Als ich nach Abschluss meines Studiums wieder daheim war, schlug mein Vater mir vor, ich solle ihn doch nach Kalifornien, in das Land seiner Jugend, begleiten. Unsere kalifornische Verwandtschaft kannte ich kaum, aber sie war mir schnell sympathisch. Auch in San Francisco verliebte ich mich: in die Schönheit der Stadt, die Bewohner, das Lebensgefühl, in die Freundlichkeit und Zwanglosigkeit des urbanen Lebens. Ziemlich bald schon kam mir der Gedanke, daß es wunderbar wäre, in solch angenehmer Atmosphäre zu wohnen und zu arbeiten. Ich beschloß also zu versuchen, ob ich nicht dableiben könnte, und sagte meinem Vater, wenn er mir behilflich sein könnte, hier eine Stelle zu finden, dann würde ich auch meinen Stolz beiseite schieben und einen Job absagen, den ich mir in Chicago bereits selbst besorgt hatte.
Damals gab es in San Francisco vier Zeitungen. Von den Morgenzeitungen war der Chronicle wohl am angesehensten. Das Konkurrenzblatt war Hearsts Examiner, die beste und stärkste Zeitung im damals noch florierenden Imperium des Verlegers. Die beiden Nachmittagszeitungen waren Beispiele für den typisch altmodischen, auf den SUaßenverkauf ausgerichteten Sensaüonsjournalismus: riesige Schlagzeilen, brandaktuelle Nachrichten und wesentlich mehr Sex und Revolvergeschichten als in den Morgenzeitungen. Mein Vater rief bei seinem Freund George »Deke« Parker von Scripps-Howard an und besorgte mir bei deren Zeitung, den San Francisco News, einen Zweimonatsjob. Die Konkurrenz der San Francisco News am Nachmittag bestand übrigens auch aus einem Hearst-Blatt, dem Call-Bulletin.
Überraschenderweise hatte sich mein Vater nicht an seine Freunde beim Chronicle, der bekannteren und traditionelleren Zeitung, gewandt, aber die News erwiesen sich für mich als großer Segen, handelte es sich doch um ein typisches Blatt der zwanglosen, personell unterbesetzten, ruppigen, kampfeslustigen, amüsanten Art - ideal für eine Anfängerin, die sich die ersten Sporen verdienen wollte. Der Anfang allerdings verlief gar nicht so glücklich. Ich ging in die Stadtredaktion, ohne irgend jemanden zu kennen und ohne - was noch viel schlimmer war - das elementare Handwerkszeug zu beherrschen. Mit der Schreibmaschine stand ich noch auf Kriegsfuß, und auch meine Erfahrungen als Reporterin hielten sich in engen Grenzen. Ich kannte die Stadt nicht und wußte auch nicht, wie ich mich darin zurechtfinden sollte. Alles erschien mir auf einmal so überwälügend. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und gab mich Versagensängsten hin; ich war verloren und geschlagen, noch ehe ich überhaupt angefangen hatte.
Mein Vater war noch ein paar Tage dageblieben, und so stürzte ich eines Abends in sein Zimmer, brach in Tränen aus und gestand, daß ich mich wohl doch übernommen hatte. Ich sähe mich nicht in der Lage, meinen Aufgaben gerecht zu werden, und für die Zeitung sei ich nur Ballast, auf jeden Fall mein Wochengehalt von 21 Dollar nicht wert. Kurz und gut, er solle mich wieder mit nach Hause nehmen. Doch Papa erwiderte einfach, am Anfang müsse jeder Lehrgeld zahlen und ich solle lieber noch ein wenig länger durchhalten, ehe ich kapitulierte. Ich ließ mich überzeugen.
Nur einen Monat später machte mir mein neues Leben bereits Spaß. Schon Mitte August hatte ich das Gefühl, daß es mehr Hochs als Tiefs gebe. Langsam erwachte mein Ehrgeiz, und ich konnte schon etwas weiter vorausschauen als bis zum nächsten Absatz. Ich merkte, daß nicht nur die News, sondern San Francisco überhaupt für eine Berufsanfängerin wie mich bestens geeignet waren. Denn hier wußte niemand, daß ich mit Größen aus dem Zeitungsgeschäft in Verbindung stand; und wenn es doch jemand wußte, war es egal. Die meisten Leute hatten von der Washington Post überhaupt noch nichts gehört, und ich vermute sogar, daß einige nicht einmal wußten, daß es eine Stadt namens Washington gab.
Ich lernte, telefonisch übermittelte Nachrichten zu schreiben oder neu zu fassen. Das Schreiben dauerte bei mir allerdings immer noch zu lange. Dafür erschienen meine Storys mit weniger Abänderungen durch die abgebrühte Stadtredaktion. Ich war auch mit elementaren Aufgaben betraut wie der, Leute für Fotos ausfindig zu machen, und berichtete einmal sogar über ein Treffen der Barkeeperveredigung. Meinen ersten ernsthaften Auftrag hatte sich irgendein Redakteur ausgedacht: Die Women's Christian Temperance Union, eine Antialkoholikerinnenvereinigung, hielt ein Treffen in der Stadt ab, und ich sollte nun einige Delegierte in eine Bar locken - mit dem einfachen Vorschlag, sie sollten sich doch einmal den Schauplatz jener Verbrechen anschauen, gegen die sie so lautstark zu Felde zögen. Über diesen Besuch sollte ich dann eine Story schreiben. Beides gelang ohne Probleme.
Schon kurz nachdem ich meinen Job angetreten hatte, beugte sich mein Büronachbar Bob Eboe der erfahrene Spezialist der News für Fragen der Arbeitswelt, zu mir herüber und sagte, er habe gehört, daß ich mich für Reportagen aus dem Arbeitsleben interessierte. Er fragte mich, ob ich seine Assistentin (»Laufbursche«, legman, wie man das damals nannte) für zwei große Themenbereiche sein wolle, über die er berichtete: die wachsende Konfrontation im Hafen, bei der eine Aussperrung der Schauerleute der Warehousemen's Union bevorstand, und der angedrohte Streik der Einzelhandelsverkäufer gegen die Kaufhäuser der Stadt. Ich sagte lebhaft und begeistert ja, und so begann eine lange Geschichte, die mich viele Wochen im Hafengebiet von San Francisco beschäftigt hielt und bei der ich viele der Hauptbeteiligten kennenlernte.
Damals, als ich mit der Arbeit an der Aussperrungsstory begann, waren Schauerleute und Lagerarbeiter - jene, die die Schiffe be- und entluden, sowie jene, die die Güter in die Lagerhäuser brachten und sie später auch wieder auslieferten - noch alle in einer einzigen großen Gewerkschaft organisiert, der International Longshoremen and Warehousemen's Union (ILWU). Doch die Spediteure in allen Industriezweigen waren es leid, von dieser immer mächtiger werdenden Gewerkschaft getrennt nacheinander über den Tisch gezogen und gegeneinander ausgespielt zu werden. Sie waren nun ihrerseits zusammengekommen und hatten beschlossen, ihre vereinte Macht (in der Distributors Association) zur Geltung zu bringen, indem sie die Schauerleute der ILWU aussperrten, um einen neuen Manteltarifvertrag für den gesamten Hafenbereich aushandeln zu könneu.
Als nun im Woolworth-Lagerhaus gestreikt wurde, ließ die Distributors Association einen Frachtwaggon, der von gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeitern beladen worden war, heranbringen und ordnete dessen Entladung an. Dieser »heiße Wagen«, wie er schon bald genannt wurde, wurde nun im ganzen Hafengebiet hin und her geschoben; an jedem Lagerhaus Weh er an, und die Arbeiter erhielten den Auftrag, ihn zu entladen. Weigerten sich die Gewerkschaftsmitglieder, so blieb ihnen nur die Wahl, selbst in den Streik zu ziehen oder ausgesperrt zu werden.
Eine meiner Aufgaben als Reporterin bestand nun darin, den Weg des »heißen Wagens« durch den Hafen zu verfolgen, jedes Lagerhaus, an dem er hielt, und den anschließenden Streik zu beobachten und Elliott über alles zu berichten. So wurde also der Hafen mein Terrain. Meine hauptsächlichen Anlaufstellen waren die ILWU, die Distributors Association und das Pacific Coast Labor Bureau, eine weitere wichtige Instanz in der ganzen Geschichte. Dieses Büro bestand aus radikalen gewerkschaftlichen Wirtschaftsfachleuten und Verhandlungsspezialisten. Einer der fähigsten und härtesten, gleichwohl persönlich liebenswertesten von ihnen war Sam Kagel. Kagel war ein äußerst erfolgreicher Verhandlungsführer auf seiten der ILWU, und für Journalisten hatte er überhaupt nichts übrig. Mein Glück war allerdings, daß er von allen Zeitungen, die über den Arbeitskampf im Hafen berichteten, die News noch am ehesten leiden konnte, weil sie seiner Meinung nach von allen negativ gegen die Gewerkschaften eingestellten Blättern noch das fairste waren.
Eigentlicher Boß der ILWU war Harry Bridges, der radikale australische Einwanderer, der den gewalttätigen Streik der Hafenarbeiter im Jahr 1934 angeführt hatte. Die Lagerarbeiter innerhalb der Großgewerkschaft wurden von einer anderen starken Persönlichkeit geleitet, Eugene Patton. Dieser war ein echtes Kind des Hafenmilieus; alle Angehörigen seiner riesigen Familie waren dort aufgewachsen und verdienten auch ihren Lebensunterhalt dort oder auf Schiffen. Patton, oder Pat, wie er allgemein genannt wurde, war eine herrlich romantische Figur: clever, witzig und spontan, wenn auch ohne jede reguläre Schulbildung. Er war ein tapferer, charismatischer Führer.
Sowohl Patton als auch Kagel und Bridges sagten mir, ich könne mich in ihrem Büro wie zu Hause fühlen, und wenn sich etwas Besonderes tue, werde man mich informieren. Am Abend kamen alle drei zum Informationsaustausch und zur Entspannung zusammen, und ich begann mich ihnen anzuschließen. Wir verbrachten viele Stunden in irgendeiner der über zwanzig kleinen, dunklen Bars im Hafenbereich. Als Drinks nahmen wir sogenannte Boilmaker zu uns, Bier mit einem Schuß Whiskey, für 25 Cent pro Glas. Wer zwei nahm, bekam den dritten gratis - für eine Einundzwanzigjährige ganz schön harter Stoff.
Wir wurden alle gute Freunde. Bei Pat und mir war es - auf eine für Journalisten eigentlich unzulässige, höchst unprofessionelle Weise, wie ich heute sagen muß - sogar noch mehr: eine Romanze. Wir mochten uns sehr gern. Er war nicht nur hochintelligent, sondern sah auch sehr gut aus. Einige Wochen, nachdem wir uns kennengelernt hatten, bekam ich allerdings mit, daß er verheiratet war und daß er ein ernsthaftes Alkoholproblem hatte.
Ich hatte mich über meine Herkunft ausgeschwiegen und galt deshalb bei den Arbeiterführern lange nur als Reporterin der News. Bis das Ende meines befristeten Arbehsverrags fast erreicht mt Padon hatte irgend etwas von Zukunftsplänen gesagt, woraufhin ich antwortete, ich sei nicht sicher, ob ich dann noch da sei. »Warum das«, fragte er, »werfen sie dich raus?« Das könne man so nicht sagen, erwiderte ich. Und dann erzählte ich ihnen, daß meine Anstellung nur über zwei Monate gehe und daß mein Vater, ein Verleger von der Ostküste, mir diese Stelle besorgt habe. Nun wollten sie natürlich wissen, wer mein Vater sei und welche Zeitung er besitze. Als ich ihnen die Wahrheit sagte, waren sie im ersten Augenblick sehr überrascht und verwirrt. Aber sie akzeptierten mich trotzdem, und so ging alles weiter wie bisher.
Der Arbeitskampf im Hafen endete schließlich mit einem Patt, und so mußte ein Vermittlungsverfahren stattfinden. Dadurch änderte sich auch das Terrain für uns Reporter. Jetzt mußten wir stundenlang vor den Türen des Verhandlungsraums ausharren und auf Unterbrechungen warten. An einem Tag nahmen die Verhandlungsführer bereits Platz, als noch Reporter im Raum waren. Am Abend zuvor hatte die Eröffnung der Opernsaison stattgefunden - in San Francisco eines der größten gesellschaftlichen Ereignisse des Jahres , für die sich alle übertrieben herausputzten. Dazu hatte mich meine Tante eingeladen, und ich hatte mir aus Washington mein bestes Kleid aus dem Vorjahr kommen lassen: ein langes, dekolletiertes und rückenfreies schwarzes Samtkleid mit breiten Trägern aus Leopardenfell. In den Zeitungen wurde dieser Abend natürlich ausführlich gewürdigt, und auf einem Foto war sogar mein Rücken zu sehen. Plötzlich blickte nun zu meinem großen Schrecken Sam Kagel von seiner Zeitung auf und sagte über den Tisch hinweg zu Bridges: »Na, Harry, schwarzer Samt mit Leopardenfell, wie gefällt dir das?« Am Tisch begann schallendes Gelächter, und ich suchte schnell das Weite.
Nach dem Ende der Aussperrung im Hafen war ich fast die ganze Zeit mit Berichten über einen aus der Sicht der Zeitungen sogar noch wichtigeren Arbeitskampf beschäftigt: den Streik der Einzelhandelsverkäufer. Wie alle Arbeitskämpfe in San Francisco war er lang und gewalttätig und fügte der Wirtschaft der Stadt schweren Schaden zu. Als meine vereinbarten zwei Monate um waren, steckte ich noch mitten in den Aufregungen dieses Streiks und wäre deshalb gern länger geblieben. Die ErWHung dieses Wnsches wurde jedoch dadurch erschwert, daß alle Zeitungen infolge der Verluste beim Anzeigenaufkommen, die der Streik der Verkäufer mit sich brachte, den Gürtel enger schnallen mußten. Also schrieb ich meinem Vater einen Brandbrief mit der Bitte um Rat. Mein Vater reagierte schnell und rief meinen Chef an. Er dankte ihm für sein Entgegenkommen in den vergangenen Wochen und baute ihm auf diese Weise eine goldene Brücke. Zu meiner großen Freude sagte mein Boß meinem Vater daraufhin, er wolle, daß ich bliebe, denn ich hätte hervorragende Arbeit geleistet und er würde mich gerne auf Dauer behalten. Mein Vater könne zu Recht stolz auf mich sein.
Mein soziales Leben in San Francisco war eine seltsame, doch geglückte Mischung: Zu den Arbeitskollegen und den Freunden aus dem Hafen kamen die Leute, die ich durch meine Verwandtschaft kennenlernte, und ein paar alte Freunde und Bekannte, wobei jede Freundesgruppe von der anderen wußte. Durch Tante Ro, die aufgrund ihres weiten Spektrums künstlerischer und kommunaler Interessen in San Francisco eine führende Stellung einnahm, lernte ich Maurice Sterne, einen bildenden Künstler, und seine Frau Vera kennen und durch sie wiederum den mexikanischen Künstler Covarrubias, der in San Francisco weilte, um seine Wandgemälde für die Ausstellung anläßlich der Eröffnung der neuen Golden Gate Bridge zu schaffen. Ich ging ins Theater, um Gertrude Lawrence in Rachel Crothers' neuem Stück Susan and God zu sehen, und dann traf ich sie auf einer Party, die ihnen zu Ehren von Albert Bender gegeben wurde, einem älteren Kunstsammler und Junggesellen, der mit meiner Tante befreundet war und dann auch mein Freund wurde. Albert schenkte Ansel Adams seine «ge Kamul und Mamg du gwße Undwhaßfowgmf des Westens, gehörte mit seiner Frau Virginia wiederum zu meinen guten Freunden. Auch zu meiner Schulfreundin Jean Rawlings aus gemeinsamen Madeira-Tagen hatte ich wieder lebhaften Kontakt.
Sonntags gingen Tante Ro und ich oft zu Konzerten und Picknicks nach Stern Grove. Tante Rosalie hatte der Stadt diesen an einem Abhang gelegenen Eukalyptushain geschenkt, der ein natürliches Amphitheater bildete und in den eine Konzertbühne gebaut wurde. Tante Ro ermöglichte durch ihre Finanzierung, daß am Sonntagnachmittag regelmäßig kostenlos Konzerte stattfinden konnten. Im ganzen Mdchen waren jedoch diskret Sammelbüchsen aufgestellt, in die jeder, der wollte, eine Spende einwerfen konnte. Nach den Konzerten zählte Tante Ro das eingegangene Geld und konnte so das Ausmaß der Zufriedenheit des Publikums mit den Händen greifen.
Auf recht eigenartige Weise hielt ich den Kontakt mit der Welt außerhalb San Franciscos durch meine Eltern aufrecht. Mein Vater bat mich, ihm all meine Zeitungsstorys zu schicken, selbst die unbedeutendsten, und drängte mich, ihm möglichst viele Briefe zu schreiben. Dies sei eine weitere Möglichkeit, Schreiberfahrung zu gewinnen. Mein Vater war es auch, der mich über innen- und außenpolitische Themen auf dem laufenden hielt; besondere Sorgen machte ihm der wachsende Antisemitismus in Deutschland. Er wollte selbst etwas gegen diesen Horror tun und unterstützte seinen Freund, den Psychiater Marion Kenworthy, dessen Gesetzesinitiative die Adoption von zwanzigtausend Flüchtlingskindern ermöglichen sollte.
Was für meine persönliche Zukunft aber noch wichtiger war als die väterlichen Berichte über das politische Geschehen im In- und Ausland, waren seine Bewertungen der Fortschritte bei der Post. Alle Zeitungen in Washington hatten Verluste beim Anzeigenaufkommen hinzunehmen, aber Times und Herald waren am stärksten betroffen, die Post am wenigsten. Trotzdem hatte der Star immer noch mehr als doppelt so viele Anzeigenaufträge wie wir bei der Post. Hinsichtlich der Auflagensteigerung war mein Vater mit gutem Grund optimistisch, denn nach einer Zeit der Stagnation legte die Post hier deutlich zu. Wir lagen jetzt bei 117 000 und hofften, 125 000 zu erreichen. Ich hatte zwar selten Zeit, die ganze Zeitung zu lesen, aber die Post schien sich in meinen Augen stetig zu verbessern.
Trotzdem nahmen die Sorgen meines Vaters als Zeitungsverleger im Februar 1939 zweifellos zg als Chy Pawson die nachmittags erscheinende Times mit der Morgenzeitung Herald zu einer einzigen großen Tageszeitung zusammenlegte. Zunächst hatte sie sich allerdings noch mit einer Streikdrohung herumzuschlagen, die all jene anzettelten, die durch die Fusion der beiden Blätter ihren Arbeitsplatz verlieren sollten. Mutter berichtete, Cissy liege krank im Bett, und fuhr fort: »Ich glaube, sie wird's nicht mehr lange machen.« Ich war mir aber nicht ganz sicher, ob dieser Kommentar auf Cissy selbst gemünzt oder ob er Ausdruck von Mutters Wunschdenken bezüglich Cissys Zeitungsunternehmen war.
Meine Mutter war an allen Fronten aktiv wie eh und je. Ein Großteil ihrer Energie konzentrierte sich jedoch in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren weiterhin auf Thomas Mann, der sie in seinen Bann geschlagen hatte. Als jemand den großen Schriftsteller einmal fragte, ob meine Mutter typisch deutsch sei, antwortete er: »0 ja, sehr. Sie ist ein Walkürentyp, und es kommt noch etwas hinzu - sie ist eine Mischung aus Walküre und Juno.« Diese Charakterisierung gefiel ihr so sehr, daß sie meinte, man müsse sie unbedingt für ihre Enkel schriftlich festhalten - was hiermit geschieht. Die Manns besuchten meine Eltern oft in Washington und Mount Kisco. Bei einem seiner frühen Besuche im Jahr 1938 begegnete ich dem Autor ebenfalls, war jedoch enttäuscht. Ich hatte den Eindruck, dieser Mann sei kalt, gefühllos und im Gespräch recht unzugänglich. Doch meine Mutter verehrte ihn. »Er ist das Größte, was mir je begegnet ist«, schrieb sie mir, »und das gilt ohne Ausnahme.« Mein Vater kam mit den meisten männlichen Freunden meiner Mutter recht gut aus und nahm deren Besuche im allgemeinen klaglos hin, doch in diesem Fall war er es ziemlich schnell leid, sich immer um Katia Mann kümmern zu müssen, während meine Mutter und Thomas Mann hochintellektuelle, abgehobene Diskussionen führten, dazu meistens noch auf deutsch.
Thomas Manns Einstellung meiner Mutter gegenüber war durchaus ambivalent. Gleichwohl hatte sie das Gefühl, »einer von ganz wenigen Menschen und ganz sicher eine von ganz wenigen Frauen« zu sein, »die er je persönlich mochte«. In Wahrheit war die Leidenschaft wohl einseitig. Wie verschiedene Biographen des Autors hervorheben, war Mann von Natur aus distanziert und ohne echtes persönliches Interesse an anderen; er neigte dazu, Menschen für seine Zwecke auszunutzen. Möglicherweise war das auch bei meiner Mutter der Fall, die ihm unermüdlich beistand - nicht zuletzt in finanzieller Hinsicht.
Der Mann-Biograph Donald Prater beschreibt meine Mutter als aufdringlich; sie habe sich zu sehr in das Leben des Autors gedrängt, was ihm zeitweilig sehr auf die Nerven gegangen sei. Mann schrieb einmal, er habe »das fast unkontrollierbare Verlangen, dieser Frau, die mich tyrannisiert«, einmal deutlich die Meinung zu sagen. Und das tat er dann auch später in einem sehr offenen Brief an meine Mutter vom 26. Mai 1943, in dem er schrieb, er habe der Freundschaft zu ihr »treu und sorgsam gedient«
... Von einem Dienst kann man wohl sprechen. Mehr Gedanken, Nervenkraft, Arbeit am Schreibtisch habe ich ihr durch Jahre gewidmet als sonst irgendeiner Beziehung auf der Welt. Ich habe Sie, so gut ich es verstehe, an meinem inneren und äußeren Leben teilnehmen lassen, Ihnen, wenn Sie da waren, stundenlang neue Arbeiten vorgelesen, die noch niemand kannte, Ihrer patriotischen, sozialen Tätigkeit die aufrichtigste Bewunderung erwiesen. Nichts war recht, nichts war genug ... Immer wollten Sie mich anders, als ich bin. Sie hatten nicht den Humor, auch nicht den Respekt, auch nicht die Diskretion, mich zu nehmen, wie ich bin. Sie wollten mich erziehen, beherrschen, verbessern, erlösen ...[1]
So scheint also auch ihre Beziehung zu Thomas Mann - wie all ihre Beziehungen - recht kompliziert gewesen zu sein.
Drei Themen beherrschten meine eigenen Briefe: die Sorge wegen des drohenden Kriegs in Europa, meine Arbeit und meine Vergnügungen. Doch ganz gleich, wie stark mich die beiden letzteren auch in Beschlag nahmen, ich konnte nur schwer vergessen, wieviel von den Ereignissen in Europa abhing - obwohl Europa aus kalifornischer Sicht noch weiter entfernt war als aus der Ostküstenperspektive. Eines Morgens hörte ich im Radio eine Rede von Hitler und schrieb, das klinge ein wenig so, »als sei man aus Versehen in den Zoo geraten - diese röhrende Stimme, unterbrochen von Geschrei, das so klang, als komme es von einer Herde wild gewordener Tiere«. Je ernster die Situation im Ausland wurde, desto wichtiger erschien es mir, hart zu arbeiten, um das Handwerk des Journalismus gründlich zu erlernen. Nicht daß ich geglaubt hätte, es käme wirklich auf mich oder irgendein anderes Individuum an, aber ich meinte, verrückt werden zu müssen, wenn ich mit meinen bescheidenen Mitteln nicht das Bestmögliche täte.
Als die Streikberichterstattung zu Ende ging, freute ich mich sehr aufs Schreiben. Die Routineaktivitäten als legman und »Mädchen für alles« waren zwar nach der ziemlich theoretischen Existenz, die ich in Chicago geführt hatte, sehr interessant und abwechslungsreich gewesen, doch nun war ich bereit, ernsthaft als Reporterin zu beginnen. Anfangs war ich für die rührseligen Geschichten zuständig - ein kleines Mädchen, dem der Christbaum abgebrannt war und dem die News nun Geschenke schickte, ein Selbstmord durch Sprung von der Golden Gate Bridge, ein Interview mit einer Frau, die in einem Anfall von Niedergeschlagenheit, weil ihr Mann sie nicht mehr liebte, versucht hatte, ihr Baby zu erwürgen.
In den Zeitungen von San Francisco wurden die schlimmen Nachrichten aus Europa durch einen Sexualmord an einer schönen Blondine in den Hintergrund gedrängt. Mit der Gerichts- und Verbrechensberichterstattung kam ich in Berührung, als ich zusammen mit einem Fotografen ausgeschickt wurde, um über einen eher abstoßenden Fall zu berichten: Aus einem Müllwagen, der seinen Inhalt auf den städtischen Schuttabladeplatz entleerte, war eine Leiche zum Vorschein gekommen, ein Mann, der schon mindestens eine Woche tot war. Meine stillen Stoßgebete wurden jedoch erhört denn kurz vor uns war schon ein Bestattungsunternehmer an Ort und Stelle gewesen, um die Leiche zu beseitigen. So blieb mir der grausige Anblick erspart.
Meine Fortschritte bei der Arbeit waren ungleichmäßig, ein ständiges Auf und Ab. Von Zeit zu Zeit glaubte ich, jetzt hätte ich die Kunst, eine Nachrichtenstory zu schreiben, wirklich erlernt, aber selbst dann, wenn ich in puncto Tempo und Durchschlagskraft Verbesserungen spürte, war ich von Spitzenleistungen noch immer weit entfernt.
Ich hatte ständig Angst, daß mir andere bei der Berichterstattung zuvorkommen könnten, doch bislang war das noch nicht geschehen. Ich redete mir weiterhin ein, ich sei letztlich doch nur Ballast für die Redaktion und man hätte mich nicht behalten, wenn ich anders hieße. Aber wenn ich mich dann an meine Anfänge bei den San Francisco News zurückerinnerte und mir wieder einfiel, daß ich damals für eine Dreizeilenmeldung eine ganze Stunde gebraucht hatte, dann machte es mir doch wieder Mut, daß ich jetzt an einem einzigen Tag zwei Storys von je einer halben Spalte Länge vedaßt über eben Schafzüchterkongreß und ein Feuer berichtet und die allwöchentliche Kirchenkolumne geschrieben hatte, die immer irgendeinem armen Dummen angehängt wurde. Die chronische personelle Unterbesetzung bei den News war während meiner Zeit dort besonders spürbar, und so war ich auf der abendlichen Heimfahrt mit der Straßenbahn immer todmüde.
Im Frühjahr 1939 kam mein Vater zu Besuch, und bei dieser Gelegenheit erinnerte er mich an meinen früheren Plan, zur Post zurückkehren und dort arbeiten zu wollen. Sein Besuch kam mir in der Tat gerade recht. Denn bei den News wurde gerade wieder einmal ein Sparprogramm durchgezogen, und es schien klar, daß es auch Entlassungen geben würde. Als Jüngste und zuletzt Gekommene wäre ich also normalerweise das erste Opfer gewesen. Überdies wollte ich auch niemandem, der auf seinen Job angewiesen war, diesen wegnehmen. Also vereinbarte ich mit meinem Vater, daß ich nach Washington zurückkehren würde nicht gerade schweren Herzens, aber immerhin doch mit gemischten Gefühlen und der Überzeugung, auch etwas aufzugeben. Jene Monate in San Francisco waren mir soviel wert wie nur wenige andere Abschnitte in meinem Leben.
Am 24. April 1939 erschien mein Bild auf der Personalienseite des Nachrichtenmagazins Time, und darunter war zu lesen: »Katherine (sic) Meyer, 21, die hübsche Tochter des Verlegers Eugene Meyer, kommt nach Washington, D. C., um für ein Wochensalär von 25 Dollar die Leserbriefsparte in der Post ihres Vaters zu übernehmen. Dazu Vater Meyer: >Wenn die Sache nicht funktioniert, werden wir sie wieder entlassen.<« Daraufhin schickten mir meine Freunde aus San Francisco, mit Kagel an der Spitze, den Ausschnitt aus Time mit der Bemerkung: »In Kalifornien gib's kein >Wenn<. Komm wieder zu uns!«