Neunzehntes Kapitel

Reporter, Redakteure, Washington


Für alle, die ihren Ehepartner verloren haben, ist besonders das Jahr danach äußerst schmerzhaft. Das galt auch für mich. Doch nach dem ersten Jahr wird der Kummer erträglicher, und man kann sich besser an die Außenwelt anpassen, die ohnehin ungerührt weitermacht, ganz gleich, was einem widerfahren ist.
Die Schwierigkeiten in meinem Job waren immer noch enorm. Ich wußte nicht recht, wie ich im beruflichen Umfeld mit anderen umgehen sollte, und ich hatte auch keine Ahnung, wie peinlich genau mich alle beobachteten. In der Firma vermittelte indessen alles, was ich sagte oder tat, einschließlich meiner Körpersprache, eine viel deutlichere Botschaft, als mir bewußt war. Weil ich in meinem ganzen Leben bisher fast nur besonders eindrucksvolle Menschen um mich gehabt hatte, neigte ich dazu, die Mehrzahl der ruhigen, bescheidenen, aber fleißigen und tüchtigen Leute in allen Abteilungen als unwichtig abzutun. Ich brauchte eine ganze Zeit, um zu begreifen, daß Leute wichtige Fähigkeiten haben können, ohne daß diese immer gleich offensichtlich wären. Erst ganz allmählich wurde mir klar, daß es vor allem auf die korrekte Ausführung der diversen Aufgaben ankommt.
Manche Mitarbeiter brauchen natürlich auch »Entwicklungshilfe«, und wenn ein großes Unternehmen wirklich funktionieren soll, sind viele unterschiedliche Mitarbeiter nötig. Ich machte Fehler und litt sehr darunter, nicht zuletzt, weil ich glaubte, daß man keine Fehler macht, wenn man nur sorgfältig genug arbeitet. Ich meinte wirklich, daß andere in meiner Position keine Fehler machten. Die Art und Weise, wie ich mit meinen Fehlern umging, unterschied sich bestimmt davon, wie meine männlichen Kollegen mit ihren Fehlern lebten. Sie quälten sich gewiß nicht wie ich; sie lagen nicht nächtelang wach, um in Gedanken alle Fehler des Tages Revue passieren zu lassen, immer wieder auf bestimmte Szenen zurückzukommen und sich zu fragen, wie sie sich darin anders und besser hätten verhalten können. Und doch begann ich allmählich trotz aller Unsicherheiten und Bedenken Spaß an der Sache zu bekommen. Schon in den ersten Monaten meines Arbeitslebens kehrte langsam Farbe in mein Gesicht zurück. Ich biß nicht mehr ständig die Zähne zusammen, und was ich einmal meine »ursprünglich eher pfadfinderhafte Entschlossenheit« genannt habe, verwandelte sich in leidenschaftliches Interesse. Kurz, ich »verliebte mich gewissermaßen«, wie ich einmal in einer Ansprache bei Newsweek sagte. Ich liebte meine Arbeit, ich liebte die Zeitung, ich liebte die ganze Firma. Allmählich begann ich auch hinzuzulernen. Die gute alte Montessorimethode - learning by doing - kam bei mir wieder zu Ehren. Eines der großartigsten Hilfsmittel im Lauf der Jahre waren die Reisen, die ich gemeinsam mit verschiedenen Redakteuren und Reportern von Post und Newsweek unternahm. Diese Reisen - in mehr als dreißig Jahren hat ihre Zahl inzwischen die meiner Lebensjahre fast erreicht - gehörten zu den besten und lohnendsten Gelegenheiten, die sich mir als Chefin eines Medienkonzerns boten. Natürlich war ich schon mit Phil mehrfach in Europa gewesen, meine erste Reise als Zeitungsmacherin aber - und nicht mehr nur als Ehefrau, die von vielen der wichtigsten und interessantesten Ereignisse ausgeschlossen blieb - war etwas höchst Ungewöhnliches. Es handelte sich um eine Rundreise um die Welt mit Oz Elliott und seiner damaligen Frau, und die Sache machte mir großen Spaß.
Der einzige Wermutstropfen war, daß ich Bill und Steve wieder einmal allein lassen mußte - sechs Wochen lang, viel zu lange. Obwohl ich Firmenchefin war, betrachtete man mich manchmal ausschließlich als Frau, und ich kann mich erinnern, wie verärgert ich war, als ich vom Newsweek-Korrespondenten in Hongkong, Bob McCabe, einen Brief mit der Anfrage bekam, ob ich während der Reise denn wirklich an den Herrenrunden beim Lunch und an wichtigen Besprechungen teilnehmen wolle. »Natürlich will ich das«, antwortete ich leicht indigniert. »Seit ich aktiv in die Firma eingetreten bin, merke ich gar nicht mehr, ob ich unter Männern oder unter Frauen bin. Und weil ich diesen Job nun einmal habe, will ich natürlich auch soviel wie möglich lernen.« Auf unserer ersten Station, in Japan, besuchten wir auch Asahi, damals mit einer Auflage von mehreren Millionen die größte Zeitung des Landes. Als nächstes stand ein Besuch bei der großen Werbeagentur Dentsu an, wo ich zu meiner großen Verblüffung mit einem Plakat mit der Aufschrift: »Herzlich willkommen, Mrs. Philip Graham« begrüßt wurde und etwa achtzig Leute, überwiegend junge Frauen, applaudierten, als ich eintrat - eine überraschende Zurschaustellung japanischer Etikette. Wir trafen auch kurz mit Premierminister Sato zusammen, und an den folgenden Tagen begegneten wir Knchi Miyazawa und Yasuhiro Nakasone, die später ebenfalls Premierminister des Landes wurden. Beschämt muß ich eingestehen, daß ich mich bei Nakasone nur noch daran erinnern kann, daß er in die Liste attraktiver Männer aufgenommen wurde, die ich gemeinsam mit Oz Elliotts Frau während unserer Weltreise aufstellte. Am 1. Februar hatten wir eine Audienz beim japanischen Kaiserpaar. Es war die erste überhaupt - wie wir erfuhren - die der Tenno einer Frau gewährte, die nicht als bloßes Anhängsel eines Ehemannes dabei war. Trotz aller zeremoniellen Förmlichkeit hatte dieser Besuch etwas Operettenhaftes an sich. Ehe wir in den Audienzsaal geleitet wurden, instruierte uns ein Zeremonienmeister in Stresemann-House. Wir fragten, ob wir dem Kaiser die Hände schütteln oder uns verbeugen sollten oder was sonst angemessen sei. »Seine Majestät würde Ihnen sicher sehr gern die Hand schütteln«, erwiderte der Hofbeamte in einem Ton, der, wie sich Oz erinnerte, suggerierte, wir sollten den Tenno doch einfach behandeln wie einen »ganz normalen Gott«. Nach dieser Einweisung schritten wir in einen scheußlichen Audienzsaal, der mit schweren Polstermöbeln vollgestopft war, auf deren Plüsch- und Brokatbezüge man Schoner gelegt hatte. Der Kaiser und die Kaiserin erschienen, und wir setzten uns alle steif hin, wobei der Kaiser mit mir in einem Sofa für zwei Personen Platz nahm; Oz saß uns gegenüber, und für uns alle standen Dolmetscher bereit. Während wir, wie geheißen, darauf warteten, daß das Herrscherpaar das Gespräch begann, entstand ein lange Stille. Der Kaiser hatte eine bestimmte Art, seine Hände zu ringen und dabei ein wenig auf und ab zu hüpfen, so daß Oz, der mir gegenüber saß, sehen konnte, wie »Kay jedesmal, wenn er auf seinem Platz nach oben ging, auf ihrem nach unten sackte«.
Der Tenno begann das Gespräch mit einer Frage, die übersetzt lautete: »Ist dies Ihre erste Japanreise, Mrs. Graham?« Ich hörte mich selbst munter drauflosreden: »Ja, für mich und auch für Mrs. Elliott ist es das erste Mal, aber Oz war schon im Krieg hier ... äh, ich meine ... vor vielen Jahren.« Ich konnte fast körperlich spüren, wie Oz versuchte, das Lachen zu unterdrücken. Die Konversation hatte den Charakter einer gestelzten Pflichtübung, sie war absolut langweilig, und auch meine Versuche, das Gespräch in interessantere Bahnen zu lenken, blieben vergebliche Liebesmüh. Vor der Audienz hatten wir uns Sorgen gemacht, ob und wie wir erkennen könnten, daß das Gespräch zu Ende sei, aber nach einer Weile wandte sich der Kaiser abrupt seiner Gemahlin zu, und die beiden erhoben sich wie eine Person. Wir schüttelten uns alle erneut die Hände Oz sagte später, es habe so ausgesehen, als sei der Tenno »das Händeschütteln so wenig gewohnt, daß er seine Hand beim Auf und Nieder nicht aus den Augen ließ, um ja sicher zu sein, daß er sie auch zurückbekam« -, und dann war alles überstanden. Der Zeremonienmeister versicherte uns, das Treffen sei sehr erfolgreich verlaufen. Überall, wo wir in Asien Station machten, war Vietnam das beherrschende Gesprächsthema. Nach einem Aufenthalt in Hongkong flogen wir nach Saigon weiter, um uns jenes Land etwas genauer anzusehen, das im folgenden Jahrzehnt einen so großen Anteil unserer Aufmerksamkeit beanspruchen würde. Wir landeten auf einem Flugplatz, der anscheinend zu ungefähr gleichen Teilen vom zivilen und militärischen Luftverkehr genutzt wurde - ein phantastisches Durcheinander von Krieg und Frieden. Saigon war zu diesem Zeitpunkt vom Vietcong praktisch eingekesselt; nur noch wenige »sichere« Straßen führten in die Stadt und aus ihr hinaus. Der Vietcong drang gelegentlich sogar bis zur Landebahn des Flugplatzes vor, und erst wenige Wochen vor unserer Ankunft war im fünften Stock des Hotels Caravelle, in dem viele amerikanische Presseleute wohnten und wo auch wir logierten, eine Bombe explodiert. Ich tröstete mich damit, daß wir im vierten Stock wohnten.
Dieser Besuch Anfang Februar 1965 fand zu einer Zeit statt, in der die Anzahl der amerikanischen Militärberater zwar ständig stieg, aber noch relativ klein war. Noch waren wir nicht direkt am Krieg beteiligt, aber Newsweek hatte schon zwei oder drei Korrespondenten vor Ort, die Post einen. Nach einem Gespräch mit Armeeoffizieren am Tag nach unserer Ankunft trafen wir General Westmoreland und seine Frau zum Lunch. Während der gesamten Reise nutzte ich meine Briefe an die Daheimgebliebenen, um meine Beobachtungen und Erlebnisse festzuhalten. Ober Westmoreland schrieb ich: »Er ist ein seltsamer, nicht sehr wortgewandter Soldatentyp. Wenn er intelligent ist, dann bestenfalls als Techniker, denn er kann sich zweifellos nicht mitteilen - er ist angespannt, steif und beinahe verängstigt.« Direkt nach dem Lunch flogen Oz und ich, Bob McCabe und Bill Tuohy von Newsweek gemeinsam in einem kleinen Hubschrauber zu einem etwa vierzig Kilometer entfernten Stützpunkt in der Nähe der kambodschanischen Grenze. Er lag auf dem »Black Lady Mountain«, ganz am Rande eines Landstrichs, der vollständig vom Vietcong kontrolliert wurde, und diente den Amerikanern als Station für den Funkverkehr mit den Flugzeugen in dieser Gegend. Als wir den Hubschrauber bestiegen, einen - »Huey« genannten - Bell UHIB, stellte ich zu meiner Bestürzung fest, daß wir auf einer Bank sitzen sollten, die in Längsrichtung in der kleinen Kabine stand. Die Seitentüren des Hubschraubers fehlten, so daß man sich mit den Beinen schon am Kabinenrand und fast im Freien befand. Ich saß direkt hinter dem Piloten und versuchte, mich gelassen zu geben, so als sei dieser Flug für mich etwas ganz Alltägliches. Als wir dann losflogen, mußte ich allerdings meinen Atem anhalten. Noch bestürzter war ich, als ich schließlich mitbekam, daß am hinteren Ende der offenen Seiten jeweils Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag saßen. Wir flogen ziemlich tief, in etwa 750 Meter Höhe, über Reisfelder hinweg. Die einzelnen Häuser, die wir unter uns sahen, gehörten nach Aussagen des uns begleitenden Majors aus der Armeeabteilung für Öffentlichkeitsarbeit Vietcong-Sympathisanten. Die regierungstreue Bevölkerung lebte in mit Stacheldraht und Gräben befestigten, bewaffneten Dörfern. Keinen Augenblick zu früh landeten wir auf einer winzigen Fläche, auf der gerade einmal zwei Helikopter Platz hatten. Die Anhöhe befand sich in der Hand amerikanischer Spezialeinheiten Militärberater, die überwiegend zu den Marines gehörten. Dort oben waren dreizehn Amerikaner und ungefähr hundert südvietnamesische Soldaten stationiert. Der ganze Standort war von Stacheldraht und Maschinengewehrstellungen umgeben. Unser Führer behauptete, hier oben sei man trotz aller Belästigungen recht sicher, und überhaupt sei die ganze Gegend überraschend friedlich. Nur wenige Monate zuvor, Ende November 1964, hatte CBS von hier eine Radiosendung zum Erntedankfest (Thanksgiving) übertragen. Den Soldaten hatte man dabei den traditionellen Truthahn aufgetischt. Es gab dort oben auch einen lebendigen Truthahn, der als Maskottchen diente und das Fest unbeschadet überstanden hatte. Die Vietnamesen hatten ihm ein rotes Halstuch der Spezialeinheiten um den Hals gelegt, und jetzt stolzierte er dort herum, als sei der gesamte Stützpunkt allein sein Revier.
Als wir zum Rückflug bereit waren, erklärte uns einer der dort stationierten Soldaten, daß der Hubschrauber nach dem Abheben von der Bergkuppe zunächst steil nach unten fliegen werde. Für diese Warnung war ich dankbar, denn so konnte ich zwar meine Nerven nicht unbedingt beruhigen, mir aber wenigstens das seltsame Gefühl im Magen erklären, während ich die über ihre MGs gekauerten Schützen beobachtete, bis wir uns in sicherer Höhe über dem Boden befanden. Ich war äußerst interessiert, noch mehr von Südvietnam zu sehen, und unterdrückte deshalb meine Panik während der Hubschrauberflüge. (Normalerweise hatte ich schon vor Aufzügen Angst.) Wir flogen noch zu zwei Dörfern im Mekong-Delta, wo die Befriedung (ganz im Sinne der Regierung) angeblich funktioniert hatte. Ferner besichtigten wir die Hauptstadt der Provinz Kien Hoa, Ben Tre, und das nahe gelegene Dorf Binh Nguyen, wo wir mit einem optimistischen und entschlossenen Provinzgouverneur zusammentrafen, der uns erzählte, wie er die Widerstandskraft dieses Dorfes stärkte. Der Vietcong habe zwanzig Jahre Zeit gehabt, um seine Infrastruktur aufzubauen und Leute zu beeinflussen, erfuhren wir, und doch hatten amerikanische Militärberater und südvietnamesische Militärführung immer noch das Gefühl, mit ihren Bemühungen Fortschritte zu erzielen. Nur ein amerikanischer Oberst gab zu bedenken, daß der Vietcong praktisch allgegenwärtig sei und für eine Unterwanderung jeden Preis bezahlen werde. Ich war mir nicht sicher, wie ich auf all diese Eindrücke reagieren sollte. Natürlich war die Reise von unseren Führern, den für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Offizieren, vorbereitet worden und dadurch sehr festgelegt. Wichtiger war jedoch mein Gefühl, daß ich sehr wenig über die Vorgeschichte und die einzelnen Aspekte des Konfliktes wußte, weshalb ich bei meiner üblichen Verhaltensweise blieb, im wesentlichen zuzuhören und kaum Fragen zu stellen. Ferner neigte ich dazu, bei den großen Themen, mit denen sich die Post kontrovers beschäftigte, Russ Wiggins' Meinung zu übernehmen. Und ich wußte, daß er sich für das Eingreifen der Amerikaner in Vietnam besonders stark machte.
Meine Angewohnheit, den Männern in meinem Leben immer nur zuzuhören, führte dazu, daß ich Vietnam mit ziemlich genau denselben Ansichten wieder verließ, mit denen ich gekommen war: Eigentlich hätten wir Amerikaner dort unten überhaupt nichts verloren, nicht einmal die Anwesenheit kleiner Gruppen sei sinnvoll. Aber da wir nun einmal den ersten Schritt getan hätten und dort seien, gebe es keine andere Wahl, als den Südvietnamesen bei ihrem Kampf gegen die kommunistische Guerilla zu helfen. Russ Wiggins war - wie Chal Roberts später über ihn schrieb - »kein unbedachter Falke; von den Advokaten eines unbegrenzten Krieges fühlte er sich eher abgestoßen«. Das stimmte. Russ war überhaupt niemals unbedacht - er neigte dazu, lange und gründlich über die Positionen nachzudenken, die er einnahm und vertrat. Die Post erwarb sich den Ruf, das amerikanische Eingreifen in diesem Krieg nachhaltig zu unterstützen, und in der Tat: Russ stärkte Lyndon Johnson während dessen ganzer Amtszeit in der Kriegsfrage nach Kräften den Rücken.
Er tat dies aber nicht, weil er ein blinder Gefolgsmann LBJs gewesen wäre, sondern weil er der festen Überzeugung war, die Vereinigten Staaten müßten auf der ganzen Welt ihre Macht dafür einsetzen, legitime Regierungen vor der Bedrohung durch umstürzlerische Kräfte zu beschützen. Gleichwohl beunruhigte ihn vieles in Vietnam. Er war fest davon überzeugt, daß die Ermordung von Präsident Diem im Jahre 1963 - ein Vorhaben, von dem die USA vorher gewußt hatten große Probleme mit sich brachte. Diem war immerhin legales Staatsoberhaupt eines mit den Vereinigten Staaten verbündeten Landes gewesen, und nun standen wir vor aller Welt als »verdorbener, treuloser Verbündeter« da. Tatsächlich suchte Russ ständig nach einer Alternative zum amerikanischen Engagement in Vietnam, die allerdings die internationale Position der US-Regierung nicht untergraben durfte.
Meine eigene Haltung zu Vietnam entsprach der von Russ und wandelte sich im Lauf der Zeit nur ganz allmählich - bis mein Sohn als Soldat dort stationiert wurde (was mir Zugang zu einer persönlichen Innenansicht des Krieges verschaffte) und bis Phil Geyelin die Meinungsseite der Post übernahm und wir beide allmählich die redaktionelle Linie der Zeitung veränderten.
Am 10. Februar 1965 verließen wir Vietnam und flogen nach kurzen Zwischenaufenthalten in Kambodscha und Thailand weiter nach Indien, wo wir einige verwirrende, überwältigende Tage verbrachten. Ein Nachtflug brachte uns anschließend von Neu-Delhi über brennende Ölfelder, welche die Wüste erleuchteten, nach Beirut, das damals noch eine unversehrte, blühende Stadt war. Während unseres Besuches dort debattierten die Libanesen unaufhörlich über den ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abd el-Nasser. Vom Libanon ging es weiter nach Ägypten, wo wir Nasser selbst interviewen konnten. Auf dieses Treffen folgte leider ein häßliches Mißverständnis. Nasser stand im Nahen Osten im Ruf, den Osten geschickt gegen den Westen auszuspielen und so dafür zu sorgen, daß Ägypten vom Kalten Krieg profitieren konnte. Nur eine Woche zuvor hatte Walter Ulbricht Kairo besucht, und wir hatten Nasser in unserem Interview gefragt, ob er von der Sowjetunion gedrängt worden sei, Ulbricht einzuladen. Nasser verneinte, obwohl sicher das Gegenteil zutraf. Unglücklicherweise stand nun in der nächsten Ausgabe von Newsweek, die nur wenige Tage nach unserem Interview erschien, genau das Gegenteil des von Nasser Beteuerten. Der Artikel hatte keinerlei Verbindung mit unserem Interview, und weder ich noch jemand vom Beiruter Newsweekbüro hatten ihn vor der Veröffentlichung, also zum Zeitpunkt unseres Interviews mit Nasser, gesehen. Wir hatten versucht, einige Passagen unseres Interviews vorab nach New York zu übermitteln, doch sie waren nicht rechtzeitig eingetroffen und konnten deshalb nicht mehr berücksichtigt werden. Wenige Tage später wurde das Interview korrekt in der Post abgedruckt, aber inzwischen war Nasser schon total verärgert. Er nannte uns »Lügner, denen nur daran gelegen ist, uns zu diskreditieren«. Da halfen keinerlei Erklärungsversuche. Erst später lernte ich, unabsichtliche Fehler wie diesen und Mißverständnisse größtenteils mit Fassung zu tragen und sie nicht länger persönlich zu nehmen.
Über Rom und London, wo wir uns überwiegend erholten und Partys besuchten, traten wir die Heimreise an. In Rom hatte ich einen flüchtigen Flirt mit einem attraktiven italienischen Journalisten. Später ermutigte mich Pam Berry brieflich zu solchen kleinen Extravaganzen: »Sei ganz Frau und fühle Dich frei, auch mal etwas frivol zu sein. Das wird Dir in jeder Hinsicht bestimmt guttun.« Ich war auf dieser Reise so fleißig wie eh und je, aber das Ganze war überhaupt nicht ermüdend; im Gegenteil, ich gewann daraus Kraft und kehrte mit mehr Begeisterung für meine Arbeit zurück als jemals zuvor. In jenem Sommer unternahm ich noch eine weitere Reise, diesmal nur zum Vergnügen, und dieses Ziel wurde auch erreicht. Truman Capote hatte mir erzählt, er wolle mit Marella Agnelli, der wegen ihrer Schönheit berühmten Frau des Fiat-Bosses Gianni Agnelli, auf Kreuzfahrt gehen. Marella hatte für eine Tour durch die Adria und die griechische Inselwelt eine große Segeljacht gechartert und Truman sowie eine Gruppe ihrer Freunde und Verwandten eingeladen, sie zu begleiten. Diese Leute gehörten, wie ich wußte, zum internationalen Jet-set. Ich war zwar inzwischen schon etwas weltgewandter geworden, aber doch noch nicht so sehr, daß ich mich in solchen Kreisen wohl gefühlt hätte. Diese Bedenken äußerte ich auch Truman gegenüber, doch letztlich nahm ich die Einladung an, wenn auch mit großen Vorbehalten. Diese Reise war ganz anders als alles, was ich je erlebt hatte - und sie spiegelte mein neues Leben wider. Dergleichen hätte ich früher weder mit noch ohne Phil unternommen, und meine puritanischen Neigungen ließen sich selbst jetzt nicht ganz beschwichtigen. Truman und ich beschlossen, über London zu unserem Treffen mit Marella anzureisen, um auf diesem Weg die Bruces und Pam Berry zu besuchen. Zuvor hatte mir Adlai Stevenson vorgeschlagen, ich solle den Sommer doch mit ihm und seiner Schwester in deren Haus in der Schweiz verbringen, und ich war sehr erleichtert gewesen, daß ich ihm mit der Begründung hatte absagen können, ich sei schon von Marella eingeladen. Deshalb war ich bei meiner Ankunft in London ein wenig befangen, als ich erfuhr, daß sich auch Adlai dort aufhielt und ebenfalls bei den Bruces in der US-Botschaft am Grosvenor Place zu Gast war. In jener Woche bevölkerten jedoch so viele Gäste das Haus, daß mein Aufenthalt ganz entspannt und angenehm verlief. Auch Adlais enge Freundin Marietta Tree weilte in London. An unserem dritten Abend, am 13. Juli, hatte jeder von uns etwas anderes vor; Adlai mußte zu Rundfunkaufnahmen zur BBC. Als ich von meinem Dinner nach Hause kam, hörte ich, wie er sich im oberen Arbeitszimmer mit jemandem unterhielt. Weil es schon spät war und ich im Vorbeigehen nicht sehen konnte, mit wem er sprach, schlich ich, weil ich ihn nicht stören wollte, auf Zehenspitzen vorbei in mein Zimmer am Ende des Ganges. Ich las noch ein wenig, als plötzlich meine Tür schwungvoll geöffnet wurde und Adlai hereinstürmte. Er machte mir Vorhaltungen, daß ich mich nicht zu ihm und Eric Sevareid[1] gesellt hätte, mit dem er sich, auf meine Rückkehr wartend, ein Weilchen unterhalten hatte.
Adlai blieb noch mindestens eine Stunde in meinem Zimmer und ließ, als er ging, seinen Schlips und seine Brille dort liegen. Darum schlich ich mich später ganz leise den Gang entlang zu seinem Schlafzimmer und legte beides vor seine Tür. Als ich am nächsten Tag spätnachmittags in die Botschaft zurückkam, öffnete mir der Butler mit betrübter Miene die Tür und fragte sofort: »Haben Sie schon von Gouverneur Stevenson gehört?«

»Nein«, antwortete ich, »was gibt es denn?«
»Er ist tot.«
Ich war am Boden zerstört und konnte es einfach nicht glauben. Er hatte mit Marietta im milden Sonnenschein eines britischen Spätnachmittags einen Spaziergang unternommen, als er plötzlich mit einem tödlichen Herzinfarkt zusammengebrochen war. Während ich noch dastand, gesellte sich Eric Sevareid zu mir, dann auch Marietta, die aus dem Krankenhaus kam, wohin sie den Krankenwagen mit Adlai begleitet hatte. Eric erzählte mir, er habe sich schon Gedanken gemacht, weil Adlai ungewöhnlich müde ausgesehen habe - mehrfach habe er sich während des Gespräches mit Eric am Vorabend zurückgelehnt und seine Augen geschlossen. Von Müdigkeit war später aber nichts mehr zu spüren, dachte ich im stillen und fühlte mich wegen des Schlipses und der Brille, die ich ihm einfach vor die Tür gelegt hatte, ein wenig schuldig.
Adlai hatte mir wie auch vielen anderen gesagt, daß er von seinem Posten als UNO-Botschafter zurücktreten wolle, um sich auszuruhen und dann wieder als Anwalt tätig zu sein, aber ich hatte keine Ahnung, wie erschöpft er gewesen sein muß. In vielerlei Hinsicht war er ein unglücklicher Mensch. Eric Sevareid berichtete einige Tage später in den CBS Abendnachrichten, Adlai habe ihm gesagt: »Ein Weilchen möchte ich jetzt gern mit einem Weinglas in der Hand im Schatten sitzen und den anderen beim Tanzen zusehen.«
Während unseres Londonaufenthalts war auch Marellas Vater gestorben. Deshalb mußte sie noch eine Woche länger als ursprünglich geplant in Italien bleiben. In Abänderung unserer Pläne flog nun Truman mit mir nach Athen voraus, wo wir an Bord gingen und als vorerst einzige Gäste auf Marellas großartiger Jacht, der »Sylvia«, lossegelten. Truman hatte die Druckfahnen seines Tatsachenromans In Cold Blood (Kaltblütig) mit und zwar jene vier Abschnitte, die als erste im New Yorker vorabgedruckt werden sollten. Stundenlang saßen wir in der milden Luft auf dem Hinterdeck des Bootes bei gutem italienischem Wein und diskutierten den Roman in allen Einzelheiten, Abschnitt für Abschnitt - warum er es so gemacht hatte und nicht anders, was die Mörder für Gestalten waren, was Garden City, Kansas, für ein Ort war. Wir sprachen über die Charaktere des Detektivs und des Richters und über Trumans eigenes Leben in Kansas.
Nachdem schließlich auch Marella und die anderen Gäste zu uns gestoßen waren, schlugen wir eine Route ein, die sich an einem Buch der britischen Reiseschriftstellerin Freya Stark orientierte: Lycian Shores (Die Küsten Lykiens). Wir wollten an der Südküste der Türkei entlangsegeln, die damals noch fast den Status eines Entwicklungslandes hatte. Die Jacht war leider für eine so große Gesellschaft nicht eingerichtet, und überdies fehlte eine Klimaanlage, was sich bei der nun einsetzenden extremen Hitze sehr nachteilig bemerkbar machte. Doch Marella selbst blieb locker und großzügig, sie beschwerte sich nicht. So war die gesamte Reise ein sehr erholsames Intermezzo in einem ansonsten turbulenten Jahr.


Zu Beginn meiner aktiven Tätigkeit bei der Post hatte ich angenommen, es würde einfach alles so weitergehen wie bisher. Doch was sich zu meiner eigenen Überraschung ganz allmählich verschlechterte, war die Qualität des redaktionellen Teils der Post. Mir war nicht klar, daß die Zeitung inzwischen nicht mehr hundertprozentig den Erwartungen entsprach. Ich hatte unbedingtes Vertrauen zu den Chefredakteuren, zu Al Friendly, der die Tagesgeschäfte der Redaktion leitete, und Russ Wiggins, der auch für die Kommentarseite zuständig war. Damit war vermeintlich alles in guten Händen.

Einer der ersten, die mich auf den Gedanken brachten, daß bei der Zeitung doch nicht alles Gold sei, was glänzte, war Scotty Reston, der mich bei einem Besuch in Glen Welby fragte: »Willst du nicht der nächsten Generation ein besseres Blatt hinterlassen als das, was du geerbt hast?« Das klingt nicht unbedingt nach einer aufrüttelnden Frage, aber für mich war es eine. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, daß wir vielleicht nicht mehr so große Fortschritte machten wie in der Vergangenheit oder, anders gesagt, daß das, was wir boten, vielleicht für die sechziger Jahre nicht mehr gut genug war.
Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann ich mir schließlich ernsthafte Sorgen um die Qualität der Nachrichtenredaktion machte. Aber es gab verschiedene Warnsignale, und ich hatte auf jeden Fall begonnen, mir über die zukünftige Ausrichtung des Blattes Gedanken zu machen. Die beiden, mit denen ich privat über die Zukunft der Post sprach, waren Walter Lippmann und Scotty Reston. Ich hatte wirklich das Gefühl, daß ich meinen engen persönlichen Freund Scotty als Helfer benötigte, um die Zeitung voranzubringen, und traf mich im Sommer 1964 mehrfach mit ihm, um zu erörtern, ob er nicht zur Post kommen könne. Unter anderem sprachen wir auch darüber, daß Phil die Grenzen eines Zeitungsverlegers ständig überschritten und aktiv Politik betrieben habe. Scotty hielt das für bedenklich, und wir waren uns einig, daß das unter meiner Leitung anders werden sollte. Schließlich bot ich Scotty mit Fritz Beebes Hilfe und nach Rücksprache mit Walter Lippmann und Russ Wiggins einen nur ungenau definierten Job an: Er sollte die Redaktion beraten, ohne dafür seine Kolumne aufgeben zu müssen. Diese Konstruktion war zwar überhaupt nicht praktikabel, aber ich wollte Russ und Al nicht in die Quere kommen, denen ich aus Dankbarkeit verpflichtet blieb.
Zu Recht lehnte Scotty das Angebot freundlich, aber bestimmt ab; er verhielt sich sehr konstruktiv. Wir machten ohne ihn weiter, aber allmählich konnte ich meine Augen nicht mehr vor dem Problem verschließen. Indes, wie sollte ich es benennen? Jedenfalls hatte ich keine dezidierte, klare Meinung über die Qualität unserer Nachrichten. Dagegen konnte ich bei den entscheidenden Leuten eine Menge Unentschlossenheit ausmachen, die zu seltsamen Entscheidungen, besonders im Personalsektor, führte, und ich spürte einen deutlichen Mangel an Energie und Entschlußkraft. Gerüchte wurden mir zugetragen, wonach in der Lokalredaktion Stagnation eingekehrt sei. Unter anderem machte das Bonmot die Runde, nach neun Uhr abends könne man dort eine tote Katze am Schwanz kreisen lassen, ohne irgend jemanden zu treffen.
Schließlich ging es auch um Al selbst. Bob Manning, der für die Regierung arbeitete, machte mir bei einem Treffen den Vorschlag, er könne doch an Als Stelle treten, denn er sei genau der Mann, den die Zeitung jetzt brauche, um neuen Schwung zu gewinnen. Ich lehnte diesen Vorschlag zwar rundheraus ab, aber auch nach dieser Episode blieben Zweifel zurück. 1965 war Al zehn Jahre Chefredakteur, und man ließ sich inzwischen darüber aus, daß er doch zusehends alt werde. Er wirkte oft müde und hörte zunehmend schlechter, was ihm seine Arbeit nicht gerade erleichterte. Er selbst muß sich auch gewisse Sorgen gemacht haben, denn er kam zu dem Entschluß, künftig zwei Monate im Jahr Urlaub zu machen - Jean und er hatten sich ein Haus in der Türkei gekauft und wollten dort mehr Zeit verbringen. Al war mein Freund, doch andererseits ist der Chefredakteur in jeder Zeitung eine Schlüsselfigur. Er ist dafür zuständig, daß die Arbeit reibungslos funktioniert und daß jeden Tag eine Zeitung erscheint. Darum machten mir Als Pläne, sich zwei Monate Urlaub zu gönnen, große Sorgen.
All dies waren klare Warnsignale, aber ich wußte trotzdem nicht genau, was ich tun sollte. Al hatte nicht nur unter schwierigen Bedingungen jahrelang hervorragende Arbeit geleistet, sondern Jean und Al waren auch so enge persönliche Freunde, daß es für mich undenkbar war, Al vor den Kopf zu stoßen. Als ich versuchte, ihm sanft beizubringen, daß die Zeitung etwas mehr kreative Energie vertragen könne, schien er meine Gefühle als unbegründet abzutun, jedenfalls nahm er meine Diagnose offenkundig nicht ernst.
Also kam ich auf die Idee, ihm vorzuschlagen, er solle doch einmal mit anderen, speziell mit Walter Lippmann, sprechen, um herauszufinden, was Kenner der Szene über unsere Zeitung dächten und was er tun könne, um die Post voranzubringen. Er erklärte sich einverstanden, doch Walter war bereits nach Maine in sein Sommerdomizil aufgebrochen, und deshalb wurde aus dem geplanten Treffen vorerst nichts.
In der Zwischenzeit hatte ich gehört, daß Ben Bradlee bei Newsweek bereits zweimal Beförderungen angeboten worden waren, die allerdings einen Umzug nach New York mit sich gebracht hätten, weshalb er ablehnte. Obwohl ich schon mehrfach dienstlich für Newsweek zusammen mit ihm nach New York und zurück gefahren war und ihn bei Sitzungen und Lunches häufiger getroffen hatte, kannte ich Ben damals nicht wirklich gut. Ich brachte ihn immer noch mit Phils schlimmer Zeit in Verbindung, als ich überzeugt gewesen war, daß er auf Phils Seite stand. Andererseits wußte ich, daß er sein Büro in Washington gut im Griff hatte, daß er gute Leute für sich arbeiten ließ und daß er sich allgemeiner Wertschätzung erfreute. Außerdem war mir klar, daß er auch anderswo Chancen gehabt hätte, und ich fürchtete, wir könnten ihn verlieren - besonders an das Fernsehen, denn er sah gut aus und hatte beträchtliches Charisma.
Weil ich seine beruflichen Präferenzen und Ziele herausfinden wollte, lud ich ihn zum Lunch ein. So etwas hatte ich noch nie zuvor getan. Damals war es meinem Gefühl nach immer noch etwas seltsam für eine Frau, einen Mann zum Lunch zu bitten und die Rechnung zu bezahlen. Daher lud ich ihn im Dezember 1964 in den F Street Club ein, wo ich die Rechnung einfach unterschreiben konnte (damals gab es noch keine Kreditkarten) und so um die Szene herumkam, wer denn nun zahlen dürfe. Heute wäre das natürlich überhaupt kein Problem mehr.
Unser Gespräch verlief ziemlich ziellos. Ich fragte ihn, warum er nicht zu Newsweek nach New York gegangen sei, obwohl ich eigentlich wußte, daß er und seine Frau Tony sechs Kinder hatten, die bei ihnen lebten: Tonys vier Kinder aus erster Ehe und zwei gemeinsame Kinder. Bens Sohn aus erster Ehe, Ben junior, war schon aus dem Hause, aber mit sechs Kindern wurde jeder Umzug unweigerlich zum Problem.
 Ben erzählte mir, die Leitung des Newsweek-Büros in Washington mache ihm immer noch Freude und er habe es mit seiner Karriere nicht eilig.
»Aber wo liegen denn Ihre langfristigen Ziele?« wollte ich wissen.
»Nun, wenn Sie schon danach fragen«, antwortete Ben in seiner typischen bildkräftigen Sprache, »ich würde meinen linken Arm opfern, um Chefredakteur der Post werden zu können.«
Ich war verblüfft. Das war weder die Frage gewesen, die er vorausgesehen, noch die Antwort, die ich erwartet hatte. Ja, sie kam mir regelrecht ungelegen. Doch im Kontext meiner Sorgen war dieser Gedanke nicht völlig undenkbar. Ich vertröstete Ben zunächst, der aber seine Chance erkannt und Blut geleckt hatte. Zu meiner Überraschung verfolgte er das Thema hartnäckig weiter.
Ich nutzte die Zeit, um mit Scotty Reston darüber zu sprechen. Scotty kannte Ben nicht persönlich, hielt die Idee aber für praktikabel. Walter Lippmann, der Ben kannte, reagierte positiv: Ben könne für die Zeitung sicher Großes leisten. Diese Aussage ermutigte mich, Fritz zu fragen, der freudig zustimmte, und Oz, der natürlich auch nichts dagegen hatte.
Im Lauf der nächsten Monate traf ich mich mehrfach mit Ben. Er sagte deutlich, daß er nicht bereit sei, seinen geliebten Job bei Newsweek aufzugeben, nur um bei der Post herumzusitzen und zu warten, bis Al in zwei oder drei Jahren in Pension ginge. Er sei jedoch bereit, zur Post zu kommen und ein Jahr abzuwarten. Diese Aussicht behagte mir allerdings überhaupt nicht. Ein Teil von mir dachte: »Warum zum Teufel muß der Kerl denn so drängeln, wenn er den Job bei der Post noch nicht einmal sicher hat?«, ein anderer Teil von mir aber war der Ansicht: »Vielleicht ist es genau das, was wir brauchen und was ich suche.«
Ben drängelte weiter, und ich spielte weiter auf Zeit, bis zum Frühsommer 1965, als ich schließlich auch Russ und Al gegenüber die Idee zur Sprache brachte, Ben als stellvertretenden Chefredakteur von Newsweek zur Post zu holen. Beide reagierten zunächst negativ. Russ meinte, Ben solle als Reporter anfangen und sich wie jeder andere auch nach oben arbeiten. Al wäre aller Voraussicht nach in zwei oder drei Jahren Vorsitzender der American Society of Newspaper Editors geworden und freute sich schon sehr auf dieses Ehrenamt; verständlicherweise hatte er es nicht eilig, seinen Posten bei der Post abzugeben und sich so um die Chance zu bringen, Vorsitzender des Berufsverbands zu werden. Ben sagte Al sogar, daß er ihn innerhalb eines Jahres beerben wolle, worauf Al erwiderte: »Warum haben Sie es denn so eilig, junger Mann?« Ben stieß schließlich doch zur Washington Post, auch wenn die unterschiedlichen Zukunftsplanungen nicht im voraus aufeinander abgestimmt werden konnten.


Am 7. Juli 1965 gaben Al und Russ offiziell bekannt, daß Ben als stellvertretender Chefredakteur in die Redaktion aufgenommen worden sei; sein spezieller Verantwortungsbereich seien die nationalen und internationalen Nachrichten. Er war mit seinen dreiundvierzig Jahren noch jung und hatte das Washingtoner Büro von Newsweek vier Jahre lang geleitet. Gleichzeitig wurde Ben Gilbert, einer der letzten hochkarätigen Veteranen bei der Post, ebenfalls zum stellvertretenden Chefredakteur ernannt. Sein Zuständigkeitsbereich umfaßte die Lokalredaktion, und er fungierte als Chef vom Dienst.
Ben sollte seinen neuen Aufgabenbereich am 1. September übernehmen, doch er verzichtete auf seinen Urlaub und kam schon am 2. August. Am Samstag hörte er bei Newsweek auf, und am folgenden Montag fing er bei der Post an. Ich hatte ihm am 20. Juli geschrieben und berichtet, Al habe mir ein nettes Memo geschrieben, in dem es hieß, Ben habe in einer freien halben Stunde mehr gelernt als andere in Monaten. In der Tat, Ben legte ein enormes Tempo vor.
Damals wie heute hatte Ben Charisma. Er sah auf unkonventionelle Weise gut aus, war witzig, weltgewandt und ein politischer Kopf. All dies kam ihm zugute. Ebenfalls von großer Bedeutung war, daß er stets hart arbeitete. Weil er fest entschlossen war, soviel wie möglich zu lernen, arbeitete er bis in die Nacht und auch am Samstag. Was er schnell herausbekam, war, daß Russ sich als Redakteur letztlich auf die Kommentarseite konzentrierte und daß Al tatsächlich seine Energie verloren hatte. So führte in Ermangelung einer besseren Lösung tatsächlich Ben Gilbert die Geschäfte der Redaktion, indem er, so Ben, »alle Schrauben und Schraubenzieher unter Kontrolle hatte«. Ben erkannte, daß Al von den Grundlagen des Zeitungsmachens nichts verstand - etwa von den verschiedenen Produktionsabteilungen oder den Gewerkschaften - und er hatte das Gefühl, daß dieser Mangel an Grundlagenwissen der Post bereits zum Nachteil gereicht habe. Von Anfang an wußte Ben, daß zu einem guten Redakteur auch das Wissen gehörte, wie alles ineinandergriff.
Ich hoffte, daß sich die Wachablösung gleitend und in aller Stille vollziehen würde, denn ich sah keinen eleganten Ausweg, wie ich Al loswerden könnte. Doch nur wenige Dinge, die mit Ben zu tun hatten, ließen sich in aller Stille erledigen. In jenem Herbst, nachdem Al und Jean von ihrem Türkei-Urlaub zurück waren, nahmen Al und ich unsere Gespräche über die Zukunft der Zeitung wieder auf. Er berichtete, er habe sich, wie von mir vorgeschlagen, mit Walter Lippmann zum Lunch verabredet. Auch Walter rief mich an und fragte: »Wie weit soll ich denn gehen?« Ich sagte, so weit, wie er seiner Meinung nach zu diesem Zeitpunkt vorpreschen könne. Das hänge ganz vom Gesprächsverlauf ab, und er müsse es einfach »erspüren«. Damit meinte ich - und war der Ansicht, auch Walter meine es so - daß er mit Al über die Unzulänglichkeiten bei der Post und über Verbesserungsmöglichkeiten sprechen sollte. Darüber hinaus hatte ich nichts im Sinn. Nach dem Lunchgespräch klingelte das Telefon, und Walter sagte am anderen Ende der Leitung: »Nun, das Gespräch lief so gut, daß ich aufs Ganze gegangen bin.« Weil ich diesen Ausdruck seit meiner High-School-Zeit nicht wieder gehört hatte, fragte ich ängstlich: »Walter, was meinst du denn damit, >aufs Ganze gegangen<?«
»Na, ich habe ihm einfach gesagt, daß dieser ganze Organisationskram die Leute auslaugt und daß irgendwann die Zeit kommt, wo sie daran denken sollten, sich davon zu befreien und wieder mehr zu schreiben.«
Ich war wie vom Schlag getroffen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, daß Walter mit Al so weit gehen wollte. Ben war doch erst seit drei Monaten bei der Zeitung, und ich hatte Al auf keinen Fall so frühzeitig aufs Abstellgleis schieben wollen. Ich glaubte, daß selbst Ben bei aller Drängelei davon ausging, der Übergang werde ein ganzes Jahr dauern, während meine Annahmen sich sogar auf einen noch längeren Zeitraum bezogen. Doch Ben muß ohne mein Wissen seinerseits aufs Tempo gedrückt und mit Al auch direkt über die Situation der Zeitung gesprochen haben.

Trotz allen Veränderungsdrucks konnte ich jedoch unmöglich meinem lieben alten Freund Al gegenübertreten und von ihm einen derart abrupten Rücktritt verlangen. Weil andererseits Walter bereits »aufs Ganze gegangen war« und ich zu diesem Zeitpunkt wirklich wußte, daß es für alle Beteiligten das Beste war, nahm ich den Wechsel aktiv in Angriff. Soviel zum Thema Mut, der mir immer nachgesagt wurde.

Ich hatte nach dem Telefonat mit Walter kaum den Hörer aufgelegt, als Al bedrückt und blaß in mein Büro kam und sagte: »Das ist es also, was du willst?« Nun gab es kein Zurück mehr. Die gröbste Arbeit hatten mir andere schon abgenommen, und so sagte ich einfach: »Ja, ich fürchte, daß es so ist.« Darauf erwiderte Al, völlig zu Recht, mit trauriger Stimme: »Das hätte ich dann lieber von dir selbst gehört.« Ich weiß nicht mehr, ob ich anschließend versuchte, ihm die Sache zu erläutern. Wohl aber kann ich mich an die schmerzliche Bedrückung erinnern, die uns beide erfaßte.
Selbst Ben war überrascht, wie schnell alles letztlich doch ging. Am 15. November wurde bekanntgegeben, daß er Als Nachfolge als Chefredakteur der Post antreten werde. In der Meldung hieß es sinngemäß, Al habe darum gebeten, »von seinen administrativen Pflichten entbunden zu werden, um sich wieder mehr seinem früheren Aufgabenbereich als Reporter und Kommentator für nationale und internationale Angelegenheiten widmen zu können«. Er war jetzt nur noch assoziiertes Mitglied der Redaktion, blieb aber Vizepräsident der Washington Post Company und behielt seinen Sitz im Aufsichtsrat.
Die Belastung für Al und Jean war ungeheuer, aber beide taten ihr Bestes, um die Lage mit Anstand zu bewältigen. Sie kamen sogar für ein Wochenende nach Glen Welby. Wie durch ein Wunder konnte Al seine alte Karriere als Reporter der Spitzenklasse wieder aufnehmen und festen Boden unter die Füße bekommen. Zum Glück besaß er ein großes Aktienpaket der Zeitung und war auch sonst wohlhabend, so daß er sich eine Wohnung in London kaufen konnte, ohne das Haus in der Türkei und das große Haus in Georgetown aufgeben zu müssen. Und was am wichtigsten war: Als ihm die Situation in Washington zu unbequem wurde, ging er schließlich ins Ausland, um zu schreiben und zu berichten. Dabei entstanden einige seiner besten journalistischen Arbeiten, und für seine Reportagen über den Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn wurde er mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Auch unsere Freundschaft blieb letztlich bestehen - dank der menschlichen Größe von Al und Jean, die mir mit Recht ein Leben lang hätten böse sein können, dafür aber viel zu großmütig waren. Später schrieb mir Al, er empfinde hinsichtlich des erzwungenen Wechsels nur noch in zwei Punkten Bedauern: »Zum einen, daß ich nicht soviel Grips hatte, die Sache selbst in Gang zu bringen, und zum andern, daß ich mich danach zunächst so schwergetan habe, zu mir selbst zu finden.« Für einen Mann, der im Grunde entlassen worden war, zeigt diese Haltung ein außerordentliches Maß an Charakterstärke.

Am 2. November, kurz bevor offiziell verkündet wurde, daß Ben an Als Stelle treten werde, hatte mir Al - Ironie des Schicksals! - ein Memo mit der Überschrift »Wie soll es mit der Washington Post weitergehen?« geschickt. Es begann mit den Worten: »Durch Glück und gutes Management sind alle Voraussetzungen gegeben, um die Post zur besten Zeitung der Welt zu machen.« Und am Ende des siebenseitigen Memos stand eine Art »Schlußwort«: »Um von unserer heutigen Position auf den ersten Platz vorzustoßen, sind einige sehr schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Die schwierigsten, die mit den Absichten und Zielen sowie mit Ausgabe- und Investitionsbereitschaft zu tun haben, mußt Du natürlich selbst treffen. Und diese Entscheidungen werden weder leicht noch gelassen, noch über Nacht zu erreichen sein.«

Wie recht Al doch hatte - in allen Punkten!