Im Herbst 1934 begann ich mein Studium am Vassar College, einem exklusiven Frauencollege in Poughkeepsie, New York. Diesen Studienort hatte ich gewählt, ohne mir wirklich Gedanken darüber zu machen. Vassar war als College damals einfach »in«. Die meisten Madeira-Absolventinnen gingen dorthin, und auch meine Schwester Bis, der ich ständig nachzueifern trachtete, war in Vassar.
Doch als ich auf dem Campus ankam, waren Bis und Bill in London, wo sie gemeinsam in einer kleinen Wohnung lebten. Bill verbrachte sein drittes Studienjahr im Ausland, an der London School of Economies, wohin ihn meine Eltern geschickt hatten, weil sie mit dem bisherigen Verlauf seines Studiums in Yale nicht zufrieden waren. Bis hatte ihr Auslandsjahr in München verbracht und sich dort neben ihrem Violinstudium ein schönes Leben gemacht. Anschließend war sie nicht nach Vassar zurückgekehrt, sondern nach London gegangen, um dort für den britischen Filmproduzenten Alexander Korda zu arbeiten. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Dramatiker Sam Behrman, schrieb sie am Drehbuch für den Filmklassiker The Scarlet Pimpernel (Das scharlachrote Siegel). Flo hatte ihre ersten Auftritte als Tänzerin.
Während meine älteren Geschwister also in die reale Welt ausschwärmten, war ich selbst noch so wirklichkeitsfremd, daß es mir schwer fiel, mit meinem Alltag zurechtzukommen. Mein neuer Freundeskreis und auch das Studium waren eigentlich in Ordnung, und doch fand ich alles verwirrend und fühlte mich einsam und verloren. Besonders schwer fiel es mir, mich auf meine Arbeit und die Lektüre zu konzentrieren. Meine Gedanken wanderten ständig umher, damit beschäftigt, wie es weitergehen würde und was ich tun wollte - wie ich es vermeiden könnte, einsam zu sein. Zusätzlich hatte ich mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die daher rührten, daß ich so behütet und umsorgt aufgewachsen war. Daß es für alles Dienstboten gab, war mir selbstverständlich gewesen. Da ich nicht sehr modebewußt war, besaß ich nur die wenigen eleganten maßgeschneiderten Kleider, die meine Mutter ausgesucht hatte, aber kaum etwas zum Anziehen für den Alltag. Deshalb war ich vor Beginn des Studienjahres losgezogen, um Kleider zu kaufen. Aber ich hatte keine Ahnung, wo ich einkaufen sollte und was ich benötigen würde. Also kaufte ich mir hauptsächlich Röcke und Pullover. Einen gelben Wollpullover trug ich während der ersten Semestermonate praktisch jeden Mg, bis mir schließlich jemand zu verstehen gab, jetzt müsse der Pullover aber mal gewaschen werden. Zwar hatte ich schon öfter die Pullover der anderen Mädchen auf Handtüchern ausgebreitet gesehen, doch war ich überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, selbst diesem Beispiel zu folgen; zudem wußte ich auch nicht, wie ich das hätte anstellen sollen. Daheim hatte immer jemand meine schmutzige Wäsche und meine abgelegten Kleider an sich genommen, und irgendwann befand sich dann alles sauber und gebügelt wieder im Schrank. Das Problem mit dem schmutzigen gelben Pullover löste ich nun einfach dadurch, daß ich ihn in die Reinigung gab. Wie man einen Pullover wäscht, lernte ich nie.
Diese Unwissenheit in praktischen Dingen erstreckte sich auf alle Aspekte des Alltagslebens, ob es nun um Kochen, Waschen, Zimmereinrichten oder Kleiderkaufen ging. Auch wußte ich nicht, wieviel Geld ich ausgeben konnte oder wieviel die anderen zur Verfügung hatten. Ich mußte einfach aus der Konfrontation mit der Realität und von Freundinnen lernen. Gleichwohl mogelte ich mich irgendwie durch und lernte in meinem Anfängerjahr eine ganze Menge. Insbesondere wurden mir auch die politischen Themen, die mit der RooseveltRegierung zusammenhingen, endlich klarer. Erstmals wurde der New Deal für mich zur Realität, und ich begann mich dafür auf eine mehr als nur abstrakte Weise zu interessieren. Daheim herrschte eine so starke Anti-Roosevelt-Stimmung - bei Papa auf rationale, gemäßigte Weise, bei Mutter eher emotional - daß ich dort nie eine Meinung gehört hatte, die dem New Deal etwas Positives abgewinnen konnte. Unter dem Einfluß der Professoren, der radikalen jungen Frauen von der Campyuszeitung, zu denen ich gehören wollte, und meiner neuen guten Freundin Connie Dimock, die allmählich immer weiter zur extremen Linken tendierte, wurde ich zu den Zielsetzungen des New Deal bekehrt. In der Tat wurden die drei mittleren Kinder der Familie Meyer zu überzeugten Anhängern des New Deal, was daheim zu hitzigen politischen Auseinandersetzungen mit beiden Elternteilen führte, vor allem mit meiner Mutter.
Vielleicht lag es an meinem konservativen Temperament, daß ich erst ganz allmählich jene Ideen entwickelte, die dann mein Leben lang Bestand hatten - mit gelegentlichen Abweichungen. Ich glaubte - und glaube noch immer - daß der Kapitalismus für eine freiheitsliebende Gesellschaft das am besten funktionierende System ist, daß er mehr Wohlstand für mehr Leute bringt als jedes andere sozioökonomische System, aber daß man sich irgendwie auch um die Menschen kümmern muß. Diese Grundideen machten aus mir eine glühende Anwältin Roosevelts, im Jahre 1934 ebenso wie bei allen drei folgenden Wiederwahlkampagnen.
Ich belegte einen Deutschkurs für Anfänger und wurde eine große Verehrerin Thomas Manns, besonders seiner Novelle Tonio Kröger. Darin erzählt Mann von der Ambivalenz und den inneren Konflikten Tonios, die durch den natürlichen Zwiespalt zwischen seinem preußischen Vater und seiner heißblütigen, gefühlsbetonten süddeutschen Mutter verursacht werden. Die Spannungen zwischen diesen beiden gegensätzlichen Polen führen dazu, daß sich Tonio von den anderen unterscheidet, obwohl er sich danach sehnt, so zu sein wie sie. Diese Geschichte sprach mich im tiefsten Inneren an, und ich war so hingerissen, daß ich mir eine englische Übersetzung besorgte und diese geradezu verschlang. Mein Deutsch war noch so rudimentär, daß ich mit der Lektüre des Originals viel zu langsam vorankam.
Ich lernte also tatsächlich etwas im Vassar College, aber meine Arbeitsweise war noch sehr unorganisiert. Letztlich war ich auf das College ungenügend vorbereitet, denn mir fehlte die erforderliche Selbstdisziplin für konzentrierte Lektüre und systematische Forschung. Besonders das Schreiben von Referaten bereitete mir große Probleme, wie sich in der Auseinandersetzung mit einer mir unsympathischen Geschichtsprofessorin zeigte. Ich wollte mir das selbstgewählte Thema - die Stellung der Frau im Mittelalter - von ihr nicht ausreden lassen und verdeckte mit jugendlicher Arroganz die eigene Einsicht, daß ich mich wohl übernommen hatte. Die schlechte Note, die ich dafür bekam, hatte ich sicher teilweise verdient. Obgleich sich meine Mutter eingeschaltet und beim College-Präsidenten protestiert hatte, konnte ich den Fehler aus eigener Kraft ausbügeln und den Geschichtskurs letztlich erfolgreich absolvieren.
Um die Mitte des ersten Jahres in Vassar machte mir das Studium allmählich wirklich Spaß, und ich fühlte mich auch in der College-Gemeinschaft wohler. Dazu trug nicht zuletzt bei, daß Connie und ich uns ernsthaft für Politik interessierten und uns aktiv bei politischen Kontroversen im Staat New York engagierten. Ich wurde zur Schatzmeisterin des (kommunistisch angehauchten) Politischen Clubs am College gewählt.
Für jenen Sommer hatte ich einen Besuch bei meiner Madeira-Schulfreundin Jean Rawlings in San Francisco geplant. Ihren verlockenden Einladungsbrief besitze ich noch heute, doch konnte ich leider nicht fahren, weil meine Eltern wegen einer in Kalifornien grassierenden Kinderlähmungsepidemie ihr Veto einlegten. Ich kann mich noch erinnern, wie ich weinend bei ihnen saß und sagte, noch einen weiteren einsamen Sommer in Mount Kisco würde ich mit Sicherheit nicht aushalten.
Die Lösung, die meine Eltern fanden, bestand darin, daß ich bei einer Vorortzeitung im Bezirk Westchester, dem Mount Vernon Argus, arbeiten konnte. Jeden Tag fuhr ich von Mount Kisco in einem Chevrolet-Cabrio, meinem ersten Auto, dorthin. Es war ein unbezahlter Aushilfsjob, aber ich haue Spaß daran und arbeitete auch gern mit meinen Kollegen zusammen. Ich schrieb verschiedene Artikel, von denen einer - über Ärztinnen sogar namentlich gezeichnet erschien. Diese Arbeitsprobe schickte ich meinem Vater, der mir daraufhin einen ermutigenden Brief schrieb: »Der Artikel ist sehr gut geschrieben. Auf mich wirkt er in der Tat recht professionell.« Wegen dieses unbezahlten Jobs bekam ich zwar Ärger mit der Gewerkschaft, doch wiederholt versicherte man mir, das habe nichts mit meiner Person zu tun und man wisse meine Arbeit sehr zu schätzen.
Im Lauf der College-Jahre kamen mein Vater und ich uns immer näher, während meine Mutter und ich uns immer weiter auseinanderlebten. Wenn es um den Ausdruck von Gefühlen ging, war mein Vater so schüchtern und unbeholfen, daß ich immer wieder überrascht war, daß er es überhaupt noch versuchte. Im Herbst 1935, als ich zum zweiten Vassar Studienjahr aufbrach, schrieb er mir: »Der Gedanke fällt mir sehr schwer, daß Du bald wieder im College bist und ich in Washington und daß wir uns dann ein weiteres Jahr nur noch an Feiertagen sehen werden.« Im Sommer 1936, als ich nach Europa fuhr, schrieb er mir, er fahre jetzt »auf die einsame Farm, wo Kate nicht mehr da ist, um mich aufzuheitern«. Mein Vater - und später Phil Graham - gehörten zu den ganz wenigen Menschen, die mich Kate nannten.
In meinem zweiten College-Jahr - ich war inzwischen achtzehn - vertiefte sich der Konflikt zwischen meinem gesellschaftlichen und meinem intellektuellen wie politischen Leben, der im Vorjahr begonnen hatte. »Coming-out«-Partys für Debütantinnen waren damals die große Mode in Washington. Während manche das ganze Jahr über entsprechende Partys feierten, beschränkte sich mein Debüt auf einen Tanztee zu Thanksgiving, dem amerikanischen Erntedankfest im November, und einen Ball am 26. Dezember. Letzterer war wirklich ein großes Ereignis: Unser Haus war prachtvoll im griechischen Stil dekoriert, und auch ich trug ein griechisch angehauchtes Kleid, allerdings nicht in traditionellem Weiß, sondern in Gold.
Ich hatte inzwischen genug dazugelernt, um bei der Erstellung der Gästeliste und bei den Vorbereitungen helfen zu können. Meine Mutter hatte vorgeschlagen, ich solle doch den jungen Joseph Alsop einladen, einen brillanten Reporter vom Herald- Tribune, den sie kürzlich kennengelernt hatte. Als wir die Tischordnung festlegten, setzte ich ihn direkt neben mich, weil ich von der Beschreibung, die meine Mutter von ihm gegeben hatte, so fasziniert war. Leider hatte sie einen entscheidenden Punkt ausgelassen: Joe, der relativ klein war, wog weit mehr als zwei Zentner. Außerdem war er außerordentlich gebildet. Seine persönliche Erscheinung jagte mir einen Schreck ein, und mit seinen gereiften Ansichten und seiner Präsenz konnte ich nicht mithalten. Mehr schlecht als recht überstand ich das Dinner mit ihm. Später wurden wir beide dann lebenslange, enge Freunde, aber der Anfang damals war ziemlich verkorkst und wenig aussichtsreich.
Und gleichsam als sollte die Ambivalenz zwischen den beiden Welten, in denen ich mich bewegte, noch stärker hervorgehoben werden, fuhren Connie und ich am Tag nach meiner großen Party mit dem Zug nach Columbus, Ohio, um dort an der Gründungsversammlung der American Student Union (ASU) teilzunehmen. Wir waren gebeten worden, für die Vassar Campuszeitung Miscellany News, für die wir beide inzwischen arbeiteten, über diesen Kongreß zu berichten. Es handelte sich um einen Zusammenschluß kommunistischer und sozialistischer Studentengruppen, in dem Liberale und Radikale bereit waren, miteinander auszukommen und sich überdies mit außenstehenden Studenten zur Durchsetzung antifaschistischer Ziele zusammenzuschließen. Das Ganze war eine Art Spiegelbild dessen, was allerorten in der politischen Welt geschah, wo sich ähnliche Gruppen gleichfalls zur Volksfront zusammenschlossen, um den Versuch zu unternehmen, Hitlers Aufstieg zu bekämpfen.
In Columbus schlossen wir Freundschaft mit einigen Studenten vom Dartmouth College, die ähnliche Ansichten vertraten wie wir, und genossen das Beisammensein mit Budd Schulberg, der später als Autor und Filmproduzent Karriere machte, mit Eddie Ryan, der später zur Post kam, und Bill Leonard, der später Nachrichten-Chefredakteur beim Fernsehsender CBS wurde. Nachdem wir eines Abends zusammen auf einen Drink ausgegangen waren, kehrten wir in den Versammlungssaal zurück und stellten zu unserer Überraschung fest, daß ich, die ich nur als Beobachterin und Reporterin gekommen war, in das National Executive Committee aufgenommen worden war. Dies war eine eher durchsichtigen Strategie der Gruppen am linken Flügel; man wollte genügend unorganisierte Liberale in den Vordergrund stellen, um glaubhaft zu machen, daß es sich nicht um eine rein kommunistische Organisation handelte. Mein erster Instinkt legte mir nahe, meinen Namen ganz schnell zurückzuziehen, doch der zweite Gedanke - dem ich dann folgte - sagte mir, ich solle mich ruhig auf diese Sache einlassen. Über die Gründe für meine Auswahl machte ich mir keinerlei Illusionen. Zugleich aber fand ich auch, daß dies eine interessante und mir bislang nicht vertraute Szene war- ich wollte mir alles ein wenig genauer ansehen und in Erfahrung bringen, worum es wirklich ging.
Als ich meinem Vater erzählte, daß ich im Exekutivkomitee der Studentenunion sei, schrieb er mir einen langen Brief, in dem er argumentierte, Journalisten sollten nicht Mitglieder von Organisationen werden. Er gab mir den Rat: »Je weniger Etiketten Du trägst, desto besser.« Ich erwiderte ihm darauf ruhig, aber bestimmt, ich wisse zu schätzen, wie umsichtig er die Angelegenheit offenbar von allen Seiten abgewogen habe - in den meisten Punkten würde ich sogar mit ihm übereinstimmen, insbesondere darin, daß im sogenannten Massendenken auch Gefahren lauerten. Ich gab ihm ebenfalls recht, daß Etikettierungen nicht wünschenswert seien. Aber ich erläuterte ihm auch, daß es für alle Beteiligten große Probleme mit sich brächte, wenn ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt zurückträte. Mein Vater schrieb mir umgehend zurück, dankte mir für meinen Brief und schloß mit einem Passus, der eines der einfachsten und besten Rezepte für den Umgang von Eltern mit ihren Kindern enthält, die ich kenne. Diese Worte haben mir damals sehr viel bedeutet, und ich schätze sie noch heute sehr: »Was Eltern manchmal auf hilfreiche Weise tun können, ist, bestimmte Handlungsgrundsätze darzulegen. Ich glaube nicht, daß ich Dir helfen würde, wenn ich Dir einen zu strikten Rat gäbe. Ich spüre nicht einmal das Bedürfnis, das zu tun, weil ich viel zu sehr darauf vertraue, daß Du selbst ein gutes Urteilsvermögen besitzt. Ich glaube, was ich für Dich gelegentlich tun kann, ist folgendes: Dir bestimmte Prinzipien erläutern, die sich in meinem Denken als gesund und praktisch herauskristallisiert haben, und es dann Dir selbst überlassen, ob und wie Du diese Prinzipien anwendest, je nachdem, ob sie Dir etwas sagen und ob Du sie billigst. «
Diese Auseinandersetzung, die leicht zum ernsthaften, entzweienden Konfliktfall zwischen uns beiden hätte werden können, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Beziehung zwischen meinem Vater und mir funktionierte, wieviel gegenseitige Wertschätzung und Sorge auf beiden Seiten im Spiel war. Wahrscheinlich versuchte er mich sanft zu überreden, mich nicht einer Gruppierung anzuschließen, der auch Kommunisten angehörten. Aber er insistierte nicht.
Ganz anders meine Mutter. Sie bezog immer klar, manchmal auch brüsk, Stellung, und sie kannte keine Scheu, sich politischen Gruppierungen anzuschließen. 1936 engagierte sie sich massiv im Präsidentschaftswahlkampf von Roosevelts republikanischem Gegenkandidaten, obwohl mein Vater ihr von manchen dieser Aktivitäten abgeraten hatte.
Ungefähr um diese Zeit trat sie auch im Town-Hall-Programm auf, einer sehr prominent besetzten Diskussionsrunde im Radio, der Mrs. Roosevelt vorsaß. Wie immer schrieb sie mir vorher, damit ich mir die Sendung auf jeden Fall anhörte, und fügte diesmal als zusätzliche Motivationshilfe noch hinzu, sie werde dort auch »meine Studentenunion verteidigen«. Daß sie die ASU in ihrer Rede ansprechen wollte, gefiel mir natürlich sehr, aber ansonsten machte ich mir ziemliche Sorgen darüber, was sie außerdem noch alles sagen würde. Tatsächlich geriet sie über den New Deal entsetzlich mit Mrs. Roosevelt aneinander. In ihrem nächsten Brief an mich verlieh sie dann ihrem Gefühl verletzter Eitelkeit Ausdruck, weil i ich mich nach der Diskussionsrunde nicht bei ihr gemeldet hatte: »Aus Deinem Schweigen ziehe ich den Schluß, daß Dir meine Rede wohl nicht viel bedeutet hat doch in den %gen der Welt bin ich seither eine Heldin. Noch ehe ich den Saal verlassen hatte, gingen schon die ersten Telegramme bei mir ein, und als wir zurück im Hotel waren, bekam ich zahlreiche Anrufe aus dem ganzen Land, darunter auch einen von Bis, die ganz begeistert war. Fanpost kommt massenhaft, alles zustimmende Briefe, zum Teil sogar enthusiastisch. Die Animosität gegen die Roosevelts, die aus diesen Briefen spricht, ist unglaublich. Ich lege Dir zu Deinem Vergnügen ein typisches Exemplar bei.« Dies war nur ein weiteres Beispiel für die Einbahnstraßengespräche mit meiner Mutter, die fast nur aus Berichten über die überwältigende Reaktion auf ihre letzten Ansprachen bestanden - mit Ovationen der Massen und tausendfachen Bitten um Kopien des Redemanuskripts. Diese Art der Selbsttäuschung und ihr überwältigendes Bedürfnis nach Lob, Schmeichelei und Bewunderung machten jeden echten Austausch mit ihr zunehmend schwierig - nicht nur für mich, sondern, wie ich glaube, für uns alle.
Im Frühjahr 1936 war ich an der Organisation eines landesweiten Friedensstreiks beteiligt. Und wie auf ein geheimes Stichwort hin geschah noch etwas anderes das den Zwiespalt in meinem Denken nachhaltig unterstrich: Connie und ich wurden von den Studentinnen des letzten Studienjahrs in Vassar (den seniors) zusammen mit nur ganz wenigen anderen eingeladen, an der Daisy Chain (»Gänseblümchenkette«) teilzunehmen. Solche Einladungen erfolgten offiziell aufgrund von Schönheit oder anderen ehernen Kriterien, in Wahrheit jedoch aufgrund von persönlichen Sympathien. Die Sache war uns ein wenig peinlich, weil die Daisy Chain ein recht altmodisches Ritual war, aber insgeheim waren wir hoch erfreut über diesen Sympathiebeweis. Unser schlechtes Gewissen beruhigten wir mit einem Dankgedicht, das ein Wortspiel als Titel trug: »To the Upper Class from Two in Chains« (An die Oberschicht von zwei in Ketten). Nur die zweite Strophe dieses kleinen Epos ist erhalten und lautet:
We thank the class of 36
They've put us in a »pretty« fix.
Between class struggles we must choose
The proletariat or youse.
But we'll not be We C. P.'s bane.
We'll organize the Daisy Chain.
(Dank sei dem Jahrgang 36,
daß sie nach »Schönheit« suchten fleißig.
Zwischen Klassenkämpfen wir nun wählen,
Ob zum Proletariat oder zu euch wir uns zählen.
Doch nicht als KP-Schreck wollen wir stehn:
Wir organisieren die Daisy Chain.)
Als meine Mutter ein Exemplar dieses Gedichts bekam, reagierte sie begeistert auf unsere Verseschmiederei - den mißliebigen Inhalt überging sie geflissentlich - und kam dann ins Philosophieren: »In diesem demokratischen Land macht nichts so sehr Eindruck, wie zu irgend etwas gewählt zu werden; Popularität zählt, doch leider geht es dabei mehr nach Aussehen und Anschein als nach Verdiensten. Sieb Dir doch nur diesen Franklyn an (gemeint war natürlich ihr Intimfeind FDR). Das Beste, worauf wir noch hoffen können, ist, daß Popularität ohne Verdienst am Ende Überdruß hervorruft.«
Connie und ich hatten den Plan diskutiert, im Sommer 1936, dem Sommer nach unserem zweiten Studienjahr, die Sowjetunion zu bereisen. Die erste Reaktion meiner Mutter war zwar positiv ausgefallen, doch mein Vater widersprach vehement. Ich plädierte für unseren Rußlandtrip und argumentierte höflich, daß wir ja eine spannende, preiswerte Tour über Intourist buchen könnten, das von mir als »das zuverlässige offizielle russische Reisebüro« apostrophiert wurde. Zusätzliche Oberzeugungskraft sah ich in meinem Versprechen, den geplanten Aufenthalt in der Sowjetunion auf zwei Wochen zu begrenzen und schon am Anfang der Sommerferien zu fahren, solange Connies Familie noch in Westeuropa und damit nahe genug sei, um uns aus der Patsche zu helfen, falls es Probleme geben sollte. Dann könne ich auch rechtzeitig zurück sein, um den September gemeinsam mit meinem Vater bei der Post zu verbringen.
Doch Papa stimmte meiner Sicht der Dinge nicht zu. Telegraphisch erklärte er sein Einverständnis mit unserer Westeuropareise; die Gründe für seine Weigerung, mich nach Rußland reisen zu lassen, erläuterte er mir anschließend in einem Brief:
Dies sind bewegte und unruhige Zeiten, gefährlicher, als Dir bewußt ist.
Ich kann von Dir noch nicht erwarten, daß Du das siehst. Du weißt bestimmt, daß ich Dir gegenüber nicht leicht nein sage. Du bist eine Tochter, die im allgemeinen bei allen Dingen so vernünftig ist, daß ich, wo immer möglich, nur zu gern ja sage - zu Dir. Ich kann Dich nicht so weit in den östlichen Teil Europas reisen sehen unter den gegenwärtigen Bedingungen - solange ich im Bedarfsfall nicht frei bin, mich ausschließlich der Aufgabe zu widmen, Dich dort herauszuholen. Dazu bin ich augenblicklich leider nicht in der Lage. Alles Liebe und Gute. Vielleicht fahren wir, Du und ich, eines Tages einmal gemeinsam dorthin.
Als Connie und ich Ende Juni nach Europa aufbrachen, bildeten wir eine stattliche Reisegruppe: Connies Eltern, ihre vier Schwestern und ein Dienstmädchen. Ihr Vater rief den französischen Gepäckträgern ständig zu: »Neuf personnes et vingt-neuf piéces de bagages« (neun Personen und neunundzwanzig Gepäckstücke).
Als erstes ging es nach London, und obwohl ich den Ernst der politischen Lage spürte, empfand ich London als fröhliche Stadt; jeder war von den Gartenpartys des Königs begeistert. In Paris stand der Sozialist Léon Blum an der Spitze einer Volksfrontregierung, und die politischen Zeichen der Zeit waren nirgends zu übersehen. Für uns wurde das um so handgreiflicher, als wir am Tag vor dem Nationalfeiertag in der Stadt ankamen, an dem des Sturms auf die Bastille gedacht wird. Neben der üblichen Militärparade gab es noch eine Demonstration der Volksfront. Dabei hatte ich das eindrucksvollste Gefühl gemeinschaftlicher Stärke, an das ich mich überhaupt erinnern kann. Es gab zwei getrennte Marschsäulen, die sich am Ende trafen und gemeinsam singend auf die Place de la Bastille einbogen. Der Geist, der sich hier offenbarte, als die Massen, etwa 750 000 Menschen insgesamt, zusammenkamen, hat es mir leichtgemacht, mir frühere Szenen am gleichen Ort bildlich vorzustellen.
Zusammen mit Connie schloß ich mich dem Marsch an; mit der Gruppe der boulangers (Bäcker) zogen wir stundenlang durch die Stadt. Und wiederum schien alles so arrangiert zu sein, daß unser damaliger innerer Zwiespalt noch deutlicher zutage treten konnte und wir uns hin und her gerissen fühlten, denn direkt von der Volksfrontparade gingen wir zum Lunch zu meiner Tante Elise, die nach dem Tod ihres Mannes San Francisco verlassen und sich in einem wunderschönen Haus in Paris niedergelassen hatte wo sie in gesellschaftlichen Kreisen zur erfolgreichen, prominenten Figur avanciert war. Nach einiger Zeit hatte sie den brasilianischen Botschafter in Frankreich, Luiz de Souza-Dantas, geheiratet, der aufgrund seiner Anciennität zum Doyen des diplomatischen Corps aufgestiegen war, einer Position im gesellschaftlichen Rampenlicht. Unser morgendlicher Marsch stand somit in markantem Kontrast zu Elises normalen Aktivitäten, und sie amüsierte sich köstlich, daß Connie und ich direkt von der Volksfrontparade zu ihr zu Tisch gekommen waren. Während des Essens sagte sie immer wieder zu uns: »Erzähl doch Prinzessin Soundso und Sir Soundso mal, was ihr heute morgen gemacht habt!«
So führten wir auf unserer Reise ein höchst abwechslungsreiches Leben. In Paris nahm ich Connie eines Abends mit zu Brancusi zum Essen. Ich war so versessen darauf ihn wiederzusehen, daß ich Sturm klingelte und, als die Tür geöffnet wurde, direkt ins Atelier hineinplatzte. Doch plötzlich sah ich mich einem fremden Gesicht gegenüber, woraufhin ich im ,jugendlichen Überschwang ausrief: »Ach du meine Güte, wo ist denn Brancusi, und wer sind Sie?« Wie sich herausstellte, war es Pierre Matisse, der Sohn von Henri Matisse, der ebenfalls zum Essen blieb. Wir vier aßen in Brancusis ganz in Weiß gehaltenem Atelier, wobei wir auf Marmorblöcken um einen weiteren Marmorbrocken herumsaßen, der als Tisch diente. Als es ans Essen ging, holte Brancusi große Bogen von glänzendem weißem Papier hervor und legte sie wie Sets auf den »Tisch«. In meiner Erinnerung ist sogar auch alles, was wir aßen, weiß, doch das war in Wirklichkeit sicher nicht der Fall.
Zu einem Studententreffen in Oxford kehrten wir nach England zurück und fuhren dann nach Salzburg weiter, wo meine Mutter uns Zimmer im Hotel Bristol reserviert und Karten für die Festspiele besorgt hatte. Weil ich mich an die Instruktionen meines Vaters hielt, auf jeden Fall in Westeuropa zu bleiben, trennten sich danach Connies und meine Wege, denn Connie fuhr in die Sowjetunion weiter. Ich war zwar traurig, daß ich sie ohne mich in das große Abenteuer ziehen lassen mußte, aber ich kann mich nicht erinnern, wegen des väterlichen Reiseverbots Groll empfunden zu haben. Ich hatte das Machtwort meines Vaters einfach akzeptiert.