Fünftes Kapitel

Als ich im Spätsommer 1936 gemeinsam mit meinem Vater im Zug nach Mount Kisco fuhr, brachte ich meine Idee zur Sprache, ich wolle - wie schon mein Bruder Bill - das Studium an der London School of Economics fortsetzen. Doch dieser Vorschlag stieß auf glatte Ablehnung. Mein Vater glaubte, Bill sei intellektuell noch zu unreif gewesen, um die sozialen Probleme Europas im richtigen Kontext sehen zu können. Und das gleiche galt seiner Meinung nach für mich. Allerdings verstehe er, sagte mein Vater, warum ich aus Vassar wegwolle. Er habe nichts dagegen, wenn ich woanders weiterstudierte; jede amerikanische Universität sei ihm recht. Diese Wendung des Gesprächs überraschte mich jedoch so sehr, daß mir kaum eine Alternative zu London einfiel. Trotzdem hatte ich das Gefühl, sofort antworten zu müssen, anstatt, wie es normal gewesen wäre, alles in Ruhe zu überdenken. Ich traf eine spontane Entscheidung für die University of Chicago - allerdings nicht aus einem plötzlichen Impuls heraus, wirklich ernsthaft studieren zu wollen, sondern weil mir ein Bild eingefallen war das ich in der Zeitschrift Redbook gesehen hatte: Es zeigte Robert Maynard Hutchins, den jungen, dynamischen, gutaussehenden Präsidenten dieser Universität. In der Bildunterschrift war die Rede davon gewesen, daß er den Lernprozeß revolutioniere und mit neuen, interessanten Ideen zur College-Bildung Furore mache; seine Universität befinde sich in einem intellektuellen Gärungsprozeß. In den eigentlichen Artikel hatte ich mich gar nicht weiter vertieft. Chicago als Großstadt im Mittleren Westen war für mich attraktiv, weil ich einfach mal woanders leben wollte als an der Ostküste. Außerdem hatte die Universität männliche und weibliche Studenten. All dies hatte zu meiner spontanen Entscheidung im Zug beigetragen: »Na gut«, sagte ich meinem Vater, »dann gehe ich eben nach Chicago.«
Und so ging ich nach Chicago, ohne mir noch viele Gedanken über meine Wahl zu machen. Weniger als einen Monat nach dem Gespräch im Zug war ich bereits dort. Die Tragweite meiner Entscheidung hatte ich nicht vorhergesehen, und als ich merkte, worauf ich mich eingelassen hatte, steckte ich bereits mitten im Schlamassel. Zur Immatrikulation hatte mein Vater mich nach Chicago begleitet - auch, um mir bei der Wohnungssuche behilflich zu sein; aber als er mich verlassen hatte, war ich in einer fremden Umgebung unter Tausenden von Studenten vollkommen auf mich allein gestellt. Ich kannte wirklich nur ein oder zwei Leute, und auch die nur oberflächlich. Vielleicht war es ganz gut, daß ich weder Zeit noch Verstand gehabt hatte, mir lebhaft vorzustellen, wie allein ich sein würde. Sonst hätte ich vielleicht einen Rückzieher gemacht. Wahrscheinlich tröstete ich mich mit dem Gedanken, daß ich ja nur ein Jahr bleiben wolle und jederzeit nach Vassar zurückkehren könne. Meine in Vassar hinterlassene Absichtsbekundung zurückzukommen diente mir in der Tat als Sicherheitsnetz. Schritt für Schritt klärte sich jedoch die Lage, und es zeigte sich, daß diese Universität für mich genau das Richtige war. Ich fand meinen Weg, lebte mich immer besser ein und schloß mein Studium schließlich sogar in Chicago ab.
Ich lebte am Rande des Campus im International House; hier wimmelte es von ausländischen Studenten, graduierten Studenten [1] und einigen weiteren, die wie ich den Hochschulort gewechselt hatten. Wir aßen alle in der Cafeteria, wo wir an runden Tischen zusammensaßen, welche uns die Gelegenheit boten, Freundschaften und Bekanntschaften jeder Art zu schließen. Ziemlich bald schon lernte ich Tayloe Hannaford kennen, eine Studentin aus Winnetka, die ähnliche Ansichten wie ich hatte und mit der ich schon bald ein Zimmer teilte. Allmählich versammelten wir einen kleinen Freundeskreis um uns. Insbesondere waren wir beide von einem graduierten Studenten fasziniert, der viel Zeit in unserem Haus verbrachte: Sidney Hyman. Schon bald unterhielt ich mich stundenlang mit ihm über unseren gemeinsamen Lieblingsschriftsteller Thomas Mann, und die durch solche Gespräche gefestigte Freundschaft begleitete mich viele Jahre. Für unsere Gruppe war es das größte Vergnügen, bei einem Bier stundenlang miteinander zu reden, Ideen auszutauschen, zu lachen und zu singen.
Nach einigen Monaten boten mir Angehörige von zwei verschiedenen Clubs, die etwas Ähnliches wie weibliche Studentenverbindungen waren, die Mitgliedschaft an: Mortar Board und Quadrangle. Ich besuchte ein Treffen des einen Clubs, bei dem eine Menge junger Frauen herumsaß, von denen viele Bridge spielten. Das war nicht gerade die Atmosphäre, die ich kannte und liebte, nicht einmal in Vassar. Kurz darauf fragte mich eine Freundin, die Mitglied im Mortar Board war, ob ich wirklich ernsthaft beitreten wolle. Wenn dies so sei, sagte sie, würde sie sich für mich einsetzen: Sie sei buel den Kampf gegen Vorurteile wegen meiner jüdischen Herkunft aufzunehmen, aber nur, wenn das auch einen Sinn habe. Zuvor hatte ich überhaupt keine Ahnung gehabt, daß es deswegen bereits Streit gegeben hatte. Ich war über die Anfrage meiner Freundin regelrecht perplex und versicherte ihr dann, ich sei nicht wirklich interessiert. Dies war eine von ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen ich in jungen Jahren direkt mit Antisemitismus zu tun hatte, und eigentlich war meine Überraschung dabei größer als meine Verzweiflung.
Damals war die University of Chicago ein Zentrum des intellektuellen Umbruchs. Die Universität war eindeutig städtisch geprägt, die Studenten kamen aus weniger begüterten Familien, einige der Professoren waren exzehent, die intellektuellen Anforderungen hoch. Weil Huchns von der Theorie fmzdint war Bildung bestehe darin, die bedeutenden Bücher der westlichen Welt zu lesen und dieses Gedankengut in sich aufzunehmen, unterschied sich das akademische Programm dieser Universität stark von dem der meisten Colleges. Hutchins war von Mortimer Adler, dem führenden Vertreter dieser Bildungsidee, und von den Erfahrungen am St. Johns College beeinflußt, wo man ein solches Programm bereits ausprobiert hatte. Ferner hatte Hutchins die an anderen Colleges beherrschende Stellung des Fooball und des Sports insgesamt abgeschafft. Das Ganze war ein wenig verrückt, aber sehr anregend - ein Universum ganz eigener Art und, was für mich besonders wichtig war, Welten von Vassar entfernt.
Ich hatte mich für Amerikanische Geschichte als Hauptfach entschieden, deshalb belegte ich Überblickskurse in Wirtschaftswissenschaft und Geschichte sowie, wenn auch mit etwas unguten Gefühlen, den Kurs über die bedeutenden Werke, den Hutchins und Adler gemeinsam abhielten. Dieser begann mit Platon und Aristoteles, arbeitete sich bis zu Thomas von Aquin und anderen Philosophen vor und endete mit Freud, Marx und Engels. Dieser Kurs - der einem beibringen sollte, »wie man ein Buch liest«, so der Titel eines späteren Buches von Adler - traf sich einmal wöchentlich zu einer gut zweistündigen Sitzung, die manchmal zur Tortur wurde. Ungefähr dreißig Studenten saßen um einen langen Tisch, und Hutchins, Adler oder alle beide nahmen einen dann nach der sokratischen Methode in die Mangel, um zu diskutieren und zu überprüfen, was wir gelesen hatten. Volle zwei Stunden lang ließen die beiden Männer nicht locker gnadenlos wurden wir gepeinigt: »Nun, Fräulein Meyer, erzählen Sie uns doch bitte mit Ihren eigenen Worten, was Aristoteles darüber denkt.« »Und was halten Sie von dem, was er sagt?« »Glauben Sie wirklich, daß aus guten Werten auch zwangsläufig gutes Verhalten folgt?« »Was sind denn gute Gewohnheiten?« »Was sind gute Werte?« »Wenn Sie das denken, was wäre dann, wenn dies oder jenes geschähe?« Und so weiter.
Die von den Professoren gewählten Methoden brachten einem oft hauptsächlich bei, sich zu wehren und zurückzuschlagen: Hutchins und Adler Kontra zu geben, sie herauszufordern und ihnen dadurch zu imponieren, daß man sich mit Gusto und Verve zur Wehr setzte. Daran hatten auch sie ihren Spaß. Wer lernte, mit ihren Methoden zurechtzukommen, der konnte sich auch sonst behaupten. Manchmal, wenn ich nicht gut war, bekam ich schreckliche Depressionen, weil von solchen Auftritten sehr viel abhing. Wenn ich aber gut war, übertrug sich das Hochgefühl auch auf alles, was ich sonst an der Uni tat. Trotz meiner Befürchtungen schloß ich den Kurs sehr erfolgreich ab, was meinen Vater, der vom Bildungskonzept der University of Chicago nachhaltig überzeugt war, außerordentlich freute.
Durch einen alten Verehrer meiner Schwester Flo lernte ich Professor Giuseppe Antonio Borgese kennen, dessen Buch Goliath ich mit Gewinn gelesen hatte. Ich fand ihn darin ein wenig verrückt, aber sehr unterhaltsam, anregend und klug. Als ich nun von Borgese bald darauf zum Essen eingeladen wurde, war ich begeistert und fühlte mich geschmeichelt. Wir aßen in einem Restaurant in der Innenstadt - ein besonderes Ereignis, weil der Aktionsradius von uns Studenten sonst im wesentlichen auf die Umgebung der Universität beschränkt blieb. Auf dem Rückweg fragte Borgese mich, wie viele Kommilitoninnen meiner Meinung nach wohl noch Jungfrauen seien - ehe Frage, die meinen Horizont vollkommen überstieg. Nach einigen weiteren ähnlichen Fragen lud er mich schließlich ein, seine Wohnung zu besichtigen. In meiner jugendlichen Unerfahrenheit kam ich überhaupt nicht auf die Idee, mein Einverständnis könne als Einwilligung zu einem Abenteuer mißverstanden werden, und war daher sehr überrascht, als der berühmte Professor plötzlich in die erotische Offensive ging. Als ich Widerstand leistete, verfolgte er mich, und so sah ich mich plötzlich, den Zudringlichen auf den Fersen, um seinen Schreibtisch rennen. Meiner dringenden Bitte, er möge mich jetzt wirklich nach Hause bringen, kam er allerdings nach. Doch als er mich bald darauf überraschend anrief und erneut einlud, geriet ich in Panik. Ich wollte den berühmten Mann nicht beleidigen und benötigte daher eine Ausrede. Also simulierte ich eine Blinddarmreizung und begab mich in die Universitätsklinik. Doch die Ärzte erklärten mich für vollkommen gesund. Nun blieb mir keine andere Wahl mehr, als Borgese persönlich einen Korb zu geben - eine Aufgabe, die ich nur mit schrecklichen Hemmungen und mit letzter Kraft bewältigen konnte.
Im politischen Bereich entwickelten sich meine engagiert liberalen Ansichten weiter. In erster Linie war ich jetzt leidenschaftliche Antifaschistin und Sympathisantin der Arbeiterbewegung. Trotz dieses Einsatzes für liberales Gedankengut und liberale Aktionen blieb ich jedoch im Grunde konservativ. Bevor ich nach Chicago kam, hatte ich noch nie mit echten Kommunisten zu tun gehabt. Die dortige American Student Union unterschied sich von der in Vassar ganz erheblich, die im wesentlichen aus Mädchen bestand, deren politisches Interesse noch relativ frisch war und deren Leidenschaften - wenigstens die politischen nicht gar so tief reichten. Jedenfalls wurde ich von der Chicagoer Abteilung der ASU, die zum größten Teil aus eher langweiligen, engstirnigen Kommunisten und Sozialisten bestand, geradezu überschwenglich begrüßt. Von der Gruppe hob sich ein junger graduierter Student aus Großbritannien ab, Norman O. Brown, der mich zu einigen Treffen mitnahm und zum Essen einlud. Er wurde nicht müde, mir vorzuschlagen, ich solle doch den Jungkommunisten beitreten, denn diese und ihre Mutterpartei seien die einzig wirkungsvollen antifaschistischen Kräfte in der ganzen Welt. Zum damaligen Zeitpunkt - Hitler und Mussolini befanden sich auf dem Vormarsch, und Franco lag mit den Kräften der spanischen Demokratie im Bürgerkrieg - konnte man dieses Argument wirklich noch überzeugend und kraftvoll vertreten. Stalins schreckliche Verbrechen waren noch nicht enthüllt worden, und als die berühmten Säuberungsprozesse begannen, wurden sie, zumindest anfangs, selbst von den liberal Gesinnten unter uns mit einem gewissen Verständnis hingenommen.
Ich blieb Normans Bekehrungsversuchen gegenüber skeptisch und fragte mich, ob er vielleicht gar ein Kommunist sei, den man auf mich angesetzt hatte. Jedenfalls schrieb ich ihm schließlich einen Brief - den ich allerdings später in einem meiner Lehrbücher fand und wahrscheinlich überhaupt nicht abgeschickt hatte - in dem ich ihm etwa folgendes sagte: Meine Eltern täten zwar bestimmte Dinge, mit denen ich mich nicht identifizieren könne, aber ich liebte sie und sei dankbar für die Lebensumstände, in die ich hineingeboren worden sei. Ich wisse zu schätzen, was ich habe, und dagegen zu revoltieren liege mir fern. Ich wolle mich nicht am Umsturz eines Systems beteiligen, zu dem ich selbst gehörte; daß es allerdings soziale Probleme gebe, um die man sich kümmern müsse, sei mir sehr wohl bewußt.
Im Frühjahrssemester meines ersten Jahres in Chicago belegte ich einen Kurs über die Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern; die Probleme der Arbeitswelt interessierten mich generell. Damals organisierten sich die Industriearbeiter massenhaft in Gewerkschaften, und gegen diese Bewegung gingen die großen Stahl- Kohle- und Automobilfirmen massiv, oft sogar gewaltsam vor. Ich sympathisierte mit dem Recht auf gewerkschaftlichen Zusammenschluß, und meine Ansichten zu diesem Thema haben sich seither nicht grundlegend geändert, auch wenn ich heute einige Gewerkschaftsführer und -taktiken eher skeptisch betrachte.
Ich freundete mich mit Ralph Beck an, einem jungen Mann, der als freier Mitarbeiter für die Chicago Daily News über den Streik der Stahlarbeiter in Chicago berichtete. Das Stahlwerk von Republic Steel, das in der Nähe der Universität lag, wurde bestreikt, und Ralph kam vorbei, um mir zu berichten, daß es zwischen den Streikenden und der Firma zur Konfrontation kommen werde. Seine Frage, ob ich als Beobachterin mitgehen wolle, bejahte ich enthusiastisch. Den Streikposten standen bewaffnete Polizeikräfte aus Chicago gegenüber. Ich befand mich, weil ich weiter weg stand, zwar nicht in der Gefahrenzone, doch hatte ich große Angst. Ralph ließ mich aus Sicherheitsgründen zurück und ging noch näher an das Geschehen heran. Als die Stahlarbeiter vorrückten und der Werkschutz oder die Polizei plötzlich in die Menge feuerten, wurden sieben Arbeiter getötet und weitere verwundet. Die Szene verwandelte sich in einen Hexenkessel, und alle hatten Angst, festgenommen zu werden - selbst dort, wo ich stand. Also flüchteten wir so schnell wir konnten mit allen verfügbaren Fahrzeugen und verließen den Ort des Schreckens.
Als wir uns von diesem schockierenden Ereignis erholt hatten, kehrten wir noch ein- oder zweimal zur bestreikten Fabrik zurück. Wir fragten uns, wie es da drinnen wohl aussehe, und Ralph kam auf die Idee, wir sollten doch einfach einmal versuchen, das herauszufinden. Als ich beim Werk um Erlaubnis bat, erwähnte ich auch die Washington Post und die Daily News. Was ich dabei hinsichtlich der Macht einer Washingtoner Zeitung erlebte, obwohl die Post damals noch zu den unbedeutenderen gehörte, war eine Lektion, die ich nie vergessen habe. Wir wurden hereingebeten und unternahmen eine Besichtigungstour mit den Werksleitern, was mir fast schon peinlich war. Man stelle sich die Situation einmal bildlich vor - ich, eine Studentin im dritten Studienjahr, und mein Freund, der Gelegenheitsjournalist, auf Werksinspektion.
Ich schrieb Casey Jones, erklärte ihm, was geschehen war, und entschuldigte mich dafür, daß ich den Namen der Zeitung benutzt hatte, um mir Zugang zu verschaffen. Er antwortete, er habe sich über unser Erlebnis köstlich amüsiert. Das Bild, das wir uns auf diese Weise vom Ablauf eines großen Streiks verschafft hätten, sei sicher soviel wert wie ein ganzes Semester Wirtschaftswissenschaft. Freundlicherweise schickte er gleich einen offiziellen Empfehlungsbrief zum zukünftigen Gebrauch mit.
Mein Vater und ich unterhielten einen regen Briefwechsel, in dem die Post oft vorkam. Obwohl sich die journalistische Oualität des Blattes bedeutend verbesserte und auch ein größeres Anzeigenaufkommen erreicht werden konnte, machte meinem Vater die anscheinend unmögliche Aufgabe, die Zeitung aus den roten Zahlen herauszuführen, schwer zu schaffen. Die Kosten stiegen. Der Herald hatte die Leser aus dem Arbeitermilieu fest im Griff - vor allem wegen seiner berühmten dritten Seite, auf der es um Sex und Verbrechen ging. Die Washington Times war das Nachmittagspendant zum Herald. Scripps-Howard besaß eine solide Nische im Boulevardzeitungsgeschäft - Verkäufe am Kiosk und als Begleitlektüre zum Lunch - während der Evening Star den Markt und die Stadt zu beherrschen schien. Er war die Zeitung des angesehenen Establishments und quoll von Anzeigen fast über.
Im Frühjahr 1938, nach fast fünfjährigem Kampf um den Erfolg der Post, schrieb mir mein Vater, er habe gerade einen jener Glücksfälle erlebt, die manchmal vorkommen. Man hatte ihm den Service des New York Herald-Tribune angeboten. Dieser umfaßte unter anderem Kolumnen von Walter Lippmann, begehrte Comics und Features für die Sonntagsausgabe, tägliche Kreuzworträtsel und Bridgeartikel sowie Buchbesprechungen - ein wahres Füllhorn, bei dem mein Vater einfach zugreifen mußte. Zuvor hatte der Star diesen Service genossen, doch hatte es Meinungsverschiedenheiten wegen der Kosten gegeben, und so war er uns in den Schoß gefallen. Ebenso übernahm die Post nun einen Teil der Routineberichterstattung aus dem Washingtoner Büro des Herald-Tribune, wodurch unser kleiner Redaktionsstab für nationale Angelegenheiten entlastet wurde. Hinzu kamen schließlich noch Nachrichten der Auslandskorrespondenten des Herald-Tribune. Einen eigenen Korrespondentenstab konnten wir uns zu diesem Zeitpunkt nicht leisten.
Mein Vater beschrieb mir auch einen Lunch in der französischen Botschaft mit führenden Journalisten aus New York, Baltimore, Washington und London. »Da bekomme ich richtig das Gefühl«, merkte er erfreut an, »ein ganz normaler Zeitungsmensch zu sein ... Auflage 108 500 mit steigender Tendenz - 110 000 werden wir schneller schaffen, als Du denkst.« Und dann fügte er noch etwas hinzu, das in Anbetracht dessen, wie klein die Post damals noch war und wie sehr sie zu kämpfen hatte, auf mich seltsam anrührend wirkt:

Wenn Du nicht bald zur Post kommst, dann wird außer Routinearbeiten, um die erreichte Position zu halten, nichts mehr für Dich zu tun sein. Du solltest aber daran mitarbeiten, die Post an die Spitze zu bringen. Es macht viel mehr Spaß, sich an die Spitze zu kämpfen, als zu versuchen, sich dort zu halten, wenn man oben angekommen ist. Wenn wir oben sind, steige ich aus und suche mir woanders einen neuen Krisenjob. Dann könnt Ihr Du, Mutter, Casey Jones und Felix Morley - den Laden in Gang halten.

Was meinte er damit, und was habe ich damals gedacht? Im Rückblick weiß ich nur soviel: daß ich Journalistin werden wollte und er eine Zeitung besaß. Ich bin sicher, daß er meinen Schwestern und sogar meinem Bruder nichts Vergleichbares geschrieben hat. Doch ich bin genauso sicher, daß keiner von uns beiden, weder er noch ich, in mir eine Managerin sah. Mich interessiert hier in erster Linie, wie er - und ich - damals zu der Annahme kam, daß ich Journalistin werden würde.
Einer meiner bescheidenen Beiträge zur Post lag auf dem Gebiet der ach so wichtigen Comics. Ich erzählte meinem Vater über »Terry and the Pirates«, einen Comic, der damals in Chicago Tagesgespräch und noch ziemlich neu war. Er fand heraus, daß die Rechte verfügbar waren, und übernahm den Comic mit großem Erfolg. Daß ich auf diese Weise einen kleinen Beitrag zum Wohl der Zeitung leisten konnte, erfüllte mich mit Freude.
Direkt nach Roosevelts überwältigendem Wahlsieg im Jahr 1936 schrieb jemand der Post einen Leserbrief, in dem er vorschlug, dem siegreichen Präsidenten einen großen Bahnhof zu bereiten. Am nächsten Tag erschien auf der Titelseite der Post ein Kasten mit der Überschrift »Laßt uns dem Präsidenten einen großen Empfang bereiten«. Die Reaktion war bemerkenswert: 200 000 Menschen versammelten sich um acht Uhr morgens an der Union Station, um dem »Champ« zuzujubeln, der sich bei Papa bedankte, indem er zu dessen Fenster im zweiten Stock des Verlagsgebäudes an der Pennsylvania Avenue eigens hinaufwinkte.
Diese Begebenheit war mir sauer aufgestoßen, und ich schrieb meinem Vater einen entsprechend bösen Brief. Das sei eine kitschige Geste gewesen und der Versuch, sich anzubiedern. Für mich sei dies einer der eher negativen Augenblicke in der Geschichte der Post gewesen. Darauf antwortete er umgehend, und zwar recht aggressiv. Für ihn sei das Ganze eine sehr gute Idee gewesen, und die anderen Zeitungen hätten auch mitgemacht. Zu seiner Verteidigung führte er außerdem an, die Sache sei Associated Press sogar eine Nachricht wert gewesen, und selbst Time habe die Meldung gebracht. Und dann fügte er hinzu:

Ich fürchte, Dein Umfeld in Chicago und die Entfernung von Washington hindern Dich diesmal daran, Deinen guten scharfen journalistischen Verstand zu gebrauchen. Wärest Du hier vor Ort gewesen, dann könntest Du, da bin ich ganz sicher, die Sache besser verstehen.

Größere und offenere Meinungsverschiedenheiten als diese hatten wir nie. Selbst wenn er meine Urteilsfähigkeit in Zweifel zog, war er doch immer freundlich und konstruktiv. Es verrät eine Menge über die Gelassenheit meines Vaters, daß ihm solche Wortwechsel nichts ausmachten; er war nicht nachtragend. Vielmehr bereiteten ihm scharfe Kontroversen ein gewisses Vergnügen, zeigten sie doch, daß auch das Gegenüber eine eigene Meinung hatte. Diese Ermutigung zur Unabhängigkeit äußerte sich auch darin, daß er für jedes von uns Kindern bei der Geburt ein kleines Treuhandvermögen anlegte. Er hatte das Gefühl, sein eigener Vater habe sein Geld dazu benutzt, um seine Kinder unter Kontrolle zu halten; er hingegen wollte uns unabhängig sehen.
Was ich damals nicht begriff, war, daß mein Vater wirklich eine Vorliebe für mich hatte, daß ich ihm ganz besonders ans Herz gewachsen war. Hinweise meiner Mutter, ich hätte bei ihm einen besonderen Stein im Brett, und auch ihre Berichte, daß er meine Briefe wie einen Schatz sammelte, hatten damals auf mich keine Wirkung. Im Rückblick aber kann ich die intensive Wertschätzung sehen, die wir füreinander empfanden, sowie den enormen Einfluß, den sie auf mein Leben hatte. Warum ich mir dessen damals nicht bewußt war, weiß ich nicht, aber heute ist mir klar, daß er an mich glaubte. Dieser Glaube wurde für mich, als ich älter wurde, zur mächtigen emotionalen Stütze; er gab mir jenes Maß an innerer Sicherheit, das ich dringend benötigte.
Die Beziehungen zu meiner Mutter waren dagegen ganz anders, weil sie im Umgang immer schwieriger und egozentrischer wurde. Ihr eine persönliche Frage zu stellen oder sie um Rat zu fragen, war hoffnungslos: Sie hatte sich ein Bild zurechtgelegt, wie wir alle waren und wie unser Leben aussah, und danach machte sie sich nie mehr die Mühe herauszubekommen, ob ihr Bild und die Realität überhaupt noch übereinstimmten.
In den dreißiger Jahren begann meine Mutter eine ernsthafte Karriere als Rednerin. Unter den verschiedenen Themen, über die sie sprach, sind besonders Wohlfahrt und Bildung zu nennen. In ihren Briefen an mich wimmelte es von Berichten über Ansprachen, Zuhörerzahlen und unweigerliche enthusiastische Reaktionen sowie über massenhafte Bitten um Redemanuskripte. Mit ihren umfassenden intellektuellen Interessen schrieb meine Mutter auch über ein entsprechend weites Themenspektrum. Damals drehte sich ihr Leben sogar fast vollständig ums Schreiben. Einige Jahre lang zog sie sich oft allein in die »Hütte« zurück - so nannten wir das schöne, recht kleine, moderne Haus, das meine Eltern auf einem Grundstück gebaut hatten, das etwa eine halbe Stunde von der Stadt entfernt am Ufer des Potomac in Virginia lag. Dort schrieb sie an ihrem Buch über Tolstoi, Dostojewski und Thomas Mann.
Zu jener Zeit begann sie auch eine weitere leidenschaftliche Freundschaft mit einer berühmten Persönlichkeit, diesmal mit Thomas Mann eine verzehrende Leidenschaft, die ihr inneres Gleichgewicht bedrohte, obwohl diese Freundschaft für sie auch eine große Bereicherung darstellte. Noch ehe sie dem Autor persönlich begegnet war, hatte sie sich in seine Bücher verliebt. Ich selbst hatte Manns Romane ja auch schon für mich entdeckt und war zur enthusiastischen Bewunderin geworden, doch bei meiner Mutter ging die Sache viel weiter. Im April 1937 erlebte sie Mann persönlich, als dieser in der New School for Social Research in New York einen Vortrag über Richard Warner hielt. Dieses Erlebnis brachte sie völlig aus dem Gleichgewicht. Sie sprach von einer »alles in Beschlag nehmenden, wenn auch unerwiderten Leidenschaft« und bewunderte Mann nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Menschen. Seine zweite Vorlesung über Freud vertiefte ihren ersten Eindruck noch weiter, hier einem der wenigen wirklich großen Männer jener Zeit begegnet zu sein. Sie war hoch erfreut, daß »in unserem armen Zeitalter eine derart große Seele existiert«, und entschloß sich umgehend, den Autor für die Post zu interviewen (natürlich auf deutsch). Als sie Mann dann tatsächlich begegnete, war ihre Aufregung grenzenlos und ansteckend. In einem Brief an mich beschrieb sie dieses Erlebnis sehr detailliert - und aufschlußreich:

Seine Frau, eine charmante, etwas ältliche Dame mit strahlenden Augen, empfing mich, und meine Verwirrung wurde nur noch größer, als mir aufging, daß ich ihn in ihrer Gegenwart würde interviewen müssen. Ehe ich eingelassen wurde, mußten erst noch drei Männer den Raum verlassen, und ich konnte vor meinem inneren Auge andere Leute sehen, die ungeduldig darauf warteten, daß auch ich endlich herauskäme. Das ist einer ungezwungenen Atmosphäre nicht gerade förderlich und machte mich - im Zusammenspiel mit einem Anfall von Heldenverehrung - beinahe sprachlos, als der große Mann auf mich zukam, um mich zu begrüßen. Um weitermachen zu können, benötigte ich schon meine gesamte Selbstbeherrschung, aber ich hatte mir eine intelligente Eingangsfrage ausgedacht, die ich mich jetzt wie ein Schulmädchen aufsagen hörte. Die Berechtigung meiner Frage wurde in einer kurzen anerkennenden Reaküon sichtbar, und dann konnte ich fast sehen, wie er eine bestimmte, exakt definierte Schublade seines Geistes aufzog, in der die genau passende Antwort lag. Fünfzehn Minuten lang sprach er wie ein Maschinengewehr in einem sehr eloquenten, feinsinnigen Deutsch mit langen perfekten Sätzen und Abschnitten, die so genau und komplex waren wie sein schriftlicher Stil. Nicht ein einziges Mal sah ich zu ihm auf, weil ich wie verrückt mitschreiben mußte, um wenigstens einige seiner Worte und Ideen festzuhalten. Als er ausgesprochen hatte, bedeutete mir seine Frau, daß meine Zeit nun um sei. Wir tauschten noch ein paar Bemerkungen aus, die auf meiner Seite nur eine eher unterdurchschnittliche Intelligenz verrieten, und nach einem kurzen Austausch von Höflichkeitsfloskeln mit seiner Frau war ich mit meinem gebrochenen Herzen und meiner verletzten Eitelkeit wieder auf der Straße.

Als meine Mutter von dieser Begegnung nach Washington zurückkehrte, war sie über Manns Worte, die Kraft seiner Persönlichkeit und ihren Glauben an seine Bedeutung für das liberale Denken der ganzen Welt immer noch so euphorisch, daß sie ihm ihre Version eines Fanbriefs schrieb. Am folgenden Tag machte sie sich, erschöpft, wie sie sagte, »vom Sturm meiner Gefühle«, an die Arbeit an ihrem Interview, das dann auch wie geplant in der Post erschien. Dieses Erlebnis mit Thomas Mann - oder besser gesagt die Stärke ihrer Gefühle für Mann bewegte sie zu folgendem Rat an mich: »Kay, Du solltest eine Zeitungsfrau werden, und sei es nur, weil Du dann immer eine Entschuldigung dafür hast, warum Du das Objekt einer jeden plötzlichen Leidenschaft sofort aufsuchst.«
Mutters physische und psychische Probleme wurden von ihr zwar ständig dramatisiert, doch insgesamt nahm ihre gefühlsmäßige Instabilität wirklich zu. Die ersten nicht zu übersehenden Anzeichen ernster Probleme, die sicher auch mit wechseljahrebedingten Depressionen zusammenhingen, machten sich im Sommer 1937 bei einem Aufenthalt auf unserer Ranch in Wyoming bemerkbar. Für Ruthie und mich, die wir mit unseren Eltern dorthin gefahren waren, wurde dieser Urlaub zum traumatischen Erlebnis.
Nach einem glimpflich verlaufenen Zwischenfall bei einem gemeinsamen Ausritt (Ruthie hatte Mutters durchgehendes Pferd nach Cowboyart wieder eingefangen) verlor Mutter vollkommen die Fassung, stritt mit Vater, zog sich in ihre Hütte zurück und sprach massiv dem Alkohol zu. Wir alle machten uns große Sorgen. Weil mein Vater jedoch vollkommen hilflos war, fiel mir die Aufgabe zu herauszufinden, was mit ihr los war, und sie zu beruhigen. Ich stieg ihr am nächsten Tag besorgt auf einen Berggipfel nach, wo es zu einem langen Gespräch kam. Vor allem ging es darin um Thomas Mann und Mutters leidenschaftliche Bewunderung. Sie verehrte ihn, bedauerte sein Exilantenschicksal und wollte ihm helfen, zumal sich die Amerikaner ihm gegenüber so unsensibel verhielten. Zum Glück konnte ich als Mann-Leserin wenigstens mitreden und sie schließlich soweit beruhigen, daß wir gemeinsam den Abstieg ins Tal waren konnten. Für den Rest der Ferien allerdings war meine Mutter nicht ansprechbar, vor allem nicht für meinen Vater. Sie verbrachte die meiste Zeit im Bett oder Alkohol trinkend.
Von da an begann ich Ruthie gegenüber, die immer noch die Madeira High School besuchte und zu Hause sehr unter meiner Mutter zu leiden hatte, eine Art Erwachsenenrolle zu übernehmen. Auch um Mutter kümmerte ich mich, selbst wenn von ihrer Seite kaum eine positive Reaktion zurückkam. Verantwortung zu übernehmen und helfen zu können machte mir jedoch Spaß, und die Beziehung zwischen meinem Vater und mir wurde in jenen Jahren immer enger.
Am Ende meines ersten Jahres in Chicago hatte ich mich entschlossen, nicht nach Vassar zurückzukehren, sondern mein Studium in Chicago abzuschließen. Ich hatte eine anregende akademische Umgebung gefunden, wunderbare Freundschaften begonnen und war deutlich erwachsener geworden. Das Jahr hatte mir wirklich viel Freude bereitet. Allerdings plagten mich weiterhin die gewohnten Identitätsängste und die Frage, wie ich mit der Stärke und dem Einfluß meiner Familie gedeihlich leben könnte. Gelegentlich ergaben sich romantische Flirts - manchmal auf meiner Seite, manchmal auf der Sehe eines jungen Mannes, doch selten gleichzeitig auf beiden Seiten. Eine dieser Beziehungen war eine seltsame Verbindung mit einem Politologen, Hal Winkler, der viel kleiner war als ich, aber sehr heftig und leidenschaftlich. Scharfsinn hat mich schon immer physisch angezogen, und Hal war scharfsinnig - jedenfalls schien es mir so - ich dagegen war noch schüchtern und jungfräulich und wußte nicht, wie man mit sexuellen Annäherungsversuchen umgeht. Doch anscheinend wirkte ich weiterhin auf andere wesentlich zielstrebiger und reifer, als ich mich selbst fühlte.
Eine der für mich wichtigsten Begebenheiten im Herbstsemester meines Abschlußjahres in Chicago war ein Besuch meiner Schwester Bis, die damals in Kalifornien arbeitete. Die Aussicht, mit Bis zusammenzutreffen, war für mich immer etwas Besonderes, ja geradezu aufregend. Schließlich hatte sie in Europa, New York und Hollywood gelebt, während ich in Washington, Vassar und Chicago gewesen war. Sie hatte weiterhin glamouröse und sogar berühmte Freunde. In Europa hatte sie sich mit Königin Marie von Rumänien und deren Tochter, Prinzessin Illeana, angefreundet. In New York war sie mit dem Dramatiker Sam Behrman befreundet, der ihr sogar den Hof machte, und auch mit George Gershwin, Oscar Levant und Harpo Marx traf sie sich häufig. Sie besuchte Herbert Swope und seine Frau, und sie kannte Alexander Woollcott, Dorothy Parker und andere aus der Literatenclique, die sich im Algonquin Hotel traf. Sie hatte eine ernsthafte Romanze mit einem Filmproduzenten, den sie heiraten wollte - eine Idee, die von meiner Mutter durchkreuzt wurde, die davon überhaupt nichts hielt. Mutter hat mir einmal stolz erzählt, wie sie Bis davon abbrachte, nach Hollywood zu gehen und diesen jungen Mann zu heiraten: In unserem Familienapartment in New York, in dem Bis wohnte, hatte meine Mutter eine Woche lang mit ihr gestritten. Doch Bis war so lange stur geblieben, bis meine Mutter zu ihr sagte: »Bis, wenn du das tust, dann bringst du deinen Vater ins Grab.« Daraufhin hatte Bis, wie meine Mutter voller Befriedigung feststellte, endlich von ihrem Plan abgelassen.
Bis' Besuch bei mir in Chicago war außergewöhnlich. Wir sprachen ausführlich darüber, was es im guten wie im schlechten bedeutete, Mitglied dieser komplizierten, erdrückenden Familie Meyer zu ein, aber auch darüber, was wir beide in unserem Leben tun wollten. Im Zug zurück nach Kalifornien, noch im Bahnhof von Chicago, begann Bis am 20. November 1937 einen langen Brief an mich, den ich aufbewahrt habe. Darin heißt es unter anderem:

Eines der schwierigsten Probleme, mit denen wir zu tun haben, ist ... daß wir von frühester Kindheit an durch das, was im Familienkreis gesagt wurde und ungesagt blieb, das Gefühl hatten, zu Großem geboren zu sein! ... Wir haben alle den Zwang gespürt, Überflieger sein zu müssen! Und das ist eine gefährliche Sache. Wir tun uns alle außerordentlich schwer damit, bei etwas Niedrigem, Kleinem, Unbedeutendem unser Bestes zu geben. Wir haben so lange in jeder Hinsicht auf dem Gipfel gelebt, daß es uns schwerfällt, uns am Fuße des Berges wirklich häuslich einzurichten und dort Wurzeln zu schlagen ...

Für den Antwortbrief brauchte ich fast einen ganzen Monat, aber was ich Bis dann schrieb, war eine Summe dessen, was ich über meine Arbeit, die Familie, die Post und besonders über meinen Vater dachte. Bis hat diesen Brief aufgehoben und ihn mir Jahrzehnte später zurückgegeben:

Zum Thema »Meyerei« habe ich eine Menge zu sagen, auch wenn ich nicht so tun will, als würde ich alles verstehen, Ursachen und Wirkungen. Man kann unsere Familie, ohne groß darüber nachzudenken, mit einem Polypen vergleichen, dessen Fangarme sich überallhin erstrecken, die aber auch, und das ist am allerschlimmsten, weit in die Tiefe vordringen. Mit anderen Worten, wenn Du ihm entkommen willst, wirst Du ihn wahrscheinlich in Deinem Innern entdecken.
Ganz konkret stellt sich mir die Sache im Augenblick folgendermaßen dar ... Ich glaube, ich will ins Zeitungsgeschäft - vor allem, weil ich bestimmte politische Ansichten habe, die sich ändern können oder auch nicht, aber in Verbindung mit der Tatsache, daß ich gerne schreibe ...
Wenn wir die Frage einmal beiseite lassen, die sich gegenwärtig nicht beantworten läßt, nämlich ob ich das Zeug zu einer guten Reporterin habe, und das ist schließlich eine Gabe, die Gott nur sehr wenigen gegeben hat, ich meine zu einer wirklich guten Reporterin, so bleibt als Tatsache, daß Berichte über das Arbeitsleben das sind, was mich momentan am meisten interessiert~ und vielleicht kann ich mich ja später mal zur politischen Reporterin hocharbeiten.
Wie Du siehst, ist das für Papa aber keine Hilfe. Er will und braucht jemanden, der bereit ist, die ganze Tretmühle mitzumachen, von der Berichterstattung über Auflagenprobleme bis hin zum Schreiben von Leitartikeln und zur Übernahme der Rolle seiner Assistentin. Daraus ergeben sich aber zahlreiche Probleme. Erstens, ich verabscheue über alles das Anzeigenwesen und das Auflagenmanagement, doch mit der Sorge darum verbringt ein Zeitungsmacher die meiste Zeit. Zweitens ist da die Frage des politischen Standpunkts, welche die Dinge kompliziert machen würde oder könnte, wenn ich unter Papa dort arbeiten würde. Und drittens bezweifle ich meine Fähigkeit, eine Last wie die Washington Post zu tragen, und viedens weiß iel daß Papa eine andere Art von Penötdhktt braucht, die unter seiner Leitung viel automatischer funktionieren würde, und fünftens glaube ich, verdammt noch mal, daß das Ganze auf ein erstklassiges Hundeleben hinauslaufen würde...
Aber sehen wir mal einen Augenblick von dem Gedanken ab, ob ich je etwas mit der W Post zu tun haben will oder nicht. Dann müssen immer noch eher theoretische Auswirkungen hinterfragt und getestet werden. Wie ich schon ganz zu Anfang dieses Briefes gesagt habe, die MeyerTentakel saugen sich in der Tiefe fest. Von Papas Standpunkt aus gesehen, glaube ich, mein Kommen würde ihm schon etwas bedeuten. Vielleicht schmeichle ich mir nur selbst, aber ich glaube, es würde Verschiedenes bedeuten: Kameradschaft, eine lebendige Verbindung mit der nächsten Generation und das Wissen, daß alles, für dessen Aufbau er sich abgerackert hat, nicht mit seinem Abgang zu Ende wäre.
Aus meiner Sicht würde eine Absage bedeuten, eine Position aufzugeben, um die sicher Tausende kämpfen würden, das heißt eine einflußreiche Position bei einer einflußreichen Zeitung in der Hauptstadt des wichtigsten Landes der Welt. Jedenfalls im Augenblick. Außerdem würde es bedeuten, Unterstützung und wertvollen Rat zu verlieren, der mich bereits ganz wesentlich beeinflußt hat und den ich überaus respektiere ...
Sollte ich aus irgendeinem Grund herausfinden, daß ich für das Zeitungsgeschäft doch nicht tauge - und das könnte unter anderem damit zusammenhängen, daß ich ein wenig langsam bin, was nicht gut ist - dann werde ich aussteigen und das Ganze auch nicht als Schmach empfinden. Ich glaube nicht, daß diese Einstellung Teil des Erfolgsdenkens ist, denn mit »taugen« meine ich einfach, seine Aufgaben kompetent und ohne besonderen Glanz zu erledigen. Dies wird zwar durch unser Erbe erschwert, und doch glaube ich, daß es in der Praxis so funktionieren kann. Genau kann ich das aber vom Fenster meines gegenwärtigen Eifenbeinturms aus noch nicht sagen.
Und eines Tages, glaube ich, werde ich EINEN MANN heiraten. Und zwar, weil ich von Natur aus nicht gern alleine lebe. Ich möchte mit jemandem zusammenleben, und wenn man mit jemandem zusammenlebt, dann ist es schön, verheiratet zu sein. So werde ich mich vielleicht, wie Flo es schon immer vor Freude kreischend prophezeit hat, der Aufzucht von sechzehn Kleinen widmen. Ich werde sie so erziehen daß sie keinen Erfolg haben und in ihren Wünschen eher animalisch bleiben, mit sowenig wie möglich von jener speziell menschlichen Eigenschaft, die man das Rationale nennt...

Dieser Brief erscheint mir als gute Zusammenfassung dessen, was ich damals war und was ich nach der College-Jahren dachte - besser, als ich es heute, nach fast sechs Jahrzehnten, könnte. Ich bin etwas verwundert, daß ich damals solch starke Vorbehalte gegen die Zusammenarbeit mit meinem Vater hatte - zumal angesichts unseres fortlaufenden Gedankenaustauschs über meine Ausbildung, meine journalistische Karriere und die Fortschritte bei der Post. Vermutlich hängen diese Vorbehalte einfach mit meiner damaligen inneren Widersprüchlichkeit zusammen. Vielleicht hatte mein Vater jedoch ebenfalls zwiespältige Gefühle, denn er unterstützte später genauso enthusiastisch wie ich den Plan, daß mein Mann zur Post gehen und ich dort aufhören solle, um ein Leben als Ehefrau und Mutter zu führen und mich für wohltätige Zwecke zu engagieren.
Mein Studium an der University of Chicago, dieser »noblen Institution«, wie ich sie meinen Eltern gegenüber nannte, endete Anfang Juni 1938. In den beiden Jahren dort waren meine Noten nicht so gut - oder manchmal auch nicht so schlecht - wie sie hätten sein können. Das störte mich jedoch nicht, weil ich trotzdem eine Menge gelernt habe.
Die Abschlußfeier, bei der meine Eltern nicht anwesend sein konnten, fand unter Leitung von Präsident Hutchins in der schönen, von Rockefeller gebauten Universitätskirche statt. Nach einem ganzen Reigen von Abschiedspartys mit meinen Freunden verließ ich Chicago. Ich fuhr nach Mount Kisco und in eine ziemlich ungewisse Zukunft. Die Schul- und Universitätsjahre lagen hinter mir.