Zwanzigstes Kapitel

Schwarz-Weiß-Ball


Ben machte sich sofort daran, die Zeitung nach seinen Vorstellungen umzugestalten und aufzubauen. Er und seine Freunde bei Newsweek hatten zuvor den ihrer Meinung nach wenig inspirierten Schreibstil und das unentschlossene Management bei der Post kritisiert. Jetzt beeilte sich Ben, diese Defizite entschlossen abzubauen. Als bedeutender Entdecker und Förderer von Begabungen holte er einige große, bekannte Journalisten, die ihre Beiträge namentlich zeichneten, zur Post, darunter Ward Just und Dick Harwood. Einen besonderen Akzent setzte der Zugang des politischen Starreporters David Broder, der von der New York Times kam. Ben engagierte auch Nicholas von Hoffman, der als erster über die Drogenszene im Stadtteil Haight-Ashbury von San Francisco berichtete. Er schrieb darüber so anschaulich, daß Ben inspiriert wurde, selbst dorthin zu fliegen, um die Hippie-Welt persönlich in Augenschein zu nehmen. Angesichts seiner Exzentrik und Originalität brauchte Nick einen risikobereiten Redakteur, und den hatte er in Ben gefunden. Von 1966 bis 1969 wurde die Redaktion um fünfzig Stellen erweitert. Ihr Etat erhöhte sich in diesem Zeitraum um 2,25 Millionen Dollar auf über 7 Millionen Dollar im Jahre 1969.
In dieser Zeit waren allerdings auch Abgänge zu verzeichnen. Einige davon markierten eine echte Wachablösung. Als unser langjähriger Nachtredakteur der Lokalredaktion, John Riseling, der Cheffotograf Hugh Miller und Eddie Folliard, ein brillanter politischer Reporter über das nationale Geschehen, sich - unabhängig voneinander - ungefähr zur selben Zeit entschlossen, in den Ruhestand zu gehen, gab ich eine Abschiedsparty, denn immerhin hatten die drei der Post zusammen hundertdreißig Jahre gedient.
Vielleicht war Ben als Manager doch nicht so begabt wie als Talentsucher, aber er wirkte als Manager sozusagen durch Osmose. Wichtig war allein, daß er die ihm Unterstellten begeistern, Fehler einsehen und korrigieren konnte und daß es insgesamt voranging. Schnell lernte er, wie der Hase lief und wie man speziell bei Budgetfragen mit John Sweeterman umgehen mußte. Weil John mehr über Bens Budget wußte als dieser selbst, bekam Ben im ersten Jahr keinen Boden unter die Füße. Doch das geschah ihm kein zweites Mal. Als er sich im folgenden Jahr mehr von gleich zu gleich - und mit meiner unausgesprochenen Rückendeckung - mit John auseinanderzusetzen hatte, nahmen die Dinge eine Wende. Denn John respektierte Leute, die wußten, wovon sie redeten, und die das Beste für die Zeitung wollten. Ben drängte auf eine Qualitätsverbesserung der Zeitung, und die war natürlich nicht umsonst zu haben.
Bens Ankunft veränderte mein Leben auf unerwartete Weise. Er war der erste Neue, den ich für eine leitende Position engagiert hatte, und der Unterschied zwischen meinem Verhältnis zu ihm und meinem Verhältnis zu den meisten Altgedienten bei der Post war bemerkenswert. Trotz meiner Rolle als Eigentümerin des Blattes war ich für die Altgedienten immer noch der Neuling, die Juniorpartnerin. Obwohl sie meistens freundlich und großzügig waren, blieben sie fast immer die Lehrmeister, denen ich folgte. Dagegen waren Ben und ich Partner, die sich auf gemeinsame Ziele konzentrierten. Vielen anderen mag Ben als bizarre Wahl erschienen sein, doch für mich war er genau der Richtige.
Aus Ben sprudelten die Ideen nur so hervor. Ständig stellte er wichtige Fragen: »Warum bauen, eröffnen oder kaufen wir nicht in den Vororten (Washingtons) in Maryland eine Druckerei?«, »Warum muß eine große Zeitung an Boden verlieren?« Er schickte mir einen fast ununterbrochenen Strom von Memos, in denen er sich zu Dingen äußerte, die die Post tun sollte - einige waren richtig, andere falsch, doch fast alle Vorschläge waren interessant. Weil Ben zielstrebig und gut war, ließ ich ihn meistens nicht nur gewähren, sondern stimmte auch mit ihm überein. Im gegenteiligen Fall riskierte ich ebenfalls lieber keinen Konflikt.
Im Lauf der Zeit lernte ich, geschickt mit ihm umzugehen, und er mit mir. Aus diesen Anfangsjahren datiert unsere Freundschaft. Wir waren uns sympathisch und erfreuten uns einer konstruktiven, professionellen Partnerschaft, in der wir uns wunderbar ergänzten und emotional ganz entspannt waren. Das Wichtigste aber war, daß ich bei der Post konstante Verbesserungen sah.
Die Fortschritte bei Newsweek waren ebenso dramatisch wie bei der Post. Weil Oz Elliott ein feines Gespür für entscheidende Themen hatte, zeichnete sich Newsweek in den sechziger Jahren besonders aus - als »heißes« Nachrichtenmagazin, das wichtige Trends erkannte und beispielsweise schon über Rassenprobleme oder die neue Sexualmoral schrieb, als die Konkurrenz sich der Bedeutung dieser Themen überhaupt noch nicht bewußt war. Unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten machte sich das Magazin allerdings weniger gut. Fritz Beebe war dem redaktionellen und kaufmännischen Management des Blattes gegenüber extrem nachsichtig; sie durften relativ frei agieren und mußten sich nicht an strikte Budgets halten. Ich hatte keine Ahnung, wieviel Geld man mit Newsweek verdienen konnte oder sollte, und die Verantwortlichen in New York neigten dazu, sich meinen Fragen zu widersetzen. Jeder zaghafte Ansatz wurde sofort als unerwünschte Einmischung verstanden.
Solange Oz Elliott als Herausgeber und Gib McCabe als Verleger oder Präsident fungierten, verbesserte sich das Magazin laufend, sowohl hinsichtlich der redaktionellen Qualität als auch beim Anzeigenaufkommen. Verschiedene Wechsel in den leitenden Positionen der Redaktion, darunter auch Oz' vorübergehender Weggang, sorgten jedoch für Aufruhr und schlechte Stimmung. Eine Weile herrschte Chaos, und viele talentierte Leute gingen fort.
In Presseberichten und Klatschgeschichten mußte ich oft als Pappkamerad herhalten, dem alle möglichen Fehler angelastet wurden - im Personalbereich wie bei redaktionellen Entscheidungen. Wann immer Newsweek-Redakteure unglücklich waren, bekam ich ihre Klagen zu hören und wurde so zur Zielscheibe der Beschwerden von innen und außen. Dieses Durcheinander nährte dann sofort wieder Verkaufsgerüchte, die unweigerlich auch gedruckt zu lesen waren und die Belegschaft natürlich verunsicherten.
Solche Gerüchte entstanden nicht zuletzt deshalb, weil Finanzanalysten - zumal nach unserem Gang an die Börse - keinen Grund erkennen konnten, warum dieser relativ unprofitable Teil unseres Geschäftsfeldes von einer Gesellschaft noch beibehalten werden sollte, die jetzt auch ihren Aktionären verantwortlich war. Doch damals wie heute war ich von der Bedeutung von Newsweek fest überzeugt.

Als ich meine aktive Tätigkeit in der Washington Post Company aufnahm, bestand unser drittes Standbein, die Rundfunk- und Fernsehabteilung, hauptsächlich aus zwei Fernsehsendern (heute sind es sechs): das populäre und wirtschaftlich starke WTOP in Washington, D. C., und WJXT in Jacksonville, Florida, das sich durch Aufklärungsjournalismus einen Namen zu machen begann. John Hayes hatte die Arbeit beider Stationen mit bewundernswerter Kompetenz geleitet, bis ihn Lyndon Johnson 1966 zum US-Botschafter in der Schweiz ernannte. Vergeblich versuchten wir, einen Nachfolger im eigenen Haus zu finden, und dann stellten Fritz und ich Larry Israel ein, der Chef der Westinghouse Broadcasting Station Group gewesen war. Larry brachte einen ganzen Schwarm neuer Leute mit, vor allem Jim Snyder, der die Leitung der Nachrichtenredaktion bei WTOP-Radio übernahm und dann praktisch umgehend auch bei WTOPTV Jim war wirklich das Pendant zu Ben Bradlee für den Bereich der Fernsehnachrichten - charismatisch, energisch, mit Leib und Seele bei der Sache, hartnäckig und obendrein noch gut bei der Förderung talentierter Leute.

Larry Israel unternahm diverse sehr produktive Schritte. Unter seiner Ägide kauften wir 1968 eine Fernsehstation in Miami und benannten sie Phil zu Ehren mit den Initialen WPLG. Hinzu kam 1973 der Kauf eines Senders in Hartford, Connecticut. Larry war es auch, der den Vorschlag machte, bei unseren Stationen freiwillig auf Zigarettenwerbung zu verzichten lange bevor dieser Verzicht zwangsweise verfügt wurde -, und der auf die Idee kam, unseren UKW-Radiosender der Howard University in Washington zu schenken. Obwohl wir den Wert des UKW-Radios unterschätzten und damit auch den Wert unserer Schenkung, war dies eine einzigartige Aktion. Damals befand sich in den gesamten USA nicht eine einzige Radio- oder Fernsehstation im Besitz von Schwarzen. Dies war die erste, und sie wurde später, unter dem Management der Howard University, zum führenden Radiosender Washingtons. Larry war ein Fernsehfan, er forderte und förderte extreme Qualitätsstandards in Programmen und Nachrichten - in dieser Hinsicht machten unsere Stationen enorme Fortschritte -, aber er hatte nur wenig Ahnung vom Radio. Sein Geschäftssinn war unterentwickelt, und mit der Motivierung von Mitarbeitern tat er sich noch schwerer. Ich erlebte bei mehreren Sitzungen mit, wie er Leute anschrie. Das beunruhigte mich, aber ich kam zu dem Schluß, daß die Sache wohl trotzdem funktioniere. Leider zu Unrecht.

Als Präsidentin der Washington Post Company hatte ich die Aufsicht über alle drei Bereiche und verließ mich dabei weitgehend auf Fritz Beebe, der meistens in New York weilte und bei Newsweek das Sagen hatte, und auf verschiedene Leute in jedem einzelnen Unternehmensbereich. Leider hatten Fritz und ich einen gemeinsamen Fehler: Wir waren beide keine Manager, und gerade die Probleme mit dem Management schienen endlos und unlösbar zu sein.
Ich war schon immer interessiert gewesen zu erfahren, was gutes Management ausmache in unserer Branche, aber auch in anderen. Genauso ernsthaft, wie ich viele andere Dinge in Angriff nahm, machte ich mich auch an meine Hausaufgaben im Managementbereich. Ich muß alle in meiner Umgebung fast zum Wahnsinn getrieben haben mit meiner intensiven Gründlichkeit, doch ich spürte einfach den Zwang, mein Wissen zu erweitern. Ich bereiste verschiedene Städte, um mir anzusehen, wie das Zeitungsgeschäft dort betrieben wurde. Ich verbrachte einen Tag bei Texas Instruments, das mit seinen Planungsverfahren damals einen ausgezeichneten Ruf genoß. Ich stattete den Zentralen von Xerox und NCR einen Besuch ab. Und ich besuchte ein einwöchiges praxisorientiertes Intensivseminar des amerikanischen Zeitungsverlegerverbandes ANPA zum Produktionsprozeß.

Ich war auch Teilnehmerin eines siebentägigen IBM-Seminars für Firmenchefs, bei dem es um die Möglichkeiten des Computereinsatzes ging. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, wie schwer es für Manager noch vor dreißig Jahren war, diese neue - und damals sogar noch recht einfache - Technologie zu verstehen. Für Zeitungen in Großstädten wurde die Einführung von Computern zusätzlich dadurch erschwert, daß die Gewerkschaften in diesen Betrieben eine geradezu erdrückende Macht hatten. Doch ich war von der Wichtigkeit des Themas überzeugt und meldete mich zu dem Seminar auf einem Landsitz in Endicott, New York, an. Wir waren nur zu zehnt, und ich natürlich die einzige Frau. Unter den Teilnehmern waren Direktoren von Großbanken in Boston, Chicago und Charlotte, North Carolina, und von Versicherungsgesellschaften sowie der Chef einer Großdruckerei.
Ich geriet zunächst in Panik, doch die legte sich schnell, als ich mitbekam, daß auch die anderen Angst hatten und sich selbst ob des erwarteten Martyriums bemitleideten. Schnell wurden wir zu einer verschworenen Gemeinschaft. Obwohl Alkohol ausdrücklich verboten war, kreiste die Flasche bei einer nächtlichen Party auf dem Zimmer eines Teilnehmers eine absurde Szene, wie in einem Landschulheim.

Überhaupt nichts zu lachen gab es indes in meinem Verhältnis zu John Sweeterman - das natürlich darunter litt, daß ich mich mehr für die redaktionellen als für die wirtschaftlichen Belange der Zeitung interessierte. Vor allem aber litten wir gegenseitig unter unserem Umgang miteinander. Ich hatte etwas gegen seine Unfähigkeit, mich als ernstzunehmende Partnerin zu akzeptieren, verstand aber meinerseits nicht, wie sehr sich seine Position verändert hatte, seit ich bei der Post eingestiegen war.
Ich konnte meine Angst vor ihm einfach nicht überwinden. Immer wieder gab ich klein bei, um eine Konfrontation zu vermeiden. Oder ich brach vor Wut in Tränen aus - für eine Chefin sicher kein akzeptables Verhalten.
In gewisser Weise war John auch ein Opfer meiner lebenslangen Tendenz, mich mehr auf Fehler und Verbesserungswürdiges zu konzentrieren als auf Gelungenes und Erfolgreiches. Diese übertrieben kritische Einstellung wandte ich auch gegen mich selbst, aber andere bemerkten diesen Charakterzug an mir meistens erst, wenn sie und ihre Arbeit in mein Visier geraten waren. So war mit mir sicher nicht leicht auszukommen, besonders für jemanden wie John. Später lernte ich ihn durchaus schätzen und empfinde jetzt sogar so etwas wie Zuneigung.
Ich habe ihn einmal gefragt, was seiner Meinung nach die wichtigste Eigenschaft für jemanden sei, der eine Zeitung leite. »Ein gutes Urteilsvermögen«, lautete seine Antwort. »Und machen Sie sich bitte nicht solche Sorgen wegen Ihrer Unerfahrenheit.«
In jenen Jahren plagte ich mich aber nicht nur mit dem Erlernen des Managerhandwerks, sondern war auch anderweitig aktiv. Einige Erwerbungen verstärkten mein Gefühl, daß es auch in wirtschaftlicher Hinsicht voranging. Die erste Neuerwerbung im Jahre 1966 war besonders passend, auch wenn sich damit im Lauf der Jahre nicht gerade große Gewinne erzielen ließen: Nach komplizierten Verhandlungen wurden wir - gemeinsam mit Whitney Communications und der New York Times Company - zu einem Drittel Eigentümer des Paris Herald Tribune. Der International Herald Tribune, wie man ihn seither nennt, ist trotz seiner relativ kleinen Auflage von rund 200 000 Exemplaren eine bedeutende, weltweit einflußreiche Zeitung.
Sie wird überall in Regierungskreisen und von Entscheidungsträgern gelesen. Vor allem war das Blatt für unsere Reporter enorm hilfreich; sie wurden international bekannt und konnten sich auf diese Weise neue Türen öffnen. Dabei wurden nicht zuletzt auch die Post und die NY Times weltweit zum Begriff.

Trotz hoher Arbeitsbelastung gestaltete sich mein gesellschaftliches Leben nun abwechslungsreicher. Ein enormer Gewinn in dieser Lebensphase war meine Freundschaft mit Pamela Berry. Sie kam oft zu Parteikonventen in die USA, und wenn ich sie in England besuchte, konnten wir stundenlang über Politik diskutieren. 1970, als Edward Heath nach seinem Wahlsieg über Harold Wilson Premierminister wurde, verfolgten wir den Wahlkampf gemeinsam. Wir besuchten Pressekonferenzen der Labour Party und verbrachten einen Nachmittag zusammen mit Heath auf Wahlkampfreise durch seinen Wahlkreis Bexley, einen Londoner Vorort. Es war spannend, den Wahlsieg der Konservativen mitzuerleben und dabeizusein, als Heath nach britischer Sitte binnen vierundzwanzig Stunden in Downing Street Nr. 10 einzog, während Wilson den Regierungssitz räumte.
Ted Heath und ich wurden gute Freunde, und diese Freundschaft gab später reichlich Stoff ab für verrückte Klatschgeschichten in der Presse. Besonders tat sich dabei eine vielgelesene Klatschkolumnistin namens »Suzy« in der New York Daily News hervor. Sie behauptete, ich hätte mich jeden Abend mit Heath getroffen und meinen Aufenthalt in London extra verlängert, um weiterhin mit Ted bei Kerzenschein dinieren zu können. Die Londoner Regenbogenpresse, selbst der ehrwürdige Manchester Guardian und in den USA Women's Wear Daily stürzten sich auf diese Story, natürlich mit knalligen Schlagzeilen. Sowohl Ted als auch ich dementierten die Affäre höflich. Mein Sohn Don, der damals ebenfalls in London war, hatte sich zuvor schon köstlich über einen Zeitungsartikel amüsiert, aus dem er von der angeblichen Romanze seiner Mutter mit dem Premierminister erfuhr.
Meine liebste und verläßlichste Freundin in jenen Jahren war Polly Wisner. 1965 wurde auch sie von einem Schicksalsschlag getroffen, als sich Frank, ihr Mann, nach langer Krankheit auf der Farm der Familie in Galena, Maryland, das Leben nahm - genau wie Phil. Es war schon gespenstisch, wieviel bei uns ähnlich verlief. Nach Franks Tod zog sich Polly lange zurück. Schließlich fand sie jedoch in ihrem zweiten Ehemann, Clayton Fritchey, einen wundervollen neuen Partner.
Polly und ich verreisten im Lauf der Jahre oft gemeinsam, um ein wenig zur Ruhe zu kommen. Einmal, bei einem Skiurlaub in der Schweiz, gingen wir über einen Gletscher, in ein Gespräch über das Altern und gemeinsame Freunde wie Alice Longworth und Averell Harriman vertieft, die uns um Jahrzehnte voraus waren. Ich verkündete Polly, ich wüßte schon, wie man mit Anstand und Eleganz alt werden könne: »Wir müssen viel lesen und wenig Alkohol trinken.« Polly schwieg lange, während unter unseren Füßen das Eis vernehmlich knirschte, ehe sie schließlich mit der Frage herausrückte: »Und wann müssen wir damit anfangen?«

Eine der ersten Reisen, die wir als Alleinstehende unternahmen, führte uns 1966 nach Saratoga Springs im Staate New York, in den Lieblingskurort meiner Mutter. Als wir dort waren, rief mich Truman Capote an, um mir zu sagen, daß er einen Ball geben wolle, um mich etwas aufzumuntern. Das Ganze sollte nach seinen Worten »die schönste Party« werden, »zu der du je gegangen bist, Liebling«.
Meine unmittelbare Reaktion war nicht gerade begeistert: »Mir geht's gut. Das ist wirklich sehr nett von dir, aber ich brauche keine Aufmunterung.« Doch Truman ließ sich nicht beirren. Ohne auf mich einzugehen, sprach er immer weiter von seinen Plänen. Er erklärte mir, wie sehr er den großen Ballsaal im New Yorker Plaza Hotel schon immer geliebt habe, und schwärmte mir von der Ascot-Szene in My Fair Lady vor. Er hatte entschieden, daß - in Anlehnung an eine Inszenierung des Musicals, die ihn beeindruckt hatte - jeder auf dem Ball in Schwarz und Weiß kommen und Masken tragen solle. Um Mitternacht sollten die Masken dann abgenommen werden. Ich sollte der Ehrengast des Balles sein.
Die Idee verwirrte mich, und ich war mir nicht sicher, wie ernst es Truman wirklich meinte. Zunächst dachte ich nicht weiter darüber nach, als Polly und ich uns bald darauf aber mit Truman im »21« zum Lunch trafen, wurde mir klar, daß es bei dieser großen Party eher um Truman als um mich ging. Ich glaube, er war vom Schreiben des Romans In Cold Blood ausgelaugt und mußte etwas Extravagantes tun, um sich neue Energie zu verschaffen.
Ich war dabei nur Staffage.
Auf jeden Fall steigerte sich allmählich die Aufregung. Trumans »Maskenball in Schwarz und Weiß«, wie er allgemein genannt wurde, bildete damals den Höhepunkt meines gesellschaftlichen Lebens - in mancher Hinsicht blieb er sogar unübertroffen. Schon bald füllten sich die Klatschkolumnen mit Erörterungen, wer zum großen Ereignis am 28. November eingeladen sei und wer nicht. In den Wochen vor der Party waren den jungen Schönheiten aus New York und der ganzen Welt, die teilnehmen würden, ganze Seiten in Zeitschriften und Zeitungen gewidmet - es ging um Kleider, Frisuren und Masken. Truman verbrachte viele Stunden damit, Gästelisten zusammenzustellen, und wurde mit den Worten zitiert: »Ich habe beschlossen, daß jeder, der unbeweibt eingeladen wird, entweder sehr reich, sehr talentiert oder sehr schön sein muß, am liebsten natürlich alle drei Eigenschaften haben sollte.« Eingeladen waren Leute aus New York, Kansas (wo In Cold Blood spielt), Kalifornien, Europa, Asien, Südamerika; Bühnen- und Filmschauspieler, Literaten und Künstler, Wirtschaftsmanager und Berühmtheiten aus der Medienwelt - alles Trumans Freunde. Ich durfte zwanzig Paare aus Washington einladen.
Mein französisches Kleid, das ich auf dem Ball tragen wollte, war ein Entwurf von Balmain, wurde aber von Bergdorf Goodman nachgearbeitet. Es war aus schlichtem weißem Crêpe mit schieferfarbigem Perlenbesatz an Halsausschnitt und Ärmeln. Die Maske wurde dazu passend ebenfalls bei Bergdorf angefertigt - von Halston, der damals noch als Hutmacher arbeitete. Die einzige Anweisung, die ich ihm gab, lautete, daß ich 1,73 Meter groß sei und deshalb keine Maske wolle, die zu weit nach oben reiche. Ich erzählte ihm auch, daß Truman und ich die Partygäste in Empfang nehmen würden; deshalb komme eine Maske, die am Stab zu halten sei, nicht in Frage. Wenn ich in New York war, ließ ich mich schon seit einiger Zeit im Salon von Kenneth frisieren, doch wußte dort noch niemand, wer ich war. Niemand war persönlich auf meine Frisur spezialisiert, und ich hatte mir auch noch nie Make-up auflegen lassen. Natürlich wußte ich auch nicht, wie ich das selbst fertigbekommen sollte. Als ich Kenneths Salon am letzten Abend vor dem Ball verließ, sprach mich eine der Mitarbeiterinnen an: »Mrs. Graham, wir haben ja sooo viel mit den Frisuren für den Maskenball in Schwarz und Weiß zu tun. Haben Sie schon davon gehört?«

»Ja«, antwortete ich. »Es kommt mir komisch vor, aber ich bin der Ehrengast des Balles.«
Sie bekam ihren Mund nicht wieder zu und fragte, wer mich denn frisieren werde. Das wußte ich auch nicht, und ich hatte nicht einmal einen Termin für das Make-up vereinbart. Sofort wurde die Gute aktiv und bestand darauf, daß Kenneth selbst mein Haar herrichten werde. Ja, sie brachte mich umgehend zu ihm, und ich bekam den letzten Termin unmittelbar vor dem Ball. Die Mühen lohnten sich, denn ich sah bestens aus. Im Vergleich zu all den raffinierten Schönheiten im Ballsaal allerdings wirkte ich immer noch wie ein Waisenkind.
Truman hatte alles bis ins letzte Detail durchgeplant. Durch Dutzende von Dinnerrunden, die er vor den eigentlichen Ball gelegt hatte und zu denen sämtliche Gäste eingeteilt waren, behielt er den Oberblick. Er und ich gingen auf einen Drink zu den Paleys und machten uns dann auf ins Plaza. Vor dem Hotel mußten wir uns durch eine Menschenmenge kämpfen, die sich dort bereits zu versammeln begann, vor allem aber durch eine Batterie von fast zweihundert Fernsehkameras und Fotoapparaten in der Hotellobby. Das war ebenso aufregend wie erschreckend. Dergleichen hatte ich nie zuvor gesehen, geschweige denn, daß ich selbst Gegenstand eines solchen Medienrummels gewesen wäre.

Nur um eines hatte Truman mich gebeten: Ich sollte für uns beide eine Art nobles Picknick in einem der Hotelzimmer vorbereiten, das wir einnehmen wollten, während wir auf das Eintreffen der Gäste warteten. Dann wollten wir hinuntergehen, um die Gäste zu empfangen. Ich wußte, daß Truman in erster Linie an Kaviar und Champagner dachte, also bestellte ich bei »21« »Geflügel und eine Flasche«. Weil ich diesen Lebensstil nicht aus eigener Erfahrung kannte und nie zuvor Kaviar gekauft hatte, war ich über den Preis so erschrocken gewesen, daß ich nur ein Viertelpfund bestellt hatte. Doch das waren kaum mehr als ein paar Löffel für jeden von uns. Obendrein war das Hähnchenfleisch trocken. Ich wollte spontan im Boden versinken, Truman war aber zum Glück so aufgeregt, daß er seine gute Laune nicht verlor.
Punkt 22 Uhr gingen wir nach unten, um die Gäste zu begrüßen. Einige waren bereits eingetroffen, doch der Großteil kam erst gegen 22.30 Uhr. Ich stand neben Truman, der mir jeden einzelnen vorstellte. Einer der verblüffendsten Augenblicke kam und verging so schnell, daß ich fast keine Zeit hatte, überhaupt hinzusehen und ein Wort zu sagen. Truman wandte sich zu mir und sagte mit großem Nachdruck: »Das hier ist Jack.« Es war Trumans Freund Jack Dunphy, der sonst immer hinter den Kulissen blieb und niemals gemeinsam mit Truman in der Öffentlichkeit auftrat. Truman hatte ihn aber überredet, wenigstens zu diesem Ball zu kommen.
Seltsamerweise schienen die Gäste, hatten sie erst einmal das Spalier der Schaulustigen und Presseleute überwunden, die Kameras und ihre eigene Befangenheit vollkommen zu vergessen, und der Ball wurde eine wirklich intime, lockere, gemütliche Party, wozu Peter Duchins zauberhafte Musik und das sehr gute, einfache Essen wesentlich beitrugen.
Truman hatte auch einige recht junge Gäste eingeladen, darunter Penelope Tree, Mariettas jüngste Tochter, die damals gerade erst sechzehn war. Susan Mary Alsop erinnert sich noch, wie sie abends vor dem Ball mit Marietta und Ronnie Tree in deren Bibliothek saß, als dieses Schulmädchen auf einmal hereingestürmt kam: in schwarzem Trikot - was damals schon sensationell genug war - mit einem kleinen weißen Top und schwarzweißer Maske. Laut Susan Mary sah sie mit ihrer hübschen, gertenschlanken Figur absolut atemberaubend aus.
Eigentlich hatten die Eltern nicht erlaubt, daß sie zu diesem Ball ging, aber nun war nichts mehr zu ändern. Penelope durfte mit und wurde später eines der bestbezahlten Models in New York.
Warum nur war ich Ehrengast dieser Party? Wer kann es wissen? Truman und ich waren gute Freunde, aber mit mir war er längst nicht so eng befreundet wie etwa mit Babe Paley oder Mariella Agnelli, die damals wahrscheinlich die berühmtesten Schönheiten der Welt waren. In einem Gespräch darüber, wer von beiden die schönere sei, sagte Truman einmal: »Wenn sie beide bei Tiffany im Schaufenster stünden, wäre Mariella sicher die teurere.« Letztlich aber verkrachte sich Truman mit sehr vielen Freunden und Freundinnen und wurde sogar ausfällig, was er mir gegenüber jedoch stets vermied. Ich glaube, er fühlte sich als mein Beschützer. Er wußte, daß ich kein so glamouröses Leben führte wie viele seiner Freunde. Vielleicht wollte er mir dieses Leben mit seinem Ball ja auch einmal aus nächster Nähe vorführen - wenigstens einmal sollte auch ich dazugehören. Außerdem eignete ich mich wohl für die von ihm ausersehene Rolle, weil ich eine Art Debütantin im mittleren Lebensalter war - vielleicht sogar ein Aschenputtel, jedenfalls soweit es diesen Lebensstil betraf. Die meisten Leute auf dieser Party kannte ich ebensowenig wie ihre Welt, und umgekehrt galt das gleiche. Truman hatte das Gefühl, einen Anlaß für die Party zu benötigen, einen Ehrengast, und ich hatte den Vorteil, aus einer anderen Welt zu stammen und insofern nicht mit seinen glamourösen Freundinnen zu konkurrieren. Gerald Clarke, einer von Capotes Biographen, stellte folgende Vermutung auf: »Sie war vielleicht die mächtigste Frau im Lande, dabei aber außerhalb von Washington immer noch weitgehend unbekannt. Sie ins Scheinwerferlicht zu rücken, war auch die Krönung seiner Pygmalion-Rolle. Es war wie ein symbolischer Schritt heraus aus dem Schatten ihres verstorbenen Mannes: Sie würde damit vor der ganzen Welt ihre Eigenständigkeit beweisen.«
Die Berichterstattung über die Party ging hinterher - im In- und im Ausland - noch wochenlang weiter, zu Trumans großem Vergnügen. Mrs. Longworth nannte die Party das »exquisiteste Zuschauervergnügen« - ein Zitat, das der New York Times als Überschrift für ihre ausführliche Berichterstattung diente. Die Washington Post befand sich natürlich in einer etwas heikleren Lage und brachte die Story nur auf der ersten Seite des Frauenteils.
 Am Tag nach dem Ball rief mich die Vogue-Redakteurin Diana Vreeland an mit der Bitte, ich möge mich doch nochmals so herrichten wie am Vorabend - Frisur, Make-up, Kleid - und für den Fotografen Cecil Beaton posieren (der schon vor dem Ball Aufnahmen von mir gemacht hatte), weil Kenneth mich so großartig habe aussehen lassen - noch besser als beim ersten Fototermin. Zu den Fotos schrieb dann Arthur Schlesinger einen schmeichelhaften Begleitessay, und beides erschien im Januar 1967 in Vogue.

Meine eigene Reaktion auf all diese Aufmerksamkeit war gemischt. Die Publicity und das gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit ängstigten mich ein wenig und hätten mir auch schaden können - ja sogar schaden sollen, denn ich bemühte mich schließlich als Verlegerin um ein ernsthaftes, professionelles Image. Seltsamerweise kam jedoch niemand auf die Idee, Trumans Party als die letzte Zuckung einer überlebten Gesellschaftsordnung zu beschreiben, quasi als Marie-Antoinettes letzten großen Auftritt vor der Französischen Revolution. Vielleicht hing das damit zusammen, daß die Frauenbewegung damals noch ganz in den Anfängen steckte. Auch waren die ernsten Rassenunruhen in den Gettos der Großstädte noch nicht ausgebrochen und Vietnam in der Öffentlichkeit noch nicht zum beherrschenden Thema geworden - wie schon bald danach. Jedenfalls war dies der letztmögliche Zeitpunkt, zu dem eine solche Party noch stattfinden konnte, ohne weithin Anstoß zu erregen und hämischen Spott zu ernten. Einzelne Journalisten indes sahen und beschrieben durchaus das Unangemessene an diesem Ereignis, etwa Pete Hamill in der New York Post. Mein Freund Drew Pearson, ein Quäker, den ich als Gast zusammen mit seiner Frau, meiner lieben Freundin Luvie, zu dem Ball eingeladen hatte, schrieb anschließend eine sehr kritische Kolumne - und das, obwohl er seiner Frau versprochen hatte, keine negativen Kommentare zu verfassen, wenn er mitkäme.
Er sagte, Trumans Party habe »die Tragödie in Kansas überschattet, durch die er berühmt geworden« sei. Mariella Agnelli hätte das Geld für ihr sündhaft teures Kleid lieber für die Opfer der Flutkatastrophe in Italien spenden sollen.
Für mich war die Party letztlich aber ein großes Vergnügen. Vielleicht konnte ich sie sogar doppelt genießen, weil sie mit meinem wahren Leben kaum etwas zu tun hatte. Ich fühlte mich geschmeichelt und ließ mich, obgleich dies sicher nicht mein Lebensstil war, eine magische Nacht lang verzaubern.

1966 schloß Don Graham sein Studium am Harvard College mit großem Erfolg (»magna cum laude«) ab, obwohl er die meiste Zeit in der Redaktion der College-Zeitung Harvard Crimson verbracht hatte. Er hatte sich entschlossen, als Freiwilliger zur Armee zu gehen und nicht auf die Einberufung als Wehrpflichtiger zu warten - eine Entscheidung, die mich überraschte. Ich hatte nämlich gedacht, daß er sein Studium fortsetzen würde. Auf diese Weise wäre er von einer Einberufung vorerst verschont geblieben. Die meisten von Dons Freunden waren gegen den Vietnamkrieg, und auch Don hatte seine Vorbehalte, aber als ich ihn nach einer Begründung für seinen Entschluß fragte, antwortete er nur ganz ruhig: »Die Reichen bleiben an der Uni, und die Armen werden eingezogen. Damit kann ich nicht leben.« Die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daß er nach Vietnam geschickt würde, machte mir große Sorgen, doch gegen Dons Argumentation konnte ich nur schwer etwas einwenden.
Am 22. August 1966 fuhr ich Don frühmorgens zum Bahnhof in Washington. Wir verabschiedeten uns, und dann stieg er in den Zug nach Fort Bragg in North Carolina. Für mich war dies - nicht zuletzt wegen der Erinnerungen an Phils Abreise zur Armee im Jahre 1942 - eine schreckliche Szene. Auch Dons Reaktion auf die Armee glich der Phils: Der fast vollständige Mangel an Logik im Soldatenalltag, die sinnlose Brutalität, die er überall erlebte, und das Regelwerk, das anscheinend nur darauf ausgerichtet war, Angst zu erzeugen, deprimierten ihn.
Schon im College hatte sich Don in Mary Wissler, eine andere Redakteurin des Crimson, verliebt; die beiden wollten heiraten. Ich stellte diese Entscheidung sanft in Frage: Sie seien beide mit einundzwanzig Jahren noch zu jung und in ihren Gefühlen, wohl auch wegen Dons bevorstehender Einberufung, vielleicht etwas durcheinander. Doch Don blieb dabei, und im Januar 1967 versammelten sich beide Familien vollzählig zur Hochzeitsfeier in Chicago, wo Mary aufgewachsen war.
Nur sechs Monate später war Don dann schon auf dem Weg nach Vietnam. Der Krieg entwickelte sich gerade zu jenem emotional verzehrenden und von heftigen Gefühlsausbrüchen begleiteten Thema, das die nächsten Jahre prägen sollte, und jetzt war der Krieg auch in mein persönliches Leben eingedrungen. Dons Briefe während seines Jahres in Vietnam - er diente bei der First Air Cavalry - gaben mir den besten und zutreffendsten Einblick in das dortige Geschehen. In einem seiner ersten Briefe, nur zwei Wochen nach der Ankunft in Vietnam geschrieben, kommt bereits Skepsis zum Ausdruck:


... Obgleich ich zusammenzucke, wenn ich daran denke, was unsere Infanteristen den Leuten hier antun ... bewundere ich sie außerordentlich für ihr Durchhaltevermögen - daß sie einen Krieg ausfechten, den sie hassen, in einem Land, das sie hassen, und aus einem Grund, der ihnen völlig egal ist und an den sie nicht glauben.


Mary schrieb er, wie auch immer dieser Krieg ausgehen werde, »das dicke Ende bleibt nicht für uns, sondern für diese armen, armen Vietnamesen, die weiter leiden müssen, ganz gleich was geschieht«. Im September 1967 schrieb er mir:


Das einzige, was ich von hier drüben vage erkennen kann, ist, daß viele politische Entscheidungen, die uns als schlecht erscheinen, nur getroffen und weiterverfolgt werden, weil es für die Regierung unmöglich ist, sie ohne das gleichzeitige Eingeständnis, vorher schwere Fehler gemacht zu haben, zu revidieren. Nehmen wir doch mal an, McNamara käme jetzt zu dem Schluß, daß die ganze Bombenwerferei sich als untaugliches Mittel erwiesen, keine substantiellen Ergebnisse gebracht habe und darum beendet werden müsse. Könnte Johnson dann eine Kehrtwende machen und sagen: »Tut mir leid, wir haben ein paar Flugzeuge und ein paar hundert Piloten und ein paar Millionen Dollar verloren, aber wir sind zu dem Schluß gekommen, daß das Ganze ein Irrtum war«?

Eine Zeitlang hatte die Post nur einen einzigen Reporter in Vietnam, Ward Just, der schon Mitte Oktober 1967 in der Post einen Artikel darüber veröffentlichte, wie schwer es sei, zum Thema Vietnam noch irgend etwas zu glauben. Don stimmte Ward zu. Er schrieb mir: »Unter den US-Militärs in diesem Land gibt es wirklich zuviel Selbsttäuschung.« Nach allem, was er, Dort, beobachten könne, seien die Verluste unter der Zivilbevölkerung »erschreckend«, und er fügte hinzu: »Es sieht einfach verdammt schlimm aus, daß wir einem Volk solch immense Schäden zufügen, welches in Wahrheit aus unbeteiligten Zuschauern besteht und niemals gewollt hat, daß wir für sie oder gegen die Nordvietnamesen kämpfen. Und selbst wenn der Krieg irgendwie positiv ausgehen sollte, bin ich der Ansicht, daß unsere Behandlung dieser Menschen dafür sorgen wird, daß sich in Zukunft in Südvietnam keine Regierung lange halten kann, die im Verdacht steht, gegenüber den USA zu freundlich gesinnt zu sein.«
Inzwischen brachte das Fernsehen den Krieg zunehmend in unsere Wohnzimmer, was dazu führte, daß es an der Heimatfront immer heißer zuging. Viele junge Menschen hatten das Gefühl, es sei genauso patriotisch, gegen den Krieg zu protestieren, wie seinem Land im Kampf zu dienen. Als Don von den Demonstrationen im ganzen Land hörte, machte er sich Sorgen wegen der Auswirkungen:

Ich sehe, daß Leute, die ich als Konservative oder politisch Uninteressierte kannte, jetzt auch den Prozeß durchlaufen, den ich schon hinter mir habe: Sie lernen die Grundwahrheiten der Radikalen kennen (der Krieg ist verwerflich; wir handeln grausam und tun den Vietnamesen Schreckliches an) und das erregende Gemeinschaftsgefühl, das mit der Teilnahme an solchen Protestaktionen verbunden ist. Gleichzeitig rede ich hier drüben aber mit Leuten, die etwas anderes erlebt haben, das sie total verändert hat - sie haben Freunde sterben sehen und wissen, daß auch sie jederzeit sterben können, und sie wollen jetzt noch nicht sterben. Denen ist doch nicht in erster Linie wichtig, was wir den Vietnamesen antun. Wir werden aus diesem Krieg innerlich so zerrissen hervorgehen, daß ich mich frage, was da noch alles auf uns zukommt.

Etwas von dieser Zerrissenheit erlebte ich auch in meiner eigenen Familie. Mein zweiter Sohn, Bill, schlug den genau entgegengesetzten Weg wie Don ein und schloß sich den Protestdemonstrationen gegen den Krieg an. Bill und Steve gehörten beide zu jener Generation, die unser Land verändert hat. Sie ließen sich die Haare wachsen, experimentierten mit Drogen und führten ein neues, ganz anderes Leben.
Im Herbst 1967 wurde Bill verhaftet, weil er während der »Stop the Draft«-Woche (»Schluß mit den Einberufungen!«) vor dem Einberufungszentrum der Armee in Oakland demonstriert hatte. Auf einem Foto war er während einer Konfrontation mit einem Polizisten zu sehen - und zwar mit erhobenen Händen. Die Polizei interpretierte diese Haltung als Bedrohung, Bill hingegen als Selbstschutz. Er habe doch eindeutig nicht einen bewaffneten Beamten schlagen wollen. Der Richter drohte damit, alle Protestierer ins Gefängnis zu stecken. Unser Firmenjustitiar Bill Rogers übernahm die Verteidigung Bills über einen seiner Anwaltspartner in San Francisco. Mir war sehr daran gelegen, daß Bill sich keine Vorstrafe einhandelte, und Bill Rogers bewahrte ihn schließlich auch vor dem Gefängnis. In seinem Abschlußjahr am College wurde Bill jedoch erneut in Polizeigewahrsam genommen, als er sich an einem Sitzstreik im Scientific Research Institute der Stanford University beteiligte, das auch Aufträge des Verteidigungsministeriums bearbeitete. Diesmal nahmen sich die Protestierenden einen eigenen Anwalt, der sie als Gruppe verteidigte. Ich durfte mich nicht nochmals einmischen.
Für mich war es seltsam - und sehr anstrengend - einen Sohn im Krieg in Vietnam zu haben und einen anderen an der Heimatfront der Demonstranten gegen diesen Krieg. Bis zu einem gewissen Grad hing das mit ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten zusammen, noch mehr jedoch mit dem Altersunterschied von drei Jahren. Die Meinungsverschiedenheiten beeinträchtigten das persönliche Verhältnis der Brüder untereinander oder meine Beziehung zu den beiden jedoch nicht. Die Reaktionen meiner Söhne trugen indes mit Sicherheit zu meinen eigenen Zweifeln bei, ob dieser Krieg richtig sei - und schließlich auch zu meiner Ansicht, welchen Standpunkt die Post in dieser Frage einnehmen sollte.

Russ Wiggins hatte als Herausgeber die Aufsicht über den gesamten Nachrichten- und Kommentarbereich, aber er konzentrierte sich im wesentlichen auf die Meinungsseite, zumal seit Ben gekommen war und sich vor allem um die Nachrichtenredaktion kümmerte. Eigentlich war ich immer noch mit Russ' Unterstützung der Regierungspolitik einverstanden, aber ich machte mir wegen dieser unserer Position auch allmählich Sorgen und hatte eine Menge Fragen. Ich war sehr unter Druck geraten, am stärksten seitens meiner Freunde Senator William Fulbright und Walter Lippmann, bis zu einem gewissen Grade aber auch von seiten Bobby Kennedys, den ich nicht so gut kannte, aber gelegentlich traf. Fulbright, der der Post den Vorwurf gemacht hatte, die Regierungspolitik »gehorsamst« zu unterstützen, lud mich zum Lunch ins Kapitol ein, um den Versuch zu unternehmen, mich zu einem Richtungswechsel unserer Redaktionspolitik zu bewegen. Ich hörte ihm zu, bin mir aber nicht sicher, wie offen ich wirklich war. Denn im Grunde war ich immer noch davon überzeugt, daß Russ in der Kriegsfrage recht hatte.

Auch von den Lesern gingen Beschwerden bei mir ein. Im März 1966, noch bevor ich unsere Position in Frage zu stellen begonnen hatte, schrieb ich einer Leserin eher defensiv: »Im allgemeinen stimmen wir mit der Position des Weißen Hauses in bezug auf Vietnam überein. Bei diesem Thema sind offenkundig viele unterschiedliche Meinungen möglich, wir stehen aber nicht in direktem Kontakt zum Weißen Haus oder stimmen unsere Leitartikel mit irgend jemandem dort ab.«

Einer anderen Leserin schrieb ich im Juni 1967:


Unsere Haltung zum Thema Vietnam ist von demselben Maß an Sorge und Unruhe geprägt, das jeder bei diesem schwierigen und frustrierenden Krieg an den Tag legt. Ich bin sicher, daß der Herausgeber Russ Wiggins unsere politische Meinung zum Bombenkrieg ständig vorbehaltlos und offen überprüft. Solange wir jedoch im Süden Vietnams eine halbe Million Soldaten stationiert haben, meine ich, daß sie jede Unterstützung brauchen, die wir ihnen geben können.


Trotzdem behagte mir die Position unserer Zeitung immer weniger. Ich stellte auch fest, daß, was den Krieg anging, Nachrichtenteil und Meinungsseite immer stärker auseinanderdrifteten. 1966 hieß es in einem Leitartikel noch klar und eindeutig: »Wir sind in Vietnam, um einem kleinen Volk das Recht zu erhalten, sich selbst zu regieren und seine eigene Wahl zu treffen.« Doch nur einen Monat später schrieb Ward Just in einem Korrespondentenbericht: »Wir sind hier, um die Freiheit, wie wir sie verstehen, zu verteidigen - aber für Leute, die sie nicht verstehen.«
Sowohl Ben als auch ich wußten, daß Russ Wiggins fest entschlossen war, mit fünfundsechzig - also Ende 1968 - in den Ruhestand zu gehen. Deshalb sahen wir uns beizeiten nach jemandem um, der nach Russ' Ausscheiden die Verantwortung für die Kommentarseite übernehmen sollte. Auf irgendeinem Wege hatte Phil Geyelin, ein angesehener diplomatischer Reporter des Wall Street Journal, Ben wissen lassen, daß er an diesem Job interessiert sei. 1962 hatte bereits Phil Graham versucht, Geyelin zur Post zu holen, der sich damals aber entschieden hatte, beim Journal zu bleiben. Inzwischen hatte ihn jedoch das Wechselfieber gepackt, und nun, da auch sein Freund Ben Bradlee bei der Post gelandet war, sah die Sache für Phil Geyelin schon viel positiver aus.
Als Ben den Vorschlag machte, Geyelin zu holen, war ich vollkommen einverstanden. Im August 1966 besuchten mich Phil und seine Frau Sherry auf Marthas Vineyard, wo ich meine Ferien verbrachte. Auf langen Spaziergängen diskutierten wir dort über Interna unserer Zeitung, über die Rolle der Kommentarseite in einer Hauptstadtzeitung, über Phils Mangel an Lokalkenntnis und über unser beider Verhältnis in seinem potentiellen neuen Job.
Ich machte Phil den Vorschlag, mit Walter Lippmann zu reden, der ihm, wie mir Phil später berichtete, eine einfache, aber großartige Maxime mit auf den Weg gab: »Hüte dich vor Berechenbarkeit!« Wir sprachen auch ausführlich über eine von mir aufgestellte Regel, die ich »Keine Überraschungen!« nannte. Damit meinte ich etwas, das ich bisher noch jedem Redakteur gesagt habe, mit dem ich näher zusammenarbeitete: daß ich morgens in der Zeitung nichts wirklich Wichtiges und auch keine abrupte Kehrtwende der redaktionellen Linie lesen wolle, wenn wir nicht vorher darüber gesprochen hätten. Ich wolle beim Start genauso dabeisein wie bei der Landung. Andererseits, versicherte ich Phil, werde er als Redakteur wirkliche Autonomie genießen. Denn ich erwartete nicht, mit der Redaktion in allen Einzelheiten stets einer Meinung zu sein, sondern rechnete mit einem »fortlaufenden Gespräch«, in dem wir vom jeweils anderen wußten, was er oder sie dachte. Ich warnte Phil, ich wolle morgens lieber häufiger Leitartikel lesen, mit denen ich mich identifizieren könne, als umgekehrt. Und ich kann mich auch noch erinnern, daß ich ihm sagte, sollte sich trotzdem herausstellen, daß dies der Fall sei, dann müsse einer von uns beiden Federn lassen - worauf er scherzhaft erwiderte, er nehme an, daß dieser »Jemand« sicher nicht die Besitzerin des Blattes sein werde.

Der größte Teil unserer Gespräche drehte sich jedoch um Vietnam. Phil war schon zweimal für das Wall-Street-Journal in Vietnam gewesen und daraufhin zum Kriegsgegner geworden, weil er zu dem Schluß gekommen war, daß dieser Krieg für die USA nicht zu gewinnen sei. Zu meiner großen Erleichterung war Phil in seinen Ansichten jedoch gemäßigt, und ich hatte bei seiner Denkweise ein gutes Gefühl. Wir kamen überein, daß die Post einen Weg aus ihrer alten Position der allzu großen Regierungstreue heraus finden müsse, daß wir diesen Richtungswechsel aber in kleinen Schritten vollziehen und nicht überstürzen wollten. Phil benutzte dafür ein schönes Bild: Das sei wie bei einem großen Schiff, das auf neuen Kurs gebracht werden solle; ehe man mit dem Wendemanöver beginnen könne, müsse zunächst die Fahrt verlangsamt werden.

Als Phil im Januar 1967 als Leitartikler an Bord kam - mit der klaren Perspektive, Russ' Nachfolger zu werden - verstärkten sich die Spannungen in dem für die Kommentarseite zuständigen Redaktionsteam. Denn zu diesem Zeitpunkt hatten außer Russ schon fast alle beteiligten Journalisten ihre Meinung zum Vietnamkrieg geändert. Herblock, der seinen Stift 1965 und 1966 beim Thema Vietnam noch mit wohlwollender Zurückhaltung gezückt hatte, zeichnete jetzt Karikaturen, die die Politik und die Entscheidungen der Regierung wesentlich schärfer kritisierten. Ward Justs Berichte aus Vietnam, die meiner Meinung nach scharfsichtig, unvoreingenommen und präzis waren, wurden immer härter, je mehr der Krieg Ward desillusionierte.
Doch Russ blieb - obwohl er in der Redaktion zunehmend isoliert war - felsenfest bei seinen Überzeugungen. Zum Glück war er immer wohlgelaunt, nicht nachtragend und nahm die Dinge nicht persönlich. So blieben trotz der heftigen Emotionen, die das Thema Vietnam heraufbeschwor, Diskussionen weiterhin möglich. Das Hin und Her zwischen Russ und Phil ähnelte einer Zwei-Schritte-voran-einem-zurück-Bewegung. Trotzdem begann die Post allmählich, ihre redaktionelle Linie zum Vietnamkrieg erkennbar zu ändern.