieb in diesem Gremium bis zu ihrem Tod aktiv.
Auch mit sechzig war sie, wie Newsweek 1947 schrieb, aus eigenem Antrieb noch immer »eine weibliche Einpersonenreformbewegung«.
Ihre Artikel für die Post waren fast immer lang, für eine Tageszeitung oft sogar zu lang. Sie hielt - zu Recht - große Stücke auf ihre schriftliche Ausdrucksfähigkeit, und dies könnte, wenn auch von ihr nicht ausdrücklich gewollt, dazu geführt haben, daß viele Redakteure Angst davor hatten, in ihren Beiträgen etwas zu verändern. Manche diesbezüglichen Anekdoten gehören zum festen Legendenschatz der Post. Casey Jones jedoch, der die Fähigkeiten meiner Mutter als Reporterin und Autorin besonders lobte, scheute sich nach eigenen Aussagen niemals, den Rotstift zu zücken.
Der erste Konflikt unter Phils Ägide, der meine Mutter betraf, ereignete sich 1948, als Herbert Elliston sich gegen ihre Einmischung in seinen Arbeitsbereich wehrte. Er beschwerte sich bei Phil - nicht ohne zu betonen, daß dies die erste derartige Beschwerde in seiner achtjährigen Zugehörigkeit zur Post sei. Meine Mutter habe seinen Kommentar über den Antiklerikalismus verbessert und die korrigierten Fahnen dann ohne Rücksprache direkt in die Setzerei gegeben. Elliston hatte - zu Recht - das Gefühl, meine Mutter habe damit ihre Kompetenzen überschritten und seine eigene Verantwortung für die Kommentarseite sowie seine Autorität gegenüber den Mitarbeitern unterminiert, ganz zu schweigen von seinem Prestigeverlust in den Augen der Setzer. Meine Mutter war reumütig, aber verletzt. Sie schrieb Herbert sofort einen Entschuldigungsbrief, in dem sie sagte, »der Eindruck, den meine
unglückliche Stümperei auf Dich gemacht hat«, habe ihr »einen Schrecken eingejagt«. Sie hatte ihre eigene Version des Geschehenen, das, wie sie zugab, leider »gegen Fehldeutungen nicht gefeit« war, und fügte hinzu:
... Doch, lieber Herbert, was mich noch stärker schmerzt als meine eigene Dummheit, ist, daß Du mir nicht genug Vertrauen entgegengebracht und mich, als wir uns beim Essen trafen, nicht einfach beiseite genommen hast, um mir offen und fest zu sagen: »Sieh mal, so geht das nicht«. Dann hätte ich Dir sofort erklären können, daß ich es nicht böse gemeint habe, und mich auf der Stelle bei Dir entschuldigen können. Erkläre Phil bitte, wie sich alles zugetragen hat, und mach Dir nicht die Mühe, auf diesen Brief zu reagieren.
Was sie in Wirklichkeit fühlte, wurde jedoch am nächsten Tag offenbar, als sie Phil schrieb, vorgeblich über einen Vortrag, den sie über das Thema »Modern Curriculum and Released Time« (Der moderne Lehrplan und die dafür zur Verfügung stehende Zeit) halten wollte. In diesen Brief ließ sie folgende Passagen einfließen:
... Ich werde mich nie wieder, ganz gleich aus welchem Grund, darauf einlassen, mit einem Beschäftigten der Post zu tun zu haben. ... Wenn ich mich mit dieser Angelegenheit jetzt noch weiter befasse, gibt es sicher einen Kurzschluß, und das wird dann meine Schuld sein. Ich verwahre mich dagegen, je wieder dieser Demütigung ausgesetzt zu werden, von den Mitarbeitern oder von Dir Belehrungen entgegennehmen zu müssen...
Natürlich mußte sich Phil jetzt die Zeit nehmen, ihre Wunden zu »verarzten« und sich um die Wiederherstellung der guten Beziehungen zu bemühen, zum Wohle der Zeitung und aller Betroffenen. Phils diplomatische Fähigkeiten und sein Taktgefühl beim Umgang mit dieser und vielen anderen kritischen Situationen, an denen meine Mutter beteiligt war, haben uns alle oft gerettet.
Damals legte Phil großen Wert darauf, daß ich ihn überallhin begleitete, doch wohin wir gingen, entschied allein er. Die meisten förmlichen Abendveranstaltungen waren ihm ein Greuel, besonders Botschaftsdinners. Manchmal aber bat ich ihn, wir könnten doch zu einer Veranstaltung gehen, die etwas Glamour versprach. Doch es blieb dabei: Er entschied, und ich fügte mich. Was ich noch nicht gelernt hatte, war, von Phil weniger abhängig zu sein.
Paradoxerweise hätte mir meine Mutter in dieser Hinsicht ein Vorbild sein sollen, denn sie ließ sich persönlich nicht einengen. Aber sie hatte ihren eigenen Töchtern Minderwertigkeitsgefühle ihr gegenüber eingeimpft, und das hinderte uns oft, in ihr ein positives Leitbild zu sehen. Doch selbst sie betonte bei aller Unabhängigkeit und trotz ihres starken Egos, wie wichtig es sei, eine gute Ehefrau zu sein, deren primäre Verpflichtung Mann und Kindern galt - und bis zu einem gewissen Grade lebte sie uns dieses Rollenverständnis ja auch vor.
Nach Dons Geburt und Phils Rückkehr aus Übersee hatte ich meine Arbeit bei der Post nicht wieder aufgenommen. Und als nun auch Phil zur Post ging, traf ich einseitig die Entscheidung, dorthin nicht zurückzukehren, weil ich meinte, gleichzeitig dort zu arbeiten, wäre für uns beide viel zu verwirrend. Phil hingegen war nicht so sicher, daß dies die richtige Lösung war; er ermutigte mich zur Rückkehr. Anfang 1947 ließ ihn die Sorge darüber, in welche Richtung sich mein Leben entwickelte, den Vorschlag machen, ich solle doch beginnen, eine wöchentliche Kolumne mit Kurzberichten über interessante Zeitschriftenartikel zu schreiben. Dadurch wollte mich Phil, wie er in einem Brief an seine Schwester schrieb, »etwas weniger dumm und häuslich« machen, als ich es neuerdings gewesen sei. Doch ich vermute, daß Phil vor allem nach einem Weg suchte, wie ich für die Zeitung arbeiten konnte, ohne in ihre Organisation verwickelt zu sein.
Tatsächlich hatte ich schon die ganze Zeit, seit Phil bei der Post angefangen hatte, daran gedacht, eine Halbtagsstelle anzunehmen, jedoch Angst gehabt, daß es keine für mich gebe. Dies war nun eine großartige Gelegenheit, und ich hatte deshalb schon fast ein schlechtes Gewissen, weil ich das Ganze eher für eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme hielt. Tatsächlich hatte Phil diese Idee aber aus einer anderen Zeitung übernommen.
Noch heute gibt es diese Kolumne in der Post. Damals hieß sie »The Magazine Rack« (Der Zeitschriftenständer). Sie erschien in der Sonntagsausgabe, und ich machte mich im April 1947 an die Arbeit. Das ausgezeichnete Honorar betrug 15 Dollar pro Kolumne. Ich benötigte für meine Arbeit nur einen Tag, doch unweigerlich war gerade dieser Tag immer schwierig, und so war ich oft in Panik, ob ich noch rechtzeitig fertig würde. Die Arbeit machte mir jedoch überraschenderweise Spaß, und ich blieb ihr viele Jahre treu. Es fand sich sogar ein weiterer Abnehmer am Wege, das Louisville Courier-Journal - dank unserem Freund Barry Bingham, der Redakteur dieser Zeitung war. Etwa ein Jahr, nachdem meine Kolumne erstmals erschienen war, schrieb Barry an Phil und berichtete, seine Zeitung wolle in begrenztem Umfang Sonderspalten und Beilagen übernehmen. Er habe meine Kolumne über die Zeitschriftenartikel eine Weile verfolgt, und das sei genau jene Art von Material, das er gern einmal wöchentlich bringen würde. Phil schrieb Barry, daß ich über seine Anfrage hellauf begeistert sei und daß die Post dem Courier die Spalte gern überlassen werde. Allerdings müßte ich jetzt erst einmal ein paar Wochen wegen Mutterschaftsurlaubs aussetzen, um unser drittes Kind zur Welt zu bringen.
Etwa um die Zeit, als ich anfing, meine Kolumne zu schreiben, verstärkte ich auch mein staatsbürgerliches Engagement. 1947 wurde ich in die National Capital Sesquicentennial Commission (Kommission zur Vorbereitung der Hundertfünfzigjahrfeier der Hauptstadt) berufen, deren Ehrenvorsitzender Präsident Truman war. In den ersten Nachkriegsjahren war ich auch bei Wohlfahrtsaufgaben engagiert. Ich sammelte Spenden, besonders für Community Chest und das National Symphony Orchestra.
Außerdem war ich im Vorstand des Children's Convalescent Home (Kindergenesungsheim) tätig. Über Ausschuß- und Freiwilligenarbeit hatte ich nicht viel gewußt, ehe man mich bat, in diesem Gremium mitzuarbeiten; aber ich war schockiert, als sich herausstellte, daß es hier mehr um soziale Etikette, Gesellschaftsklüngel und Wohltätigkeit im altmodischen Sinne ging. Als sich das später änderte, war ich mit viel mehr Freude bei der Sache.
Zu meinen Hauptbeschäftigungen gehörte es allerdings auch, mich um unsere eigenen Kinder zu kümmern. Zu jener Zeit und in unserer Situation war die partnerschaftliche Aufteilung der Elternpflichten noch nicht üblich. Alles, was mit dem Haushalt zusammenhing, fiel ausnahmslos in meinen Aufgabenbereich: Ich suchte die Schulen aus, beaufsichtigte die Aktivitäten der Kinder, führte den gesellschaftlichen Terminkalender der ganzen Familie (nachdem Phil entschieden hatte, an welchen Veranstaltungen er mit mir teilnehmen würde) und richtete die Häuser ein. Auch um Reparatur- und Renovierungsarbeiten mußte ich mich kümmern. Als ich 1947 für Lally - sie war damals vier Jahre alt - einen Kindergarten aussuchte, wurden mir lauter seltsame Fragen gestellt, etwa, ob ich der Ansicht sei, daß meine eigene häusliche Erziehung erfolgreich gewesen sei. Da mußte ich laut lachen und sagte, das wisse ich nicht; aber ich vermutete mal, eher nicht. Sie fragten mich auch, was ich mir vom Kindergartenaufenthalt meiner Tochter verspräche. Darauf wußte ich ebenfalls keine befriedigende Antwort. Ich weiß nicht, warum Lally trotzdem aufgenommen wurde; jedenfalls bestimmt nicht wegen meiner gescheiten Antworten. Wahrscheinlich hatte sie beim »Test« gut abgeschnitten und konnte Bauklötze richtig zusammensetzen.
Wie und wo ich den Sommer verbringen sollte, war in diesen Jahren für mich durchaus ein Problem. Meistens besuchte ich mit den Kindern meine Eltern in Mount Kisco, doch solche Reisen trat ich immer mit gemischten Gefühlen an. Ich wußte zwar, daß die Kinder begeistert sein würden - und sie waren es in der Tat jedesmal, so wie auch ich als Kind begeistert gewesen war -, aber ich ließ Phil nicht gern in Washington allein, was ja auch hieß, daß er am Wochenende ebenfalls nach Mount Kisco kommen mußte. Und wenn er schon die ganze Woche mit meinem Vater zusammen war, so wäre es am Wochenende für ihn, wie ich meinte, sicher besser gewesen, meine Eltern und Verwandten einmal nicht sehen zu müssen. Auch das Verhältnis meiner Mutter zu meinen Kindern machte mir Sorge, zumal sie mit ihrer Meinung über unsere Erziehung der Kinder nicht hinter dem Berg hielt. Sie tat so, als hätten Lally und Don noch nie in ihrem Leben so gut gegessen wie bei ihr. Auch hörten die Vergleiche zwischen unseren Kindern und denen meines Bruders, die in jenen Jahren ebenfalls häufig in Mount Kisco zu Gast waren, niemals auf. Das führte letztlich zu einem verkrampften Wettbewerb zwischen beiden Familien. Am schlimmsten war jedoch, daß meine Mutter unter ihren Enkeln in unterschiedlichen Kindheitsphasen jeweils ausgesprochene Lieblinge hatte und dies auch mit einem erstaunlichen Mangel an Sensibilität deutlich zeigte. Einmal kam sie in das Eßzimmer, in dem meine Kinder abends schon etwas früher bei Tisch saßen, und sagte: »Lally, ich hab dir eine Blume mitgebracht.« Ich werde nie vergessen, wie der zwei Jahre jüngere Donald ganz ruhig, ohne jemanden direkt anzusprechen, sagte: »Wahrscheinlich hat Oma für mich keine Blume finden können.«
Zu jener Zeit waren in meinem Leben zwar die Kinder der Mittelpunkt, doch Phils Aufmerksamkeit konzentrierte sich hauptsächlich auf die Post. Auch im Mittelpunkt unseres gemeinsamen Lebens stand die Zeitung. Phil war dort an allen Fronten gleichzeitig aktiv. Seine frühen Memoranden an die leitenden Mitarbeiter sind mit ihren detaillierten Problemskizzen und Hinweisen auf Potentiale und Zielsetzungen in den verschiedenen Geschäfts- und Redaktionsbereichen geradezu verblüffend. Er betrachtete und analysierte alles genau: von der Frage, wie die redaktionellen Anteile des Blattes besser genutzt werden könnten, bis hin zur Beschaffung von mehr Zeitungspapier. Ferner interessierte ihn, wie die Recherche sorgfältiger gemacht werden könnte, um den redaktionellen Teil inhaltlich zu verbessern; wie sich verhindern lasse, daß der Straßenverkauf im Sommer absackt; wie sich die Lohnkosten und überhaupt die Kosten senken ließen; wie sich die Zahl der Tipp- und Druckfehler sowie die der mechanischen Pannen in der Druckerei reduzieren lasse; wie man die Zeitung noch bekannter machen könne und anderes mehr. Nach nur einem Jahr kannte er sich überall bestens aus.
Phil war auch einer der besten Anzeigenverkäufer der Post. Oft schrieb er Firmenmanager im ganzen Lande an und legte ihnen ebenso fundiert wie engagiert dar, warum die Post für ihren Anzeigenetat die richtige Adresse und eine logische Wahl mit hohem Kosten-Nutzen-Vorteil sei. Er war mit Wohl und Weh der Zeitung so sehr verwachsen und meinte überdies, auf den damals noch schwachen organisatorischen Unterbau der Post so wenig setzen zu können, daß er sogar die Verhandlungen mit den Gewerkschaften um Lohn- und Tariffragen selbst führte - was auch für jemanden mit mehr Erfahrung im Zeitungsgeschäft sicher keine gute Idee gewesen wäre. So hatte Phil von Anfang an Probleme mit den Gewerkschaften, besonders den Druckern. Nach einer Periode besonders unerfreulicher Auseinandersetzungen schrieb er Isaiah Berlin im Januar 1948, er habe gerade »einen erfolglosen Versuch unternommen, die armen Drucker mit dem Taft-Hartley-Gesetz[1] zu erwürgen«. Phil führte auch ernsthafte Verhandlungen mit der Vertriebsabteilung der Post, einem äußerst kostenintensiven Bereich. Er setzte sich dafür ein, daß die Zeitung im gesamten Einzugsgebiet im Schulunterricht verwendet wurde, und sorgte dafür, daß die Comics wieder den gleichen Umfang und Stellenwert erhielten wie vor dem Krieg.
Einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit widmete Phil den Leuten, die bereits für die Post arbeiteten, und jenen, die er erst noch für seine Zeitung gewinnen wollte. Er kannte jeden im Haus und nahm sich stets der Probleme seiner Mitarbeiter an - ob es sich nun um ein krankes Kind daheim, um ausstehende Hypothekenzahlungen oder gesundheitliche Probleme handelte. Er begann eine aktive Einstellungspolitik: Begabte junge Leute waren ebenso gefragt wie etablierte Reporter und Redakteure mit erwiesenen Fähigkeiten. Überdies war Phil sehr daran interessiert, daß Frauen seine Zeitung nicht nur lasen, sondern auch dort arbeiteten.
Eine der größten Veränderungen ergab sich, als Russ Wiggins Anfang April 1947 als Chefredakteur zur Post kam. Ein Jahr nach ihrem ersten Angebot hatten mein Vater und Phil erneut bei Russ angefragt, diesmal mit Erfolg. Denn inzwischen wollte er lieber wieder ins aktive Zeitungsgeschehen einer großen Radktion zurückkehren. Kurz bevor Russ seine Zuage gab, fragte ihn mein Vater, ob er eine Bilanz des Zeitungsverlages sehen wolle, doch Russ antwortete auf seine typische Manier: »Nicht nötig, Mr. Meyer, Ihre Person ist mir Bilanz genug.« Casey Jones wurde be-fördert und erhielt den Titel »Assistent des Verlegers«. Er blieb noch drei
Jahre und verließ uns dann, um geschäftsführender Herausgeber beim Syracuse Herald Journal zu werden.
Einundzwanzig Jahre blieb Russ bei der Post, und diese Ära kann nur als glücklich und konstruktiv bezeichnet werden. Er nahm sofort mehrere Änderungen vor, die bedeutende Auswirkungen auf Qualität und Integrität der Lokalredaktion hatten. Er verkündete ein neues Regelwerk, und eine dieser Regeln setzte der Praxis des Blattes, routinemäßig die Rassenzugehörigkeit zu vermerken, ein Ende. Sätze wie »Sam Jones, 24, Neger, wurde gestern wegen Diebstahls verhaftet« waren hinfort in der Post nicht mehr zu lesen. Über Nacht schaffte Russ auch die sogenannten freebies ab, Reisen auf Regierungskosten oder Freikarten jeder Art. Ebenso rief Russ schon nach wenigen Wochen den Polizeireporter des Blattes, AI Lewis, zu sich, um sich zu erkundigen, ob AI mit Strafzetteln für Leute aus dem Haus zur Polizei ginge und die Sache unter der Hand »in Ordnung bringe«. AI bejahte prompt. Und als Russ weiterfragte: »Für wen denn?«, antwortete AI zu Russ' Erschrecken: »Für alle.« Russ stoppte diese Praxis sofort, indem er die Anweisung gab:
- »Von heute, ja von dieser Minute an gibt es keine Strafzettelmauscheleien mehr im Polizeipräsidium. Wir könnten doch mal in die Lage kommen, über die Polizei kritisch berichten zu müssen, und dann will ich nicht, daß Sie oder die Post dem Polizeichef oder sonst irgend jemandem verpflichtet sind.«
Diese neue Politik erwies sich schon bald als sehr wichtig. Denn eine der ersten redaktionellen Großtaten, die Russ und Phil in die Wege leiteten, war eine Kampagne gegen das Verbrechen - auf lokaler wie auf nationaler Ebene. Die Lokalberichterstattung führte zu einem erbitterten Streit mit der Washingtoner Polizei, speziell mit deren Chef Robert J. Barrett.
Dieser beachtliche »Guerillakrieg« begann im Jahr von Russ' Ankunft und dauerte noch mindestens vier Jahre an, bis schließlich die Post im Jahre 1951 einem Kongreßausschuß überzeugende Beweise für Korruption vorlegen konnte. Unter massiven Vorwürfen, die nie restlos geklärt werden konnten, weil sich Barrett auf sein im Fünften Verfassungszusatz garantiertes Zeugnisverweigerungsrecht berief, ging der Polizeichef in den vorzeitigen Ruhestand.
In jenen Jahren kündigten sich in der Außenpolitik und im Weltgeschehen gravierende Veränderungen an. Der Kalte Krieg zeichnete sich ab. Im Frühjahr 1947 verkündete Präsident Truman die nach ihm benannte Doktrin (Unterstützung mehrerer vom Kommunismus bedrohter Länder durch amerikanische Militär- und Wirtschaftshilfe). Es folgte der Marshall-Plan zur Hilfe für die im Krieg zerstörten europäischen Länder. Zu den Großaktivitäten der Post zählte eine Unterstützungskampagne für den Marshall-Plan. Regelmäßig wurde das Thema auf der Titelseite behandelt, und im November 1947 erschien sogar eine Sonderbeilage. Diese enthielt einen Leitartikel von Phil und war von den Spitzenreportern der Post verfaßt. Sie wurde in großen Teilen des Landes nachgedruckt und erhielt den Preis des National Headliners' Club für herausragende Leistungen im Dienste der Öffentlichkeit. Überhaupt erhielt die Post jetzt immer mehr Anerkennung.
Die Newspaper Guild etwa sagte Anfang 1948 bei ihrer Verleihung der Heywood-Broun-Preise über unsere Zeitung:
- »In diesen Tagen, in denen viele so gern auf Nummer Sicher gehen und in denen Leisetreterei vorherrscht, ist die Leistung der Washington Post im Jahre 1947 wirklich außerordentlich. Sie stellt lebhaft unter Beweis, was eine hervorragende Zeitung ist und was ein solches Blatt im Dienste seiner Leser, der Stadt und des ganzen Landes vollbringen kann.«
Wenn dies die Sonnenseite war, so bleibt auf der Schattenseite zu vermerken, daß sich die Verhandlungen mit den Druckern viele Monate lang hinzogen. Man machte sogar Pläne für den Streikfall. Es war ein harter Winter, in dem - mit Phils Worten - »anscheinend auf verflixte Weise alles schiefging, was nur schiefgehen konnte«. Endlich wurden jedoch im Frühjahr 1948 die positiven Auswirkungen der Arbeit von Russ und anderen neuen Spitzenleuten allmählich sichtbar. Und als die scheinbar endlosen Tarifverhandlungen mit der Newspaper Guild schließlich auch noch zu einem guten Ende kamen, konnten Phil und ich uns endlich Zeit für einen schon mehrfach verschobenen Urlaub nehmen. Ende März fuhren wir nach Nassau auf den Bahamas. Ich war mit unserem dritten Kind im achten Monat schwanger. Angesichts der Hektik unseres Alltagslebens, in das wir schon bald wieder zurückkehren würden, wollte ich nur noch Sonne und Sand, sonst nichts. Es ging mir richtig gut, obwohl ich ganz schön dick war und einen Sonnenbrand hatte.
In Nassau erhielt Phil einen Telefonanruf von CBS-Präsident Frank Stanton, der alle Rundfunkstationen unter sich hatte, die damals der CBS gehörten und von ihr betrieben wurden. Schon mehrere Jahre hatte sich Phil Gedanken gemacht, was er mit WINX anstellen sollte, einem kleinen Radiosender in Washington, den mein Vater 1944 gekauft hatte - in der Hoffnung, einen kleinen Gewinn zu erwirtschaften, um die Verluste der Post erträglicher zu machen. Damals hatte mein Vater eigentlich einen größeren Sender aus einem Network kaufen wollen, doch als das nicht möglich war, hatte er diese kleine unabhängige Station mit nur 250 Watt Sendeleistung erworben, die man eigentlich nur im Umkreis von zwei Häuserblocks hören konnte - und auch das nur an einem windigen Tag.
Als Stanton nun Phil in Nassau anrief, um zu fragen, ob er daran interessiert sei, die Mehrheitsanteile am CBS-Radiosender in Washington zu erwerben - wobei von vornherein klar war, daß beide Partner später ins Fernsehgeschäft einsteigen wollten -, witzelte Phil: »Eigentlich nicht unbedingt, aber ich nehme das nächste Flugzeug und komme.« Er war regelrecht in Ekstase. Wir brachen also unseren Urlaub ab, damit er wieder nach Norden eilen konnte, um die Kaufverhandlungen umgehend zu beginnen. Mehrere Wochen lang flog er ständig zwischen Washington und New York hin und her.
Viele Jahre später erzählte mir Frank, daß er zuvor entsprechende Gespräche mit Sam Kauffmann vom Washingtoner Evening Star geführt hatte. Dieser hatte großes Interesse bekundet, und die Verhandlungen hatten schon kurz vor dem Abschluß gestanden, als Kauffmann, ein Führer des Washingtoner WASP-Establishments*, (* = White Anglo-Saxon Protestant (protestantischer weißer Angelsachse) (Annm. d. Übers.)am Ende eines längeren Gespräches in seinem Büro beiläufig gefragt hatte: »Übrigens, Mr. Stanton, welcher Anteil von CBS befindet sich eigentlich in jüdischen Händen?« - »Alles, Mr. Kauffmann«, sagte Stanton, nahm seinen Hut und ging auf der Stelle. Kurz darauf erfolgte dann sein Anruf bei Phil.
Die Verhandlungen zwischen CBS und der Washington Post verliefen problemlos und zügig - vor allem, weil sie von Frank und Phil persönlich geführt wurden. Phil war ein sehr geschickter Verhandlungsführer; er hatte seine Zahlen im Kopf und wußte, wie man sich in solchen Situationen verhält. Dabei kam ihm zweifellos nicht nur seine juristische Ausbildung zugute, sondern auch ein Kurs, den er an der Universität belegt hatte und der ihm, wie er mir sagte, besonders viel gebracht hatte: betriebswirtschaftliches Rechnungswesen.
Einen Monat nach Verhandlungsbeginn hielt ich am Tag des errechneten Geburtstermins meinen Mittagsschlaf, als Phil mich weckte und bat, ich möchte mich doch auf unserer Terrasse mit Ruth, Frank Stantons Frau, unterhalten, während er mit Frank in der Bibliothek unseres Hauses die Verhandlungen zum Abschluß brächte. Zwar kannte ich Ruth Stanton noch nicht, aber, wir plauderten freundschaftlich mehrere Stunden lang, während Frank und Phil die letzten Einzelheiten klärten. So konnte die Transaktion mit großem Getöse am 17. Mai 1948 bekanntgemacht werden.
Die Post und CBS besaßen nun gemeinsam den Rundfunksender WTOP, wobei 55 Prozent der Post und 45 Prozent der CBS gehörten. Privat war Phil über diesen Erfolg so aufgekratzt wie selten in seinem Leben. Es war dies der eigentliche Beginn des Engagements der Post auf einem neuen Geschäftsgebiet, vor allem aber in der Welt der elektronischen Medien. Am Abend nach dem langen Gespräch mit Ruth Stanton auf unserer Terrasse gingen wir zu einer Cocktailparty zu Ehren von Margaret Truman.
Dort mußte ich natürlich lange stehen. Als ich spürte, daß die Wehen einsetzten, sagte ich zu Phil, ich glaubte, das Kind werde jetzt bald kommen. Bei seiner Gegenfrage, woher ich das denn wisse, wurde mir schlagartig klar, daß er zum ersten Mal an einer Geburt aktiv teilnahm. Dies war nun schon sein drittes Kind, und er wußte immer noch nicht, wie eine Geburt ablief.
Ich wollte noch nicht gleich ins Johns Hopkins Hospital fahren, um dort eventuell feststellen zu müssen, daß es falscher Alarm war. Als aber die Wehen stärker wurden, brachen wir auf. Wir hatten ein Hotelzimmer in Baltimore reserviert, um im Falle falschen Alarms eine Bleibe zu haben, aber ungefähr auf halbem Wege bat ich Phil dann doch, lieber gleich ins Krankenhaus zu fahren. Er beeilte sich, und so hatten wir nach dem Eintreffen wenigstens noch zwanzig Minuten Zeit, ehe der eigentliche Geburtsvorgang einsetzte. Ich hatte zuvor meinen Arzt gefragt, was er von einer natürlichen Geburt halte, die damals immer mehr in Mode kam, und wollte, als er betont hatte, das sei nichts für mich, mein Kind jetzt erst recht auf natürliche Weise (also ohne Narkose) zur Welt bringen. Allerdings hatte ich die für eine solche Geburt eigentlich erforderlichen Übungen nicht gemacht. Trotzdem war ich entschlossen, dieses Kind, wenn möglich, ohne Anästhesie zu gebären; sollte dies allerdings nicht möglich sein, wollte ich die Sache auch nicht forcieren.
Es gibt bestimmte Erfahrungen - beispielsweise Geburten oder Umzüge -, über die Zeit und Natur gnädig den Schleier des Vergessens breiten, so daß man zwischendurch nicht mehr weiß, wie schmerzhaft alles eigentlich war. In diesem Fall war ich nach etwa vier Stunden schließlich doch bereit, nach- und aufzugeben, als mein Arzt sagte: »Wenn Sie noch eine weitere Preßwehe überstehen können, dann können Sie Ihr Baby bekommen.« Obwohl ich überzeugt war, innerlich zu explodieren, hielt ich durch, und dann war unser zweiter Sohn geboren. Die Geburtserfahrung war allerdings so traumatisch, daß mich diese Gefühle noch wochenlang heimsuchten. Letztlich war ich aber froh, mein Kind auf diese Weise zur Welt gebracht zu haben. Noch mehr Freude machte mir natürlich mein Sohn William Graham, dem wir nach Phils Großmutter den zweiten Vornamen Welsh gaben. Diese Großmutter hatte Phil, wenn man ihm glauben darf, als ihren Lieblingsenkel besonders ins Herz geschlossen.
Als ich aus der Klinik wieder zu Hause war, überraschte mich Phil mit unserem ersten Fernsehapparat. (Damals steckte das Fernsehen noch in den Kinderschuhen.) Meinen ersten Abend nach der Rückkehr aus Baltimore verbrachten wir mit den Restons vor dem neuen Fernsehgerät und schauten uns ein Baseballspiel an. Als ich zu müde wurde, zog ich mich mit unserem neuen Baby ins benachbarte Schlafzimmer zurück.
Mitte 1948 war die Washington Post eine immer noch wirtschaftlich gefährdete, wenngleich sehr lebendige Zeitung, deren achthundert Beschäftigte eine stolze, ganz überwiegend auch sehr fleißige Belegschaft bildeten. In den fünfzehn Jahren, seit mein Vater die Zeitung erworben hatte, war die Auflage von 50 000 auf 180 000 Exemplare pro Tag gestiegen; das Anzeigenvolumen hatte sich von 4 Millionen auf 23 Millionen Zeilen erhöht.
Die Post hatte zahlreiche Preise gewonnen, darunter fünf bedeutende Auszeichnungen für Reportagen, drei für Kommentare, eine für Karikaturen und drei für den Dienst an der Allgemeinheit.
Etwa um diese Zeit traf mein Vater die Entscheidung, die Zeitung an Phil und mich zu übergeben. Gleichzeitig wollte er aber sicherstellen, daß die Post auch in Zukunft immer dem Dienst an der Öffentlichkeit verpflichtet blieb. Deshalb setzte er gemeinsam mit Phil ein Treuhandstatut nach englischem Vorbild auf, das dort einige Zeitungen vor Übergriffen durch ungeeignete Kaufinteressenten schützte. Das Abkommen wurde in einem Artikel auf der Titelseite der Post erläutert. Um die fortdauernde Unabhängigkeit der Zeitung und das verantwortungsvolle Verhalten eines potentiellen neuen Eigentümers sicherzustellen, ernannte mein Vater ein
- »sich selbst erneuerndes Komitee von fünf Personen, die bezüglich der Disposition von mit Stimmrecht verbundenen Aktien der Post ermächtigt sind, in vollkommener Unabhängigkeit ihre Zustimmung zu geben oder ihr Veto einzulegen, sollte es im Anschluß an die Kontrolle, die nunmehr von Mr. und Mrs. Philip L. Graham ausgeübt wird, zu einem Verkauf kommen ...«
Im Tagesgeschäft der Zeitung hatte dieses ursprünglich mehrheitlich aus Universitätspräsidenten bestehende Komitee allerdings keinerlei Mitspracherechte.
Die Pressemitteilung über dieses Treuhandgremium durchlief verschiedene Entwurfsstadien, in denen sie von meinem Vater und meiner Mutter mehrfach überarbeitet wurde. Als ehrlicher Ausdruck der Grundüberzeugungen meines Vaters bewegt sie mich noch heute, denn sie bringt treffend zum Ausdruck, was mein Vater in fünfzehn schweren Jahren bei der Post zu erreichen versucht hatte:
Um überleben zu können, muß eine Zeitung wirtschaftlichen Erfolg haben. Zugleich ist eine Zeitung im Hinblick auf die Interessen der Öffentlichkeit zu sehen, und darin unterscheidet sie sich von anderen kommerziellen Unternehmen.
Das wird in diesen Tagen, da unsere freien Institutionen vor ihrer schwersten Bewährungsprobe und genauesten Durchleuchtung stehen, deutlicher als je zuvor. Die Bürger eines freien Landes müssen sich auf eine freie Presse verlassen, um die Informationen zu erhalten, welche sie benötigen, damit sie ihre Pflichten als Bürger vernünftig wahrnehmen können. Dies ist der Grund, warum die Verfassung Zeitungen ausdrücklich Schutz vor Übergriffen und Einmischungen seitens der Regierung gewährt ... Es ist aber auch möglich, daß das Interesse der Öffentlichkeit durch die Art und Weise, wie eine Zeitung geführt wird, schweren Schaden nimmt, denn die wichtigste Einschränkung, der ein Zeitungsbesitzer unterliegt, ist seine eigene Zurückhaltung.
Phil und ich unterzeichneten einen offiziellen Brief an meinen Vater mit folgendem Wortlaut:
Du hast mit uns Deine Vorstellungen hinsichtlich der Washington Post diskutiert, und wir kennen natürlich die Bestimmungen des Zusatzes zum »Certificate of Incorporation of The Washington Post Company«, der dazu dienen soll, so weit wie möglich sicherzustellen, daß diese Vorstellungen dauerhafte Gültigkeit behalten. Wir sind sehr dankbar für Deine Entscheidung, daß wir, ganz im Sinne Deiner Hoffnungen für die Zukunft der Post, Eigentümer der Stimmrechtsanteile der Washington Post Company werden sollen und daß Du deshalb Deine Zustimmung dazu gegeben hast, daß Dein Aktienpaket an Vorzugspapieren der Klasse A an uns verkauft wird.
Kurz vor dieser Mitteilung an die Presse erhielt Phil 1948 zu seinem Geburtstag von meinen Eltern als Geschenk 75 000 Dollar. Obwohl ihm meine Mutter den Scheck mit einer Glückwunschkarte überreichte, laut der sie das Geschenk »mit meinen allerherzlichsten Grüßen« angeblich zum Geburtstag und Hochzeitstag machte, handelte es sich in Wirklichkeit um eine Art Starthilfe für den Kauf seines Anteils der Post-Aktien. Phil und ich besaßen bereits je 175 Vorzugsaktien aus dem Stammkapital der Washington Post Company, die uns meine Mutter im November 1947 geschenkt hatte. Die anderen Anteile kauften wir von meinem Vater zum Stückpreis von 48 Dollar pro Aktie. Im Endeffekt wurden 3325 Anteile auf Phil und 1325 Anteile auf mich übertragen, so daß wir nun insgesamt 5000 Aktien mit Stimmrecht besaßen. Phil erhielt den größeren Aktienanteil, weil, wie mir mein Vater erklärte, kein Mann in die Lage versetzt werden sollte, für seine Frau zu arbeiten. Seltsamerweise nahm ich diese Einstellung nicht nur unwidersprochen hin, sondern stimmte ihr sogar aus vollem Herzen zu.
Zwei Jahre später kam die Übergabeaktion an uns zum Abschluß, als mein Vater die restlichen Aktien, mit denen kein Stimmrecht verbunden war, in die Eugene and Agnes Meyer Foundation einbrachte, eine Stiftung, die 1944 gegründet worden war. Sie war zunächst sehr klein und unbedeutend gewesen, gewann nun aber durch den Erwerb der B-Aktien erheblich an politischem und wirtschaftlichem Gewicht. Die Stiftung war sehr sorgfältig so gestaltet worden, daß ihre Verwaltung unabhängig war und sie
selbst nicht zum beliebigen Gebrauch der Familie genutzt werden konnte. Auf diese Unabhängigkeit versteifte man sich dort jedoch so sehr, daß selbst mein Vater die Stiftung nicht dazu bringen konnte, irgend etwas zu tun, das auch nur im entferntesten seinen Interessen entgegengekommen wäre.
Um einen gerechten Ausgleich für meine Geschwister zu schaffen, die am Eigentum der Zeitung nicht beteiligt waren, schenkten ihnen meine Eltern zum selben Zeitpunkt jeweils einen Geldbetrag in entsprechender Höhe. Es gab einige spannungsreiche Augenblicke, als mein Vater ihnen die Abmachungen erläuterte, doch all dies kam nicht im entferntesten den Schwierigkeiten nahe, die sich in anderen Familien mit Zeitungsbesitz entwickeln sollten. Kurzzeitig wurde mein Bruder in seiner Entscheidung noch einmal schwankend, aber dann entschloß er sich doch, bei der Medizin zu bleiben. Bill wurde später bei verschiedenen Gelegenheiten aufgefordert, Kapital zu investieren, unter anderem als wir die Washington Times-Herald kauften, und obwohl ihn seine Berater bei der Investitionsbank Morgan Guaranty ständig warnten, nach dem Börsengang der Washington Post Company noch weitere Aktien zu erwerben, vergrößerte er sein Depot hartnäckig immer weiter. Als er 1982 starb, hinterließ er neben sehr wohlhabenden Kindern eine große Stiftung.
Flo, die sich der Familie bereits entfremdet hatte, ließ sich, wenn auch widerstrebend, von meinem Vater überzeugen, daß sie und ihre Kinder gerecht behandelt würden. Bis und Ruth jedoch hätten mit einigem Recht das Gefühl haben können, ungleich und unfair behandelt zu werden. Sie blieben jedoch immer großzügig, loyal und liebevoll und versagten ihre Unterstützung nie. Um ihre materielle Sicherheit mußten sich die beiden zwar keine Sorgen mehr machen, aber ausgesprochen wohlhabend wie mein Bruder und ich waren sie nach dem Ausgleichsarrangement auch nicht. Sie erhielten niemals die Möglichkeit, Post-Aktien zu kaufen, hauptsächlich weil diese anfangs sehr wenig wert waren und später als ziemlich riskant galten. Noch später verwehrte dann Morgan meinen Schwestern den Zugang zum Aktienkapital der Post, selbst dann noch, als eine meiner Schwestern zum Zeichen ihrer Unterstützung während der Watergate-Affäre Aktien kaufen wollte. Mit wahrhaft konservativem Instinkt weigerte sich die Bank, im Wert steigende und ihrer Meinung nach wertvolle Standardaktien, etwa auch solche von IBM, zu verkaufen - selbst als Warren Buffett längst eine führende Position in der Washington Post Company eingenommen hatte.
Um Phil zu helfen, die Schulden zurückzuzahlen, die er trotz des Geldgeschenks meiner Mutter machen mußte, um die Post-Aktien meines Vaters zu kaufen, erklärte ich mich freiwillig bereit, die gesamten Kosten für unseren Lebensunterhalt - Häuser und Haushalt, Autos, Schulgeld, Gastgeberpflichten - allein zu bestreiten. Alles mit Ausnahme von Phils rein persönlichen Ausgaben bezahlte ich aus dem kleinen Treuhandvermögen, das mein Vater, wie bei all meinen Geschwistern auch, am Tag meiner Geburt für mich angelegt hatte. Diese Vereinbarung war bei uns nie ein Thema; sie belastete keinen von uns beiden. Ich dachte nie darüber nach, und wir sprachen auch nicht darüber. Erst fünfzehn Jahre später, als unsere Ehe zerrüttet war, sah ich die Situation mit anderen Augen. Ich weiß noch, wie mir damals mein Schwager Bill Graham sanft nahezubringen versuchte, daß das ganze Arrangement von Anfang an ein Fehler gewesen sei.
Zwei Tage nach Bekanntgabe des Verkaufs der Post an Phil und mich erhielten wir in Mount Kisco, wo neben Phil und mir auch ein großer Teil der Familie versammelt war, die Nachricht, daß Cissy Patterson im Alter von dreiundsechzig Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben sei. Der Gedanke, daß diese farbige, dynamische, starke, aber auch traurige und einsame Persönlichkeit auf einmal nicht mehr dasein sollte, erschien uns unvorstellbar Sie war eine Washingtoner Institution gewesen.
Für Phil und mich als neue Eigentümer der Post war es jedoch besonders wichtig zu wissen, wie es bei unserem Konkurrenzblatt, der vielgelesenen Washington Times-Herald, die Cissy besessen, herausgegeben und verlegt hatte, weitergehen würde. Spekulationen ließen nicht lange auf sich warten; die Gerüchteküche brodelte. So hieß es etwa, Felicia, Cissys liberalere Tochter, die sich ihr entfremdet hatte, würde die Zeitung erben und auf Vordermann bringen. Doch Cis hinterließ das Blatt sieben leitenden Angestellten der Times-Herold, von denen neben Generalmanager William Shelton Frank Waldrop der wichtigste war. Er fungierte als Redakteur der Kommentarseite, war in Wirklichkeit aber Cissys wichtigster Ratgeber und engster Vertrauter gewesen.
Als Phil von Cissys Tod hörte, brach er sofort auf, um in Washington mit den sieben Erben Gesprächen über ihre weiteren Absichten zu führen. Aus Erbschaftssteuergründen hatten die Erben das Gefühl, nur ein Jahr Zeit zu haben, ehe sie die Entscheidung treffen mußten, ob sie die Zeitung behalten und weiterführen oder ob sie sie verkaufen wollten. Wir alle wußten, daß es in Washington zu viele Zeitungen gab, und wir wußten auch, daß wahrscheinlich nur eine der Morgenzeitungen überleben würde. Mit diesem Wissen im Hinterkopf begann Phil, seine Beziehungen zu Shelton und Waldrop zu intensivieren. Ihre Gespräche dauerten das ganze Jahr über an.
Auf jeden Fall waren Phil und ich im Alter von dreiunddreißig und einunddreißig Jahren jetzt Eigentümer der Washington Post. Allerdings kam mein Vater auch nicht weiter für die Verluste des Blattes auf, wodurch sich der Druck auf Phil noch mehr verstärkte. Fast über Nacht waren wir zwei erwachsene Menschen mit einer riesigen, aber auch aufregend schönen Verantwortung auf unseren Schultern geworden.