Das Leben neu in die Hand nehmen
Als Hinterbliebene muss man - unabhängig von Alter und Umständen - sein Leben selbst und neu in die Hand nehmen. Als ich im September 1963 von der Kreuzfahrt im Schwarzen Meer und in der Ägäis zurückkehrte, um mein Leben neu zu ordnen, litt ich sehr unter der schmerzlichen Einsamkeit. Gelindert wurde sie lediglich durch Arbeit und die Notwendigkeit, mich um die Kinder, meine Mutter und die Firma zu kümmern. Die Reise war eine schöne Unterbrechung gewesen sie hatte mich jedenfalls in eine ganz andere Welt entführt -, doch ich hatte sie durchaus mit gemischten Gefühlen erlebt. Mein innerer Aufruhr dauerte an. Ständig ging mir etwas durch den Kopf: die Zuspitzung nach all den Jahren des geheimen Ringens mit Phils Krankheit, der Schock des Selbstmords, der Verlust und die ständige Frage nach dem Warum und wie es nun weitergehen solle. Über meine innersten Gedanken sprach ich während der Reise mit keinem und behielt meine seelischen Qualen für mich. Immer wieder tauchte der schreckliche Moment, in dem das Gewehr losging, vor meinem geistigen Auge auf. Stets sah ich mich dann aufspringen, die Treppe hinunterrennen und suchen, bis ich ihn gefunden hatte. Immer und immer wieder spielte sich diese Szene in meinem Kopf ab bis ich schließlich glaubte, ich sei drauf und dran, verrückt zu werden. Doch auf anderer Ebene ging das Leben weiter. Die Reise brachte Abwechslung, und für meine Mutter erfüllte sie zweifellos ihren Zweck. Für Bill und Steve indes war meine Abwesenheit sicher weniger schön. Für mich bildete sie die erste von vielen derartigen Rundreisen, auf denen das Besichtigen, Beobachten und Lernen fast zur Sucht wurden. Ein Augenblick gegen Ende dieses Intermezzos ist mir noch lebhaft in Erinnerung: Als ich mich nach einem Zwischenstopp auf der Heimreise bei den Bohlens, unseren lieben Freunden, auf der Insel Spetses verabschiedete, sagte Chip Bohlen zu mir: »Du willst doch nicht etwa arbeiten gehen? Das darfst du nicht - du bist noch jung und attraktiv und wirst wieder einen Mann finden.« Ich entgegnete nachdrücklich, daß ich genau das tun würde: arbeiten. Chips Aussage war natürlich als Kompliment gemeint, denn damals galt es als höchstes Ziel im Leben einer Frau, verheiratet zu sein. Doch ich dachte überhaupt nicht daran, wieder zu heiraten, und sah auch keinen Widerspruch zwischen Berufstätigkeit und Privatleben. Wahrscheinlich war mir damals gar nicht richtig klar, daß ich im Begriff stand, mich für ein nonnenhaft asketisches Leben zu entscheiden.
Am 9. September, dem Tag nach meiner Rückkehr aus Italien, ging ich in der Tat zur Arbeit. Offiziell wurde ich am 20. September 1963 in einer Aufsichtsratssitzung zur Präsidentin der Washington Post Company gewählt. Man hat mich oft gefragt, woher ich den Mut genommen hätte, die Firma zu übernehmen, und ich habe immer wieder geantwortet, daß ich mich nie als jemanden gesehen hätte, der etwas »übernimmt« oder wirklich Firmenchef wird, weil ich überhaupt keine Vorstellung von der Rolle hatte, die ich schließlich ausfüllen sollte. Während mir klar war, wie wichtig der Besitz der Mehrheitsanteile war - dafür zu kämpfen war ich schließlich fest entschlossen gewesen - sah ich mich jetzt eigentlich nur in der Rolle einer stillen Teilhaberin. Ich wollte als Unbeteiligte zuschauen und versuchen, mir auf diese Weise ein Bild davon zu machen, wie die Firma wirklich funktionierte, die ich auf so tragische Weise geerbt hatte. Ich sah mich in erster Linie als i Brücke zur nächsten Generation, als Platzhalterin für meine Kinder. Bis diese so weit waren, die Firma übernehmen zu können, sah ich meine Aufgabe darin, die starken Männer zu unterstützen, die an den Schalthebeln saßen: vor allem Fritz Beebe mit seiner Gesamtverantwortung für die Washington Post Company, Oz Elliott bei Newsweek, John Sweeterman, Russ Wiggins und Al Friendly bei der Post und John Hayes im Fernsehbereich. Sie waren die Chefs, sie führten die Geschäfte. Ich wollte vor allem lernen, um für bedeutsame Entscheidungen gewappnet zu sein, die auf mich als Mehrheitseignerin eventuell zukamen. Naiv nahm ich an, die Geschäfte würden einfach wie bisher weiterlaufen, während ich nur zuhörte und lernte. Mir fehlte das Verständnis dafür, daß die Dinge nicht einfach stillstehen daß jeden Tag größere und kleinere Probleme auf einen zukommen, denen man sich nicht entziehen kann. Ich erfaßte die ungeheure Tragweite der vor mir liegenden Aufgabe überhaupt nicht. Und mir war ebenfalls nicht klar, wieviel Freude mir diese Aufgabe letztlich doch bringen sollte. Obwohl ich durch meinen Vater und Phil indirekt schon vieles wußte und die wichtigsten Männer bei der Post alle schon lange persönlich kannte, fühlte ich mich ohne Phil schrecklich verlassen. Ich vermißte seine Führung. Trotz aller Schwierigkeiten in den letzten Jahren hatte ich mich immer an ihn anlehnen können. Er war meine Stütze gewesen. Ich hatte von ihm zwar schon sehr viel gelernt, aber wenn es darum ging, eigene Entscheidungen zu treffen, fühlte ich mich unsicher. Was ich mittlerweile an Stärke besaß, verdankte ich den schrecklichen letzten Jahren vor Phils Tod, als ich daheim die ganze Last zu tragen hatte. Selbst in dieser Zeit war mir jedoch nie der Gedanke gekommen, daß Phil endgültig nicht mehr da sein könnte. Während ich mir Phil noch herbeisehnte, waren es - Ironie des Schicksals! - gerade seine Einzigartigkeit und seine besondere Art, die Geschäfte zu führen, die meine Aufgabe zusätzlich erschwerten. Er hatte alles so gut und, wie die anderen glaubten, mit einer derartigen Leichtigkeit geschafft, daß ich mir daneben noch viel kleiner und unwichtiger vorkam. Schließlich hatte nicht nur ich Phil zum Mythos gemacht, sondern auch andere neigten zur Heldenverehrung, und das trug zu meiner Verunsicherung bei. Ausgerechnet bei mir wollten sich alle ausweinen, weil sie Phil verloren hatten. Im Lauf der Zeit aber konnte ich die Dinge zurechtrücken und stellte fest, daß das Bild, welches ich von Phil hatte, mit der Realität nicht übereinstimmte. Er war gar nicht so perfekt gewesen, wie ich dachte. Er war ein brillanter Kopf und hatte Erstaunliches vollbracht, aber mit seiner bewundernswerten Leistung waren natürlich auch Probleme verbunden. Meine Arbeit wurde nicht zuletzt dadurch unendlich erschwert, daß ich mich nicht mit dem realen Phil Graham verglich, sondern mit meinem übersteigerten Bild seiner Fähigkeiten und Leistungen. Gleichwohl blieb die Tatsache bestehen, daß ich nicht soviel Energie hatte wie Phil, daß meine Interessen nicht annähernd so breit, mein Wissen nicht annähernd so fundiert und meine Vorbereitung für diese Aufgabe nicht annähernd so gut waren wie bei Phil. Bereitwillig gab ich zu, daß ich mich der Anforderung, die Post so zu führen wie er, absolut nicht gewachsen fühlte. Aber ich mußte erst noch dahinterkommen, daß ich diese Aufgabe nur so bewältigen konnte, wie es meiner Person und meinen Fähigkeiten entsprach. Ich durfte nicht versuchen, jemand anders zu sein, und schon gar nicht Phil. Was ich im wesentlichen tat, war, daß ich langsam einen Fuß vor den anderen setzte, meine Augen schloß und vom Rand in den Abgrund sprang. Zu meiner Überraschung landete ich auf beiden Beinen - vor allem, weil Fritz Beebe und all die anderen hochkarätigen Männer, die schon mit Phil so gut zusammengearbeitet hatten, auch mir zur Seite standen und weil ich außerdem Glück hatte. Für mich und die Firma war Fritz so etwas wie ein Rettungsring. Er war selbst noch relativ neu im Mediengeschäft und erst vor zweieinhalb Jahren zur Washington Post Company gekommen. Dort war er überwiegend damit beschäftigt gewesen, den Laden zusammenzuhalten und möglichst alles, was Phil während seiner Krankheit an Schäden verursachte oder plante, zu lindern oder zu verhindern. Auch hatte er sich in den letzten Monaten sehr darum bemüht, zwischen Phil und mir einen neutralen Kurs zu steuern. Nach Phils Tod mußte Fritz nun den Scherbenhaufen zusammenkehren und sich mit den juristischen Komplikationen auseinandersetzen, die Phils Handlungen nach sich gezogen hatten. Mir gegenüber war er in jeder Hinsicht generös; er gab mir das Gefühl, erwünscht und respektiert zu sein, und das sorgte für ein entspanntes Verhältnis. Weil er ein verständnisvoller - und verständigungsbereiter - Mensch war, kamen wir gut miteinander aus. In der Zeit zwischen Phils Tod und meinem Aufbruch nach Europa hatte ich mit Fritz unter anderem besprochen, welche Rollen wir in Zukunft spielen wollten und wer weichen Titel tragen sollte. Sein Vorschlag hatte gelautet, er wolle Chairman (Vorstandsvorsitzender) bleiben und ich solle als Präsidentin an Phils Stelle treten. Die Titel waren mir vollkommen egal, aber ich ahnte, daß man daraus ableiten könnte, er sei der Boß und ich die Nummer zwei. In diesem Punkt indes wünschte ich Klarheit und schlug, ganz gleich wie die Titel lauteten, eine echte Partnerschaft vor, so wie Fritz und Phil Partner gewesen waren. Nicht zu Unrecht fragte Fritz, wie das denn meiner Meinung nach funktionieren solle. »Das weiß ich selbst noch nicht genau«, lautete meine Antwort, »so wie ich auch am Anfang einer Ehe noch nicht sagen kann, wie sie funktionieren wird-, aber vielleicht kann das Ganze ja eine Art Geschäftsehe werden.« Woher ich damals angesichts fehlender Befähigungsnachweise den Mut nahm, eine solche Gleichberechtigung vorzuschlagen, weiß ich nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, warum sich Fritz auf meinen Vorschlag einließ. Die meisten Wirtschaftsbosse seiner Statur hätten einen solchen Vorschlag als hanebüchen abgetan, auch wenn ich Eigentümerin der Firma war. Vielleicht verstand Fritz ja intuitiv (vielleicht habe ich's ihm auch erklärt), daß ich in den letzten Monaten ständig mit der Furcht gelebt hatte, die Post zu verlieren. Darum war es dann auch nicht schwer zu verstehen, daß ich sie jetzt nicht auf Raten verlieren wollte. Wie dem auch sei, ich glaube, die Partnerschaft mit Fritz hätte auch unter anderem Namen genauso - und genauso gut - funktioniert. Dazu, daß ich in meiner neuen Rolle überhaupt eine Chance hatte, trug auch eine gehörige Portion Glück bei. Die Firma war noch relativ klein und ein Familienunternehmen - das half mir während der ersten Monate meiner Tätigkeit. Der Grundstein für die Stabilität der Post war bereits ein Jahrzehnt früher mit dem Erwerb der Washington Times-Herald gelegt worden. Umsatz und Gewinn bei Post, Newsweek und den Fernsehsendern wuchsen rapide. Das Management in allen Geschäftszweigen war stabil. (Im Rückblick lassen sich all diese Punkte natürlich wesentlich klarer erkennen, als sie mir damals erschienen.) Redaktionell waren wir durch Post und Newsweek in der Nachrichtenlandschaft sehr präsent. Beide Blätter konnten auf unterschiedliche, treue Leserschaften zählen, zu denen nicht zuletzt der Präsident und die Regierung gehörten. Wir verfügten über eine solide Grundlage, auf der sich aufbauen ließ. Das finanzielle Fundament war solide. Wäre dagegen die Firma größer gewesen, wären die Aktien bereits an der Börse gehandelt worden oder wären Finanzen und Management weniger stabil gewesen, dann hätte ich mir den Luxus überhaupt nicht leisten können, als Chefin noch zu lernen. Persönlich hatte ich das Glück, daß es sich bei der Aufgabe, der ich gerecht werden wollte und mußte, um eine anspruchsvolle und schwierige, aber auch interessante und erfüllende Tätigkeit handelte. Wirtschaftlich war ich unabhängig und trotz meiner Einsamkeit niemals wirklich allein. Wir waren eine Familieneinheit: Bill und Steve lebten noch daheim, Lally und Don waren auf dem College, meine Mutter wohnte ganz in der Nähe, und auch mein Bruder und meine beiden noch lebenden Schwestern halfen nach Kräften - ganz zu schweigen von dem festen Kern enger Freunde. Schließlich soll auch ein letzter Vorteil nicht verschwiegen werden, von dem ich damals zehrte: meine leidenschaftliche Hingabe an die Company und die Post. Die Zeitung selbst lag mir ebenso am Herzen wie der Wunsch, sie in der Familie zu halten, und so hatte ich trotz meines Mangels an Erfahrung und trotz aller Unsicherheit das Gefühl, ich müsse zu einer für mich praktikablen Lösung kommen. Und ich stürzte mich in die Arbeit. Zunächst wußte ich nicht recht, was man von mir erwartete, und machte mich deshalb daran zu lernen, wie die Post, Newsweek, unsere Fernsehsender und die Verlagsgesellschaft funktionierten. In den ersten Wochen hatte ich das Gefühl, im Nebel herumzustochern bei meinem Versuch, Elementarstes zu erfassen: Wer was wann, warum, wo und wie tat. Es läßt sich kaum beschreiben, wie unglaublich unwissend ich war. Ich hatte keine Ahnung, worauf es in der geschäftlichen und journalistischen Sphäre, in der ich mich nun bewegte, wesentlich ankam, noch kannte ich die jeweiligen Arbeitsabläufe. Trotz der besonderen Kenntnisse und Erfahrungen meines Vaters gerade auf diesem Gebiet wußte ich fast nichts über die wirtschaftlichen Dimensionen der Zeitung und gar nichts über Buchhaltung und Rechnungswesen. Eine Bilanz konnte ich weder lesen noch verstehen. Ich erinnere mich noch genau, wie verwirrt und unfähig ich anfangs in finanziellen Fragen war; entsprechenden Diskussionen konnte ich überhaupt nicht folgen. Wenn jemand Begriffe wie »Liquidität« erwähnte, bekam ich große Augen. Außerdem fehlte mir auch in grundlegenden Gepflogenheiten der Arbeitswelt jegliche praktische Erfahrung - etwa, wie man mit Leuten eine gute Zusammenarbeit etabliert, wie man unangenehme Wahrheiten sagt, die der andere vielleicht gar nicht hören will, wie man Lob und Kritik angemessen zum Ausdruck bringt oder wie man seine Zeit so effizient wie möglich einsetzt. Dinge, die andere automatisch am Arbeitsplatz oder im Studium lernen, wußte ich nicht: etwa, daß es Personalberater und »Kopfjäger« gibt, deren Hilfe man in Anspruch nehmen kann, wenn man Manager außerhalb des Hauses rekrutieren muß. Oder daß es genau definierte Belohnungs- und Anreizsysteme gibt, die anscheinend jeder außer mir kannte. Oder daß ein hierarchisches System seine Etikette hat: daß man die zuständigen Manager nicht übergeht, sondern versucht, die Probleme mit ihrer Hilfe zu lösen, weil man andernfalls riskiert, daß ihre Autorität untergraben wird. Ich aber stolperte im Post-Gebäude herum, redete einfach mit allen Leuten und merkte nicht, daß man Fragen und Probleme nicht immer mit dem erstbesten erörtern sollte, der einem über den Weg läuft (oft ist es gerade ein Vertrauensmann der Gewerkschaft). Auch fehlte mir ein Gespür dafür, daß die Leute versuchen könnten, mich für ihre eigenen Zwecke einzuspannen. Es gab wirklich niemanden, der mich an die Hand genommen und mir all das beigebracht hätte, was ich lernen mußte, und der mir vor allem hätte zeigen können, wie man das alles lernt. Ich verfiel in eine etwas einfältige Routine und versuchte, mich mit den Themen auseinanderzusetzen, wie sie kamen.
Natürlich wandte ich mich mit der Bitte um Rat auch an andere. Zwei von denen, die mir mit spezifischen Ratschlägen besonders helfen konnten, waren Clare Boothe Luce und Walter Lippmann. Clare gab mir eine interessante und nützliche Anleitung, wie ich mich bei der Arbeit verhalten sollte. Einige der Ratschläge waren zwar ganz speziell auf sie selbst zugeschnitten, andere auch etwas veraltet, aber ich nahm mir zu Herzen, was Clare sagte besonders, soweit es um die Situation ging, sich als Frau unter Männern behaupten zu müssen. Unter anderem warnte sie mich, ich solle mich nicht verpflichten, eine bestimmte Zahl an Wochenstunden im Büro zu verbringen, und sie riet mir, einen männlichen Sekretär zu beschäftigen - was ich auch tat, denn ich behielt Charlie Paradise, der Phil in gleicher Funktion schon so viele Jahre gute Dienste geleistet hatte. Ferner riet mir Clare, ich solle immer einen genauen Überblick über meine Korrespondenz behalten. Wenn ich Briefe an andere zur Beantwortung weitergeleitet hätte, solle ich den Vorgang immer zu mir zurückkommen lassen; dann könne ich sehen, wie die Sache abgewickelt worden sei, und daraus lernen. Walter Lippmann hatte ich meine Sorgen über die riesigen Papierberge mitgeteilt, die meiner Lektüre harrten; ich wisse gar nicht, wie ich damit klarkommen und was ich lesen solle. Er meinte zwar, daß ich mir zuviel unnötige Sorgen machte, schrieb mir aber:
Für den Augenblick würde mein Rat lauten: Widme der Zeitungslektüre nicht mehr als eine Stunde, ehe Du ins Büro gehst, und konzentriere Dich dabei auf die Post. In der (New York Times solltest Du nur nach Schlagzeilen von Storys suchen, die vielleicht nicht in der Post stehen. Und dann solltest Du, anstatt Dich mit all den fremden Gegenständen abzumühen, über die da berichtet wird, lieber aufschreiben, welche Storys in der Post oder Times Dich so sehr interessieren, daß Du mehr darüber erfahren möchtest. Dann gewöhne Dir an, die für die betreffenden Storys zuständigen Reporter kommen zu lassen und sie um weitere Erklärungen zu bitten. So schlägst Du zwei Fliegen mit einer Klappe: Du erhältst relativ schmerzlos weitere Informationen und lernst die Leute, die die Zeitung wirklich schreiben, wahrscheinlich besser kennen, als es Dir auf irgendeine andere Weise möglich wäre.
Ich wußte, daß ich den meisten, die sich beruflich mit dem Tagesgeschehen befaßten, hinsichtlich meiner allgemeinen Vertrautheit mit aktuellen Themen, aber auch hinsichtlich meiner speziellen Faktenkenntnisse weit unterlegen war. Außerdem bin ich von Natur aus eine langsame Leserin - ein weiterer Anlaß zur Sorge bei meinem Bemühen, die Dinge zu bewältigen. Walters Vorschlag zur Abhilfe war gut und schön, aber die Umsetzung hätte von mir viel mehr Selbstvertrauen erfordert, als ich besaß. Reporter einfach zu mir zu zitieren hätte die selbstsichere Gewißheit vorausgesetzt, daß es mein gutes Recht sei, so mit ihnen zu verfahren - nur, um mich selbst auf Vordermann zu bringen. Oveta Hobby, die Verlegerin der Houston Post, die diesen Job ebenfalls nach dem Tod ihres Mannes geerbt hatte, besuchte mich recht bald nach meinem Arbeitsantritt in den Räumen von Newsweek. Sie war eine persönliche Freundin von Phil und mir, zuvor auch schon meiner Eltern. Als wir uns in aller Ruhe über die Pflichten einer Zeitungsverlegerin unterhielten, nannte sie auch Ansprachen und Vorträge. Ich sagte, das Reden sei absolut nicht mein Fall und ich würde keine Reden halten, weil ich das einfach nicht könne. Daraufhin antwortete sie genauso kategorisch, ich hätte gar keine andere Wahl: Ich müsse einfach lernen, mich derartigen Aufgaben zu stellen. Auch sie selbst habe anfangs vieles nicht gewußt und gekonnt, es dann aber erlernt. Mit einigem Schrecken merkte ich, daß sie recht hatte: Redeauftritte gehörten in der Tat zu meiner Zukunft. Weil ich das Gefühl hatte, einige Dinge weiterführen zu müssen, die Phil angefangen hatte, schuf ich mir einen unnötig rigorosen Zeitplan, indem ich zwei Tage pro Woche nach New York zu Newsweek fuhr. Das war gut gemeint: Ich wollte soviel wie möglich über das Blatt lernen, und die Leute dort sollten das Gefühl haben, daß sie und ihre Arbeit mir wichtig seien. Heute bin ich allerdings nicht mehr sicher, ob das eine gute Verwendung meiner Zeit und Energie war, zumal ich dadurch Bill und Steve viel zu oft allein lassen mußte.
Bei Newsweek war ich letztlich eine Außenseiterin, weil die dortigen Mitarbeiter sich selbst eher als autonome Einheit innerhalb der Washington Post Company sahen. Mit Washington wollten sie eigentlich nichts zu tun haben. Nur Fritz Beebe war den leitenden Mitarbeitern genehm, ansonsten wünschte man ausschließlich die wirtschaftliche Rückendeckung der Washington Post Company, nicht jedoch deren Weisung und Rat. Auf dem Weg nach Europa, direkt nach Phils Tod, hatte ich zwei Männern bei Newsweek geschrieben, die ich als potentielle Feinde ansah - Ben Bradlee und Arnaud de Borchgrave. Ich hielt sie für Phils Parteigänger und Freunde. Beide hatten sich aus jeweils eigenen, ganz unterschiedlichen Gründen klar und entschieden zu Phil bekannt. Ben hatte das Gefühl, Phil wegen des Kaufs von Newsweek Loyalität zu schulden, aber ich glaube, er kannte - wie die meisten bei Newsweek - die Washington Post Company nicht und empfand nur gegenüber Phil persönlich Loyalität. Als die beiden Männer sahen, daß es in Washington zu Zerfallserscheinungen kam, hatten sie versucht, sich strikt professionell zu verhalten und zwischen Phil und mir zu trennen; natürlich standen sie auf seiner Seite. Arnaud war ein Freund von Robin aus dem Pariser Newsweek-Büro; diese Tatsache trug dazu bei, daß ich vor ihm noch mehr auf der Hut war. Für Newsweek spielte er im Ausland eine große und nützliche, wenngleich nicht ganz eindeutige Rolle. Arnaud war ein Draufgänger und Charmeur, wie er im Buche steht, und kannte viele Monarchen, Herrscher und politische Führer. Und er war ein guter Reporter. Kurz, er war gut für das Magazin (und lebte auch gar nicht schlecht davon).
Beiden schrieb ich, wir sollten die Vergangenheit auf sich beruhen lassen und alle gemeinsam nach vorn blicken. Ben kann sich zwar nicht erinnern, einen solchen Brief von mir erhalten zu haben, aber ich bin ganz sicher, daß ich beiden Männern schrieb. Schon damals war mir nämlich klar, daß man Persönliches und Berufliches trennen sollte. Später gehörte mein Verhältnis zu Ben dann zu den persönlich wie beruflich wertvollsten und produktivsten in meinem ganzen Leben. Das Verhältnis zu Arnaud hingegen blieb immer recht distanziert. Er hatte anscheinend das Gefühl, ich wolle ihn »erledigen«. Dafür hätte ich allerdings reichlich lange gebraucht, denn Arnaud arbeitete noch weitere siebzehn Jahre für Newsweek, ehe er 1980 wegen inhaltlicher Differenzen von der Redaktionsleitung gefeuert wurde. Sogar als Lester Bernstein, der damalige Herausgeber des Nachrichtenmagazins, mir mitteilte, die Redaktion habe einstimmig beschlossen, sich von Arnaud zu trennen, fragte ich noch, ob man sich das auch gut überlegt habe; schließlich habe Arnaud eine Menge Talente. Doch Lester erwiderte: »Ich bin gekommen, um Ihnen die Entscheidung mitzuteilen, und nicht, um Sie zu konsultieren.« Trotz meiner Probleme mit Newsweek hatte ich allerdings nichts Besseres zu tun, als pflichtschuldigst jeden Dienstagmorgen nach New York aufzubrechen, die Nacht dort zu verbringen, mich mittwochs in der Newsweek-Redaktion aufzuhalten und am späten Nachmittag nach Washington zurückzufahren. Dadurch konnte ich an Redaktionskonferenzen und an den Treffen teilnehmen, in denen über die Titelgeschichte der Woche entschieden wurde. Darüber hinaus bemühte ich mich nach Kräften herauszubekommen, wie das Magazin funktionierte. Ansonsten war ich in New York aber oft recht deprimiert. Ständig litt ich unter kleineren (oft nur vermeintlichen) Herabsetzungen meiner Person oder seltsamen Begegnungen. Zwischen berechtigten und sinnlosen Sorgen konnte ich damals einfach nicht unterscheiden.
Verständlicherweise fühlte ich mich bei der Post viel wohler. Hier, in meiner Heimatstadt, hatte ich nicht nur ein »Heimspiel«, sondern bei der Post kannten mich die Leute, und ich sie, besonders meine lieben Freunde Russ Wiggins und Al Friendly. Zweifellos war ich bei der Post auch deshalb entspannter als bei Newsweek, weil ich meine früheren, begrenzten Berufserfahrungen bei Tageszeitungen gemacht hatte, und nicht zuletzt hatte die Post schon seit drei Jahrzehnten gleichsam mit zur Familie gehört. Doch selbst bei der Post ging für mich nicht alles glatt. Der Start meines Arbeitslebens war insgesamt ein mühsamer Prozeß; ich drückte mich am Rande herum und versuchte, mitzubekommen, wie die redaktionellen und die wirtschaftlich orientierten Abteilungen der Zeitung liefen und wie alles ineinandergriff. Das war ein schwieriger und einsamer Prozeß. In einem fort machte ich unnötige Fehler und wollte vor Scham im Boden versinken. Aber es ging nicht anders, ich mußte mir meinen Weg ertasten. Ganz allmählich konnte ich etwas Ordnung in das Chaos bringen und begann, mich an den Arbeitsalltag zu gewöhnen: an die Gegenwart von Sekretärinnen und Sekretären, an die Beantwortung meiner Post, an den ständigen Zwang, mich mit Leuten zu arrangieren und von ihnen zu lernen. Manchmal ging es ja auch nur darum, mich an sie zu gewöhnen, während sie sich ihrerseits an mich gewöhnen mußten. Manche Leute waren bei der Arbeit in meiner Gegenwart befangen und wollten mich auf Distanz halten, während andere darauf bedacht waren, ihre Domäne zu verteidigen. Einige freuten sich über meine Gegenwart, andere sahen in mir nur einen ignoranten Eindringling, mit dem sie trotzdem geduldig und höflich umgehen mußten. Die meisten Mitarbeiter indes gingen in aller Ruhe ihrer Arbeit nach und beachteten mich überhaupt nicht. Wenn einzelne auf mein Erscheinen feindselig reagierten, nahm ich das persönlich. Aber einige Manager wußten einfach auch nicht, wie sie sich einer Frau in ihrer Mitte gegenüber verhalten sollten - zumal einer Frau, der die ganze Firma gehörte. Sexismus und alles, was damit zusammenhängt, verstand ich nicht, und das galt auch für viele der Männer, mit denen ich zusammenarbeitete. Ich litt unter einem Gefühl tiefer Verunsicherung, einer Art Minderwertigkeitskomplex. Ich wollte allen gefallen, beliebt sein. Doch was die Menschen wirklich brauchen, ist rationale, logische Führung. Und damit konnte ich nicht dienen: Wenn ich etwas zu entscheiden hatte, bat ich erst einmal jeden, dessen ich habhaft werden konnte, um Rat und irritierte damit gerade jene, die mir am nächsten standen und die sich verständlicherweise fragten, warum ich mich denn nicht auf ihr Urteil verließ. So ähnlich lief es anscheinend auch zwischen John Sweeterman und mir. Von Beginn an nahmen die Spannungen zu, und ich ging, gelinde gesagt, mit dieser Situation nicht gerade gescheit um. Mit all meiner Fragerei ging ich John sicher furchtbar auf die Nerven. Mochte ich in der Nachrichtenredaktion auch willkommen sein, John und die Manager im geschäftlichen Bereich wußten mit mir nichts anzufangen. Dieses Gefühl beruhte allerdings auf Gegenseitigkeit. Ich wußte, daß in erster Linie John mit seinen Strategien, Geschäftsplänen und mit seiner in jenen Tagen unabdingbaren - strikten Ausgabenkontrolle für den Erfolg der Zeitung verantwortlich war. John hielt den Daumen auf der Kasse und kontrollierte das Budget. Im Endeffekt hatte er deshalb fast überall seine Hand im Spiel. Wenn ich an John etwas auszusetzen hatte, ergriff Bill Rogers, unser Justitiar, fast immer Johns Partei. Ständig wiederholte er mir gegenüber, John mache seine Sache prima und ich solle das doch anerkennen. Damals ging diese Botschaft noch an mir vorbei, aber Bill hatte zweifellos recht. Was ich heute weiß, ist, daß John schon bald nach seinem Eintritt bei der Post im Jahre 1950 von Phil komplette Handlungsfreiheit bekommen und Phil ihm entschlossen und uneingeschränkt den Rücken freigehalten hatte. Johns Autorität war im Laufe der Jahre noch gewachsen, je weniger Phil sich um das Tagesgeschäft der Zeitung gekümmert hatte besonders in der Zeit nach Phils Erkrankung. Seit 1961, als John Verleger geworden war, und besonders seit Phils Stimmungsschwankungen zunahmen, war John die letzte Instanz gewesen. Wenn Entscheidungen zu treffen waren, konsultierte er niemanden und konferierte nur mit wenigen. Und nun kam ich daher und löcherte ihn mit Fragen: Warum haben Sie das gemacht? Wer war dafür verantwortlich? Wie lief dieser Vorgang ab? Hätte John meine Fragen in dem Sinne verstanden, in dem sie gemeint waren - daß ich lediglich etwas lernen wollte - dann wäre er vielleicht in der Lage gewesen, mich behutsam zu führen und mir etwas beizubringen. Unser Verhältnis hätte sich vielleicht verbessert. Doch er hatte etwas gegen Frauen in der Wirtschaft - und speziell gegen Ignorantinnen wie mich. Wenn man John in die Quere kam, konnte er sehr böse werden. Wir gerieten ein paarmal so heftig aneinander, daß ich in Tränen aufgelöst war, was alles nur noch schlimmer machte.
Trotz meines gespannten Verhältnisses zu John setzte sich das Wachstum bei der Post und der Washington Post Company fort. Seit dem Erwerb der Washington Times-Herald war die Post gut gediehen; der Nachrichtenteil war quantitativ wie qualitativ stetig verbessert worden. Als ich mit meiner Arbeit begann, hatte die Auflage an Werktagen mehr als 400 000 erreicht, an Sonntagen sogar mehr als eine halbe Million, und damit lagen wir deutlich vor dem Star. Im Anzeigenbereich waren wir jetzt die Nummer eins in Washington. Auch unsere beiden Fernsehsender begannen zu wachsen. John Hayes hatte den Fernsehbereich so ähnlich wie John Sweetermann die Zeitung geführt; Phil hatte ihm den gleichen Handlungsspielraum gewährt, doch Hayes war mir gegenüber offenen Weil ich mich im Fernsehbereich überhaupt nicht auskannte, hielt ich mich hier anfangs weitgehend heraus und konnte dadurch John Hayes natürlich auch weniger in die Quere kommen als John Sweeterman. Hinzu kam, daß sich die TV-Sender sogar noch besser entwickelten als die Zeitung und daß sie überdies nicht im gleichen Maße unter Wettbewerb und kritischen Situationen mit Belegschaft und Gewerkschaften zu leiden hatten wie die Washington Post.
Ein leidiges Problem, das mir ständig zusetzte, seit ich mit der Arbeit begonnen hatte, waren die Gerüchte, ich wolle die Zeitung verkaufen. Natürlich hatte ich direkt nach Phils Tod zahlreiche Angebote erhalten, die ganze Verlagsgesellschaft zu kaufen. Viele glaubten, ich würde mich eher für einen Verkauf entscheiden, als die Leitung selbst aktiv in die Hand zu nehmen. Aber diese Leute verstanden einfach nicht, daß ich die Zeitung, deren Wiedergeburt nach dem Bankrott unter den McLeans ich miterlebt hatte und die zuerst mein Vater, dann mein Mann mit solcher Hingabe aufgebaut hatten, niemals verkaufen würde; das war für mich völlig undenkbar. Und dennoch stürzten sich die Kaufinteressenten auf mich. Fritz hatte, noch während ich in Europa war, bereits Angebote erhalten, darunter auch eines von CBS über Frank Stanton; doch ich lehnte alle strikt ab. Vielleicht reagierte ich auf diese Annäherungsversuche aber auch allzu allergisch. Statt zu verstehen, daß wir über ein wertvolles Gut verfügten, das gefährdet erschien und für andere interessant war, begegnete ich potentiellen Käufern mit Verärgerung und sah in ihnen mehr oder weniger nur Aasgeier, die auf das Scheitern einer armen, hilflosen Witwe warteten. Aufgrund meiner eigenen Unsicherheit war ich nicht in der Lage, über Kaufangebote gelassen zu sprechen, und die Kaufinteressenten trugen leider noch mehr zu meiner Verunsicherung und Verkrampfung bei. Das erste echte Kaufangebot für die Firma wurde allerdings nie direkt und offiziell abgegeben. Es kam von Times Mirror durch John McCone, den damaligen Chef des CIA, der mit der Familie Chandler befreundet war. McCone saß eines Tages zusammen mit Scotty Reston im Fond einer Regierungslimousine. Da er wußte, daß Scotty mein Freund war und mir die Botschaft überbringen würde, erzählte er ihm, Times Mirror sei an einer Übernahme der Post interessiert. Scotty antwortete sogleich an meiner Stelle, er wisse, daß ich an einem Verkauf nicht interessiert sei, versprach aber, mir von dieser Anfrage zu berichten. Der nächste - und hartnäckigste - Bieter war dann Sam Newhouse, der 100 Millionen Dollar für die Washington Post Company bot. Wir lehnten diese Offerte aufs entschiedenste ab, aber Newhouse ließ sich nie mit einem klaren Nein abwimmeln und trat mit neuen und verbesserten Angeboten immer wieder auf den Plan. Der letzte Übernahmeversuch in meiner frühen Phase als Verlegerin war auch der erstaunlichste. Vier Monate nach dem Beginn meiner Tätigkeit kam Ted Sorensen zum Lunch, um mit mir Möglichkeiten zu erörtern, wie er für die Post tätig werden könne. Ich fand diese Idee sehr attraktiv: Ted gehörte zu Kennedys Spitzenleuten im Weißen Haus, und an seinen Fähigkeiten bestand nicht der geringste Zweifel. Ich wollte in dieser Situation unbedingt kreativ denken und mir etwas einfallen lassen, um Ted zu uns zu locken. Wir sprachen über Jobs im Management oder als Leitartikler beziehungsweise Kolumnist. All das paßte ihm jedoch nicht, bis er schließlich mit der Sprache herausrückte: »Der einzige Job, der mich wirklich interessiert, ist der Ihrige«, sagte er. »Warum machen Sie nicht einfach Platz und lassen mich den Verlag für Sie führen?« Ich war zwar total verblüfft, konnte aber trotzdem entgegnen, wenn er einzig und allein meinen Job haben wolle, dann gebe es leider nichts mehr zu bereden. Einige Monate später rief Ted an und fragte, ob ich wie er zu einer bestimmten Party eingeladen sei. Als ich bejahte, schlug er vor, mich abzuholen; er wolle sogar etwas eher kommen, weil er noch etwas mit mir zu besprechen habe. Er kam, und wir setzten uns in meine Bibliothek. Ohne weitere Vorrede sagte Ted: »Ich habe die Vollmacht, Ihnen allein für die Post hundert Millionen Dollar zu bieten. Ich würde die Leitung des Blattes übernehmen, und Sie könnten den ganzen Rest behalten.« Ich war völlig verdutzt und fragte: »Ted, kommt diese Offerte etwa von Newhouse?« Nach kurzem Hin und Her gestand Ted, daß es so sei; der große Unterschied zu früheren Angeboten bestehe allerdings darin, daß jetzt er, Ted, den Verleger spielen solle. Als ich meiner Überraschung Ausdruck verlieh, daß er sich an einem solchen Angebot beteilige, lautete seine Antwort: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich hinter Ihrem Job her bin.« Gutgelaunt gingen wir gemeinsam zur besagten Party.
Dies war das vorerst letzte derartige Angebot, obwohl in späteren Jahren noch oft sondiert wurde, ob die Washington Post Company nicht ganz oder teilweise zum Verkauf stünde. Besonders an Newsweek bestand Interesse. Wir müssen mindestens ein halbes Dutzend solcher Angebote abgewiesen haben. Trotz solch kompromißloser Ablehnungen tauchten die Gerüchte, Newsweek stehe zum Verkauf, in der Presse immer wieder auf was der Moral der dortigen Mitarbeiter nicht gerade guttat. Der Hauptgrund, warum ich trotz eigener Zweifel an Newsweek festhielt, waren die Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins. Die Entscheidung hatte nichts mit wirtschaftlichen Erwägungen zu tun. Vielmehr war ich der Ansicht, daß wir, die wir diese Institution vor nicht allzu langer Zeit erst erworben hatten, jetzt nicht einfach eine Kehrtwende vollziehen dürften, zumal viele Leute davon betroffen gewesen wären. Gleich wieder zu verkaufen war in meinen Augen nicht in Ordnung. Ich hatte ein starkes Gefühl der Loyalität zu Newsweek, auch wenn ich mir nicht immer sicher war, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte.
In den Anfangsmonaten meines Arbeitslebens gab es für mich etliche Premieren: Als erste Frau trat ich in den Aufsichtsrat der Papierfabrik Bowater Mersey ein. Das war - abgesehen von meiner Rolle bei der Post - mein erster Aufsichtsratssitz in der Wirtschaft (im Unterschied zu Wohlfahrtsorganisationen). Im Laufe der Jahre kamen natürlich viele weitere Mandate hinzu. Auch im Kuratorium der George Washington University trat ich an Phils Stelle.
Ich machte es mir jetzt auch zur Gewohnheit, mit Kollegen aus der Zeitungsbranche zum Lunch zu gehen, und gab sogar mein erstes Geschäftsdinner: für Otis Chandler. Das tat ich nicht zuletzt deshalb, um öffentlich zu dokumentieren, daß unsere Zusammenarbeit am gemeinsamen Nachrichtendienst engagiert weiterging. Otis schrieb mir hinterher und bedankte sich für die »exquisite Party«, nicht ohne hinzuzufügen: »Ich weiß, daß Ihnen das nicht leichtgefallen ist ... Doch jetzt ist das Eis gebrochen, und in Zukunft werden Ihnen derartige Dinge leichter von der Hand gehen.«
Als Teil meiner Strategie, auch die anderen Geschäftszweige der Firma besser kennenzulernen, besuchte ich unsere beiden Fernsehsender. In Jacksonville sprach ich ausführlich mit Glenn Marshall, der die Station WJXT leitete. Glenn begeisterte sich schon früh für das Kabelfernsehen, doch John Hayes teilte diesen Enthusiasmus nicht. Ich erinnere mich noch, daß Glenn schon bei meinem ersten Besuch in meiner neuen Rolle über die Bedeutung des Kabelfernsehens für die Zukunft sprach. Vor allem werde die Verkabelung das Tor zum Pay-TV öffnen. Ich war damals noch zu neu in meinem Job, um zu solchen Diskussionen Sinnvolles beitragen zu können, weshalb wir zu diesem frühen Zeitpunkt den Sprung ins Kabelzeitalter verpaßten.
Bei der Post besuchte ich jetzt regelmäßig Redaktionskonferenzen und Lunches in der Redaktion. Beides erwies sich für mich als besonders große Hilfe bei meinem Bemühen, zu verstehen, was draußen in der Welt vor sich ging. Allmählich wurde ich mit dem journalistischen und politischen Jargon vertrauter, der Sprache der Reporter, Redakteure und Regierungsbeamten. Ich erinnere mich noch genau an einen politischen Lunch während meiner Anfangszeit - als ich immer noch schmerzlich unsicher war. Unser Gast in der Redaktion war damals Madame Nhu, die unheimliche, mächtige Schwägerin des südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem. Aufgrund der Rolle, die sie in ihrem Heimatland spielte, war sie zu Recht berüchtigt, weithin gefürchtet und unbeliebt. Bei diesem Lunch stellte ich zum ersten Mal selbst eine Frage. Vor Aufregung erlitt ich fast einen Zusammenbruch, doch ich nahm all meinen Mut zusammen, um die Frage herauszubringen. An die konkrete Frage kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber ich habe noch lebhaft vor Augen, wie ich anschließend vor Angst, ich könnte mich dumm angestellt und Ignoranz bewiesen haben, fast gestorben bin.
Ebenso genau kann ich mich an meinen ersten Lunch im Weißen Haus in meiner neuen Rolle erinnern. Es war ein Essen zu Ehren des jugoslawischen Staatspräsidenten Tito. Ich nahm die Wahlprognose eines Meinungsforschungsinstituts für Präsident Kennedy mit und gab sie ihm beim Hinausgehen. Er warf einen kurzen Blick darauf, steckte sie ein, lächelte mich an und sagte: »Aha, so wird es also ausgehen.« Ganz schnell wurde ich auch mit einem anderen Aspekt im Leben einer Zeitungsverlegerin vertraut: Im Oktober 1963 erhielt ich einen Anruf aus dem Weißen Haus von Mac Bundy, der mir sagte, er sei gerade im Büro von Präsident Kennedy und sie hätten Wind davon bekommen, daß Russ Wiggins etwas Kritisches über eine Reise schreiben wolle, die Jackie Kennedy auf der Jacht von Aristoteles Onassis plante. Jackie brauchte Abwechslung, um sich von der Geburt und dem anschließenden Tod ihres kleinen Sohnes zu erholen, und der Präsident hatte Franklin Roosevelt Junior gebeten, sie auf dieser Reise zu begleiten. Russ sah darin einen Interessenkonflikt für Roosevelt, der als stellvertretender Handelsminister mit Onassis dienstlich zu tun hatte. Ich versprach Mac, mit Russ zu reden. Aber der Leitartikel erschien trotzdem. Dies war der erste von vielen, vielen Anrufen, die ich im Lauf der Jahre erhalten habe und die mir zu einem reichen Erfahrungsschatz in der Rolle der Vermittlerin zwischen Beschwerdeführern, Bittstellern und Interessenvertretern einerseits und den Redakteuren von Post und Newsweek andererseits verholfen haben. Dabei waren die Redakteure weit öfter im Recht als im Unrecht, und auch in diesem Fall hatte Russ zweifellos recht. Er stand zu seiner Meinung und kritisierte die fragliche Reise in einem Kommentar. Die Reise fand trotzdem statt, und das Leben ging weiter.
Eine andere ungewohnte und schwierige neue Erfahrung war es für mich, selbst im Rampenlicht der Medien zu stehen und interviewt zu werden. In meinem ersten Jahr als Verlegerin geschah dies einige Male, und in einem der Interviews sagte ich, es falle mir nicht schwer, mich in einer Spitzenposition auf einem Feld zu tummeln, auf dem ich fast die einzige Frau unter Männern sei: »Nach einiger Zeit vergessen die Leute meistens, daß man eine Frau ist.« Das war natürlich reine Angeberei, denn ich wußte es aus Erfahrung einfach noch nicht besser. Die Frauenbewegung gab es damals noch nicht, und ich hatte auch noch keine Antenne dafür, wie mich andere wirklich sahen. Weil mir alles noch so furchtbar neu war und ich noch soviel lernen mußte, vermischte sich in meinem Kopf die unangenehme Empfindung, von oben herab betrachtet und behandelt zu werden, mit dem seltsamen Gefühl, in so vielen Konferenzräumen die einzige Frau zu sein. Ich machte meinen männlichen Kollegen ihre Herablassung allerdings nicht zum Vorwurf, weil ich dachte, diese Arroganz habe allein damit zu tun, daß ich noch so neu im Geschäft war. Erst im Zeitalter des Feminismus reifte in mir ein angemessenes Bewußtsein von den wahren Problemen der Frau am Arbeitsplatz heran - einschließlich meiner eigenen.
Auch meine erste Erfahrung im Streit mit den Gewerkschaften verlief nicht gerade glorreich. Als beim Star die Setzer in einen wilden Streik getreten waren, wären wir nach altem Brauch in dieser Situation zur Solidarität mit unserem Konkurrenzblatt verpflichtet gewesen - und waren dazu eigentlich auch bereit. Eines Abends bei einem Dinner fragte mich jedoch Jim Reynolds, ein entfernter Freund - der damals stellvertretender Arbeitsminister war und eher auf seiten der Gewerkschaften stand, was ich nicht ausreichend bedachte -, ob wir etwa dem Star den Rücken stärken wollten. Als ich bejahte, redete er mir meinen ursprünglichen Plan aus. Ich hatte nun nichts Besseres zu tun, als John Sweeterman sofort telefonisch von diesem Gespräch zu berichten, der natürlich - nicht ganz zu Unrecht annahm, mein Bericht komme einer Anweisung gleich. Er zog seine Unterstützung für den Star zurück, und dieser mußte schließlich klein beigeben. Auf diese Weise lernte ich also, welches Gewicht meine Stimme jetzt hatte. Zuvor war mir nämlich nicht klar gewesen, daß ich nicht mehr einfach drauflosreden konnte, ohne Nebenaussagen und Deutungen meiner Worte mit zu bedenken.
Am 22. November 1963 hatte ich meine alten Freunde Arthur Schlesinger und Kenneth Galbraith zu einem Lunch mit den Redakteuren von Newsweek eingeladen. Im Weißen Haus holte ich Arthur ab, der damals dort tätig war, und gemeinsam flogen wir nach New York, wo wir uns mit Ken, Fritz, den wichtigsten Redakteuren und einigen anderen Experten zum Essen versammelten. Wir tranken gerade unseren Aperitif, als jemand seinen Kopf zur Tür hereinsteckte und sagte: »Man hat den Präsidenten erschossen!«
Wir reagierten ungläubig: Es mußte sich um einen Fehler handeln, konnte jedenfalls nicht die ganze Wahrheit sein. Und doch ergriff uns Panik. Wir rannten zu einem Fernsehgerät, und die Berichterstattung machte schnell klar, daß die Lage sehr ernst war. Ein Mitarbeiter des Geheimdienstes, der Jackie Kennedy nach Indien begleitet hatte, als Ken dort noch Botschafter war, wurde mit der Aussage zitiert, er glaube, daß der Präsident tödlich getroffen worden sei. Daraufhin meinte Ken: »Wenn der das sagt, dann muß man es ernst nehmen.« Als schließlich die erschreckende Nachricht vom Tod des Präsidenten kam, eilten wir schnell zum Flughafen, um nach Washington zurückzufliegen. Ken erinnerte sich später an den Kontrast zwischen dem Gefühl deprimierter Lähmung im Inneren unseres Wagens und der immer noch fröhlichen Stimmung der nichtsahnenden Menge auf den mittäglichen Straßen. Die schlimme Nachricht hatte sich noch nicht herumgesprochen. Als wir in Washington waren, gingen wir zusammen ins Weiße Haus. Ich zögerte, denn ich stand den Kennedys längst nicht so nahe wie Ken oder Arthur, doch da beide darauf bestanden, daß ich mitkam, folgte ich ihnen. Wir kamen in einen überfüllten Raum, in dem Ted Sorensen Anweisungen gab. Nachdem wir kurze Zeit herumgestanden hatten, sah Ted ungeduldig auf und bat jeden, der keine spezielle Aufgabe oder sonstige Berechtigung zur Anwesenheit hatte, den Raum zu verlassen. Weil ich mich angesprochen fühlte, ging ich, mit mir aber auch viele andere.
Wir empfanden Kennedys Tod als ungeheuren Verlust für unser Land, und viele von uns waren auch ganz persönlich betroffen. Isaiah Berlin faßte dieses Gefühl später in die treffenden Worte: »Ich fühle mich jetzt weniger sicher.« Bill Walton erinnerte sich, daß ihn, als er nach seiner Teilnahme an der Planung der Beerdigungsfeierlichkeiten nach Hause gekommen und selbst am Boden zerstört gewesen sei, meine Mutter weinend angerufen und verbittert gesagt habe: »Wir sind nicht besser als eine gottverdammte Bananenrepublik!« Dann habe sie aufgelegt. Am Tag nach dem Attentat ging ich in den East Room des Weißen Hauses, wo Präsident Kennedy aufgebahrt lag, und anschließend zum Tee zu Lady Bird Johnson, die mich eingeladen hatte. (Liz Carpenter, Lady Birds Pressesprecherin, erzählte mir später, Präsident Johnson habe seiner Frau den Vorschlag gemacht, mit mir zu sprechen.)
Wie wir alle standen auch die Johnsons unter Schock. Gleichzeitig mußten sie schweren Herzens aus dem Stand ihren gewaltigen Verpflichtungen als Präsident und First Lady gerecht werden. Dazu Liz Carpenter: »Wenn Sie bloß gewußt hätten, wie schrecklich wir uns alle nach dem Attentat gefühlt haben! Nicht nur, weil wir diesen goldenen Präsidenten verloren hatten, sondern auch, weil es in Texas geschehen war. Das war eine verdammt schwere Bürde.« Lady Bird sagte es auf ihre Weise: »Sie schauen auf die Lebenden und wünschen sich die Toten herbei.« Sie sprach ebenfalls darüber, was es für sie bedeutete, First Lady zu werden: »Ich habe das Gefühl, auf einmal auf der Bühne zu stehen, ohne meine Rolle je geprobt zu haben.« Obwohl dies eine gute Beschreibung auch meiner eigenen neuen Rolle war, fühlte ich mich absolut nicht in der Lage, ihr zu helfen. Wir standen alle so sehr unter Schock, daß wir uns kaum eine andere Regierung oder andere Darsteller in den Rollen von Präsident und First Lady vorzustellen vermochten. Jeder denkbare Nachfolger von John F. Kennedy hätte es sehr schwer gehabt. Und doch war unweigerlich eine neue Ära angebrochen.
Am 3. Dezember, weniger als zwei Wochen nach der Ermordung Präsident Kennedys und noch ehe die Johnsons ins Weiße Haus eingezogen waren, wurden Joe und Susan Mary Alsop mit mir zusammen vom neuen Präsidentenpaar zum Dinner eingeladen. Als wir die Eingangshalle von The Elms (dem Haus, das Phil für die Johnsons gekauft hatte) betraten, sahen wir zur Linken ein Porträt von Sam Rayburn hängen. Der Präsident sagte, wie sehr er es doch bedaure, daß Sam Rayburn und Phil gerade jetzt nicht mehr da seien, wo er ihren Rat am dringendsten bräuchte. Ich kann mich an diesen Abend nur noch teilweise erinnern. Jack Valenti war da, und ich glaube, wir vier waren die einzigen Gäste. Susan Mary erinnerte sich, daß der Präsident freundlich und milde gestimmt war - was »erstaunlich war, wenn man bedenkt, daß er uns bald nach der Ankunft beim Cocktail erzählte, er habe einen sehr schlimmen Tag hinter sich, weil die >Kennedy-Leute<, wie er sie nannte ... einer nach dem anderen gekommen waren, um ihren Rücktritt einzureichen«. Er sprach auch über die Ereignisse in Dallas und beschrieb, wie er im Krankenhaus mit Lady Bird in einem Raum gesessen und auf Nachrichten aus dem Operationssaal gewartet habe. Er konnte sich an Einzelheiten des Raumes nicht mehr erinnern, nur daran, daß es ein ziemlich kleiner Raum mit viel Bettwäsche gewesen sei. Zweimal sei Lady Bird rausgegangen, um nachzusehen, ob sie Jackie Kennedy beistehen könne. Aber sie sei jedesmal mit der Botschaft zurückgekommen, Jackie wolle lieber allein sein. In den Raum mit der vielen Bettwäsche sei schließlich jemand hereingekommen und habe gesagt: »Herr Präsident, der Präsident ist tot.«
Anfang 1964 hatte ich in meinem Beruf die ersten Gehversuche hinter mir, aber persönlich war ich immer noch einsam. Das Alleinleben wollte erst wieder gelernt sein - was nach dreiundzwanzig Ehejahren nicht ganz einfach war. Jedesmal, wenn ich etwas allein tat, das Phil und ich früher gemeinsam getan hatten, oder wenn ich einen mit Erinnerungen befrachteten Ort betrat, war mir elend zumute. Ober Jahre hinweg konnte ich nichts ansehen, was von Phil stammte - besonders nicht seine Handschrift oder seine persönlichen Habseligkeiten. So schnell ich konnte, richtete ich an der R Street und in Glen Welby seine Zimmer neu ein. Eine Zeitlang waren meine Erinnerungen an Glen Welby so schrecklich, daß ich mich ganz von der Farm trennen wollte, doch dann mußte ich daran denken, daß die Kinder diese schlimmen Szenen ja nicht in ihren Köpfen hatten. Für sie war Glen Welby nicht mit negativen Assoziationen verbunden; sie liebten das Anwesen und alles, was damit zusammenhing, immer noch sehr. Also fuhr auch ich weiter dorthin.
Das bewußte Badezimmer baute ich jedoch so um, daß sich nichts mehr am gleichen Ort befand. Auch änderte ich die Einrichtung wenigstens so, daß ich nicht mehr jedesmal beim Betreten des Hauses von unseligen Erinnerungen überwältigt wurde. Für mich stand Glen Welby immer für Phils Wesen. Es waren seine Seen, seine Felder, seine Angel- und Jagdgründe, seine Hunde - kurz und gut, das Ganze war seine Schöpfung. Es war der Ort, an dem wir soviel gemeinsame Zeit verbracht hatten, und es war der Ort, dem er seinen Stempel so nachhaltig aufgeprägt hatte - ganz zu schweigen davon, daß es auch der Ort seines Todes war. An den meisten Orten blieb ich einsam - besonders wenn ich nach New York fuhr. An Gastfreundschaft herrschte kein Mangel, aber ich haßte es, allein im Hotel zu übernachten. Anfangs war ich schrecklich schüchtern, aber weil ich es so schwer fand, allein zu sein, begann ich häufig auszugehen. In New York traf ich mich häufiger mit Freunden und Bekannten, darunter Truman Capote und die Paleys. Auch in Washington traf ich nun immer mehr Leute - Werbe- und Geschäftsleute, die mit der Zeitung zu tun hatten, und alte wie neue Freunde unter Journalisten und Politikern (aus beiden großen Parteien). Im Rückblick erschreckt es mich heute allerdings, wie oft ich damals ausging und unterwegs war - auf Kosten meiner Kinder. Weil ich es von meinen Eltern nicht anders gewohnt war, konnte ich leicht in diese Rolle schlüpfen, zuerst mit Phil, dann ohne ihn. Mir war nicht klar, daß ich hätte härter arbeiten sollen, um mehr Zeit für meine Kinder zu haben.
Bill und Steve verloren nach meinem Berufseinstieg praktisch beide Eltern auf einmal. Zuvor war ich als Mutter ziemlich präsent gewesen: Ich hatte mich bei schulischen Ereignissen sehen lassen, die Kinder zu Sportwettkämpfen gefahren, versucht, nachmittags daheim zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kamen. All das war nun weitgehend vorbei, obwohl ich versuchte, möglichst viel Zeit mit ihnen zu verbringen und mich wenigstens gelegentlich bei Schulveranstaltungen blicken zu lassen. Auf unterschiedliche Weise hatten es die beiden Jüngeren schwer. Billy führte in St. Albans ein typisches Teenagerleben, zog sich daheim jedoch meistens in seine eigenen vier Wände zurück. Steve, der für einen Babysitter schon zu alt, aber noch zu jung war, um allein bleiben zu können, hatte es von allen Geschwistern am schwersten. Er war vielfach begabt, aber anders als seine älteren Brüder - kein athletischer Draufgänger, was nach dem schulischen Credo der St. Albans School allerdings erwünscht gewesen wäre. Wie Don übersprang er eine Klasse, aber für beide Jungen war dies aus sozialen Gründen eine ziemliche Katastrophe. Aufgrund seiner eigenen Erfahrungen hatte Don davor gewarnt, als die Schule auch Steve diesen Schritt empfahl. Wahrscheinlich war St. Albans überhaupt die falsche Schule für Steve. Hinzu kam, daß ich über Phils Krankheit und Tod nicht sprechen konnte, weil ich selbst so sehr darunter gelitten hatte - was die Belastung der Kinder indes sicher noch vergrößerte. Das war für uns alle nicht gut, aber ich konnte einfach nicht anders.
Auf der gesellschaftlichen Bühne begann man allmählich, mir den Hof zu machen. Ich wurde zu »Dates« eingeladen. Als wichtigster Verehrer spielte Adlai Stevenson in meinem Leben eine immer größere Rolle. Welchen Stellenwert ich unter seinen zahlreichen Freundinnen besaß, kann ich allerdings kaum einschätzen. Ich mochte ihn immer gern und bewunderte ihn; verliebt war ich allerdings überhaupt nicht. Die atemlose Begeisterung meiner Mutter und meiner Tochter - und vieler anderer Frauen - konnte ich nicht teilen, denn Adlais Unentschiedenheit brachte mich immer wieder auf die Palme. Trotzdem traf ich mich häufig mit ihm. Wenn er in Washington war, übernachtete er oft in meinem Haus, und wir gingen auch in New York gemeinsam aus. Vermutlich war dies eine der ganz wenigen Frauenfreundschaften in seinem Leben, bei denen sein Enthusiasmus stärker war als der der Gegenseite. Im Sommer 1964 stand im National Enquirer eine Story über uns, die alle möglichen Gerüchte anheizte:
UN-Botschafter Adlai Stevenson ist in eine Romanze verwickelt, die die heißeste politische Story des Jahres werden könnte. Er macht Mrs. Philip Graham den Hof, der Witwe des verstorbenen Verlegers der Washington Post und des Magazins Newsweek, die außerdem auch einige Fernsehsender besitzt. Sollte Mrs. Graham noch vor dem Parteikonvent der Demokraten im August ihr Jawort geben, dann dürften, wie Freunde Stevensons berichten, seine Chancen auf die Nominierung zum demokratischen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft enorm steigen. Auf diese Weise würde Stevenson nicht nur eine attraktive Frau gewinnen, sondern sie würde auch die Kontrolle über einen der mächtigsten Presse- und Medienkonzerne der USA mit in die Ehe bringen.
Ich schickte Adlai den Zeitungsausschnitt mit einem scherzhaften Kommentar: »Ich bin sicher, Du hast noch gar nicht gewußt, welches Bonbon da auf Dich wartet. Denn was könnte Deine Chancen, Vizepräsident zu werden, nachhaltiger verbessern, als einen Presse- und Medienkonzern zu heiraten? Ich bin bereit und warte, aber wir sollten die Sache auf jeden Fall noch vor Atlantic City bekanntgeben.«
In jenem Sommer kam Pamela Berry aus London zu Besuch. Mit ihr und Joe Alsop fuhr ich zum Nominierungsparteitag der Republikaner, der am 10. Juli in San Francisco begann. Dort stieß auch Lally zu uns. Meiner Mutter schrieb ich launig, ich wisse nicht, ob je drei Frauen den »drei Hexen in Macbeth, wie sie sich um ihren Kessel kauern«, näher gekommen seien als »Pam, Lally und ich auf gemeinsamer Mission«. Die fast unausweichliche Nominierung des extrem konservativen und, wie wir meinten, rücksichtslosen - Senators Barry Goldwater ließ bei uns allen die Alarmglocken schrillen. Seine Ansichten zu einem möglichen Atomkrieg beunruhigten uns ebenso wie seine Einstellung zu den Bürgerrechten. Damals erschien uns Goldwater sehr bedrohlich, aber heute ist mir klar, daß wir ein sehr verzerrtes - und unfaires - Bild von ihm hatten. Die Tiraden verschiedener Redner gegen die liberale Presse und gegen Kolumnisten wie Walter Lippmann, die bei den Delegierten Begeisterungsstürme auslösten, nahmen wir betreten zur Kenntnis. (Leider gehörte zu diesen Rednern auch der frühere Präsident Eisenhower.) Ich hatte das Gefühl, hier der Machtübernahme einer Minderheit in einer der großen Parteien beizuwohnen. Obwohl ich persönlich eindeutig zu den Anhängern Johnsons gehörte, legte ich größten Wert darauf, die Praxis der Washington Post beizubehalten und keinen der Kandidaten ausdrücklich zu unterstützen. Das erläuterte ich auch Barry Goldwater in einem Brief, in dem ich ihm eine »faire und objektive Berichterstattung« über seine Wahlkampagne zusicherte und ihn in die Redaktion einlud.
Ich war und bin der festen Überzeugung - je länger ich im Geschäft bin, desto mehr - daß die Berichterstattung im redaktionellen Teil einer Zeitung fair und distanziert sein muß, selbst wenn mir von Anfang an klar war, daß es so etwas wie reine Objektivität nicht gibt. Schon die Entscheidung, was Nachrichtenwert hat und was nicht, ist vom persönlichen Urteil abhängig, und die Redakteure sollten das ihnen zu Gebote stehende distanzierte Urteilsvermögen einsetzen, um die Nachrichtenspalten so fair wie möglich zu gestalten. Die Kommentarseite und die redaktionellen Meinungen sind davon vollkommen getrennt, so daß oft gar keine Verbindung zwischen diesen beiden Abteilungen der Redaktion besteht. Zumindest sollten sie sich nicht gegenseitig beeinflussen.
Der Parteikonvent der Demokraten begann Ende August 1964 in Atlantic City. Ich nahm Don mit, der sehr davon profitierte. Allerdings war es in Atlantic City derart heiß und schwül, daß wir alle heilfroh waren, als die Woche zu Ende ging. Verschwitzt und müde begaben wir uns zum Flughafen: außer mir mein Sekretär Charlie Paradise, Luvie Pearson und Lally, dazu noch einige Reporter und Fotografen von der Post, die mit uns im Firmenjet zurückfliegen sollten. Weil alles ein wenig durcheinanderging, kamen wir erst eine Stunde nach der eigentlich geplanten Abflugzeit am Flughafen an - zu dem Zeitpunkt, als gerade die Air Force One, die Maschine des Präsidenten, an das Gate gefahren wurde. Unser eigenes Flugzeug stand wartend weit hinten auf dem Rollfeld. Als es schließlich nahe genug herangekommen war, wurden unsere Koffer und die Ausrüstung der Fotografen verladen; wir, die neun Passagiere, wurden eingesammelt, gingen an Bord und saßen nun schwitzend in der extremen Hitze fest, weil die Rollbahn gesperrt war. Gerade schwebten die Hubschrauber mit dem Präsidenten und dem Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten ein. Ich kochte wegen der Wartezeit, auch innerlich, und Lally sagte schließlich: »Mama, laß uns doch zuschauen, wie die Hubschrauber landen.« Da die Temperatur in unserer Maschine inzwischen stolze 38 Grad Celsius erreicht hatte, stimmte ich zu. Während wir zum Absperrgitter gelaufen waren, hatte der Präsident mit Lady Bird schon seinen Hubschrauber verlassen und ging nun händeschüttelnd an der langen Reihe der Zuschauer entlang. Luvie, Lally und ich standen ganz am Ende der Reihe zwischen zwei geparkten Autos und der Absperrung. Ich hatte nicht geglaubt, daß der Präsident überhaupt so weit kommen würde, aber er kam. Allerdings sah er nicht wirklich hin, als er an mir vorbeimarschierte; sein Händedruck war ziemlich automatisch. Ich hatte keine Strümpfe an, trug ein Halstuch um meine verschwitzte Stirn, ein ärmelloses dunkelblaues Baumwollkleid und Mokassins und war deshalb nicht überrascht, daß er mich nicht erkannte. Fast gegen meinen Willen rief ich jedoch »Hallo, Lyndon« (seit dem 22. November hatte ich ihn eigentlich nur noch »Herr Präsident« genannt). Er hielt inne, sah überrascht aus und sagte: »Hallo, Kay, was machst du denn hier?« »Ich warte darauf, daß du abfliegst«, sagte ich. »Willst du mitgenommen werden?« fragte er.
Ich war so verblüfft, daß ich geistesabwesend annahm, er wolle nach Washington fliegen, und fragte, ob Lally und Luvie auch mitkommen könnten. Er antwortete: »Natürlich. Aber dir ist doch klar, daß wir nach Texas fliegen?« »Texas?« rief ich. »Ich kann nicht nach Texas fliegen!« In Washington rechnete Steve mit mir, und wir hatten Besuch, der bereits in Glen Welby auf uns wartete. Daher war es für mich keine Frage, daß ich nach Hause mußte. Doch Luvie trat mir vors Schienbein und sagte dezidiert: »Los, fahr mit!« »Komm schon«, fuhr der Präsident fort. »Hast du Gepäck?« »Ja, aber kümmere dich nicht darum, ich will dich nicht aufhalten. Ich komme gerne mit.« Ehe ich mich's versah, kamen schon zwei Leibwächter und fragten, wo mein Gepäck sei. Ein weiterer - wie sich später herausstellte, Rufus Youngblood, der Chef der Leibwache des Präsidenten - sagte: »Folgen Sie mir.« Rufus und ich wurden später Freunde, und er erzählte mir, Lyndon Johnson habe damals nur gesagt: »Hebt die Frau über den Zaun! « Zu meinem Glück hatte Rufus jedoch darauf hingewiesen, daß es auch ein Tor gab, und lotste mich hindurch. Luvie hatte den ganzen Dialog mitbekommen, doch Lally konnte ich im Vorbeigehen nur noch zurufen: »Ich fahre nach Texas!« Wenn ich an meine beiden Koffer mit schmutziger, nicht gerade wohlriechender Kleidung denke, die ich in der schwülen Hitze von Atlantic City bereits getragen hatte, dann glaube ich, daß wohl noch nie jemand so unzureichend vorbereitet zu einem Staatsbesuch aufgebrochen ist wie ich. Der Präsident ergriff meinen Arm und führte mich zur Gangway der Boeing 707. Ich blieb zurück, um Johnson auf der Treppe den Vortritt zu lassen, doch statt dessen trieb er mich vor sich her in den Jet. Als wir nach oben stiegen, fragte noch ein Reporter nach meinem Namen, dann schloß sich die Tür, und wir flogen los. Hastig sah ich mich in dem kleinen Abteil um, in das ich geraten war; darin saßen nur die Humphreys - Hubert war gerade als Kandidat für die Vizepräsidentschaft nominiert worden - mit ihrem sechzehnjährigen Sohn Douglas und die Connallys[1]. Ich floh ins Vorderteil der Maschine, wo ich neben Presseleuten auf fast alle texanischen Politiker traf, von denen ich je gehört hatte, sowie auf andere wichtige Texaner aus Wirtschaft und Industrie. Aus dem Stab des Weißen Hauses waren in dieser Runde George Reedy, Jack Valenti und Bill Moyers vertreten. Valenti und Moyers war dieser Trip indes gar nicht recht: Man hatte sie plötzlich ins Flugzeug beordert, obwohl sie vom Wahlkampf und vom Parteitag erschöpft waren und man ihnen eigentlich Urlaub versprochen hatte. Ich setzte mich zu einem Mitarbeiter aus dem Stab des Gouverneurs und hatte gerade ein Gespräch über die texanische Lokalpolitik begonnen, als Lady Bird den Gang hinunter kam und sagte: »Kay, da hinten sitzt jemand, der dich sprechen möchte.« Ich ging also nach hinten zum Präsidenten, setzte mich ihm gegenüber an seinen Tisch und begann das Gespräch mit einem Glückwunsch zum Verlauf des Parteitags, zur Nominierung Humphreys und zu seiner gelungenen Parteitagsregie. Dann beschrieb der Präsident aus seiner Sicht, was zur Auswahl Hubert Humphreys als Kandidat für die Vizepräsidentschaft geführt hatte. »Ich habe noch nie zu irgendeinem Thema soviel Basisarbeit geleistet«, sagte er und erwähnte einige der rund zweihundert Anrufe, die er vor der Nominierung getätigt hatte. Er betonte, sein Ziel sei es gewesen, den Meinungsbildungsprozeß so weit voranzubringen, daß alle ziemlich einer Meinung waren und eher ihn zur Nominierung eines Kandidaten drängten, als daß er sie hätte drängen müssen, den Kandidaten seiner Wahl zu akzeptieren. Am Ende, so denke ich, beschworen ihn die Kennedys und andere entscheidende Leute allesamt, Humphrey zu nominieren, und genau so hatte Lyndon Johnson es sich von Anfang an gewünscht. Dann drehte sich unser Gespräch um diverse Leute in den Medien.
Von den Newsweek Journalisten hatte LBJ, wie er sagte, Ben Bradlee zunächst nicht recht getraut, doch inzwischen war er von Bens Qualitäten als akkurater Berichterstatter sehr beeindruckt. Eddie Folliard sei sein Lieblingsreporter bei der Post, nein, sein Lieblingsreporter überhaupt. Dann wandte sich Johnson im Gespräch mit mir den Zeitungen zu, die sich wahrscheinlich für ihn aussprechen würden. Er nannte die Cowles Blätter (unter anderem Minneapolis Tribune, Des Moines Register und Look), Tom Vails Zeitung in Cleveland, Oveta Hobbys Houston Post und den Kansas City Star. Die beiden letztgenannten sprachen sich in der Tat kurz darauf offen für Johnson aus. LBJ spekulierte noch über weitere Blätter und sagte, er glaube, Otis Chandler und die Los Angeles Times würden sich wohl nicht offen zu ihm bekennen. Unverkennbar hoffte er auf unsere Unterstützung, doch ich war nicht bereit, die Haltung, die ich von Phil und meinem Vater übernommen hatte, seinetwegen abzuändern. Nach einigen Bemerkungen über verschiedene Kandidaten für Kabinettsposten sagte er plötzlich, er wolle sich in seinen Schlafraum zurückziehen, und ging abrupt fort. Ich kehrte in den vorderen Teil des Flugzeugs zurück. Als ich gerade mit der Sekretärin des Präsidenten plauderte, kam ein Major der Air Force und sagte: »Sie kommen in den ersten Hubschrauber.« Lady Bird folgte ihm auf dem Fuße, um mir mitzuteilen, daß ich mir das »Gay-Schlafzimmer« als meine Bleibe merken solle, wenn jemand fragen sollte, wohin mein Gepäck komme und wo ich untergebracht sei. Ich nutzte die Gelegenheit für den Vorschlag, daß ich von Austin aus lieber nach Washington zurückfliegen wolle. Ich sagte Lady Bird, der Präsident habe sich bestimmt nur von einer spontanen Laune hinreißen lassen. Die Reise hätte mir viel Freude gemacht, aber nun wolle ich nicht weiter stören, da sie, Lady Bird, bestimmt sehr müde sei und ihr Mann seine Zeit brauche, um mit Hubert Humphrey zu konferieren. Doch sie bestand darauf, daß ich auf die Rauch mitkam; ich hätte aber hoffentlich Verständnis dafür, daß sie erst mal vierundzwanzig Stunden ausschlafen müsse. Leider kam die Arme überhaupt nicht dazu. Auf dem Luftwaffenstützpunkt bei Austin warteten bei brütender Hitze mehrere hundert Leute, und alle vier Hauptpersonen - Lyndon und Lady Bird, Hubert und Muriel - mußten zahlreiche Hände schütteln. Später äußerte der Präsident den Wunsch, anstelle der vielen weißen Hände auch einmal eine »farbige« zu schütteln. Dieses Detail bestätigte, was Bill Moyers mir gesagt hatte, als ich meine Zweifel an der Ernsthaftigkeit der spontanen Einladung nach Texas geäußert hatte: »Keine Sorge, er ist impulsiv, aber er weiß immer genau, was er tut.«
Endlich war auch das Händeschütteln und Fotografieren vorbei, und ein freundlicher Major der Air Force brachte mich mit den anderen Frauen diskret in den Hubschrauber, ehe die Kandidaten einstiegen. So entging ich dem Blitzlichtgewitter, und ich war froh darüber. Schon zuvor hatte ich einen großen Teil meiner Zeit auf dem Flugplatz damit verbracht, den Medienvertretern aus dem Weg zu gehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und um nicht auf Fotos der Kandidaten und ihrer Familien zu geraten. Ich war von den Humphreys fasziniert, die ich vorher noch nicht gut gekannt hatte. Hubert fand ich wirklich witzig, sehr menschlich und ehrlich. Während des Hubschrauberflugs kam es zu einem interessanten Austausch der beiden Politiker über ihre Väter: Wie stolz diese doch gewesen wären, hätten sie ihre Söhne noch auf dem Gipfel der Macht erleben können! Auch über politische Ernennungen wurde kurz gesprochen. Johnsons Wunschkandidat für das Amt des Justizministers war der Richter am Supreme Court, Arthur Goldberg. Doch LBJ war nicht sicher, ob dieser das Amt auch annehmen würde: »Ich habe kürzlich mit ihm gesprochen, aber gerade hatte ich meine Hand unter seinem Rock und arbeitete mich langsam nach oben, als wir unterbrochen wurden« - typisch für Johnsons drastischen Humor. Einen kurzen Augenblick war ich beunruhigt, als LBJs Kopf plötzlich vornüber sank und der Präsident einen Kurzschlaf einlegte, aber das Nickerchen schien ihn regelrecht wiederzubeleben. Er wachte gerade noch rechtzeitig auf, um uns aus der Luft die Farm und das Schwimmbecken zu zeigen, ehe der Helikopter inmitten von Staubwolken landete, die über die Rinderherden auf den umliegenden Weiden hinwegzogen.
Der Präsident ließ mich auf einem bereitstehenden elektrischen Golfwagen vorn neben sich Platz nehmen. Er selbst saß am Steuer, Lady Bird auf der anderen Seite neben min Die drei Humphreys nahmen die hinteren Plätze ein, und schon tuckerten wir los. Statt uns auf direktem Weg zum Wohnhaus zu fahren, bog Lyndon auf die Fahrstraße über den Pedernales River zum Hauptportal der Rauch und von dort auf die Landstraße. Die vorbeifahrenden Autos verlangsamten ihr Tempo, um den Präsidenten aus der Nähe zu sehen. Die Leute winkten, und der Präsident begrüßte sie. Fast aus jedem Auto hing ein Fotoapparat heraus, und LBJ hielt bereitwillig an, um sich knipsen zu lassen. Als die Leute dann auch noch ausstiegen, um die Hand des Präsidenten zu schütteln, kam es zu einem Verkehrsstau. Die Leibwächter, die an Johnsons spontane Einfälle schon gewöhnt waren, machten gute Miene zu diesem Spiel, ich merkte aber, wie sie plötzlich von überallher auftauchten und alles genau beobachteten. Schließlich fuhr der Präsident zum Wohnhaus zurück. Unterwegs schmiedete er schon Pläne für den obligatorischen Bootsausflug, doch Lady Bird steckte ihn erst einmal mit sanfter Gewalt ins Bett, während ich mit den Humphreys schwimmen ging. Nach nur kurzer Ruhepause erschien LBJ wieder auf der Bildfläche und fragte, ob wir nicht Lust zu einem Bootsausflug hätten. Wir stimmten zu und fanden uns - zu Muriels und meinem großen Erstaunen - erst einmal im Hubschrauber wieder. Wir flogen über eine Gegend, die wie eine braune Wüste aussah, um noch einen Freund abzuholen, und dann zurück zu einem riesigen Binnensee, wo das Boot des Präsidenten lag. »Komm her, Kay«, sagte der Präsident, »du fährst mit mir im kleinen Boot.« Alle anderen stiegen in das größere Motorboot, während er mit mir
und seiner jungen Sekretärin, die auf seinen Wunsch hin Wasserski fuhr, wie ein Wilder losjagte. Inzwischen dämmerte es, und auf dem Wasser war es auch schon recht kühl. Bei diesem Höllentempo schlug Lyndons Boot öfter wie auf Beton auf, was ihn aber nur vorübergehend veranlaßte, die Geschwindigkeit zu drosseln. Uns folgten zwei Boote mit Leibwächtern, die versuchten, der Skifahrerin nicht in die Quere zu kommen. Schließlich übergab der Präsident das Schnellboot einem Leibwächter und stieg mit mir in das große Boot zu den anderen. Hier kam er erneut auf die Nominierungsprozedur für Hubert Humphrey zu sprechen. Seine eigene Nominierung, sagte er, habe er weitgehend Phil zu verdanken gehabt; Phil habe schon immer mehr von ihm gehalten als andere. Er vertraute mir ebenfalls an, daß viele, besonders Konservative, auf die Nominierung Robert McNamaras als Vizepräsident gedrängt hätten, ohne zu bedenken, daß - so Johnson - McNamara viel liberaler war, als sie dachten. Allein die Tatsache, daß er Ford-Konzernchef gewesen sei, habe ihn ja noch nicht zum Konservativen gemacht. Die Tischgespräche beim Abendessen waren politischer Natur, aber vielseitig. Und obgleich wir nach einem langen Tag alle mehr als bettreif waren - ganz zu schweigen von der anstrengenden Woche, die hinter uns lag -, schlug der Präsident nach dem Abendessen vor, wir sollten uns noch ein wenig die Beine vertreten und zu seiner Cousine Oriole und Tante Jessie gehen, die in einem kleinen Häuschen am Ende des Weges wohnten. Aunt Jessie war das jüngste Mitglied der älteren Johnson-Generation und die einzige, die noch lebte. Oriole war fast taub, und der Präsident mußte wie wild an die Tür hämmern und herumschreien, ehe die beiden Damen aufwachten und die Tür öffneten. Wir warteten einen Augenblick, bis beide einen Morgenmantel übergezogen hatten, und setzten uns dann alle auf die Veranda, auf der Aunt Jessie geschlafen hatte. Der Präsident legte sich aufs Bett seiner Tante und schlief prompt ein, während wir anderen uns mit der alten Dame unterhielten - ein Ritual, das bei jedem Besuch LBJs in der Heimat befolgt wurde, wie uns die Sekretärinnen erzählten. Als wir zum Wohnhaus der Rauch zurückgingen, wandte sich Lady Bird zu mir und sagte: »Kay, ich glaube, ich kann dir nicht mal sagen, wie du morgens an dein Frühstück kommst. Wir hatten im Haus mal ein wirklich einfaches System, aber dann wurde alles geändert, und jetzt verstehe ich es selbst nicht mehr.« Sie fragte einen der Leibwächter, die neben uns gingen, was ich denn tun solle. »Rufen Sie doch einfach die Telefonvermittlung an, die kann Sie mit der ganzen Welt verbinden.« Lachend wollte ich wissen, ob ich mich so auch wirklich mit der Küche verbinden lassen könne. Der Samstag verlief ganz ähnlich wie der vorangegangene Tag. Die beiden Kandidaten besprachen ihre Wahlkampfstrategie. Humphrey erklärte sich freiwillig bereit, die ländlichen Gebiete zu übernehmen, wo er sich zu Hause fühlte. Von einer weiteren Bootstour kamen wir so spät zurück, daß wir nicht mehr pünktlich zu einem ländlichen Barbecue zu Ehren von LBJs Geburtstag erschienen. Lyndon schimpfte den ganzen Weg über vor sich hin. All das habe ihm allein Lady Bird eingebrockt. Er behandelte sie so unmöglich, daß ich schließlich vom Vordersitz aus spontan sagte: »Jetzt halt doch endlich mal den Mund, äh ... Herr Präsident.« Auf einmal war mir alles höchst peinlich, denn Lyndon Johnson war für mich durchaus eine Respektsperson, obwohl wir uns schon lange kannten. Einen Augenblick lang herrschte Stille, dann brach Hubert Humphrey, jovial und witzig wie immer, das Schweigen mit einer Bemerkung, die die Spannung löste. Beim Barbecue hielt der Präsident einen langen Vortrag über weltpolitische Themen. Als ich auf dem Nachhauseweg darauf zu sprechen kam, sagte er, er wolle einfach nicht, daß all die Reporter dächten, sie hätten es hier mit Hinterwäldlern zu tun und er, der Präsident, nehme diese Leute nicht ernst. Allerdings habe seine Rede viel länger gedauert als beabsichtigt. Ich hielt sie trotzdem für sehr gelungen. An diesem Abend waren als späte Gäste noch einige Nachbarn zum Essen geladen. Wieder drehten sich die Tischgespräche um alle möglichen Themen, doch LBJ schien, obwohl er in einem fort redete, so geistesabwesend zu sein, daß ich mir die Frage nicht verkneifen konnte, ob er sich wegen der Situation in Vietnam große Sorgen mache - ein Thema, das noch gar nicht zur Sprache gekommen war. »Ja, ganz bestimmt«, lautete seine lakonische Antwort. Einmal wandte er sich zu Humphrey und sagte: »Gott hat eine komische Art, sich um die Dinge zu kümmern. Ich glaube, er tut das, weil ich immer alles richtig machen will.« Nach dem Essen saßen Johnson und Humphrey mit einigen Mitarbeitern noch bis zwei Uhr morgens beisammen und planten den Wahlkampf. Eigentlich wollten wir am Sonntagmorgen um neun Uhr starten, doch daraus wurde nichts. Vielmehr lautete der Beschluß, gemeinsam in Fredericksburg, etwa 50 Kilometer von der Rauch entfernt, in die Kirche zu gehen. Dieser Abstecher war zwar nicht angekündigt, aber trotzdem fanden sich etliche Reporter und Fotografen ein. Die Kirche war so klein, daß die Johnsons, nachdem sie die Kommunion empfangen hatten, ihre Plätze in der ersten Reihe räumen und so lange an der Seite stehen mußten, bis alle anderen zur Kommunion gegangen waren. Auf dem Rückweg zur Rauch saß der Präsident wieder am Steuer, während die Autokolonne dahinter immer länger wurde. Man begab sich zum Geburtshaus des Präsidenten, das neu hergerichtet worden war. Als wir ausstiegen, erteilte LBJ den Leibwächtern Anweisung, sie sollten nur den Fotografen gestatten, uns zu folgen. Ungefähr anderthalb Stunden lang wurden nun Aufnahmen gemacht, zunächst am Geburtshaus, dann auf (-lern alten Familienfriedhof, auf der Weide bei einer Rinderherde und schließlich am Häuschen des Verwalters. Das war ein außergewöhnliches Erlebnis. Im Gedächtnis ist mir auch eine Bemerkung Humphreys geblieben, nachdem er in einen Kuhfladen getreten war: »Oh, Herr Präsident, ich bin gerade in die Wahlplattform der Republikaner getreten.«
Das Flugzeug, das wir nach dem reichlich späten Mittagessen eigentlich in Austin besteigen sollten, wurde auf die Ranch umdirigiert. Kurz vor unserer Abreise bat ich den Präsidenten noch um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. Er nahm mich in sein Schlafzimmer mit und legte sich aufs Bett, während ich auf einem Stuhl Platz nahm. Dann sprach ich mit ihm, wie ich es von Phil kannte, später aber nie mehr getan hatte, und wie es mir heute regelrecht peinlich ist. Ich sagte, ich hätte das Gefühl, er glaube, daß sich meine Einschätzung seiner Person von der Phils unterscheide. Doch dem sei nicht so, Phil und ich seien im wesentlichen einer Meinung gewesen. Ich sagte, daß ich Präsident Kennedy zwar bewundert und geliebt hätte, daß Phil jedoch persönlich mit JFK viel besser zurechtgekommen sei als ich. Ferner verlieh ich meiner Bewunderung über seine, Johnsons, Gesetzesinitiativen Ausdruck. Ich sei für ihn, und er solle das wissen. Obwohl wir bei der Post die Linie vertraten, keine offiziellen Wahlkampfspenden zu vergeben, war diese Maxime nicht strikt befolgt worden. Phil hatte nicht selbst für Kandidaten gespendet, ich indes schon. Vermutlich vergaß ich, daß ich inzwischen auf den Stuhl der Verlegerin gewechselt war, als ich Lyndon Johnson jetzt sagte, meine Mutter und ich wollten unseren Beitrag zu seinem Wahlkampf leisten. (Später gelangte ich jedoch zu der Ansicht, daß unsere Zeitung vollkommen neutral sein müsse, und ich beschloß, in Zukunft Präsidentschaftskandidaten keinerlei Wahlkampfspenden mehr zu gewähren.) Präsident Johnson sagte zum Abschluß unseres kurzen Gespräches, er wisse unsere in der Vergangenheit gewährte Unterstützung sehr zu schätzen, und fügte warmherzig hinzu, wir müßten uns öfter sehen. Auf den Wunsch, offiziell von der Post unterstützt zu werden, kam er nicht zu sprechen. Vielmehr sagte er, er habe Verständnis dafür, daß ich eine unabhängige Zeitung führen müsse, und gab mir zum Abschied einen Kuß. In der Öffentlichkeit hielt ich meinen Standpunkt der Unabhängigkeit bis zum Ende des Präsidentschaftswahlkampfes durch, doch privat und im Freundeskreis war ich unverhohlen für LBJ. Trotz seiner gegenteiligen Äußerungen mir gegenüber war Lyndon Johnson durch unser Festhalten an einer unabhängigen Position tief verletzt. Er konnte einfach nicht verstehen, warum es ihm gelungen war, so viele republikanische Zeitungen und sogar rechte Blätter auf seine Seite zu bringen, nicht jedoch die liberale Washington Post. Ich bin sicher, daß er selbstverständlich angenommen hatte, Phils alte Zeitung, die Zeitung seiner Wahlheimat, der gegenüber er immer so großzügig gewesen war, wer e sich offen für ihn aussprechen. Er muß das Gefühl gehabt haben, daß ich nach all der besonderen Aufmerksamkeit, die er mir persönlich gewidmet hatte, auf seiner Seite stehen und diese Linie auch der Zeitung vorgeben müsse. Ich hatte aber diesen Grundsatz der Neutralität im Wahlkampf nicht nur geerbt, ich glaubte auch persönlich fest daran. Natürlich hatte Phil 1952 offen für Eisenhower Partei ergriffen, aber nur im Vorfeld des Nominierungsparteitags der Republikaner. Im eigentlichen Präsidentschaftswahlkampf galt dann wieder das Prinzip der Nichteinmischung. Ich hätte natürlich für ein offenes Votum der Post zugunsten Johnsons sorgen können, aber Russ wollte dabei nicht mitspielen, und ich war damals in meinem Denken noch nicht wirklich unabhängig. Auch hätte ich wegen eines so gewichtigen Themas zu einem so frühen Zeitpunkt unserer Zusammenarbeit auf keinen Fall einen Konflikt mit Russ riskiert.
Der Wahlkampf strebte im Herbst seinem Höhepunkt zu, als Scotty Reston mir vorschlug, ich solle ein paar Tage lang im Presseflugzeug jedes der beiden Kandidaten mitfliegen, um am eigenen Leibe zu erleben, was Wahlkampf wirklich bedeute. Dieser Vorschlag war genau das, was ich wollte, und so schloß ich mich mit Chal Roberts in Indianapolis dem Pressekontingent des Präsidenten an. Dort trafen wir auch Chuck Roberts von Newsweek, und gemeinsam fuhren wir drei in die Innenstadt, wo der Präsident auf einer Rednerbühne in der Nähe eines Denkmals zu den Menschen sprechen sollte. LBJ stand auf der höchsten Ebene der Bühne, wir befanden uns - zusammen mit anderen Presseleuten - eine Ebene tiefer. Ich ging umher und genoß das bewegende Schauspiel. Plötzlich klopfte mir jemand auf die Schulter, und als ich mich umdrehte, sah ich Rufus Youngblood, den Leibwächter des Präsidenten. Ich trug einen Wollmantel in knalligem Pink, an dem mich der Präsident erkannt hatte.
»Mrs. Graham, der Präsident möchte gern mit Ihnen sprechen«, sagte Rufus. »Wo denn?« entgegnete ich. »Da oben«, erwiderte er und zeigte auf die obere Plattform. Ich rief: »Dorthin kann ich nicht gehen!« Denn auf dieser Plattform, zwei bis drei Meter über unseren Köpfen, stand Lyndon Johnson fast ganz allein. Mit sanftem Nachdruck sagte Rufus: »Mrs. Graham, Ihnen bleibt keine andere Wahl.« Also stieg ich auf einer Leiter mehrere Stufen nach oben, bis ich über den Rand der Plattform sehen konnte, und begrüßte den Präsidenten. »Hast du Lust, mit mir zu fliegen?« fragte er. Das Wochenende auf seiner Ranch lag noch nicht lange zurück, und zum Wohle der Zeitung wollte ich auf keinen Fall den Eindruck erwecken, Johnson ungebührlich nahe zu stehen. Meine vorsichtige Antwort lautete daher: »Nein danke, Herr Präsident. Ich bin Ihnen für dieses Angebot außerordentlich dankbar, aber ich habe mir vorgenommen, im Pressetroß mitzureisen.« In seiner typischen Manier antwortete er spöttisch: »Na, du hast wohl einen Freund im Flugzeug sitzen?« Ich bedauerte, damit nicht dienen zu können. Nein, ich wolle wirklich ein Gefühl für den Wahlkampf und die Arbeitsbedingungen der Reporter bekommen. »Na schön«, antwortete er. »Aber dann komm doch in Cleveland auf mein Hotelzimmer.« Vorsichtig stieg ich die Leiter wieder zu Chal und Chuck hinunter, und nicht lange darauf brachen wir nach Cleveland auf. Im Presseflugzeug herrschte eine gute Stimmung. Auch genoß ich es, in den Pressebussen hinter der Motorradkolonne des Präsidenten herzufahren. Natürlich kann eine solche Wahlkampfreise sehr ermüdend werden, wenn sie einen ganzen Wahlkampf lang dauert, aber meine Stippvisite war durchgehend ein großes Erlebnis. Damals ging es in den Presseflugzeugen noch ganz anders zu als heute, wo die Reporter kaum noch direkten Zugang zu den Kandidaten und Wahlkampfmanagern haben. Als wir in Cleveland angekommen waren, suchte ich LBJ in seinem Hotelzimmer auf. In Gegenwart von Jack Valenti lag der Präsident auf einem der Betten in seiner Suite. Die beiden sprachen über den Verlauf von Lady Birds Wahlkampfreise mit dem Zug durch die Südstaaten. Während ich im Zimmer war, erregte irgend etwas Johnsons Zorn, und ich wurde Zeugin einer peinlichen Szene, die mich noch sehr lange bewegte. Urplötzlich nahm sich der Präsident Valenti vor und warf ihm - ohne Rücksicht auf mich als relativ Fremde - wüste Beschimpfungen an den Kopf. Das Ganze war willkürlich und unmenschlich - weder davor noch danach habe ich so etwas erlebt. Zwar hatte ich schon viel über LBJs Wutausbrüche gehört, sein Temperament aber noch niemals zuvor in Aktion erlebt. Jack dagegen war dergleichen gewohnt und blieb äußerlich ungerührt, während ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Ich verschwand so schnell wie möglich.
Von Cleveland ging es weiter nach Louisville, Kentucky, und von dort am nächsten Tag nach Nashville, Tennessee. Die Tour endete wie geplant in New Orleans, wo sich der Wahlkampfstab des Präsidenten mit Lady Bird und ihrem Gefolge am Ende von deren Bahnreise durch die Südstaaten traf. Um meinem Ziel der Ausgewogenheit treu zu bleiben, flog ich auch in Goldwaters Presseflugzeug mit: zuerst nach New York, von dort zu einem Abendauftritt des Kandidaten in Los Angeles und schließlich zu einer Kampagne über die Dörfer bis nach San Diego. Sosehr mich seine Überzeugungen und Ansichten auch abstießen, Goldwater selbst war ein charmanter Mann, und es machte großen Spaß, ihm dabei zuzusehen, wie er auf kurzfristig einberufenen Wahlversammlungen in den kleinen Orten sprach, ehe es direkt danach zum nächsten Städtchen weiterging. Einen Monat nach dem ersten Jahrestag von Phils Tod besuchte mich Lally ganz aufgeregt mit ihrem Freund Yann Weymouth, um mir zu erzählen, daß sie sich mit Yann verlobt habe und in wenigen Monaten heiraten wolle. Yann studierte Architektur am MIT in Cambridge, Massachusetts, und Lally hatte noch ein Jahr auf dem Radcliffe College in Harvard vor sich. Ich hatte das Gefühl, daß beide noch schrecklich jung waren, behielt aber meine Bedenken für mich - hätte ich sie zum Ausdruck gebracht, hätte das sicher auch nichts geändert, und mein gutes Verhältnis zu Lally und Yann wäre vielleicht beeinträchtigt worden. Ich schrieb meiner Mutter sogar einen Brief, in dem ich mich bemühte, über die geplante Ehe mehr Zuversicht zu verbreiten, als ich selbst aufbringen konnte. In diesem Brief werden teilweise meine Sorgen, aber auch meine damaligen Ansichten zur Rolle der Frau deutlich: Eine der Sorgen, die ich mir Lallys wegen machte, hatte damit zu tun, daß sie ihren Vater so sehr verehrte, daß sie vielleicht keinen Partner finden würde, der ihm, Phil, in ihren Augen gewachsen war. Das Gute an Yann ist, daß sie ihn nicht nur liebt, sondern auch in jeder Hinsicht zu ihm aufschaut - geistig wie moralisch. Er führt, und sie folgt. Bedenkt man die Stärke und Willenskraft unseres Mädchens, dann hat sie wirklich ein seltenes Glück gehabt, ihn zu finden.
Nach dem Erdrutschsieg LBJs verbrachte ich den größten Teil des Monats November mit beruflichen Angelegenheiten und vertiefte mich gleichzeitig in die Hochzeitsvorbereitungen. Am Wochenende nach Thanksgiving sollte der große Tag sein. Eine Art Intermezzo bildete ein Abend im Weißen Haus, der mir damals längst nicht so komisch vorkam wie heute. Joe und Susan Mary Alsop waren mit mir zu einer kleinen Party aus Anlaß des dreißigsten Hochzeitstages der Johnsons eingeladen. Wir drei waren die einzigen, die nicht zum allerengsten Kreis gehörten. Der Präsident hatte sehr schlechte Laune - ob von Anfang an oder erst im Laufe des Abends, weiß ich nicht mehr. Laut Susans Erinnerungen gab es einen liebevoll hergerichteten Tisch, der vor Geschenken überquoll. Doch LBJ sah verächtlich hin und sagte: »Was soll all dieses Gerümpel? Bring es weg, Bird, und laß uns was essen.« Nach dem Essen, das nicht lange dauerte, kehrten wir aus dem eleganten Eßzimmer ins Wohnzimmer der Familie zurück, doch der Präsident ging frühzeitig in sein Schlafzimmer, das direkt neben dem Wohnzimmer lag, während wir anderen uns unterhielten. Wir waren gerade dabei, uns von Lady Bird zu verabschieden, als die Doppeltür zum Schlafzimmer plötzlich weit aufgestoßen wurde und der Präsident erschien. Er sah mich unverkennbar wütend an und bellte: »Komm mal her!« Ich blickte verstohlen über meine Schulter in der leisen Hoffnung, es könne vielleicht jemand anders gemeint sein. Doch er hatte es eindeutig auf mich abgesehen. »Und du kommst gleich mit«, wurde auch Abe Fortas herbeizitiert.
Wir gingen in sein Schlafzimmer, wo auf dem heruntergeklappten Bett die Frühausgabe der Washington Post lag. Die Schlagzeile verkündete in großen Lettern, daß Walter Tobriner, der Leitende Regierungskommissar des District of Columbia (also praktisch der Oberbürgermeister von Washington), einen neuen Polizeichef ernannt habe. LBJ war außer sich vor Wut. Er habe Tobriner doch ausdrücklich gesagt, er solle nichts unternehmen, ohne sich vorher mit ihm abgesprochen zu haben. Denn Johnson wollte einen neuen »Super Polizeichef« ernennen, der sich gezielt um die Verbrechensproblematik in Washington kümmern sollte - die einzige Möglichkeit für einen Präsidenten, bei diesem Thema selbst Akzente zu setzen, weil Polizei und Verbrechensbekämpfung sonst Angelegenheit der einzelnen Bundesstaaten waren. Nun setzte mich Präsident Johnson mit der Post gleich und sah im Erscheinen dieses Artikels in der Frühausgabe der Zeitung allein meinen Fehler. Es sei doch die Post gewesen, die Tobriner aufgebaut habe, niemand sonst, schimpfte er und kam so richtig in Fahrt. Während er mich anschrie, begann er sich zu entkleiden, wobei er Jacke, Krawatte und Hemd auf einen Stuhl oder auf den Boden warf. Schließlich wollte er die Hose herunterlassen. Ich erinnere mich noch, wie ich damals bei mir dachte: Das kann doch wohl nicht wahr sein, daß ich hier stehe und mich vom Präsidenten der Vereinigten Staaten anbrüllen lasse, während er sich auszieht. Plötzlich bellte er mich an: »Dreh dich um! « Gehorsam und dankbar tat ich, wie mir befohlen, und er setzte seine wütende Suada fort, bis ich mich auf sein Geheiß wieder umdrehte und er im Schlafanzug vor mir stand. Kurz und knapp sagte er uns beiden gute Nacht, und Abe und ich machten kehrt und suchten das Weite. Das letzte große Ereignis dieses Jahres war für mich die Hochzeit von Lally und Yann. Die Trauung fand in der Navy Chapel in Washington statt, der anschließende Empfang bei uns zu Hause. Felix Frankfurter hatte Lally geschrieben, er habe das Gefühl, es wäre ganz in Phils Sinn gewesen, wenn er den Brautführer gespielt hätte, doch als die Hochzeit stattfand, saß Felix nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Also führte Don seine Schwester zum Altar. Lally trug ein wunderschönes Brautkleid von Mainbocher, das ihr meine Mutter geschenkt hatte. Die Ehe hielt zwar nur wenige Jahre, aus ihr gingen aber zwei wunderbare Kinder hervor, meine beiden ältesten Enkelinnen Katharine und Pamela Weymouth.