Siebtes Kapitel

Rückkehr nach Washington

Als ich nach fünfjähriger Abwesenheit - im College und in San Francisco - nach Washington zurückkam, fand ich eine neue Stadt vor. Ich hatte keine Ahnung, wie sehr sich Washington verändert hatte, seit ich ans Vassar College gegangen war. Es herrschte eine intellektuell aufregende Atmosphäre - gar kein Vergleich zu jenem Washington, dem ich 1934 den Rücken gekehrt hatte Ich war freudig überrascht ja geradezu begeistert, von dieser neuen, lebendigen Stadt mit all den vitalen, dynamischen jungen Menschen. Aus dem behäbigen Washington, das ich kannte, in dem eine kleine Gruppe Älterer das »Establishment« gebildet hatte und sich Ständig bei schrecklich formellen Dinnerpartys begegnet war und die Jüngeren in einer anderen, aber ebenso langweiligen Routine gefangen gewesen waren, hatte sich der ideale Ort für junge Leute entwickelt.
Zu meinen Lebzeiten gab es zwei Epochen, in denen eine allgemeine Aufbruchstimmung in der Regierung und entsprechend interessante Aufgaben viele der brillanten jungen Absolventen von Colleges und juristischen Fakultäten aus dem ganzen Land nach Washington lockten: die Roosevelt- und die Kennedy-Jahre. Unter Roosevelt waren in der Zeit meiner Abwesenheit massenhaft fähige, idealistische junge Männer und Frauen in die Hauptstadt geströmt die bereit wann, Reformen auf den Weg und die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, Arbeitslosen eine gewisse finanzielle Unterstützung zu garantieren, den Rentnern Kranken- und Sozialversicherungsleistungen sowie Beschäftigten in den unteren Einkommensgruppen Mindestlöhne zu sichern. Es war eine Zeit, in der die Jungen viel erreichen konnten und in der Ideen nach oben durchsickerten und bei den Mächtigen Gehör fanden.
Vor diesem Hintergrund begann ich im April 1939 meine Arbeit bei der Post. Ich hielt es nicht für gut, ausgerechnet in Washington Reporterin sein zu wollen, denn als Tochter des Verlegers hätte das für mich wohl etliche Peinlichkeiten mit sich gebracht. Also lautete die Übereinkunft, daß ich in der Redaktion den Leitartiklern zuarbeiten sollte - und diese Tätigkeit war doch grundverschieden von der, die ich in San Francisco ausgeübt hatte. Der für mich zuständige Redakteur war jetzt also Felix Morley. Das Redaktionsteam, in dem ich deutlich die Jüngste war, traf sich jeden Morgen zur Lagebesprechung. Die Aufträge berücksichtigten die individuellen Erfahrungen und Fähigkeiten jedes einzelnen, doch die größten innenpolitischen und internationalen Themen behielt Morley immer sich selbst vor.
1939 konzentrierten sich die Energien des Präsidenten hauptsächlich darauf, das Land hinsichtlich der Außenpolitik zu einen. Das bedeutete allerdings auch, daß die meisten New-Deal-Programme mit Ausnahme jener, die bereits in Kraft waren, aufgegeben werden mußten. Daraus folgte schließlich auch, daß die Leitartikel und Nachrichten der Post allmählich regierungsfreundlicher wurden. Denn unsere Zeitung setzte sich entschlossen dafür ein, die USA auf alle Eventualitäten vorzubereiten. Bereits im April 1939, als Präsident Roosevelt beim Abschied aus dem Kurort Warm Springs in Georgia ganz beiläufig gesagt hatte: »Also dann auf Wiedersehen bis zum Herbst, es sei denn, wir haben dann Krieg«, kommentierte die Post in einem Leitartikel: »Indem er >wir< sagte, ließ der Präsident Hitler und Mussolini wissen ... daß sie die enorme Macht der Vereinigten Staaten in ihre gegenwärtigen Planungen und Kalkulationen besser mit einbeziehen sollten.« Roosevelt sagte Reportern daraufhin, dieser Leitartikel habe seine Gedanken so gut wiedergegeben, daß er bei der Lektüre »fast aus dem Bett gefallen wäre«.
Am 1. September 1939, dem Tag der deutschen Invasion in Polen, ging ich mit einem Kollegen aus der Redaktion zu Präsident Roosevelts Pressekonferenz ins Oval Office. Die Tatsache, daß ich, eine nicht akkreditierte Journalistin, überhaupt mit ins Weiße Haus durfte, erscheint heute verwunderlich. Doch damals bestanden die Pressekonferenzen des Präsidenten im allgemeinen aus einer kleinen (fast ausschließlich männlichen) Gruppe von Journalisten, die um den Schreibtisch des Präsidenten herumstand und ihm zuhörte; es wurde viel geflachst, und man stellte kaum eigene Fragen.
An diesem Tag jedoch war die Gruppe größer und die Stimmung feierlicher. Mein Kollege notierte in seinem Tagebuch: Es herrschte eine spannungsgeladene Atmosphäre ernster Feierlichkeit ... Der Präsident machte einen sehr guten Eindruck. Als wir gingen, sagte Kate zu mir, sie könne nicht umhin, von ihm beeindruckt zu sein. Ich erwiderte, daß Roosevelt, was immer seine Fehler sein mögen, in Notsituationen großartig sei.
Um diese Zeit waren die Spannungen zwischen Morleys Ansicht, Amerika müsse sich aus dem Krieg heraushalten, und der gegenteiligen Meinung meines Vaters, wir müßten unseren Verbündeten helfen und notfalls in den Krieg eintreten, auf dem Höhepunkt angelangt. Morley trat im Frühjahr 1940 zurück und wurde später Präsident des Haverford College. Meine Freunde und ich jubelten über diesen Abgang, so engagiert trachteten wir alle danach, den Alliierten im Krieg beizustehen. Und weil wir jung waren, konnten wir überhaupt nicht verstehen, warum mein Vater so lange gebraucht hatte, bis ihm diese Erleuchtung kam.
Der Übergang in der Redaktion verlief jedoch reibungslos. Mein Vater engagierte Herbert Elliston, den Finanzredakteur des Christian Science Monitor. Wie zuvor schon Morley verschaffte auch Elliston der Meinungsseite der Zeitung und ihren Leitartikeln eine stetig wachsende Durchschlagskraft.
In meinem ersten Jahr bei der Post begann ich, relativ häufig über ziemlich unwichtige Themen zu schreiben - sogenannte leichte Artikel. Schon die Titel verraten, um welch leichte Kost es sich dabei handelte: »Wie es ist, ein Pferd zu sein«, »Intelligenz und Schönheit«, »Mixed Drinks« und »Fleckfieber«. Ich beschrieb, wie Volkslieder die amerikanischen Soldaten inspirieren- ich berichtete über Frauen, die sich für die Landesverteidigung einsetzten, und ich verteidigte den Dichter Archibald MacLeish, den Bibliothekar der Library of Congress, gegen die Anschuldigung, Sympathisant der Kommunisten zu sein. Schließlich schrieb ich auch noch eine Rezension von Escape to Life (Flucht ins Leben), einem Buch von Klaus und Erika Mann über die deutschen Emigranten.
Ferner redigierte ich die Leserbriefe und stellte die betreffenden Seite zusammen. Dies schloß zahlreiche Ausflüge zu den Setzern ein, die im Stockwerk unter unseren Redaktionsbüros arbeiteten. Ich sah zu, wie die heißen Bleitypen zeilenweise in die auf Transportwagen montierten Seitenformen eingesetzt wurden. Einer von uns mußte diese Seite und die Meinungsseite jede Nacht Korrektur lesen. Letztere umfaßte Kolumnen, die von Redaktionsbüros geliefert wurden, sowie einige Kommentare und Leitartikel von Post-Reportern und -Redakteuren. Auch ich beteiligte mich am Korrekturlesen. Ungefähr zur Zeit des Wechsels von Morley zu Elliston wechselte jedoch auch ich: in eine »Brains« (»Intelligenz«) genannte Abteilung - heute heißt sie meist »Outlook« (Ansichten, Ausblick) - wo ich ein Jahr verbrachte.
Schon bald lernte ich viele Reporter der Post neu kennen, zu anderen vertiefte ich meine Freundschaft. Gelegentlich verließen wir unser schäbiges, heruntergekommenes, aber pittoreskes Gebäude, um bei Childs oder in einem der anderen kleinen Restaurants an der E Street zu Mittag zu essen. Besonders zwei jungen Reportern, die ich zuvor noch nicht gekannt hatte, schloß ich mich schnell an: John Oakes, der mit Arthur Sulzberger, dem damaligen Verleger der New York Times, verschwägert war, und Hedley Donovan, ein intelligenter, gutaussehender junger Mann aus Minnesota mit einer leisen Stimme, der sehr witzig war. Er war Rhodes Scholar gewesen und hatte nach der Rückkehr aus England einen Job bei der Post erhalten. Oakes, ebenfalls ein Rhodes Scholar, wurde später Redakteur für die Kommentarseite bei der New York Times, Donovan Chefredakteur von Time Inc.
Aufgrund meiner Freundschaften mit Post-Reportern wie John Oakes und Hedley Donovan konnte ich neben meiner Arbeit schon bald auch ein aufregendes und reichhaltiges gesellschaftliches Leben führen. In Washington gab es ganze Legionen junger Männer, die sich zu Wohngemeinschaften in Häusern zusammenschlossen; diese Lösung erwies sich für alle Beteiligten als preiswert, attraktiv und vorteilhaft. Die meisten dieser Junggesellen lebten von bescheidenen Regierungsgehältern, durch das Zusammenlegen ihrer Geldmittel aber konnten sie sich ein wahrhaft fürstliches Leben leisten. Hedley Donovan wohnte in einem dieser Junggesellenhäuser, das an der S Street in der Nähe der Connecticut Avenue lag. Dort besuchte ich eines Abends im Herbst 1939 eine Party. Zum Abendessen gingen wir alle in ein nahe gelegenes Restaurant, und ein paar von uns waren schon vor den anderen zuück in der S Street, darunter auch ich. Ich sah aus dem Fenster und rief den anderen etwas zu, als plötzlich das Insektengitter heraus und direkt auf die Köpfe der später Zurückkehrenden fiel. Zu dieser Gruppe gehörte auch Phil Graham, den ich an jenem Abend zum ersten Mal traf: Er schaute nach oben, während ich wegen meines Mißgeschicks mit offenem Mund nach unten starrte.
Später am selben Abend ging ich in ein Badezimmer im oberen Stockwerk, wo ich Phyllis Asher begegnete. Sie erzählte mir, sie studiere Jura, was damals für Frauen noch höchst ungewöhnlich war. Ich verlieh meiner Bewunderung Ausdruck, sagte, ich könne mir das für mich überhaupt nicht vorstellen, und fragte, wie sie denn mit den Schwierigkeiten dieses Studiums fertig werde. »Ach«, sagte sie, »das wird schon dadurch leichter, daß ich mit Phil Graham verlobt bin.« Und dann erzählte sie, Phil komme jeden Abend zu ihr, und sie diskutierten über alles, was ihr zu schaffen mache. Das sei sehr hilfreich. »Oh, wie schön«, sagte ich und mußte daran denken, daß ich ausgerechnet Phil kurz zuvor mit dem Insektengitter fast erschlagen hätte.
Als es im Haus an der S Street zu voll wurde, suchte man ein zweites Domizil, in das einige der Bewohner des Hauses übersiedeln konnten, zu denen sich dann noch weitere gesellten. Dieses zweite Haus lag in Arlington, fünf Minuten vom Ende der Key Bridge in Virginia entfernt. Im wesentlichen waren es die Autobesitzer, die aus der S Street nach Arlington zogen.
Hockley, wie dieses Haus genannt wurde, gehörte Admiral Theodore Wilkinson und seiner Frau, deren Töchter mit einigen der jungen Männer befreundet waren. Als Admiral Wilkinson für die Dauer des Krieges Washington verließ, vermieteten die Wilkinsons tapfer ihr Haus für sehr wenig Geld an zwölf junge Männer. John Oakes und Deering Danielson, ein wohlhabender junger Mann, der im State Department arbeitete und dessen Familie die Zeitschrift The Atlantic Monthly besaß, waren die einzigen unter den Hockley-Boys, die keine Juristen waren. Zu den Anwälten indes gehörten: Graham Claytor, juristischer Assistent des berühmten Bundesrichters Louis Brandeis, Adrian (»Butch«) Fisher aus Tennessee, der ebenfalls für Brandeis gearbeitet hatte, aber auch für den Harvard-Professor, Präsidentenberater und späteren Bundesrichter Felix Frankfurter, der sanfte, freundliche Bill Sheldon, den wir alle am meisten mochten; Quinn Shaughnessy, der im Herbst einer meiner Freunde wurde; Edwin McElwain, einer der beiden juristischen Assistenten von Bundesrichter Hughes; der Star der Gruppe, Edward Prichard, allgemein nur »Prich« genannt, der in jenem Jahr Felix Frankfurters Assistent war, ein brillanter, talentierter, witziger, dicker, geistreicher Geschichtenerzähler und Schauspieler, außerdem ein begnadeter Plauderer; und Prichs enger Freund Phil Graham, der damals Assistent des Bundesrichters Stanley Reed, im kommenden Jahr aber als Frankfurters Assistent vorgesehen war. Zwei dieser jungen Männer - Graham Claytor und Phil Graham - waren zusammen mit Ed Huddleston, der im Haus an der S Street zurückgeblieben war, nacheinander Redakteure der Harvard Law Review gewesen, was damals im Universitätsbereich unter Juristen der begehrteste und prestigeträchtigste Job im ganzen Land war. Annähernd vergleichbar waren nur die Redakteursposten bei der Yale Law Review und der Columbia Law Review.
Hockley war eine rote Backsteinvilla und wohl um die Jahrhundertwende gebaut worden. Unterhalb der Veranda mit ihren vier weißen Säulen erstreckte sich eine Rasenfläche, die sanft zum Ufer des Potomac abfiel. Vom Haus aus hatte man einen herrlichen Blick über den Fluß auf die nahe Stadt. Das Anwesen sah fast aus wie Tara in Vom Winde verweht.
Wahrscheinlich konnten diese Jungen nie wieder in ihrem Leben für so wenig Geld so herrschaftlich residieren. Sie hatten einen Gärtner, eine Vollzeitköchin, ein Dienstmädchen und - am allerwichtigsten - den Butler und Hausverwalter Johnson. Johnson und seine Frau hatten mindestens fünfundzwanzig Jahre für Dean und Alice Acheson gearbeitet, als Alice eines Tages entdeckte, daß die beiden nie in aller Form geheiratet hatten. Sehr zu Deans Verdruß setzte sie das Paar deshalb umgehend vor die Tür - gerade, als Hockley zur Vermietung anstand; so konnten sich die Jungen Johnson an Land ziehen, und er führte diesen neuen chaotischen Haushalt fortan mit Bravour.
Mein Leben entwickelte sich großartig, und Hockley stand nun immer mehr im Mittelpunkt. Zu den Gästen, die dort ein und aus gingen, gehörten unter anderen Dean Acheson, Archibald MacLeish, Felix Frankfurter und verschiedene andere Begründer des New Deal, Harvard-Professoren und Bundesrichter. Vier junge Damen waren bald als die »Hockley-Girls« bekannt und gehörten sozusagen zum Inventar: Alice Barry, Anne Wilkinson, Jane Acheson und ich.
Kein Thema war in Hockley tabu. Von FDR und seinem New Deal bis zum Kommunismus, zu Hitler und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, die Bürgerrechte - alles wurde in großen Debatten diskutiert, die oft tagelang andauerten. Graham Claytor erinnerte sich, daß die Gruppe es bei Streitgesprächen schaffte, zwei, drei und manchmal sogar vier Seiten eines Themas aufs Tapet zu bringen. Scharfe Polemik gehörte natürlich dazu. Man war sich einig, daß Invektiven und sogar persönliche Angriffe zulässige Waffen im Meinungskampf seien. In Wirklichkeit aber gab es keine echten Fehden oder ernsthaften Aversionen, trotz der großen Bandbreite politischer Auffassungen. John Oakes und Prich etwa standen an entgegengesetzten Enden einer Skala, soweit es um soziale Etikette und den Glauben an Regeln im politischen Geschäft ging. John, der Journalist, glaubte an Unparteilichkeit als korrekten Ansatz für das Verstehen kontroverser Themen. Das brachte ihm den Vorwurf der Ultraliberalen ein, er sehe immer nur beide oder alle Seiten einer jeden Sache und lege sich nicht fest. Prich und Phil dagegen argumentierten als Ultraliberale oft auch um des Arguments willen, als sie beispielsweise einmal in einer hitzigen, langen Debatte die russische Invasion in Finnland verteidigten.
Doch es gab auch zahlreiche Szenen wilder Ausgelassenheit in Hockley. Johnson etwa konnte unter anderem ausgezeichnete Cocktails mixen. Seine Mint Juleps waren bei einer bestimmten Frühlingsparty besonders gefragt. Ein gut gemixter Julep schmeckt zwar täuschend mild, besteht aber im wesentlichen aus reinem Bourbon-Whiskey, der nur durch zerstampftes Eis und Pfefferminze entschärft wird. Wer an einem heißen Tag mehrere solcher Cocktails hintereinander wegkippt, bekommt ernsthafte Probleme. Bei besagter Party war ein dreiunddreißigjähriger Professor der juristischen Fakultät der Harvard University zu Gast, nach unseren jugendlichen Maßstäben schon ein älterer Herr. Er wollte an jenem Abend noch nach Boston zurückfahren und fragte, ob ihn jemand rechtzeitig zum Bahnhof bringen könne, damit er den Zug um 22.30 Uhr bekomme. Wir versprachen es ihm, doch um halb neun war er auf einmal spurlos verschwunden. Wir wußten, daß man den guten Professor wohl nicht rechtzeitig vor den Juleps gewarnt hatte, und gingen davon aus, daß der Ahnungslose ein halbes Dutzend dieser Drinks zu sich genommen hatte. Zuletzt hatte man ihn, jedermann lauthals zuprostend, im Garten gesehen. Einige Zeit, nachdem der Professor auf die Vermißtenliste gesetzt worden war, hörte man plötzlich laute Schreie vom Parkplatz her, und eine junge Dame kam ganz aufgelöst auf das Haus zugerannt. Als sie in ihr Auto eingestiegen waren hatte sie auf dem Rücksitz einen nackten Mann entdeckt. Alle eilten zu Hilfe, und wen fanden sie? Den vermißten Professor, der bei einer Körpergröße von 1,65 Metern fast zwei Zentner wog, splitterfasernackt auf dem Rücksitz schlafend, den er für seine Schlafwagenkoje gehalten hatte. Ein Eimer Wasser brachte ihn in die Realität zurück.
Meiner jüngeren Schwester Ruth zu Ehren wurde zu Thanksgiving 1939 als Teil ihres gesellschaftlichen Debüts - im Elternhaus ein Tanztee ausgerichtet. Ich versuchte, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen, denn sie war für ihr Alter noch ziemlich kindlich und sehr schüchtern. Ich schlug ihr vor, all die jungen Männern aus Hockley und der S Street zum Tanztee einzuladen. Zu diesem Ereignis war auch Bis erschienen, und sie brachte neben ihrer angeborenen Aura auch den Glamour New Yorks ins Haus. Natürlich war sie ein Star dieser Party; alle Jungen dachten, sie sei wunderbar, und besonders Prich war ganz hingerissen. Er verliebte sich in Bis und begann, ständig nach New York zu fahren, um sich mit ihr zu treffen.
Diese Entwicklung bereitete mir allerdings Sorgen, denn ich hatte diese herrliche Junggesellenrunde als mein exklusives »Revier« betrachtet, und nun kam Bis und »wilderte« -jene Schwester, die immer Minderwertigkeits- und Neidgefühle bei mir ausgelöst hatte. In der Menge auf der Party stieß ich auf Phil Graham, den ich damals noch kaum kannte, und beschwerte mich scherzhaft über den ganzen Rummel, der um Bis gemacht wurde. Ich sagte: »Ich glaube, ich werde sie demnächst mit den Worten vorstellen: >Dies ist meine Schwester Bis, vier Jahre älter als ich.<«
»Ja«, antwortete er, »und natürlich wirst du noch anfügen: >Und ich komme gut mit ihr aus<« Das war eine typische Phil-Replik. Ich hielt ihn für sehr witzig. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Phil schon von Phyllis Asher getrennt und sich meiner Freundin Alice Barry zugewandt. Diese stammte aus einer alten Washingtoner Familie und war für eine bestimmte, eher traditionelle Rolle in der Gesellschaft erzogen worden: debütieren und heiraten. Sie heiratete später den reichen Oakley Thorne. Inzwischen aber gab es jede Menge Witze über Phil und Alice als Liebespaar als beide gleichzeitig allergische Reaktionen entwickelten, nachdem sie mit Giftsumach in Berührung gekommen waren.
Durch Prichs Freundschaft mit Bis lernte ich allerdings auch ihn besser kennen. Nachdem er seine New Yorker Jagd auf Bis aufgegeben hatte, wurden er und ich engere Freunde, und für kurze Zeit begann er sich sogar ernsthaft für mich zu interessieren. Meine Beziehung zu ihm blieb immer ein großer Gewinn, aber mit traurigen Untertönen. Prich war in ganz Washington und darüber hinaus bestens bekannt. In weiten Kreisen sah man in ihm einen zukünftigen Gouverneur des Staates Kentucky oder gar einen zukünftigen Präsidenten der USA - so groß waren sein politischer Scharfsinn, sein Verständnis für öffentliche Angelegenheiten und sein Gespür für die Menschen. Letztlich hatte er aber wohl zuviel Charme und Talent, als daß ihm dies gutgetan hätte. Denn zu seinen großen Vorzügen kamen auch schlimme Fehler. Er kannte weder Disziplin noch Selbstkontrolle, ließ seine Arbeit unerledigt liegen und bezahlte seine Rechnungen einfach nicht. Gelegentlich mußten seine Freunde - und Phil zählte zu seinen engsten Freunden - Arbeiten für ihn zu Ende bringen.
Bis entschloß sich, im Haus meiner Mutter in Virginia eine Silvesterparty zu geben, und sagte mir, ich könne einige der Hockley-Boys einladen, darunter auch »den mit dem planen Gesicht«, womit sie Phil Graham meinte. Mit den üblichen lauten Streitgesprächen und viel herzhaftem Gelächter war die Party ein großer Erfolg. Einmal fand ich mich plötzlich auf einer Bank neben Phil sitzend wieder, den ich von der ganzen Truppe wahrscheinlich am wenigsten kannte. Ich war ziemlich verblüfft, als er sich plötzlich mir zuwandte, zu meiner Schwester Bis hinüber sah und mich fragte »Sind wir für sie?«
Die Frage war in mehrfacher Hinsicht typisch für Phil. Denn seine Fragen durchbrachen den menschlichen Schutzpanzer sofort, räumten alle Formalitäten beiseite und erreichten einen direkt, persönlich. »Sind wir für sie?« - diese Frage schuf eine Art Zauberkreis um ihn und mich und damit auch eine intime Verbindung. Überdies zielte die Frage ohne Umschweife auf den entscheidenden Punkt; Phil hielt sich nicht mit Belanglosigkeiten auf. Und ebenso typisch war, daß mir seine Frage eine offene Antwort entlockte, in der ich all meine Gefühle, auch die zwiespältigen der Bewunderung und des Neides, über Bis zur Sprache brachte und am Ende dann doch zu dem Schluß kam: »Ja, wir sind für sie.« Plötzlich, nach nur einer Frage und einer Antwort, kannten wir uns. Die letzten Partygäste drängten sich in dem letzten noch verbliebenen Auto eng zusammen, und so fand ich mich auf dem ganzen Rückweg in die Stadt auf Phils Schoß wieder. Dabei lernten wir uns sogar noch besser kennen.
Ein paar Wochen später, Anfang 1940, wurde ich von Prich zum Sonntagsessen ins Ritz Carlton eingeladen. Wir waren eine größere Gruppe, und nachdem wir das Mittagessen so lange wie möglich ausgedehnt hatten, kam jemand auf die Idee, wir sollten doch zum Schauplatz der herrlichen Silvesterparty, zur »Hütte« meiner Eltern, hinausfahren. Also verbrachten wir den Nachmittag dort. Bis auf Phil und mich hatten alle anderen abends etwas vor, und so fragte mich Phil, ob ich Lust hätte, mit ihm essen zu gehen. Wir gingen in ein weniger bekanntes Restaurant, aßen lange, redeten und lachten viel und saßen noch bis spätabends bei Getränken zusammen, ehe mich Phil nach Hause brachte. Der Abend hatte mir sehr gut gefallen, aber ich war mir auch im klaren darüber, daß wir beiden die einzigen ohne feste Pläne für diesen Abend gewesen waren und daß er mich deshalb ausgeführt hatte. Ich blieb also weiterhin etwas reserviert.
Phil rief mich ein- oder zweimal an und sprach mit mir in seiner üblichen respektlosen, einnehmenden Art und Weise. Ich fand ihn sehr gewinnend, zumal er sich zu diesem Zeitpunkt schon wieder von Alice Barry getrennt hatte. Ich habe immer gedacht, daß Alice zu konventionell war, um Phil als Lebenspartner je ernsthaft in Erwägung zu ziehen, doch in den allerersten Tagen in Hockley hatte sie mich gefragt, ob ich ihn genauer kenne. Als ich verneinte, sagte sie: »Das solltest du aber, er ist von allen hier der Beste.«
In der zweiten Februarwoche rief mich Phil spät am Nachmittag bei der Arbeit an und machte den Vorschlag, abends mit einem seiner Zimmergenossen aus dem College, George Smathers, und dessen Frau Rosemary gemeinsam essen zu gehen. Ich wollte jedoch aus verschiedenen Gründen absagen. Zum einen war ich an jenem Abend zum Korrekturlesen eingeteilt und fühlte mich außerdem nicht wohl; ich befürchtete, daß mir eine Grippe in den Knochen steckte. Und zum anderen war ich nicht fürs Ausgehen angezogen. In meinem einfachen braunen Wollkleid mit Baumwollstrümpfen und Mokassins sah ich so elend aus, wie ich mich fühlte. Also bedauerte ich nachdrücklich, nicht mitgehen zu können.
Doch Phil insistierte ebenso nachdrücklich. Er sagte, wir würden im Harvey's, einem berühmten alten Fischrestaurant, essen, wo man die Frühausgabe der Post bekommen könne. Er würde mir dann beim Korrekturlesen der fraglichen Seiten helfen und wir könnten die Berichtigungen noch rechtzeitig vor Erscheinen der Hauptausgabe telefonisch durchgeben; und wie ich aussähe, das sei doch ganz egal, fuhr er fort. Überdies werde das gute Essen sicher alle Krankheitssymptome verscheuchen, zumal ich ja offenbar nicht so krank sei, daß ich nicht zur Arbeit gehen könne. Also gab ich schließlich nach und ging mit, nachdem ich meinen Seitenumbruch fertig hatte. Doch es war mir peinlich, und ich fühlte mich überhaupt nicht wohl, als ich das Restaurant betrat und George und Rosemary Smathers erblickte, so unglaublich gut und makellos gekleidet sahen die beiden aus. Es wurde jedoch trotzdem ein schöner, unterhaltsamer Abend. Anschließend fuhr mich Phil nach Hause, und wir unterhielten uns noch lange im Auto. Er gestand mir seine Liebe und sagte, wir sollten heiraten und nach Florida ziehen, wenn ich mit lediglich zwei Kleidern auskommen könne. Denn über eines müsse ich mir im klaren sein: Von meinem Vater würde er nie etwas annehmen oder mit ihm beruflich in Verbindung treten; wir müßten schon mit dem auskommen, was er selbst verdiene.
Für mich war diese Wendung geradezu atemberaubend. Ich war, gelinde gesagt, verdutzt. Denn diese Pläne eilten meinen eigenen Gedanken doch um einiges voraus, wenn auch nicht allzuweit. Ich sagte, das klinge ja wirklich alles sehr gut, sei aber wohl doch ein wenig überstürzt. Wir sollten den Gedanken an eine Heirat vielleicht noch ein paar Wochen zurückstellen und in Ruhe darüber nachdenken. Phil war mit einem Aufschub um einen Monat einverstanden.
Trotz meines Zögerns war ich wirklich bezaubert und geblendet. Ich konnte es gar nicht fassen - dieser brillante, charismatische, faszinierende Mann liebte mich! Bei aller Erregung über diese plötzliche, unerwartete Entwicklung und ganz abgesehen von Phils magnetischer Anziehungskraft sah ich sofort, daß jene Kombination guter Eigenschaften, die ich mir beim Mann meiner Träume erhofft hatte, bei diesem einen jetzt auf überraschende Weise tatsächlich gegeben war. Er war jemand, der für mich die beiden Seiten meines Lebens verband, von denen ich zuvor angenommen hatte, sie seien unwiderruflich auf immer getrennt. Zum ersten Mal hatte ich einen Mann gefunden, der die richtige Mischung aus intellektuellen, physischen und sozialen Qualitäten mitbrachte und obendrein noch warmherzig und witzig war. Phil war blitzgescheit, sachorientiert, fleißig, geistreich und wenigstens für mich - auch überraschend gutaussehend. Seine hagere Gestalt und eine gewisse Kantigkeit machten ihn für mich noch viel interessanter und anziehender, als es klassisch-ebenmäßige Schönheit vermocht hätte. Er liebte mich, und ich liebte ihn. Das Ganze war unglaublich aufregend.
Am Morgen nach unserer Liebeserklärung bestätigten sich allerdings meine schlimmsten Vorahnungen hinsichtlich der Grippe: Ich bekam hohes Fieber, ein Arzt wurde gerufen und verordnete strikte Bettruhe. Es war Valentinstag, und Phil schickte mir einen lustigen Strauß aus gelben Narzissen und roten Tulpen, in dem ein Amor mit Pfeil und Bogen steckte. Beim anschließenden Anruf lautete seine erste Frage: »Na, war der Tierarzt schon da?« Letzterer hatte zwar eine Kontaktsperre verhängt, doch der Absender der Blumen kam trotzdem am späten Nachmittag und saß stundenlang an meinem Bett, während wir in einem fort redeten.
In jenem Monat war meine Mutter mit Bis auf den Bahamas, in Nassau. Phil ging bei uns ein und aus. Er kam zu Besuch oder holte mich ab - so oft, daß schließlich auch mein Vater aufmerksam wurde. Auf einer gemeinsamen Fahrt nach New York sprach er mit mir scheinbar ganz allgemein über junge Männer und deren gegenwärtige Interessen. Ich erzählte ihm, die Jungen aus meinem Bekanntenkreis seien größtenteils Juristen und arbeiteten überwiegend für die Regierung. Er fragte mich, wer denn von allen der interessanteste sei, und ich begann natürlich, Phil zu beschreiben, ohne genauer darüber nachzudenken, was ich tat. Mit meiner Charakterisierung muß ich meinen Vater ziemlich beeindruckt haben, denn er fragte auf einmal: »Hast du ernste Absichten?« Obwohl die vereinbarte Bedenkzeit von einem Monat noch nicht abgelaufen war, bejahte ich dies, woraufhin mein Vater prompt den Wunsch äußerte, Phil kennenzulernen. Ich solle ihn doch einfach zum Essen zu uns einladen. Ich war überrascht, in welche Situation ich mich gebracht hatte, konnte meinem Vater jedoch wegen seiner natürlichen Neugier keinen Vorwurf machen. Also rief ich Phil an, gestand, daß ich mich im Gespräch zu weit vorgewagt hatte, und fragte, ob er etwas dagegen habe, auf Herz und Nieren geprüft zu werden. Er sagte zu, wenn auch mit einer gewissen Beklommenheit. Wie er mir freimütig gestand, sah er in meinem Vater einen reichen Menschenfresser, der es auf einen ahnungslosen jungen Schwiegersohn abgesehen hatte.
Ich lud noch zwei andere Freunde zum Essen ein, um die Dinge entspannter und neutraler zu gestalten. Phil war indes noch kaum angekommen, als ihm mein Vater eine alte Karikatur von Gene Elderman, dem talentierten Karikaturisten der Post, unter die Nase hielt. Zielscheibe der Satire war Richter Hugo Black, über den im Verlauf der Senatsanhörungen vor seiner Ernennung herausgekommen war, daß er einst Mitglied im Ku-Klux-Klan gewesen war. In der Karikatur saß Black in einer Robe des Ku-Klux-Klan auf der Richterbank. Darunter stand »Justizreform«. Phils Reaktion war: »Ja, das ist eine sehr gute und clevere Zeichnung, doch mit der Botschaft des Ganzen bin ich nicht einverstanden. Ich bin nämlich der Meinung, daß Richter Black zu den fähigsten und fleißigsten Mitgliedern des Gerichtshofs gehört und einer der besten Köpfe dort ist.«
In dem rauchgeschwängerten Raum sank mein Herz immer tiefer, je lauter die Diskussion wurde und je länger sie andauerte - nämlich fast den ganzen Abend. Als die Gäste schließlich gegangen waren, sagte ich wehleidig zu meinem Vater, das sei ja wohl leider nicht ganz der erhoffte Abend geworden. »Wie kommst du denn darauf?« wollte er wissen. »Ich fand den Abend sehr schön, und ich mag ihn gern.« Mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung eilte ich zum Telefon und teilte Phil mit, daß er das Examen bestanden habe.
Ein paar Tage später kam meine Mutter von ihrer Reise zurück, gerade rechtzeitig zum Abendessen der Familie. Sie war ganz in ausgiebige Schilderungen ihrer Reise vertieft, als mein Vater sie mit den Worten unterbrach: »Wir haben heute Champagner kalt gestellt.« »Schön«, sagte sie und fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Ja, willst du denn gar nicht wissen, warum es heute Champagner zum Essen gibt?« beharrte mein Vater. »Hat Cissy etwa bankrott gemacht?« platzte meine Mutter aufgeregt heraus. »Nein«, sagte mein Vater. »Kay hat sich verlobt und wird heiraten.« »Oh sagte meine Mutter höchst überrascht. »Wen denn?«
Die ganze stürmische Romanze hatte sich im wesentlichen in ihrer Abwesenheit abgespielt, und es war typisch, daß ich ihr nichts von Phil erzählt hatte. Genauso interessant war allerdings, daß auch mein Vater nicht zum Telefon gegriffen und ihr die Neuigkeit mitgeteilt hatte. Da sie Phil bisher nur in großen Gruppen junger Leute begegnet war, konnte sie sich kein Bild von ihm machen. Also mußten wir ein weiteres Essen zum Kennenlernen arrangieren, diesmal mit meiner Mutter. Als ich kurz darauf Flo in New York traf, fragte sie mich: »Wer ist denn dieser Mann, den du heiraten willst? Mutter sagt, er hat ein prächtiges Kinn.«

Ja, wer war eigentlich dieser junge Mann, der so plötzlich in unser aller Leben getreten war? Woher stammte er? Sein Vater, Ernest (»Ernie«) Graham, war in Croswell, einer Kleinstadt im Norden Michigans, zur Welt gekommen und geradezu der Inbegriff von Integrität und praktischer Erdverbundenheit - ein etwas ruppiger, aber sympathischer, fleißiger und zielstrebiger Mann, der am Gemeinwohl und an der Politik interessiert war. Als schüchterner Mensch versteckte er seine Gefühle hinter einer rauhen Schale.
Phils Mutter, Florence Morris, stammte aus Lincoln, Nebraska, und hatte, ohne College-Studium, als Lehrerin in South Dakota gearbeitet. »Floss«, wie sie allgemein genannt wurde, war auf jeden Fall eine außerordentlich charmante, starke, intelligente und sensible Partnerin, die sich Ernie gegenüber auch dann behauptete, wenn das wütenden Streit nach sich zog. Solche Auseinandersetzungen hatten bei Phil tiefe Spuren hinterlassen- er konnte Ärger, Streit oder Konfrontationen einfach nicht ausstehen. Bei einem Ehestreit hatte sein Vater, wie Phil mir erzählte, einmal sogar mit einer Lampe nach seiner Frau geworfen. Als ich selbst bei einer unserer ersten Streitigkeiten eine Tür zuschlug, sagte mir Phil, mit solchen Szenen könne er wegen seiner Kindheitserfahrungen einfach nicht umgehen. Er bat mich dringend, unsere Streitereien nicht auf solche Weise auszutragen. Daran hielt ich mich, was aber letztlich doch keine so gute Idee war, weil viele Konflikte deshalb ungelöst blieben und weiterschwelten.
Floss wurde allgemein geliebt und bewundert. Sie hatte viele Freunde selbst als es der Familie in Florida im Zeichen der Weltwirtschaftskrise sehr schlecht ging. Phil fühlte sich seiner Mutter eng verbunden - sie war die Kultivierte, Belesene, Kontaktfreudige in der Familie.
Phil wurde 1915 in Terry, South Dakota, geboren, wo sein Vater als Ingenieur in einer Goldmine arbeitete. Er war das zweite Kind, seine Schwester Mary war zwei Jahre älter als er. Bis Ernie 1917 zur Armee ging, lebten die Grahams in einem Haus an einem Berghang in den Black Hills. Infolge des Krieges sank der Goldpreis jedoch so sehr, daß die Mine nicht mehr gewinnträchtig arbeiten konnte. Darum kehrte der Vater nach Kriegsende nach Croswell zurück und leitete dort zwei Jahre lang mehrere Milchfarmen. Durch einen Freund erfuhr er dann von Versuchen der Pennsylvania Sugar Company, in den Everglades, einem Sumpfgebiet in Florida, Zukkerrohr anzubauen. Man suchte jemanden als Plantagenverwalter, der sich sowohl in der Landwirtschaft als auch im technischen Bereich auskannte, und dieser Mann war Ernie Graham. Also zog die Familie 1921 in die Everglades, etwa 80 Kilometer von Miami entfernt. Das Gebiet war noch weitgehend Wildnis, es gab keine Häuser und nur ein paar Geräteschuppen. Die einzigen anderen Bewohner dieser Gegend waren Indianer vom Stamm der Seminolen. Die Grahams bauten sich zwei Hausboote, die am Ufer eines der Hauptkanäle, welche die Everglades durchzogen, vertäut waren. Auf dem einen wohnten sie selbst, das andere nutzten sie als Gästehaus. 1924 aber, als Phils Bruder Bill geboren wurde, zogen sie auf Wunsch der Mutter in ein aus Bruchsteinen gebautes festes Haus.
Phils Erinnerungen an seine früheste Kindheit waren romantisch. Er beschrieb Alligatoren, die sich an den Ankerseilen der Hausboote sonnten, und erzählte davon, wie er mit seinen Freunden von den Booten direkt ins Wasser gesprungen sei, um im Kanal zu schwimmen. Sein bester Freund war Charlie Tigertail (Tigerschwanz), ein Seminole, dessen Bruder von einem Weißen getötet worden war. In ihren ausgehöhlten Kanus nahmen die Indianer Mary und Phil oft zu Kanalfahrten mit. Charlie und andere Seminolen brachten Phil das Jagen und Angeln bei - zwei Leidenschaften, die er sein Leben lang beibehielt. Viele Jahre später, als wir auf unserer Farm in Virginia wohnten, ging er früh und spät angeln, und manchmal blieb er sogar die ganze Nacht fort.
Dort unten in den Everglades mußten sich die Grahams also behaupten, und letztlich besiegten sie die Wildnis. Aber auch den damals regelmäßig durch das Land ziehenden Wirbelstürmen und der Wirtschaftskrise von 1929 trotzten sie. Zunächst stellte sich jedoch heraus, daß das Experiment mit dem Zuckerrohranbau nicht funktionierte. Nachdem im Gefolge eines Wirbelsturms 1926 das gesamte Gebiet überflutet worden war, gab die Firma das Zuckerrohrprojekt auf und versuchte sich unter dem Namen Pennsuco Farming Company im großflächigen Ackerbau mit massivem Maschineneinsatz. Viele Millionen Dollar wurden in den Folgejahren investiert, ehe Mr. Earle, jener Freund, der Ernie Graham nach Florida gelockt hatte, entmutigt den Rückzug antrat und Ernie als Abfindung ein Stück Land überließ.
Nun mußte sich Ernie nach einer neuen Grundlage für seinen Lebensunterhalt umsehen. Er beschloß, die kleine Milchfarm, die für den Bedarf der Pennsuco-Mitarbeiter entstanden war, weiter auszubauen und wieder Milchfarmer zu werden. Anfang 1932 lieferten die Grahams zweimal täglich ihre Milch an einen Freund, der eine kleine Kette von Lebensmittelgeschäften besaß. Ernie hatte ein Lieferabkommen geschlossen, welches vorsah, daß er 2 Cent pro Liter weniger bekam, als der Endverbraucher zu zahlen hatte. Auf dieser Basis erwarb er sich weitere Kunden, und die Milchfarm expandierte stetig. Ernies Lastwagen fuhren jeden Tag nach Miami, um Eisblöcke zu holen. Von diesen Eislastern wurde Phil zur Schule mitgenommen - wenn das Gefrierhaus umzog, mußte auch Phil die Schule wechseln, damit er immer in der Nähe der Fahrgelegenheiten blieb. Weil er ein frühreifes Kind war, kam er in Hialeah gleich in die dritte Klasse. Als die Lehrerin jedoch herausfand, daß Phil noch nicht lesen konnte, wollte sie ihn eine Klasse zurückstufen. Doch Phils Mutter brachte ihm das Lesen so schnell bei, daß er in der dritten Klasse bleiben konnte. Das hatte allerdings auch zur Folge, daß Phil immer der Jüngste und Kleinste und im Sozialverhalten noch nicht auf dem Stand seiner Klassenkameraden war.
Die meiste Zeit waren die Grahams arm und hatten zu kämpfen, denn die Depression traf Florida besonders hart. Zu Weihnachten sorgte Phils Mutter damals dafür, daß jedes Kind in der Umgebung wenigstens ein kleines Geschenk bekam. Phil konnte sich auch erinnern, daß es für seine Familie eine gute Woche gewesen war, wenn 25 Cent für den Kinobesuch am Samstagabend gespart werden konnten. Gearbeitet wurde sieben Tage die Woche, freie Tage oder Urlaub gab es praktisch nicht. Der Stundenlohn für die vielen jungen Männer, die auf der Farm arbeiteten, betrug 20 Cent. Und doch befanden sich darunter mehrere College-Absolventen und sogar ein Rhodes Scholar.
Als die Farm aus dem Gröbsten heraus war, ging Ernie in die Politik und verbrachte viele Jahre im Einsatz für die Belange der Öffentlichkeit, zuerst im Straßenbauprogramm des Staates und später als Senator im Parlament von Florida. Lange Jahre setzte er sich dafür ein, Steuern auf Pferderennen zu erheben und das Aufkommen daraus zur Unterstützung älterer Mitbürger zu verwenden. Schließlich kandidierte er 1943/44 sogar für den Gouverneursposten des Staates und wurde nur knapp geschlagen. Niemand aus Dade County war je in ein hohes Staatsamt gewählt worden, weil zu diesem Bezirk auch Miami gehörte, das im Rest des überwiegend ländlichen Staates höchst unbeliebt war. Ernie wäre um ein Haar der erste gewesen.
Nach der Schulzeit in Hialeah besuchte Phil die High-School in Miami. Viele Jahre später erzählte er mir, daß er seinen Esprit und Humor auch entwickelt habe, um seine sozialen und körperlichen Nachteile als Klassenjüngster zu kompensieren und mit den älteren und gebildeteren Jungen mithalten zu können. In seinem High-School-Jahrbuch ist jedenfalls vermerkt, daß er als Witzigster seines Jahrgangs galt. Gegen Ende seines Lebens gab er mir gegenüber aber zu, daß er Humor und Ironie immer als Waffen eingesetzt habe, um die Leute auf Distanz zu halten.
Von der Miami High School wechselte Phil auf die University of Florida, wo seine Zimmergenossen Sportler oder Politiker waren, darunter auch der schon erwähnte George Smathers, der später in den US-Senat gewählt wurde. Im College genoß Phil das Verbindungsleben, die Mädchen und auch illegal gebrannten Gin (die Prohibition war damals noch nicht aufgehoben worden). Im Sommer leitete er die Farm, damit der Rest der Familie Urlaub in Michigan machen konnte - jenem Staat, den Ernie immer noch als seine Heimat ansah.
1934, als Phil neunzehn Jahre alt war, starb seine Mutter an Krebs eine der größten Tragödien in seinem Leben. Er war am Boden zerstört, denn er hatte sie aus tiefstem Herzen geliebt und war von ihrer Liebe regelrecht abhängig. Allerdings sprach er so ungern darüber, daß ich viele Jahre brauchte, um dieses Mutter-Sohn-Verhältnis zu erfassen. Später gestand er mir, er habe sich damals, nach ihrem Tod, im College jeden Abend in den Schlaf geweint.
Als seine Mutter im Sterben lag, ließ sich Phil ein Jahr vom College beurlauben, um auf der Farm zu arbeiten. In diesem Jahr fuhr er die Milchwagen und übernahm zusätzlich im Sommer, wie üblich, die Gesamtleitung der Farm. Dabei lernte er zweifellos, mit allen möglichen Menschen auszukommen: jenen, die für ihn und mit ihm arbeiteten, und den Kunden, denen er es recht machen mußte. Einen gewissen Einfluß hatten sicher auch die Kämpfe, die er mit seinem Vater auszufechten hatte. Die beiden waren sehr verschieden: Phil, der kein Kind von Traurigkeit war, trank gerne Alkohol, während sein Vater asketische Zielstrebigkeit und völlige Abstinenz predigte.
Ein weiterer einflußreicher Mensch für Phil war ein älterer Mann, ein Freund seiner Eltern und der erste von mehreren Mentoren in Phils Leben: W. I. Evans war Rechtsanwalt und auch in der Politik aktiv. Während ihrer schweren Krankheit hatte Phils Mutter mit ihm, der auch der Anwalt der Familie war, ihren Wunsch besprochen, Phil solle nach dem College Jura studieren. Und als Floss ihn gefragt hatte, welches denn die »beste« Fakultät im Lande sei, hatte Evans Harvard genannt. So lautete der letzte Wunsch seiner Mutter nun, Phil solle nach Harvard gehen. Dies brachte sie Phil, vor allem aber auch Ernie gegenüber zum Ausdruck.
Als es dann soweit war, sagte Phils Vater jedoch, er könne es sich einfach nicht leisten, Phil überhaupt weiter studieren zu lassen, egal an welcher juristischen Fakultät. Und als er dann in letzter Minute seine Meinung doch noch änderte, war es eigentlich schon zu spät. Phil bewarb sich zwar noch schnell an der University of Michigan, wurde dort jedoch abgelehnt. Daraufhin wandte sich sein Vater an Claude Pepper, einen Harvard-Absolventen, der in die Politik des Staates Florida eingestiegen war und dieser schaffte es sogar, Phil noch in Harvard unterzubringen.
Damals war die Harvard Law School eine einzigartige Institution, denn ihre Studenten - Studentinnen waren zu dieser Zeit noch die große Ausnahme - gehörten entweder zu den hellsten Köpfen aus den privaten Eliteuniversitäten und -colleges der Ostküste (»Ivy League«) oder zu den Spitzenbegabungen des öffentlichen College-Systems der Stadt New York (CCNY), aus dem beispielsweise Felix Frankfurter hervorgegangen war. Phil jedoch paßte in keine der beiden Kategorien. Indes, seine ungewöhnlichen Qualitäten und seine Intelligenz kamen ihm auch hier zupaß. Er hatte immer ein erstaunliches Gedächtnis sowie die Fähigkeit, schnell zu lesen und das Gelesene trotzdem zu behalten, und er machte von diesen Fähigkeiten guten Gebrauch. Seine grundlegenden Lebensgewohnheiten änderte er dagegen nie - er ging immer zu Pferderennen und in Bars. Trotzdem machte er seine Sache gut und blühte in der neuen Umgebung rasch auf. Am Ende des ersten Jahres hatte er allerdings Angst, bei den entscheidenden Abschlußprüfungen versagt zu haben. Er teilte seinem Vater mit, er habe seine Erwartungen nicht erfüllt und sich seiner Opferbereitschaft als unwürdig erwiesen: Er habe die Prüfung wahrscheinlich nicht bestanden. Als dann jedoch die Nachricht von der Universität gekommen war, lautete Ernies lakonischer Kommentar: »Ich vermute mal, daß du nicht durchgefallen bist. Hier steht jedenfalls, daß du in deinem Jahrgang an dritter Stelle stehst.«
Nach diesen Ergebnissen wurde Phil in die Redaktion der Harvard Law Review aufgenommen und am Ende seines zweiten Jahres sogar zu deren Vorsitzendem gewählt. Dies war zweifellos eines jener Schlüsselereignisse, die das Leben eines Menschen bestimmen. Auf diese Weise mußte sich Phil neuen intellektuellen Herausforderungen stellen, lernte dabei eine Menge und reifte zu einer profilierten Persönlichkeit, die man nicht übersehen konnte. Schließlich lernte er hier auch noch Felix Frankfurter kennen, einen der Architekten des New Deal und eine der wichtigen Persönlichkeiten in seinem Leben.
So vieles in Phils Biographie rührte aus diesem Jahr als Präsident der Law Review und aus seiner Beziehung zu Felix Frankfurter her. Felix nahm Phil als einen seiner »Jungs« unter die Fittiche, ehe er im Januar 1939 von Präsident Roosevelt an den Supreme Court berufen wurde. Phil war damals noch mitten in seinem letzten Studienjahr. Zusammen mit Felix und den neuen Freunden von der Law Review betrat er nun die Welt der bedeutenden Ideen und Bücher, der anspruchsvollen und anregenden Gespräche. Von allergrößter Wichtigkeit war für diesen Kreis das Interesse an Zeitgeschichte und Politik. Zwar hatte sich Phil in der Politik schon immer wohl gefühlt. Er hatte seinen Vater bei dessen Wahlkämpfen unterstützt und dabei ein Interesse an öffentlichen Angelegenheiten entwickelt. Doch in Felix Frankfurter war er nun auf einen Mann gestoßen, der von der nationalen und internationalen Politik geradezu besessen war, dem der Einsatz von Macht und Ideen alles bedeutete. Das Volk, die Politik und die politische Theorie - sie waren Frankfurters ein und alles.