Am frühen Morgen des 27. Juli 1942 ging Phil als einfacher Soldat zum Army Air Corps. Seine erste Station war Fort George Meade, ein Ausbildungslager im benachbarten Maryland. Der schreckliche Augenblick unserer Trennung kam im Greyhound-Busbahnhof im Stadtzentrum von Washington - ohnehin schon ein deprimierender Ort, doch angesichts des Durcheinanders nervöser Rekruten noch viel bedrückender. Obwohl ich wußte, daß ich ihn an jeden Stationierungsort würde begleiten können, gewann die Ungewißheit in mir die Oberhand. Ich umarmte ihn, drehte mich um und stürzte schnell durch die Tür, während Phil sich zu der Gruppe zittriger Rekruten gesellte. Als ich fluchtartig das Weite suchte, sah ich an mir herunter und entdeckte, daß mein Kleid verrutscht und mein Slip zu sehen war - für mich ein Zeichen, daß ich wieder einmal in einer Krise versagt hatte.
Schon am nächsten Tag schrieb mir Phil aus Fort Meade und schilderte in allen Einzelheiten seine ersten Eindrücke vom militärischen Leben: das scheunenartige Empfangszentrum, die primitive Kantine mit dem überraschend guten Essen, die Kasernenräume ohne Klimaanlage. Zum Schreiben mußte er auf der Kante seines Feldbetts sitzen und seinen Waschbeutel als Unterlage benutzen.
Nach kurzer Zeit in Fort Meade wurde Phil zur Grundausbildung nach Atlantic City, New Jersey, versetzt, wo ich mein Leben als mitziehende Soldatenfrau begann. Ich fand ein Zimmer in einer Pension unweit der Strandpromenade, und dort verlebten wir jede Nacht gemeinsame zweieinhalb Stunden. Einen großen Teil der restlichen Zeit verbrachte ich damit, die Männer zu beobachten, die in der feuchten Hitze die Strandpromenade auf und ab gingen.
In mancher Hinsicht bedeutete der Umzug nach Atlantic City die Rückkehr in ein normales Leben, doch der Aufenthalt war für mich fast nur deprimierend - von der Pension über das schwüle Wetter bis zu Phils allzu kurzen Besuchen. Nach einigen Wochen kam er mit einer Grippe oder Lungenentzündung ins Krankenhaus, und weil ich ihn dort nicht besuchen durfte, kehrte ich nach Washington zurück, um auf Nachricht über seine nächste Station zu warten. Phil schrieb mir aus dem Krankenhaus einen bewegenden Brief:
... Mein Nachmittagsschlaf war eher ein Wegdösen und Dahindämmern, und die ganze Zeit über dachte ich wie schon den ganzen Morgen an uns - ich wollte erst »Dich« sagen, aber das stimmt nicht, weil ich immer nur an uns beide zusammen denke.
Wir zwei - das ist seltsam und wunderbar und eine Kraftquelle. Seit zwei Jahren sind wir, von Tag zu Tag mehr, für mich die wichtigste Tatsache in meinem Leben geworden. Heute bei der Lektüre alter Nachrichtenmagazine - habe ich gedacht, wie schrecklich unaufrichtig in Washington doch regiert wird. Und dann habe ich gedacht, wieviel Internatssadismus doch in dieser Armee blind und routinemäßig weitergegeben wird. Und dann habe ich gemerkt, daß diese Dinge, obwohl sie für mich wichtig sind, letztlich doch von etwas anderem in den Schatten gestellt werden, das - und da habe ich ein ganz sicheres Gefühl - nur wir zwei, Du und ich, besitzen. Ich weiß nicht, wie es zu uns gekommen ist, Katringham, aber ich weiß, daß wir es wie einen Schatz hüten müssen, und ich weiß, daß wir genau das auch tun. Während ich hier so herumsitze, kommen mir die ganze Zeit komische kleine Gedanken - wie ich noch in derselben Minute, da ich an meinem neuen Standort ankomme, ans Telefon stürzen und Dir sagen werde, daß Du sofort aufbrechen sollst oder wann ich zum ersten Mal in der Lage sein könnte, einen Urlaubsschein für drei oder vier Tage zu ergattern, damit wir zusammen wegfahren können. Oder wie nach dem Krieg alle anderen beruflichen Überlegungen gegenüber meinem Bedürfnis zurückstehen müssen, jeden Tag mehrere Stunden mit Dir zusammenzusein.
... Ich liebe es, über all diese Dinge nachzudenken. Sie kommen mir nicht in den Kopf, weil ich traurig wäre, jetzt ein wenig isoliert zu sein. Nein, sie kommen mir, weil sie Teil meines Wissens um unsere Unzertrennlichkeit sind - und dieses Wissen ist einfach wunderbar, Kate.
Bezüglich der Armee waren Phils Gedanken und Gefühle immer zwiespältig. Insgesamt war es im wesentlichen so, wie er erwartet hatte, und die positiven Aspekte überwogen. Was er nicht leiden konnte, war fehlende oder mangelhafte Logik. Die Zwangsjacke der Bürokratie frustrierte ihn ebensosehr wie das dumme unablässige Herumschreien der Unteroffiziere und überhaupt die Mischung aus Effizienz und Unzulänglichkeit, Schlendrian, Unfähigkeit, Verschwendung und Nachlässigkeit. »Scheiß« (»fucking«) war anscheinend das Standardadjektiv. Andererseits schätzte Phil das Zusammensein mit Männern aus allen gesellschaftlichen und ethnisehen Gruppen Amerikas. Zu den besten zählte für ihn ein junger Stahlarbeiter polnischer Abstammung aus Pittsburgh, der sagte, es sei wichtig, den Kameraden zu vertrauen, ganz gleich, wie sie zu sein schienen: »Das hier sind gute Kerle. Ich hatte Angst, sie könnten Rowdys und Schläger sein, aber das sind sie nicht. Du kannst ihnen vertrauen. Mein Gott, du mußt ihnen auf dem Schlachtfeld doch auch vertrauen, warum dann nicht hier?« Phil liebte Männer, von denen er ehrliche und nützliche Informationen bekam - wie man sein Bett richtig macht oder wie man die Hektik am Morgen vermeiden kann, indem man sich schon abends rasiert. Die Bekanntschaft mit solchen Männern machte uns beide sehr stolz auf Amerika.
Am Ende der sechswöchigen Grundausbildung mußte Phil Atlantic City verlassen. Wir wußten nur, daß sein Ziel eine von drei Fernmeldeschulen war, welche die Air Force unterhielt. Wie es der Zufall wollte, lagen diese Schulen eine, zwei oder drei Tagesreisen von Washington entfernt. Als Phil am Ende des dritten Tages anrief, um mir zu sagen, ich solle »sofort aufbrechen«, war er in der entferntesten Funkerschule gelandet: in Sioux Falls, South Dakota.
Ich kam dort Anfang September an und lebte mich innerhalb weniger Wochen ganz gut ein. Wir fanden eine warmherzige, freundliche Kleinstadt mit vielen hübschen, kleinen, weißen Häusern vor, in deren Fenstern Ttuppenfahnen hingen. Die angeblich piuoresken Wasserfälle, de der Stadt ihren Namen gaben, bekamen wir nie zu Gesicht, und wir konnten uns eigentlich auch überhaupt nicht vorstellen, daß auf dieser riesigen Ebene irgendwo etwas hinabstürzen könnte. Ein trockengelegter Sumpf, ungefähr eineinhalb Kilometer nördlich der Stadt gelegen und so flach wie Florida, bot den Präriestürmen eine ideale Beschleunigungsfläche. Und genau dort lag das Camp. Die Schulgebäude erstreckten sich in der Mitte des Lagers wie ein Fließband: Die Männer kamen am ersten Tag am einen Ende hinein, um dort die Grundlagen der Elektrizität zu erlernen, und mehrere Monate später kamen sie am anderen Ende als Funker und Fernmeldemechaniker wieder heraus.
Das Militärlager selbst hatte 45 000 Bewohner, die eigentliche Stadt nur 15 000. Die Wohnverhältnisse waren sehr beengt und Wohnungen für die Familien der Truppenangehörigen schwer aufzutreiben. Ich sah für mich keine Möglichkeit, ein anständiges Apartment zu bekommen, und obwohl ich mir ein Zimmer als Untermieterin hätte nehmen können, entschied ich mich für ein Hotel, wo ich mein eigenes Bad, ein Telefon und meine Privatsphäre haben konnte.
Eines lernten wir beide sehr schnell: niemandem und nichts zu glauben, wenn es um die Armee ging. Ständig schwirrten Gerüchte umher - etwa, daß die Männer nach der Ausbildung in Sioux Falls alle in eine Kanonierschule verlegt würden und daß die durchschnittliche Überlebensdauer von Bordkanonieren in Bombern beim Fronteinsatz lediglich vier Minuten betrage. Doch die Wahrheit inmitten dieser Gerüchteküche war für uns viel härter, als ich zugeben wollte und konnte, sogar mir selbst gegenüber. Es war zum ersten Mal in unserem verwöhnten Leben, daß wir spürten, was es hieß, ganz unten zu stehen und sich elend zu fühlen. Es schien, als sei eine unsichtbare Hand nur darauf aus, die Dinge ständig so zu manipulieren, daß unser Leben unglücklich verlief. In der Welt, in der wir lebten, hatten halbverrückte, kurz zuvor reaktivierte Reserveoffiziere das Sagen, die zu selbstherrlicher Machtausübung neigten und sich einfachen Mannschaftsdienstgraden gegenüber auf eine besondere Art von Brutalität ohne Sinn und Verstand spezialisiert hatten. Urlaub wurde ohne Grund gestrichen, und es gab oft Kollektivstrafen, wenn nur ein oder zwei Mann kleinere Ordnungswidrigkeiten begangen hatten. Verrückte Dinge geschahen, etwa daß die Männer den Befehl erhielten, auf Händen und Knien für den Besuch eines Generals alles bis in die letzten Ecken blitzblank zu putzen.
In der Hoffnung, etwas Nützliches zu lernen, während ich auf Phils Feierabende wartete, belegte ich in der örtlichen Wirtschaftsfachschule Schreibmaschinen- und Stenographiekurse, doch ich fand sie hoffnungslos schwierig und war froh, sie wegen einer Änderung in Phils Dienstplan mit einer akzeptablen Ausrede wieder aufgeben zu können. Ich arbeitete auch für das Rote Kreuz und rollte mit alten Damen Verbandszeug auf. Zwar hatte ich vorgehabt, außerdem noch für die Sonntagsausgabe der Post Storys zu schreiben, aber irgendwie war das Leben in Sioux Falls dann doch zu voll mit Kinobesuchen, Konzerten der Rekruten, Essen in der Kirchengemeinde, Vorträgen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen. All dies war neu und fremd für mich. Das Leben in Durchschnittsamerika oder einer Kleinstadt hatte ich zuvor nie beobachten, geschweige denn aktiv miterleben können. Auch die große Freundlichkeit der Menschen an einem solchen Ort Fremden gegenüber hatte ich bis dahin noch nicht erleben dürfen. Ich schloß mich einem Club von Soldatenfrauen an (»Mrs. Private«), dessen Mitglieder aus allen sozialen Schichten stammten und sich gegenseitig unterstützten. Der Clubslogan lautete »Happier Lives for Privates' Wives« (»Ein glücklicheres Leben für Soldatenfrauen! «).
Ein großer Teil meines Lebens in Sioux Falls wie auch später an anderen Orten bestand allerdings darin, auf die wenigen Stunden pro Woche zu warten, in denen Phil und ich zusammensein konnten. Ich wollte so liebend gern ein Baby haben und wurde ziemlich schnell wieder schwanger - zum dritten Mal, wenn man die erste Fehlgeburt mitrechnet. Und als müßte es so sein, entwickelte ich wieder Symptome einer Fehlgeburt und war ziemlich sicher, mein Kind erneut verloren zu haben. Ein praktischer Arzt verordnete totale Bettruhe, die ich pflichtschuldigst einhielt - mit Ausnahme jener Tage, an denen ich aufstehen und Phil im Camp besuchen konnte. Als meine Probleme jedoch nach einer gewissen Zeit immer noch anhielten, sagte der Arzt, das Ganze sehe nach einem hoffnungslosen Fall aus; ich solle doch meinen normalen Tagesablauf wieder aufnehmen und der Natur ihren Lauf lassen. Ich stand also auf und begann ein normales Leben zu führen. Und zur allgemeinen Überraschung - des Arztes wie meiner eigenen - besserte sich mein Zustand. Ich sagte dem Arzt, meiner Meinung nach dauere die Schwangerschaft immer noch an - und so war es auch.
Phil bewarb sich für die Offiziersschule (Officers' Candidate School, OCS). Weil er hervorragende Durchschnittsnoten hatte und bis zu fünfundzwanzig Wörter pro Minute morsen konnte, besaß er gute Aufnahmechancen. Ich war von der Idee ganz begeistert, während Phils OCS-Ausbildung zu Hause in Washington wohnen zu können, doch dann war unsere Euphorie schnell verflogen. Eine Röntgenaufnahme von Phils Lunge erbrachte nämlich, daß sich darin sieben bis acht verkalkte Stellen befanden - und das hieß, daß er von der Offiziersausbildung ausgeschlossen war. Nach typischer Armeelogik galt er aber trotzdem als tauglich genug, um als einfacher Soldat in den eisigen Wintern South Dakotas auszuharren. Weil er mit seiner Gradlinigkeit nicht weiterkam, entschloß sich Phil, seine Beziehungen spielen zu lassen, um das gesundheitliche Aufnahmehindernis für die OCS umgehen zu können. Während wir auf den entsprechenden Bescheid warteten, erhielt das Camp einen neuen Standortkommandanten, und auf einmal durften die verheirateten Männer abends früher Schluß machen - für uns eine äußerst erfreuliche Überraschung. Ein solch unerwartetes Geschenk der Armee bedeutete uns damals sehr viel ...
Im Januar 1943 schloß Phil seinen Lehrgang in Sioux Falls als Fünftbester von fünfhundert Teilnehmern ab. Er war nun ausgebildeter Funker und hielt die OCS-Ausnahmegenehmigung in Händen. Schon bald zogen wir also wieder nach Osten. Kaum hatten wir jedoch Sioux Falls einige Tage hinter uns gelassen, wurden wir beide schon ganz unruhig und fühlten uns einsam, weil wir nicht mehr am selben Ort zusammen waren. Wir hatten Sehnsucht nach der räumlichen Nähe von Camp und Zimmer 611 im Carpenter Hotel. Denn der Trost jener Monate in Sioux Falls hatte darin bestanden, daß wir zusammensein konnten. Dieses Beisammensein und die Teilnahme an Phils Erlebnissen hätte ich um keinen Preis der Welt missen mögen. Trotz aller negativen Einzelheiten hatten wir uns in Sioux Falls letztlich wohl gefühlt.
Andererseits freute ich mich sehr darauf, die vertrauten Gesichter in Washington wiederzusehen, wieder Geschmack am häuslichen Leben zu finden und mich auch einmal an den gedeckten Tisch setzen zu können. Weil es zu jener Zeit sicher war, daß ich ein Kind bekommen würde, und weil es immer mehr danach aussah, als würde ich dieses Kind auch bis zur Geburt austragen können, beschloß ich, bei meinen Eltern zu wohnen, um während der Schwangerschaft nicht allein zu sein. Phil, der jetzt seine Grundausbildung als Offizier in Wayne, Pennsylvania, absolvierte, war bei seiner Arbeit so zufrieden wie schon seit Monaten nicht mehr. Er mochte die Stadt, sein Wohnheim, die Offiziere und die Mannschaften. Dann wurde er Mitte Februar aus Wayne zur weiteren Ausbildung nach Yale geschickt, wo er es sich sechs Wochen lang in Farnum Hall bequem machen konnte - glücklich, daß er den üblichen Stapel aus Ostküstenzeitungen und -zeitschriften zur Verfügung hatte und daß auch der PX-Laden nur fünfzig Meter entfernt lag. Unsere Wochenenden in New Haven waren herrlich; wir verbrachten sie im Taft Hotel, nur einen halben Straßenblock von seinem Wohnheim entfernt. Phil machte sich Sorgen, daß ich als Schwangere eine so weite Reise auf mich nehmen müsse, doch ich war sehr froh, fahren zu können.
Phil schloß seinen OCS-Lehrgang in Yale als Klassenbester ab und wurde vorübergehend, nunmehr als Leutnant und Fernmeldeoffizier zu General »Wild Bill« Donovans Office of Strategie Services (OSS) - mit Hauptquartier in Washington - abkommandiert. Dort hatten wir endlich wirklich Zeit füreinander. Nach nur zehn Tagen beim OSS, das er zu politisch und zu stark mit »Schreibtischstrategen« (»white-shoe boys«) besetzt fand, kam Phil jedoch zu dem Schluß, daß dieser Posten nichts für ihn sei. Er bat darum, wieder zum Air Corps versetzt zu werden - eine Transaktion, die nicht ohne beträchtliches Befremden und Peinlichkeiten vonstatten ging.
Um den 1. Mai erhielt er den Befehl, am folgenden Tag zu einem Verwendungszentrum der Air Force in Salt Lake City aufzubrechen. Inzwischen war ich hochschwanger, so daß ich auf keinen Fall mehr mit ihm gehen konnte. Ich wußte, daß ich unser Kind nun während Phils Abwesenheit bekommen würde, tröstete mich aber damit, daß es besser gewesen sei den großartigen Monat April zusammen genossen zu haben, als ich noch einigermaßen beweglich war. Wieder war ein Abschied am Bahnhof fällig, und erneut hing die schreckliche Ungewißheit in der Luft, welches denn nun Phils wirkliches Ziel sei.
Die Zweite Division der Air Force hatte eine enorme Auswahl an Stationierungsorten, an de Phil von Salt Lake City aus abkommandiert werden konnte. Am 7. Mai hörte ich, daß er nach Ephrata im Staate Washington gekommen war, womit sich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet hatten. Ephrata in der Nähe von Yakima, ein Ausbildungslager für Besatzungen von Kampfflugzeugen, lag mitten im Nichts und bestand aus einigen alten Hütten. Dieses Camp war schrecklich, egal ob man dort bleiben oder es verlassen wollte, denn in der Nähe lag nur ein Dorf mit neunhundert Einwohnern, das den Männern so gut wie keine Abwechslungsmöglichkeiten bot. Es war ein kalter, trostloser Ort, und Phil war bereits bei der Ankunft ziemlich deprimiert. Seine Zeit dort war wohl der absolute Tiefpunkt seines militärischen Lebens, denn sie stand im Zeichen ständigen schlechten Wetters, absoluter Ineffizienz und abgrundtiefer Einsamkeit.
Meine Briefe an Phil und seine an mich waren wie eine lange, fortlaufende Unterhaltung. In meinen ging es darum, wen ich getroffen hatte, wo ich gewesen war, aber auch um einige Dinge von nationaler Bedeutung sowie häufig um unser Kind, das in den Briefen immer Petunia hieß. Seine Briefe handelten natürlich von den Schwierigkeiten des Lebens in Ephrata. Aufrichtig und ohne aufgesetzte Tapferkeit sprachen wir über unsere Gefühle und Stimmungen.
Im September 1942 hatte meine Mutter eine Reise nach Großbritannien unternommen, um darüber zu berichten, wie sich dort die ganze Bevölkerung auf die Produktion konzentrierte. Zusammen mit ihrer Freundin Ruth Taylor bereiste sie einen Monat lang Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen, Fabriken, Arbeiterkantinen, Sozialzentren und Clubs. Ihre Schlußfolgerung lautete, daß die Vereinigten Staaten immer noch lernen müßten, was sie als wichtigsten Eindruck von dieser Reise mitnahm: daß es sich bei diesem Krieg um einen »Volkskrieg« handelte und daß die maximalen Kriegsanstrengungen in Großbritannien »eine soziale Revolution in Bewegung gebracht« hätten. Ihre Beobachtungen des Lebens an der Heimatfront in England brachten sie dazu, Anfang 1943 auch auf eine viermonatige Reise durch die USA aufzubrechen, bei der sie Fabriken, Werften, Mietshäuser, Schulen und Betreuungseinrichtungen besuchen wollte, um über Amerikas Heimatfront und über die sozialen Auswirkungen des Krieges zu berichten.
Ich genoß die relative Ruhe während Mutters Abwesenheit, leistete meinem Vater Gesellschaft und half ihm bei seinen informellen Dinnerpartys oder Seminaren für Männer (»Smokers«), die er des öfteren veranstaltete, um Regierungsbeamte und ausländische Würdenträger mit den Redakteuren und Autoren der Post zusammenzubringen. Bei solchen Treffen sollte einfach ein Meinungsaustausch darüber stattfinden, wie der Krieg ablief und was von der Wirtschaft getan werden müsse, um die Kriegsanstrengungen zu unterstützen. Jene Dinners jedoch, an die ich mich am lebhaftesten erinnere, waren die ruhigen, bei denen nur er und ich zusammensaßen.
In dieser Zeit freute er sich wie ein kleiner Junge darüber, daß die Post erstmals aus den roten Zahlen herauskam. Mitte des Krieges rückte das Blatt zum ersten Mal in die Gewinnzone, obwohl die Gewinne von 1942 die Verluste von 1941 noch nicht wettmachen konnten. Der gute Ruf der Post indessen war immens gewachsen, und die Zeitung hatte beträchtliches Prestige gewonnen. Jetzt zeigten sich die positiven Auswirkungen all der Mühen und finanziellen Investitionen der vergangenen zehn Jahre, seit mein Vater die Post gekauft hatte. Zwar hütete er sich weiterhin vor übertriebenem Optimismus, doch konnte er seine große Freude nicht verbergen.
1943 engagierten Herbert Elliston und mein Vater Alan Barth von einer kleinen Zeitung in Texas. Barth, dessen Einstellung liberaler war als die Ellistons oder die meines Vaters, machte sich kämpferisch für Bürgerrechte und bürgerliche Freiheiten stark. Er wurde zu einem wichtigen Aushängeschild des Blattes aber manchmal auch zu einem politischen Problem - zunächst für meinen Vater, später für Phil. Aber er war eine Bereicherung der Kommentarseite, deren Inhalt sich ohnehin schon nachhaltig verbessert hatte.
Auch die geschäftliche Bilanz des Blattes hatte sich verbessert, wenngleich die Fortschritte hier nicht so spektakulär und gleichmäßig waren wie im redaktionellen Bereich. Das Auflagenmanagement steckte immer noch in den Kinderschuhen, hier fehlte es noch sehr an geeigneten Managern und professioneller Kompetenz. Anfang 1944 wurde der Abonnementspreis erhöht, und auch der Straßenverkaufspreis stieg von drei auf fünf Cent. Das Anzeigenaufkommen bezug 15 Millionen Zeilen, was das Zweieinhalbfache des ursprünglichen Aufkomrnens aus dem Jahre 1933 war.
Auf der Negativseite war zu vermerken, daß die Post qualitativ immer noch zu uneinheitlich und die Lokalberichterstattung unzureichend war. Damals hatten die Bewohner Washingtons (aus verfassungsrechtlichen Gründen) immer noch kein Wahlrecht, und die Stadt wurde von einem Dreiergremium aus vom Präsidenten ernannten Regierungskommissaren verwaltet. Auch herrschte in der Stadt strikte Rassentrennung: Das Geschehen unter schwarzen Bürgern und Verbrechen von Schwarzen galten als nicht berichtenswert. John Riseling, der Nachtredakteur der Lokalredaktion, hatte den Stadtplan im Kopf, und wenn etwas in einem schwarzen Viertel geschah, dann wurde einfach kein Berichterstatter dorthin geschickt.
Es wurden Strukturen etabliert, welche die Zeitung auf Jahre hinaus beeinflußten. Die Seite mit den redaktionellen Kommentaren war und blieb von der Nachrichtensektion unabhängig. Sie war auch von den Ansichten meines Vaters, des Verlegers, unabhängig, indes genügend in Einklang mit ihnen, daß mein Vater stolz auf sie war. Casey Jones, der Chefredakteur, und andere leiteten Kampagnen aller Art ein - gegen Kongreßabgeordnete, die Parkprivilegien mißbrauchten, oder zugunsten der Wohlfahrt der Kinder, gegen den Verkauf von Babys zur Adoption oder auch gegen eine subversive Propagandagruppe, die mit dem Büro des rechtsradikalen Abgeordneten Hamilton Fish gemeinsame Sache machte. Als einsame Mahnerin erhob die Post auch ihre Stimme gegen die Diskriminierung von Amerikanern japanischer Herkunft im Namen der nationalen Sicherheit.
In den Kriegsjahren spielten bei der Post Frauen eine besonders wichtige Rolle. Elsie Carper kam direkt vom College zur Post und machte dort schnell Karriere; viele Frauen übernahmen die Jobs der Männer, die in den Krieg gezogen waren. Marie Sauer, die immer eine der Stützen der Frauenredaktion gewesen war, wurde jetzt zu einer der wichtigsten Reporterinnen und Redakteurinnen. Ich erinnere mich noch daran, daß ich mir Sorgen über die Reaktion meines Vaters machte, als sich Marie dem Reserve-Marinehelferinnencorps (Waves) anschloß, denn ich wußte, wie sehr er auf diese Frauen baute. Leider hielten bei der Post, wie bei allen anderen Publikationen auch, die alten Verhältnisse wieder Einzug, nachdem die Männer aus dem Feld zurück waren. Eine Kerntruppe wichtiger Frauen blieb jedoch, wenn auch weitgehend in der Frauenredaktion und in den Bereichen, die als Frauensache galten: Wohlfahrt Bildung und Erziehung.
Trotz aller offenkundigen Verbesserungen des Blattes war das Überleben der Post jedoch keineswegs sicher. Die Zeitungsszene in Washington war sehr chaotisch, zumal für eine Stadt dieser Größenordnung. In keiner anderen Halbmillionenstadt gab es so viele Zeitungen, und keine davon war unseriös oder ohne die erforderliche finanzielle Grundlage. So war der Überlebenskampf allgegenwärtig und für meinen Vater, der inzwischen auf die siebzig zuging, zeitweilig eine entmutigende Bürde.
In Anbetracht seiner Sorgen wandten sich die Gedanken meines Vaters immer mehr der Zukunft der Post und der Frage seiner Nachfolge zu. Die erste Ahnung, daß in seinen Augen allmählich Phil zum Wunschkandidaten heranreifte, erhielt ich ungefähr zwei Jahre nach unserer Hochzeit. Im Herbst 1942 saßen Papa und ich auf der Rückfahrt von Mount Kisco zusammen im Zug, und dabei kam die Sprache natürlich auch auf Phil. Ich erinnere mich an seine Bemerkungen, wie gut Phil doch schreibe und wie gern er ihn bei der Zeitung hätte.
Es muß bald darauf gewesen sein, daß mein Vater mit uns beiden über die Möglichkeit sprach, daß Phil nach dem Krieg bei der Zeitung einsteigen sollte. Mit Sicherheit sah er sein ganzes verlegerisches Bemühen als sinnlos an, wenn es ihm nicht gelänge, für die Zukunft der Post eine Lösung innerhalb der Familie zu finden. In jenen Tagen mußte der einzig denkbare Erbe natürlich männlichen Geschlechts sein, und weil mein Bruder Mediziner war und so gut wie kein Interesse am Zeitungsgeschäft gezeigt hatte, hatte mein Vater natürlich in erster Linie Phil im Auge. Daß er dabei an meinen Mann dachte, gefiel mir. Merkwürdigerweise beunruhigte es mich nicht im geringsten - es kam mir sogar nicht einmal in den Sinn - daß er ja auch an mich als jemanden hätte denken können, der für eine wichtige Position bei der Zeitung geeignet war.
Obwohl der drohende Krieg uns daran gehindert hatte, nach Beendigung von Phils Jahr bei Felix Frankfurter nach Florida zu ziehen, hatte Phil immer noch Pläne, Brandeis' Mahnung an die jungen Absolventen der Harvard Law School in die Tat umzusetzen und in seine Heimat zurückzukehren, um dort an der Basis juristisch und politisch zu arbeiten. Amerika brauche gute »Grassroots«-Politiker. Weil Phil die Politik liebte und sich ganz natürlich dazu hingezogen fühlte, entsprach dies genau seinen Plänen und Wünschen. Überdies hatte er trotz des von gegenseitigem Respekt gekennzeichneten, herzlichen Verhältnisses zu meinem Vater immer gesagt, er würde niemals für ihn arbeiten.
Doch jetzt mußte er sich mit der realen Möglichkeit auseinandersetzen, bei der Post zu arbeiten - ein aufregender, wenngleich nicht risikoloser Gedanke. Das würde ein harter Kampf auf einem Gebiet werden, auf dem er nur beiläufige, indirekte Kenntnisse durch die Gespräche mit meinem Vater erworben hatte. Überdies hatte Phil das Angebot nicht nur gegen seine eigenen Ambitionen abzuwägen, in Florida als praktizierender Rechtsanwalt in der Politik mitzuwirken, sondern auch gegen den Wunsch seines eigenen Vaters, er möge zurückkehren und bei der elterlichen Milchfarm einsteigen.
Nach vielen Gesprächen, Konsultationen und Selbsterforschungen entschloß er sich, endlich das Angebot meines Vaters anzunehmen, denn er sah - in Übereinstimmung mit der Philosophie meines Vaters - daß er sich durch die Zeitung genausogut wie durch politische Aktivitäten für die Belange der Öffentlichkeit engagieren könne. Er kam zu dem Schluß, daß ihm die Post eine große Chance biete, allerdings eine, die nicht frei von Risiken war.
Ehe Phil nach Übersee ging riet mir mein Bruder dringend, mich in die Obhut eines neuen Gynäkologen an der Johns-Hopkins-Universitätsklinik in Baltimore zu begeben. Bill und meine Schwägerin wollten, daß ich mein Kind dort zur Welt brachte. Ich hingegen war durch das zuvor Geschehene so traumatisiert, daß ich wieder zu meinem alten Arzt gehen wollte, wahrscheinlich um mir selbst zu bestätigen, daß der Verlust meines ersten Babys ein unvermeidlicher Unglücksfall war. Ich bestritt weiterhin, daß irgend etwas falsch gemacht worden sei, und schrieb die Tragödie allein dem Schicksal zu. Doch Bill machte mir klar, daß ein Lehrkrankenhaus wie das Johns Hopkins Hospital gute Ärzte längerfristig an sich band. Das sah ich ein, und so kamen alle meine vier Kinder dort zur Welt.
Als Vorsichtsmaßnahme war ich bereits am 1. Juni 1943, zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, nach Baltimore ins Belvedere Hotel gezogen. Zunächst leistete mir meine Schwägerin Mary Meyer, Bills Frau, Gesellschaft. Normalerweise ist ein langer Hotelaufenthalt in einer fremden Stadt auch unter optimalen Bedingungen strapaziös, erst recht jedoch unter den erschwerten Bedingungen der Kriegszeit, zumal unser Kind es nicht eilig hatte, auf die Welt zu kommen. Entsprechend wuchsen bei mir Nervosität und Überdruß.
Phil bedauerte mich wegen meiner nun schon fast zwei Jahre andauernden, nahezu ununterbrochenen Schwangerschaft. Scherzhaft schrieb er: »In zehn oder fünfzehn Jahren wird alles vorbei sein, und dann werden da acht oder zwölf grinsende kleine Gören um uns sein, die die Möbel ramponieren, unsere Spirituosen auskippen, Dein neues Kleid bekleckern, frühmorgens herumschreien und im weitesten Sinne den Zusammenhalt im trauten Heim demonstrieren« - ein altmodisches Bild des Familienlebens, das wir jedoch vollkommen teilten.
Ob wir uns nun beim Geburtstermin verrechnet hatten oder ob das Kind lediglich etwas länger brauchte, wir warteten ruhelos geschlagene vier Wochen. Dann mußte Mary wieder nach Hause fahren, und für die letzten Tage kam eine Freundin aus Washington. Am 3. Juli war es endlich soweit: Elizabeth Morris Graham kam gesund zur Welt. Ich erinnere mich noch, daß mein Vater kam, um mich und sein neues Enkelkind zu besuchen. Meine Mutter war in Mount Kisco, doch sie schien sich nicht viel um das Geschehen zu kümmem. Zum Glück hatte Phil seinen Lehrgang in Ephrata gerade abgeschlossen und war genau an Elizabeth' Geburtstag an die Ostküste zurückgekommen. So bekam er Freude und Aufregung noch aus erster Hand mit und konnte uns persönlich aus der Klinik abholen.
Ich hatte mich nach einer Kinderschwester für die ersten Wochen umgesehen, war jedoch fest entschlossen - anders als meine Mutter - nicht auf Dauer ein Kindermädchen zu beschäftigen. Ich hatte vor, alles selbst zu machen und mein Kind zu stillen, doch dieser Entschluß mußte fast umgehend revidiert werden. In der ersten Woche, noch in der Klinik, versuchte ich zu stillen, aber es wollte einfach nicht klappen - am Ende waren wir beide, das Baby genau wie ich, mehr als gereizt, und so gab ich den Versuch auf. Elizabeth bekam Fläschchen mit einem Babymilchpräparat, und sofort ging alles viel besser.
Das neue Kindermädchen, Mary Bishop, eine warmherzige, gutgelaunte und hingebungsvolle Schottin, kam, um uns vorübergehend zu helfen, doch Mamie, wie wir sie bald nannten, blieb - genau wie damals Powelly bei uns Meyer-Kindern - auf Dauer bei uns; sie wurde ein fester Bestandteil unseres Lebens und eine echte gute Freundin. Sie verließ uns erst, als ihr das jüngste der vier Graham-Kinder endgültig entwachsen war, und zog sich dann nach Schottland aufs Altenteil zurück.
Ein Kindermädchen zu haben, welches sich die ganze Zeit um das Baby kümmert und es der Mutter nur zweimal täglich bringt, war damals kein so ungewöhnliches Arrangement, wie uns das heute erscheint, doch behinderte die Anwesenheit von Miss Bishop zweifellos meinen eigenen Lernprozeß in der Kinderpflege. Allmählich kümmerte ich mich auch mehr um Elizabeth doch ich lernte nie, mit meinen Babys wirklich locker und entspannt umzugehen, obwohl es bei jedem weiteren Kind besser wurde.
Als in einem Air-Force-Memorandum Bedarf an militärischer Aufklärung angemeldet wurde, entschloß sich Phil, vom Fernmeldewesen zum Geheimdienst überzuwechseln. Er wurde in die Air Intelligence School in Harrisburg, Pennsylvania, aufgenommen, und so konnte er nach der Geburt unseres Babys in meiner Nähe sein. Nach dem lethargischen Leben in Ephrata ging es ihm angesichts dessen, was er in Hartsburg vorfand, gleich merklich besser. Durchgängige Kompetenz ließ seinen alten Enthusiasmus neu erwachen.
Als ich die nach sechs Wochen fällige Nachuntersuchung hinter mir hatte, besuchte ich Phil eine Woche in Harrisburg, vermeintlich seine letzte an diesem Ort. Doch weil er wiederum hervorragend abgeschnitten hatte, wurde er gebeten, als Mitglied des Lehrkörpers weiter in Harrisburg zu bleiben. Er sagte zu, und so hatten wir zum ersten Mal seit sechs Monaten wieder die Chance, länger zusammenzuleben.
Wir richteten unseren Haushalt in Harrisburg mit Gegenständen aus unserem Washingtoner Haus in der 37. Straße ein, das wir an die Steichens untervermietet hatten. Glücklicherweise konnten wir in Harrisburg von Freunden aus San Francisco ein wunderschönes Apartment übernehmen. Zwei Monate führten wir ein nahezu ideales Leben, das uns allerdings schon fast zu sehr verwöhnte - mit einem einigermaßen pünktlichen Dienstschluß und beträchtlichem Luxus. Während Phil unterrichtete, arbeitete ich als Freiwillige in der Rationierungsbehörde. Mamie kümmerte sich um das Baby, und Mattie sorgte für unser aller leibliches Wohl. Doch am Ende dieser beiden großartigen Monate machte der Eigentümer des Apartments Eigenbedarf geltend, und so blies uns der kalte Wind der Realität ins Gesicht, als ich erneut auf Wohnungssuche gehen mußte. Alles, was wir finden konnten, war eine kleine Wohnung in einem kurz zuvor (schlecht) gebauten Wohnkomplex mit papierdünnen Wänden und einem Elektroherd, der die verrückt machende Angewohnheit hatte, mitten im Bratvorgang seinen Geist aufzugeben.
Am Umzugstag mußte sich Phil noch von unserer Abschiedsparty am Vorabend erholen, und so packte ich alles allein ein - als letztes auch noch den trägen Phil - und brachte uns in die neue Wohnung. Damals dachte ich noch nicht viel darüber nach, aber dieses war der Anfang eines Verhaltensmusters, das sich mir im Rückblick als recht ungesund darstellt: Ich war für Organisation und Transport zuständig, während Phil die Anweisungen gab und für Spaß in meinem Leben und dem unserer Kinder sorgte. Schritt für Schritt wurde ich zum Packesel und akzeptierte - was eigentlich noch schlimmer war - diese Rollenverteilung, die mich zu einer Art Mensch zweiter Klasse machte. Ich glaube, diese Rollendefinition vertiefte sich im Lauf der Zeit immer mehr, und ich wurde dadurch in meinem Selbstwertgefühl zunehmend verunsichert.
Eine weitere Entwicklung zeichnete sich damals auch ziemlich deutlich ab: Phil kränkelte und trank immer mehr. Meine Konstitution war wesentlich besser als seine, oft setzten ihn irgendwelche undefinierbaren Grippeanfälle außer Gefecht.
Als Mattie kurz nach unserem Umzug in Harrisburg ins Krankenhaus mußte, war die Zeit für mich gekommen, meine rudimentären Kochkünste fortzuentwickeln. Doch ich hatte keine Ahnung, wie man ein vernünftiges Essen auf den Tisch bringt. Trotz Phils guter Ratschläge, alles so einfach wie möglich zu halten, mutete ich mir an meinem krisenanfälligen Herd immer viel zuviel zu und beschwor dadurch häufig Unheil herauf. Mamie, die mit dem Baby bestens zurechtkam, war mir in der Küche leider keine Hilfe; denn auch sie hatte in ihrem bisherigen Leben niemals kochen müssen. An ihren freien Tagen fuhr sie meistens nach Washington, so daß ich mich dann auch noch um das Kind kümmern mußte. Meine eigene, aus Unerfahrenheit herrührende Nervosität übertrug sich schnell auf das Baby und so gab es ständig Tränen und Geschrei.
Ende Januar 1944 nahte indes die Erlösung von unseren Harrisburger Wohnverhältnissen, denn Phil hatte den Sprung in einen noch interessanteren, aufregenderen Geheimdienstbereich geschafft, die Special Branch. Zunächst hatte er noch ein weiteres, einen Monat dauerndes Schulungsprogramm zu absolvieren, bevor er nach Washington in die Special Branch versetzt wurde, einen besonders geheimen Teil des Geheimdienstes, den ein ehemaliger Rechtsanwalt aus einer berühmten Kanzlei führte: Oberst Al McCormick, der bereits Kommandeur vieler unserer Freunde gewesen war - sowie vieler anderer, die noch unsere Freunde werden sollten. Wie wohl alle anderen Frauen von Geheimdienstlern wußte auch ich nie, was Phil und seine Kollegen im Dienst taten. Erst viel später, als wir erfahren hatten, daß schon in einem frühen Kriegsstadium die von Deutschland und Japan benutzten Geheimcodes entschlüsselt worden waren, wurde uns klar, daß die Special Branch damit beschäftigt war, Botschaften des Feindes aus dem Feld und an die Front zu entziffern.
Als wir nach Washington zurückkehrten, übernahmen wir unser kleines Reihenhaus an der 37. Straße wieder von den Steichens und begannen erneut ein einigermaßen normales Washingtoner Leben. Viele unserer Freunde waren in verschiedenen Abteilungen der Streitkräfte in alle Welt verstreut, doch es waren auch alte Freunde wie Prich und die Frankfurters vor Ort geblieben; schließlich gab es ja auch noch meine Familie. Dann, nach fast neun Monaten normalen Ehelebens, wurde Phil wie erwartet im Oktober 1944 in den Pazifik abkommandiert. Hals über Kopf mußte er aufbrechen. Der Abschied ging wieder einmal so schnell, daß die vertraute Niedergeschlagenheit, die mit solchen Abschieden einhergeht, uns erst heimsuchte, als Phil schon fort war. Während des ganzen folgenden Jahres der Trennung ging ein reger Briefverkehr hin und her - wir schrieben uns fast täglich.
Den größten Teil seiner Dienstzeit bis Kriegsende verbrachte Phil, der Ende September zum Hauptmann befördert worden war, auf den Philippinen in einer wichtigen Funktion. Zunächst sandte er seine Berichte direkt an seinen eigenen Boß in der Special Brauch, aber auch an den regulären Geheimdienstoffizier unter General George Kenney, dem Befehlshaber der alliierten Luftstreitkräfte im Südwestpazifik. Im Grunde war Kenney General MacArthurs Luftkommandeur. Schließlich stieg Phil jedoch abermals in der Hierarchie auf und arbeitete eng mit General Kenney selbst zusammen. Als Kenney später unter dem Titel General Kenney Reports einen Memoirenband veröffentlichte, schenkte er Phil ein Exemplar mit der handschriftlichen Widmung: »Für Phil Graham, den einzigen wirklich intelligenten Geheimdienstoffizier, den ich hatte...«
Die Post, oder zumindest Ausschnitte daraus, die er etwas unregelmäßig bekam, hielten Phil über die Washingtoner Sicht des Welt- und Kriegsgeschehens auf dem laufenden. Und er teilte meinem Vater kontinuierlich seine Reaktionen auf die Berichterstattung und die Kommentare der Post brieflich mit, wobei sich Kritik und Lob die Waage hielten.
Als Geheimdienstoffizier auf den Philippinen arbeitete Phil ungeheuer hart, aber - und das war typisch für ihn - je härter er arbeitete, desto mehr schien er seine Arbeit zu lieben. Mein Leben in Washington dagegen verlief in den üblichen Bahnen und recht bequem. Inzwischen war Elizabeth - oder Acey, wie Phil sie nannte; später hieß sie bei uns Lally - schon über ein Jahr alt und ich erneut schwanger. Ich wollte gern arbeiten, nicht zuletzt um während Phils Abwesenheit die Zeit sinnvoll zu verbringen, aber ich brauchte einen Job, der es mir ermöglichte, etwas Neues zu lernen, ohne daß er mich übermäßig beanspruchte. So ging ich erneut zur Post, um in der Vertriebsabteilung einen Dienst zu versehen, der keine höheren Anforderungen stellte, aber sehr instruktiv war: die Bearbeitung von Beschwerden. Dieser Job paßte gut zu meinen damaligen Wünschen: Ich konnte vor der Haustür den Bus besteigen und hatte pünktlich Feierabend.
Wir waren nur eine Handvoll Leute, die telefonische Anfragen beantworteten, Informationen entgegennahmen und diese an die zuständigen Büros weiterleiteten. Doch die Abteilung war ein »Sauhaufen«, in dem Streitereien und Intrigen den Ton bestimmten. Hier lernte ich aus erster Hand, wie schlimm es ist, wenn man Mißmanagement und Schlamperei miterleben muß, über die sich alle beschweren - am meisten die Kunden - ohne daß man selbst in der Lage wäre, Abhilfe zu schaffen. Und ich lernte, wie man mit wütenden Abonnenten umgeht und wie schwer es manchmal ist, ein einfaches Problem zu lösen.
Der größte Teil des Winters verging für mich ruhig und schnell. Es herrschte die tägliche Routine von Arbeit und Heimkehr zu Elizabeth. Phil schrieb damals an meine Mutter: »Ich nehme an, Kay ist immer noch so gluckenhaft wie eh und je und sträubt sich, wenn Du zu einer kritischen Zeit zu Ace willst; ich liebe es, wenn Kay sich so sträubt. « In dieser Anspielung auf meine - vielleicht allzu große - Vorliebe für Ordnung und Routine kann ich mich recht gut wiedererkennen. Diese langweilige Plage habe ich einen großen Teil meines Lebens mit mir herumgeschleppt, obwohl Phil viel getan hat, um mich davon zu befreien. Ich wünschte, er hätte noch mehr tun können.
Weil unser Lebensstil von unseren Freunden aus dem New-Deal-Umfeld und anschließend durch de Kriegsjahre in Washington, Sioux Falls und Harrisburg geprägt worden war, war ich zwar bei Dinnerpartys zu Gast gewesen, wie sie meine Familie oder unsere wenigen älteren Freunde veranstalteten, aber Gastgeberin eines solchen Dinners war ich selbst nie gewesen. In dieser Hinsicht war ich besonders unbeholfen, weil ich in einem Haushalt aufgewachsen war, in dem alles nach ganz anderen, viel aufwendigeren großbürgerlichen Maßstäben ablief. Ich selbst war es gewohnt, ein paar Freunde zwanglos zu Matties sehr gutem, aber einfachem Essen einzuladen, das sie nicht nur zubereitete, sondern auch servierte.
Mein erster Versuch, eine echte Dinnerparty zu inszenieren, ist mir auch heute, nach einem halben Jahrhundert, noch lebhaft gegenwärtig. Jonathan und June Bingham, ein junges Paar aus unserem Freundeskreis, das bei Kriegsausbruch zurück nach New York gezogen war weilte auf ein Wochenende zu Besuch in Washington, und so beschloß ich, ein paar weitere Freunde zum Essen einzuladen, darunter Prich und Isaiah Berlin, einen relativ neuen, aber engen Freund, der damals als Informationsbeamter in der Britischen Botschaft in Washington arbeitete. Das andere eingeladene Paar waren Donald und Melinda Maclean. Donald war so etwas wie der Dritte Sekretär der Britischen Botschaft, und durch Isaiah waren die Macleans auch meine Freunde geworden. Die beiden schienen attraktive, intelligente, liberale junge Leute zu sein - und deshalb unserem eigenen Freundeskreis ähnlich. Niemand von uns wäre auch nur im entferntesten auf die Idee gekommen, daß Donald später als kommunistischer Spion enttarnt werden sollte. Noch heute ist es für mich nur schwer verständlich, daß Donald und Melinda Sowjetagenten waren.
Am Abend meiner Dinnereinladung verlief die Konversation während des Essens noch in ganz normalen Bahnen- es ging sehr friedlich zu, außer daß vielleicht Donald und Prich, ohne daß ich es recht bemerkte, schon mehr getrunken hatten, als ihnen guttat. Nach dem Essen gingen wir in unser Wohnzimmer, einen ziemlich kleinen Raum, in dem nur ein Sofa, vier Stühle und eine Bank vor dem Kamin Platz hatten. Kaum hatten wir uns dort niedergelassen, wurde der Ton der Unterhaltung schärfer. Prich und Donald begannen, sich Isaiah wegen dessen Bekanntenkreis vorzunehmen und ihn wegen seines zu toleranten Umgangs mit Rechtsradikalen und Isolationisten zu kritisieren. Damals war scharfe Polemik durchaus an der Tagesordnung, aber an jenem Abend wurde allmählich die Grenze zu heftigen, unangenehmen Beschimpfungen überschritten. Dazu trug zweifellos Prichs und Donalds alkoholbedingte Enthemmung bei.
Völlig aus heiterem Himmel sagte Donald zu Isaiah: »Das Problem mit dir ist, daß du zugleich mit den Hunden jagst und mit den Hasen läufst. Du kennst Leute wie Alice Longworth, und das ist ekelhaft. Mit solchen Leuten sollte man einfach nicht verkehren. Wenn ich noch denken würde, daß du sie einfach aus Neugier kennengelernt hast, würde es mir ja nicht soviel ausmachen. Aber ich höre, daß du dich in ihrer Gegenwart tatsächlich wohl fühlst. Das ist schrecklich.«
Isaiah erkundigte sich, warum Donald das für so schlimm hielt. »Weil sie eine Faschistin und Rechtsradikale ist. Sie ist der Inbegriff alles Ekelhaften stieß Donald angewidert hervor. Isaiah nahm völlig verblüfft seinen ganzen Mut zusammen und erwiderte: »Sieh mal, wir kämpfen doch um die Rettung der Zivilisation. Und zur Zivilisation gehört nun einmal auch, daß wir jeden kennen dürfen, den wir wollen. Im Krieg oder bei einer Revolution könnte man zwar auch bereit sein, sie zu erschießen, das gestehe ich zu; aber solange das nicht nötig ist ... Natürlich muß man sich nach seinen Freunden beurteilen lassen, auch das bestreite ich nicht. Und das ist auch schon alles, was ich zu meiner Verteidigung sagen kann.« Donald fiel umgehend erneut über ihn her: »Nein, nein, das ist verkehrt. Was du sagst, ist völlig falsch. Das Leben ist ein Kampf. Wir müssen wissen, auf welcher Seite wir stehen. Und wir müssen auf unserer eigenen Seite bleiben, durch dick und dünn. Ich bin sicher, im letzten Augenblick, kurz vor zwölf, wirst du letztlich auf unserer Seite sein. Doch bis dahin wirst du dich weiter mit diesen schrecklichen Leuten abgeben.« Laut Isaiah soll ich daraufhin gesagt haben: »Er hat vollkommen recht«
Donald drosch weiter auf Isaiah ein: »Das Problem liegt darin, daß du ein Feigling bist. Du weißt, was richtig ist, und du weißt, was falsch ist, und willst dich nicht rechtzeitig auf die Verteidigung der gerechten Sache festlegen. Du weißt ganz genau, was ich meine.«
Die armen Binghams wußten überhaupt nicht, wie ihnen geschah. Sie hatten keine Ahnung, worum es eigentlich ging, und scharrten nervös mit den Füßen. Zwischendrin ging ich einmal ins Obergeschoß und schaute aus dem Fenster. Dabei fiel mein Blick auf Donald Maclean, der auf dem Rasen vor dem Haus seine Notdurft verrichtete. Dieser gespenstische Abend schien vollkommen außer Kontrolle zu geraten. Schließlich wollten dann alle auf einmal gehen. Melinda bot Isaiah an, ihn im Auto mitzunehmen, worauf dieser dankend ablehnte. Selbst das mußte Donald, der immer noch nicht aufhören konnte, kommentieren. »Na ja, mit uns willst du ja sowieso nicht fahren, o nein, niemals.« Das also war das Ende meiner ersten Dinnerparty als alleinige - und alleinstehende Gastgeberin.
Prich und ich riefen Isaiah nach diesem Dinner getrennt an, entschuldigten uns für das Vorgefallene und fragten ihn, was wir denn zur Wiedergutmachung unternehmen könnten. Seine Antwort an mich lautete: »Prich hat ohnehin keine Manieren, er weiß es einfach nicht besser, und ihm werde ich wohl letztlich verzeihen. Aber Donald Maclean weiß es besser, und mit ihm werde ich nie wieder ein Wort wechseln.«
Als das Frühjahr 1945 näher kam, wurde mir klar, daß schon wieder ein Umzug anstand unser Mietvertrag würde in Kürze auslaufen, und unser gemütliches kleines Haus, in dem wir mit Unterbrechungen fast fünf Jahre lang gewohnt hatten, wäre nach der Ankunft des neuen Babys im April ohnehin zu klein geworden. Ich hatte gehofft, ein Haus mieten zu können, aber leider war fast nichts Geeignetes auf dem Markt. Deshalb mußte ich mich mit dem Gedanken vertraut machen, ein Haus zu kaufen, was mich angesichts von Phils Abwesenheit sehr beunruhigte. Sein Rat wäre mir wichtig gewesen. Er sprach mir aus der Ferne Mut zu und sagte, er vertraue meinem gesunden Urteil. Wir waren uns einig, daß ich, wenn möglich, etwas mieten solle, daß aber auch ein Kauf in Frage käme, wenn etwas Günstiges zu haben war oder wenn es gar nicht anders ging. »Günstig« hieß in diesem Zusammenhang für Phil eher »etwas Unwiderstehliches, nicht unbedingt etwas zum halben Preis«.
Anfang März war ich immer noch mit der vertrackten Haussuche beschäftigt, und der Geburtstermin des Babys rückte auch immer näher. Da erhielt ich plötzlich die Nachricht, Phil würde für einige Sitzungs- und Besprechungstage zusammen mit General Kenney nach Washington zurückkehren. Ich fuhr hinaus zum Militärflughafen, um sie bei der Ankunft am 14. März zu begrüßen. Sie kamen in einer C-54, dem ersten viermotorigen Flugzeug, das ich je gesehen habe. Ihre Mission bestand darin - aber das wußte ich damals natürlich nicht - zu erklären, daß Japan so gut wie geschlagen sei. Die Special Branch wußte, daß die Japaner schwächer waren, als General Marshall und viele andere annahmen. »Ich glaubte nicht, daß es erforderlich sei, erst auf Hitlers totalen Zusammenbruch zu warten, und wir benötigten auch keine Hilfe von den Russen, um Japan zu schlagen«, schrieb Kenney später. Doch General Marshall war anderer Ansicht; er glaubte, die Japaner seien immer noch sehr kampfkräftig und hätten mit Sicherheit eine große Armee, die erst einmal geschlagen werden müsse. Ursprünglich hatte die militärische Spitze sogar verhindern wollen, daß Kenney beim Präsidenten vorgelassen wurde, doch Phil arrangierte mit Hilfe seiner Freunde im Weißen Haus ein solches Treffen. Kenney berichtete, FDR habe sehr müde und erschöpft ausgesehen, regelrecht grau, und seine Hände hätten gezittert, als er einige Fotos von Corregidor [1] hielt.
Roosevelt erzählte Kenney, er habe seinen Appetit und fünfundzwanzig Pfund an Gewicht verloren. Dieser Besuch war in mehrfacher Hinsicht spannend, aber auch sehr hektisch, und so war dieses Wiedersehen mit Phil für mich sehr anstrengend. Die Haussuche setzte mich unter Druck, ich hatte obendrein noch unter den üblichen Schwangerschaftsbeschwerden im achten Monat zu leiden. Meine Babys schienen immer frontal direkt in der Mitte zu liegen und waren überdies nicht gerade klein. Hinzu kam beim Wetter noch eine frühe Hitzeperiode, so daß es mir eigentlich schlechter ging als je zuvor.
Phil war von der langen Reise erschöpft und hatte außerdem ein sehr volles Programm; sein Arbeitstag war nie kürzer als vierzehn Stunden, und nachts mußte er lange Telefonate führen. Ich wurde für allerlei Botendienste eingespannt.
Gegen Ende der Woche bat ich Phil, ein Haus anzuschauen, das meiner Ansicht nach für einen Kauf in Frage kam - ein solides, etwas einfallsloses, aber akzeptables graues Steinhaus in einer ziemlich undefinierbaren Wohngegend, direkt hinter Aner Sears-Roebuck-Filiale. Phil, in Gedanken ganz bei Kenneys Mission und nicht beim Hauskauf, marschierte wie weggetreten und ohne Interesse durch das Haus, sagte nur, es erscheine ihm in Ordnung, und stimmte dem Kauf ohne erkennbare Begeisterung zu.
Am nächsten Morgen wollten Phil und General Kenney um acht Uhr wieder starten, und als ich Phil zum Flughafen fuhr, erzählte er mir, der Immobilienmakler habe bei ihm angerufen: Das Ganze sei ihm sehr peinlich, habe er gesagt aber es habe sich herausgestellt, daß dieses Haus in einer Gegend mit Kaufbeschränkungen liege - mit anderen Worten, es lag in einer Zone, in der Verkäufe an Juden oder Neger ausgeschlossen waren. Mit einer solchen Wende hatte ich absolut nicht gerechnet. Das Thema meiner jüdischen Identität war niemals wieder auf diskriminierende Weise aufs Tapet gekommen, seit an der University of Chicago einmal über meine Clubmitgliedschaft debattiert worden war; darum hatte ich auch keinerlei Problembewußtsein und das Ganze mehr oder weniger vergessen. Phil sagte, diese Restriktionen seien vollkommen illegal, und fügte hinzu: »Das Haus hat mir ohnehin nicht besonders gefallen. Ich fürchte also, daß du weitersuchen mußt.«
Damit entschwand er wieder ins pazifische Kriegsgebiet - die Geburt stand in wenigen Wochen bevor, und wir hatten immer noch kein Haus, in das wir einziehen konnten. Deshalb kaufte ich in meiner Verzweiflung das nächstbeste verfügbare Haus - an der 33. Straße und O Street in Georgetown - ein recht seltsames Gebäude mit zwei Wohnzimmern im Erdgeschoß und Küche und Eßzimmer im Souterrain. Phil teilte ich mit, ich hätte ein Gebäude gekauft, daß mir eigentlich gar nicht recht gefalle.
Erstmals hatte ich nun in der Praxis mit Fragen der Hausfinanzierung und Hauseinrichtung zu tun. Ich machte mir Sorgen, ob ich ohne Rückgriff auf mein Kapital einen solchen Kauf finanzieren könnte. Genauer gesagt wußte ich nicht einmal den Unterschied zwischen Kapital und Einkommen oder daß es so etwas wie Hypotheken gab - ein typisches Beispiel für meine Unwissenheit in Geldangelegenheiten. In dem übertriebenen Bestreben, nicht über Geld zu sprechen, hatten es meine Eltern versäumt, mir zu erklären, was man mit vorhandenem Geld tun oder nicht tun konnte. Ich selbst hatte meinem Vater niemals Fragen zur Finanzierung eines Hauses gestellt, und er bot mir von sich aus seinen Rat auch nicht an.
Was die Einrichtung betraf, war ich ebenfalls vollkommen hilflos, nicht zuletzt im Hinblick auf die angemessenen Kosten. Ich fand eine Innenarchitektin, eine reizende Dame, die ein Antiquitätengeschäft in der Nähe des neuen Hauses führte. Doch als sie mich fragte, ob ich Möbel im englischen oder im französischen Stil bevorzuge und wieviel ich ausgeben könne, mußte ich freimütig gestehen, daß ich keine Ahnung hatte, wovon sie sprach - ich wußte nicht einmal, daß es überhaupt einen Unterschied zwischen englischen und französischen Möbeln gab. Wie sollte ich da sinnvoll über Preise reden? Ich besitze zwar immer noch Reste der damals gekauften Einrichtung, seinerzeit aber bedurfte es vieler Erfahrungen und diverser Fehlerkorrekturen, ehe ich wußte, wie meine Wohnung wirklich aussehen sollte.
In jenem Sommer zog ich in das neue Haus ein. Es war zwar beträchtlich größer und unpraktischer als das alte, aber ich hatte wenigstens ein Dach über dem Kopf.
Am 12. April 1945 erfuhr die Welt, daß Franklin D. Roosevelt gestorben war. Niemand von uns hatte registriert, wie krank er wirklich gewesen war, und so waren wir wie vor den Kopf gestoßen. Wir fühlten uns, als hätten wir plötzlich eine Vaterfigur verloren, in die wir größtes Vertrauen gesetzt hatten, und nun hatten wir es mit einem unbekannten, relativ unerfahrenen und anscheinend wenig inspirierenden ehemaligen Senator aus dem Mittleren Westen zu tun: mit Harry S. Truman. Von Traurigkeit überwältigt, ging ich zur Prozession, die den Sarg des Präsidenten vom Bahnhof zum Weißen Haus trug. Eine Woche später war ich dann wieder im Belvedere Hotel in Baltimore, diesmal in Begleitung meiner Mutter, um auf die Niederkunft zu warten. Drei Tage später, am 22. April, wurde Donald Edward Graham geboren.
Überraschendweise sah Don ganz anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Er schien niemandem zu ähneln, den ich in unseren beiden Familien kannte; seine Mundpartie sah allerdings der meinigen entfernt ähnlich. Er hatte einen hellen Teint und kaum Haare, und die wenigen vorhandenen waren hellbraun. Ich dachte von Anfang an, daß er eine ziemlich ausgeprägte Persönlichkeit hatte.
Am 8. Mai 1945 war in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende, doch im Pazifik ging er noch weiter und erreichte seinen Höhepunkt erst am 6. August mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Phils Brief, den er mir am folgenden Tag schrieb, enthält zwar eine angemessene Einschätzung des Stellenwertes der Atombombe, aber leider keinen Hinweis, daß ihm klar war, daß diese Bombe auf eine Stadt mit Hunderttausenden von Zivilisten gefallen war:
Donald kann, wenn sie ihn lassen, immer mit Stolz auf die Tatsache verweisen, daß er noch etwas schneller war als die Atombombe - die »größte Leistung unserer Wissenschaftler, Industrie, Arbeiterschaft und Militärs«, wie jemand zutreffend gesagt hat. Wenn sie nur die Hälfte dessen, was man von ihr behauptet, auch tatsächlich erfüllt, dann ist sie eindeutig der endgültige Triumph, und dann gäbe es überhaupt keinen Grund mehr für die Annahme, daß auch nur eine Steckrübe die nächste noch überleben würde.
Doch am 11. August schrieb er mir erneut, und diesmal hieß es, daß die erste Atombombe ihn »absolut zu Tode erschreckt« habe.
Der größte Teil des Monats September verging mit Gerüchten, Phil werde nach Japan versetzt, doch er glaubte, daß es dort für ihn nichts Wesentliches zu tun gebe; damals wollte er auch nichts anderes mehr als endgültig zurück nach Hause. Nach dem Punktsystem, das für die Reihenfolge der Deaktivierung der Streitkräfte in Übersee gültig war und in dessen Rahmen ihm Dons Geburt nochmals sechs Punkte eingetragen hatte, erhielt Phil am 27. September seinen Entlassungsbescheid. Er stand auf einer Warteliste für den Heimtransport und hatte gute Chancen, innerhalb von zehn Tagen einen Flug zu bekommen. Es war ihm fast peinlich, daß er so leicht davonkommen sollte, aber er war dankbar dafür. Ich auch.