Zwanzigstes Kapitel 2

Position beziehen

Der Vietnamkrieg zwang dazu, Position zu beziehen, für die eine oder die andere Seite. Was Präsident Johnson zunehmend zu spüren vermeinte, war, daß er in diesem Krieg auf der einen Seite und ich mitsamt der Post auf der anderen stand - mit Ausnahme seines alten Freundes Russ, von dem LBJ einmal sagte, ein einziger Leitartikel von ihm sei für den Präsidenten soviel wert wie eine ganze Division in Vietnam. Jedenfalls kam der Krieg meiner persönlichen Freundschaft mit Lyndon Johnson in die Quere, bei dem ich allerdings wohl schon vor Beginn der heißen Kriegsphase ins Abseits geraten war. Er hatte aufgehört, mich persönlich anzurufen, und bereits 1966 war unser Verhältnis definitiv etwas distanzierter geworden. Zu freundschaftlichen Anlässen im kleinen Kreis wurde ich nicht mehr eingeladen, aber von Zeit zu Zeit wenigstens noch zu offiziellen Gelegenheiten. Dann fiel seine Begrüßung indes frostig aus, oder er vermied sie sogar ganz. Weil ich Lady Bird jedoch regelmäßig bei Sitzungen des Komitees zur Verschönerung der Hauptstadt traf und ansonsten mit mir selbst und meiner Arbeit mehr als genug zu tun hatte, nahm ich nur undeutlich wahr, wie sich der Präsident immer mehr von mir distanzierte.
Doch die Distanz existierte wirklich. Zuerst suchte mich Bill Moyers vertraulich auf, später auch Bob Kintner, der nur kurze Zeit im Weißen Haus tätig war. Beide wollten vermitteln, und beide erzählten mir dieselbe seltsame Geschichte: Dem Präsidenten sei zu Ohren gekommen, ich hätte »meine Redakteure zu mir zitiert« und ihnen gesagt, er, LBJ, versuche, mich zu beeinflussen, indem er mich ins Weiße Haus einlade; sie sollten diese Avancen deshalb überhaupt nicht beachten. Allein schon der Gedanke, so etwas zu tun, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Ich staunte ungläubig, ließ mich aber davon, daß ich dieselbe Story von zwei Seiten gehört hatte, so sehr beeindrucken, daß ich beschloß, dem Präsidenten zu schreiben. Ich wollte das Mißverständnis aus der Welt schaffen. Und so schrieb ich Lyndon Johnson am 16. Mai 1966 einen aufrichtigen Brief:

Von zwei gemeinsamen guten Freunden habe ich gehört, daß Dir aus der Washingtoner Gerüchteküche ein angeblicher Ausspruch von mir über Dich zugetragen wurde... Ich bin traurig und verwundert darüber, daß man eine solche Falschmeldung überhaupt erfinden konnte. Und es ist zwar arg vermessen von mir, Deine kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen, aber ich habe das Bedürfnis, Dir zu versichern, daß ich Derartiges, wie es mir jetzt in den Mund gelegt wurde, niemals auch nur denken, geschweige denn aussprechen könnte. Hätte ich so etwas wirklich gesagt, es wäre wichtigtuerisch, dumm und unhöflich gewesen.
Mir liegt daran, daß Du weißt, daß für mich ausschließlich das gilt, was ich Dir unter vier Augen auf der Ranch gesagt habe: Was Du für dieses Land zu tun versuchst, findet meine volle Zustimmung, und ich glaube nach wie vor fest daran, daß Du den Mut hast und in der Lage bist, es zu verwirklichen. Weil ich nun einmal für zwei Publikationsorgane verantwortlich bin, liegt es in der Natur der Sache, daß wenigstens eines der beiden Dir stets mit irgend etwas mißfällt - oder Dich manchmal auch richtiggehend verärgert. Es tut mir jedesmal leid, wenn wir Dir zusätzliche Probleme bereiten - aus welchen Gründen auch immer. Aber ich hoffe, daß Dir dafür bei anderen Gelegenheiten unsere Unterstützung wenigstens etwas Freude oder Hilfe gebracht hat.
Du bist mit so vielen Sorgen und Problemen belastet, daß ich zögere, Dich wegen solchen Unsinns überhaupt zu behelligen. Aber ich bin zu dem Schluß gekommen, daß wir in der Vergangenheit zuviel Gemeinsames erlebt haben und ein solch schreckliches Mißverständnis deshalb nicht unaufgeklärt lassen dürfen. Das wäre auch nicht in Phils Sinn. In alter Verbundenheit...

Dieser Brief klingt nach Speichelleckerei, doch eben dies war nicht beabsichtigt. Ich hegte wirklich große Bewunderung für Präsident Johnson, obwohl ich ihm letztlich in seiner Vietnamkriegspolitik nicht mehr folgen konnte. Ich konnte damit leben, daß er über die Haltung der Post zum Thema Vietnam verärgert war. Auch daß unsere Berichterstattung objektiver war als zu Phils Zeiten, fand ich richtig, selbst wenn LBJ vielleicht darüber ungehalten war. Was ich aber damals wie heute wirklich nicht leiden kann, sind Situationen, bei denen Mißverständnisse angemessenen professionellen Beziehungen im Wege stehen. Die durchaus realen Probleme zwischen der Post und jedem Präsidenten sind auch ohne erfundene und böswillige Geschichten, die für unnötige Verstimmungen sorgen, schon kompliziert genug. Lyndon Johnson war mein Freund gewesen, aber ich wußte, daß er sich des öfteren verfolgt fühlte und sich über derart verrückte Geschichten aufregen konnte.
Den Antwortbrief des Präsidenten aus der darauffolgenden Woche empfand ich leider als Schlag ins Gesicht:

Ich war natürlich hocherfreut, brieflich von Dir zu hören... Der Geist, in dem Dein Brief geschrieben ist, ist mir sehr lieb. Mrs. Johnson und ich mögen Dich persönlich sehr gern, genauso wie früher Phil. Wie alle, die ihn so gut gekannt haben, vermissen wir ihn immer noch sehr.
Es wird so viel Unwahres gesagt und geschrieben, daß es eine unendliche Aufgabe wäre, sich mit all diesen Dingen auseinanderzusetzen. Das meiste davon rauscht an mir vorbei - ganz im Gegensatz zu dem, was manche Deiner Kollegen, die Kolumnen schreiben, glauben. Gleichwohl fühle ich mich verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, wenigstens gewisse Unwahrheiten zu korrigieren, die ein größeres Ausmaß annehmen als andere. Das bin ich meinem Amt schuldig, ganz zu schweigen von meiner Familie. Ein großer Teil der Gerüchte und Meinungen landet letztlich unter dem Deckmantel von Fakten doch im Druck; und ein noch größerer Teil macht die Runde auf Cocktailpartys.
Es ist immer gut, Gerüchte als solche zu entlarven, wenn dies möglich ist. Und das sollte unsere Pflicht und unser Privileg sein - wohlgemerkt, in beiden Richtungen.

Unverkennbar fiel Lyndon Johnson das Leben mit unserer Zeitung in der Zeit nach Phil Graham sehr schwer, und zweifellos ging ihm unsere Berichterstattung, insbesondere über Vietnam, immer mehr gegen den Strich. Für Johnson war Loyalität alles - aber eben Loyalität, wie er sie verstand. Die Zeitungen in Texas und deren Verleger waren loyal. Phil Graham war loyal gewesen. Und warum erlaubte dann ich meiner Zeitung, über seine Politik solche Dinge zu berichten und zu schreiben? Wie mir Mitarbeiter aus seiner Umgebung sagten, sah Johnson in mir nicht selten die Verlegerin, die ihre Redakteure gegen seine Interessen beeinflußte. In anderen Fällen dagegen war ich in seinen Augen zu nachgiebig. Der Präsident benutzte seine Berater, besonders Jack Valenti und Joe Califano, um mich je nach Bedarf anzusprechen oder zu tadeln. Nach einem derartigen Anruf kam Jack einmal mit folgender Botschaft zu Lyndon Johnson zurück:

»Herr Präsident, Kay sagt, sie schreibe diese Storys nicht selbst und sie lasse sie auch nicht auf ihren Befehl hin schreiben.« Worauf Johnson prompt erwiderte:

  • »Also, bei Gott, wenn ich so eine verdammte Zeitung besäße, dann müßte ich aber Leute um mich haben, die machen, was ich will. Zum Teufel, dann wäre mir doch eine Meute Beagles lieber - die kann man wenigstens erziehen.«
    Als Jack ihn daraufhin erinnerte, auch er, Johnson, schreibe den Nachrichtenredakteuren in seiner Fernsehstation in Austin ja nicht vor, was sie zu berichten hätten, antwortete der Präsident:
    »Ich bin ja auch nicht in Austin. Aber Kay sitzt doch in Gottes Namen hier in ihrem Büro. Sie sollte doch wissen, was zum Teufel diese verdammten Reporter schreiben.«

Hier zeigt sich deutlich eine geradezu klassische Einstellung vieler Politiker zu Zeitungsverlegern - jeder Politiker glaubt wohl, daß Verleger in ihren Büros sitzen und Reportern Anweisungen geben, was sie wann schreiben sollen.
Besonders verhaßt war es LBJ, wenn er in der Post Artikel las, die vorhersagten, was er tun werde. Ein früher Anlaß, bei dem Lyndon und ich die Klingen kreuzten, ergab sich, als wir gehört hatten, der Präsident werde Walter Washington zum »Oberbürgermeister« (de jure: Regierungskommissar) von Washington, D. C, ernennen. Johnson rief mich persönlich an, um mir zu sagen, ich müsse wissen, daß Walter seine Ernennung nicht bekommen werde, wenn wir diese Meldung brächten. Joe Califano rief Ben an jenem Tag mehrfach an und bekniete ihn, den Bericht nicht zu bringen, damit Walter Washingtons Chancen nicht gefährdet würden. Doch es war Bens guter - und zugleich auch sturer - Seite zuzuschreiben, daß es für ihn kein Zurück gab; der Artikel mußte erscheinen. Und ich versuchte erst gar nicht, Ben umzustimmen oder zu bremsen. Nachdem der Artikel erschienen war, hielt der Präsident in der Tat die Ernennung einige Wochen lang zurück. Doch dann verkündete er - wie geplant und zum ihm genehmen
Termin - Walters Ernennung.

  • Jack Valenti sagte: »Solche Indiskretionen waren für ihn ungefähr genauso schlimm, als würde ihn jemand mit Karbolsäure übergießen. Er hielt sie für einen persönlichen Affront.«

Was der Präsident nie akzeptieren oder auch nur klar verstehen konnte - und damit steht er durchaus nicht allein -, ist die Tatsache, daß Redakteure autonom sind und sein müssen, damit sie eine gute Zeitung machen können. Ich hatte niemals das Gefühl, persönlich gegen Lyndon Johnson zu sein, sondern erfüllte lediglich meine Aufgabe bei der Zeitung so, wie ich es für richtig hielt. Gleiches galt für ihn und seinen Job.
Gelegentlich ließ mich Präsident Johnson jedoch zu Besprechungen zu sich rufen. Einmal geschah dies, als er John Hayes als Botschafter in die Schweiz schicken wollte. Hayes hatte LBJ bei Medienproblemen im Wahlkampf geholfen, und der Botschafterposten war seine Belohnung dafür.
Gemeinsam mit Carroll Kilpatrick und Russ ging ich zu einem Gespräch ins Weiße Haus, das sich als recht entspannte und zwanglose Unterhaltung erwies, hauptsächlich über Vietnam. Unter anderem sprach der Präsident über seine kurz zuvor verkündete Bombenpause. Er meinte, das sei wohl ein Fehler gewesen, weil Ho Chi Minh es als Zeichen der Schwäche und Unentschiedenheit deuten könne. Dann sah er mich direkt an und fragte, wie sich mein Sohn wohl fühlen würde, wenn ich eine Straße entlangginge und jemand mir ins Gesicht schlüge, dann kurz zurückträte und mich auch auf die andere Wange schlüge, während meinem Sohn die Hände auf dem Rücken gebunden seien.
»Nun«, sagte er, »genau so haben sich auch unsere Truppen während der Bombenpause gefühlt.« LBJ glaubte, daß die Auswirkungen unter dem Strich eher negativ seien: Die Pause habe zur Verlängerung des Krieges beigetragen, unsere Seite demoralisiert und zu Schwierigkeiten bei der Wiederaufnahme der Bombardements geführt. Der Krieg und unsere Toten bedrückten den Präsidenten unverkennbar. Traurig sagte er, er habe bereits 2500 Leute verloren, und jede Woche kämen jetzt fünfzig hinzu.
Die Verluste des Feindes lägen aber um ein Vielfaches höher. Als er uns fragte, wie das alles denn unserer Meinung nach ausgehen werde, erwiderte Russ, er glaube, daß es höchstwahrscheinlich überhaupt kein formelles Ende dieses Krieges geben werde. Der Präsident brachte jedoch seine Zuversicht zum Ausdruck, daß der Krieg schon bald beendet sein werde.

Im Sommer 1967 unternahm ich wieder eine Kreuzfahrt auf einer Jacht im Mittelmeer - durch die griechische Inselwelt und entlang der dalmatinischen Küste. Auf Vermittlung meiner Mutter wurde ich sogar von Marschall Tito auf dessen Urlaubsinsel Brioni zu einem Interview empfangen, obwohl der jugoslawische Staatspräsident seit zwei Jahren keines mehr gegeben hatte. Fast pausenlos sprach Tito zwei Stunden lang in schnellem Tempo über ein breites Themenspektrum, und ich hatte Mühe, mit meinen Notizen überhaupt nachzukommen (damals waren Tonbandmitschnitte noch nicht üblich). Von Belgrad aus schickte ich meinen Text an die Redaktion der Post, die ihn sogar auf der Titelseite unter meinem Namen abdruckte. (Anders als bei vielen anderen Zeitungen hatten und haben die Redakteure der Post wirklich freie Hand, Beiträge der Verlegerin zu übernehmen oder nicht; oft lehnten sie Texte, die ich von meinen Reisen übersandte, auch ab oder bearbeiteten sie nach Gutdünken.)
Als ich nach mehrwöchiger Abwesenheit zurückkam, hatte sich natürlich die Arbeit angehäuft, und überdies war ich eine Woche lang fast jeden Abend eingeladen oder sonst außer Haus, ehe ich mit Billy, Steve, Lally und Yann zu einem, wie ich hoffte, erholsamen Familienwochenende nach Glen Welby fahren konnte. Doch daraus wurde nichts: Mitten in einem Tennismatch erlitt ich plötzlich einen Krampfanfall und verlor das Bewußtsein. Auf die anderen wirkte dieser Vorfall sicher viel beunruhigender als auf mich selbst, denn ich wußte nicht, was mit mir geschehen war. Als ich wieder zu mir kam, waren Billy und Yann bei mir und sagten, ich sei bewußtlos gewesen. Jeden Augenblick müsse der Krankenwagen kommen, um mich ins George Washington University Hospital zu bringen. Dort wurde ich dann gründlich untersucht, man fand aber nichts Spezielles oder Besorgniserregendes (der Verdacht auf einen Hirntumor konnte zum Glück widerlegt werden). Allerdings mußte ich von da an jahrelang vorbeugend ein ziemlich starkes Mittel nehmen, das ich leider nicht gut vertrug (und über dessen Stärke man mich auch nicht richtig aufgeklärt hatte). Erst etwa fünfzehn Jahre später stieß ich - nach zahlreichen einschlägigen Untersuchungen - endlich auf einen Neurologen, der das Mittel absetzte. Sofort ging es mir deutlich besser, und ich hatte seither auch nie wieder einen solchen Anfall.
Einige Wochen nach diesem Vorfall traf ich bei einer Dinnerparty Robert Kennedy, der mit mir ein ernsthaftes Gespräch über die Haltung der Post zum Vietnamkrieg begann. Plötzlich hatte ich wieder das Gefühl, kurz vor einer Ohnmacht zu stehen, und wußte, daß ich die Runde schnell verlassen mußte. Zu Bobby konnte ich nur noch schnell sagen: »Tut mir schrecklich leid. Es hat nichts mit unserem Gespräch zu tun, aber ich muß jetzt gehen.« Dann stürzte ich hinaus. Weil ich aber bei Bobby nicht den Eindruck hinterlassen wollte, mich vor einer Auseinandersetzung über den Vietnamkrieg zu drücken, schrieb ich ihm einen erklärenden Brief - und erhielt eine charmante Antwort, in der es hieß:
»Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser. Ich habe oft diese Wirkung auf andere - doch sie erholen sich meistens ganz schnell.«
Für unser Land und für mich persönlich war 1968 ein entscheidendes Jahr. Unsere Verwicklung in den Vietnamkrieg spaltete die Gesellschaft mehr als je zuvor. Am 16. März verkündete Bobby Kennedy, er werde sich um die Nominierung zum Präsidentschafts-Kandidaten der Demokraten bewerben. In einem nicht veröffentlichten Interview sagte daraufhin LBJ zu Carroll Kilpatrick, diese Ankündigung Kennedys überrasche und störe ihn nicht. Vielmehr habe er schon immer damit gerechnet, daß Kennedy antreten werde, denn der Senator habe bisher noch an jedem Gesetzesvorhaben des Präsidenten etwas auszusetzen gehabt. Johnson war immer noch fest davon überzeugt, daß seine Vietnampolitik richtig sei, und führte als Beleg die Tatsache an, daß ihn bisher noch jeder asiatische Führer gedrängt habe, standhaft zu bleiben und durchzuhalten.
Nur zwei Wochen nach seinem Gespräch mit Kilpatrick verblüffte der Präsident jedoch die ganze Welt mit der Ankündigung - im Anschluß an einige Anmerkungen zum Thema Vietnam im Fernsehen -, er werde sich nicht zur Wiederwahl stellen. Mit den Worten: »Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich nicht zulassen sollte, daß das Präsidentenamt in den Parteienstreit hineingezogen wird, der sich in diesem Jahr in der Politik unweigerlich entwickeln wird« zog sich Lyndon Johnson, dessen sprichwörtliche Energie erlahmt war, aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurück.
Je weiter das Wahljahr voranschritt, desto hitziger wurden die politischen Diskussionen in meiner eigenen Familie. Don, der davon einiges aus der Ferne mitbekam, war eher belustigt, als er mit Lally - die gerade ihre zweite Tochter geboren hatte - und mit meiner Mutter telefonierte. Beide lagen zu dieser Zeit im Krankenhaus.

  • »Und worüber wollten sie sprechen?« schrieb mir Don. »Natürlich über Bobby Kennedy. Großmutter war gefühlsmäßig offenkundig anti, Lally pro. Familientreffen werden also, wie man sieht, noch lustiger werden als sonst. Vielleicht sollte ich meinen Aufenthalt hier drüben lieber noch über die Parteitage hinaus verlängern.«

Meine Mutter hatte eine Brustkrebsoperation, und ich machte mir große Sorgen - schließlich war sie schon einundachtzig und mit ihrer Arthritis praktisch an den Rollstuhl gefesselt. Doch sie war immer noch voller geistiger Energie und bezog wie eh und je bei kontroversen Themen leidenschaftlich Stellung. Am Abend vor der Operation saß ich an ihrem Bett und versuchte, mit ihr zu plaudern, um sie abzulenken. Bobby Kennedy beschäftigte sie inzwischen aber so sehr - und Mutter haßte ihn mit einer Intensität, die allein ihr zu Gebote stand -, daß sie sich einfach nicht davon lösen konnte. Statt sich zu beruhigen, attackierte sie Bobby heftig. Ich dagegen mochte Bobby sehr gern und fand es daher schwierig, mir ihre Tiraden gegen ihn gleichmütig anzuhören. Schließlich forderte ich energisch einen Themenwechsel, und danach kehrte Ruhe ein. Am nächsten Morgen jedoch, als mein Bruder bei ihr war, während sie aus der Narkose erwachte und noch ganz benommen war, fragte sie als erstes mit klarer Stimme:
»Warum mag Kay bloß Bobby Kennedy so gern?«

An der amerikanischen Heimatfront kam es in diesem Frühjahr zu furchtbaren Unruhen. Im April wurde Martin Luther King ermordet, und überall im Land loderten die Brände auf. Im Laufe der Nacht nach dem Mord verschlimmerte sich die Lage in Washington ständig. Ich blieb im Redaktionsgebäude der Post, und einige von uns kletterten auf das Dach, um die Großfeuer in der Stadt zu sehen, die auch in der 14th Street, ganz in der Nähe der Post, brannten. Überall kam es zu Aufruhr und Plünderungen. Schließlich wurden die vierzehntausend Nationalgardisten in der Hauptstadt noch durch das gesamte Polizeiaufgebot des District of Columbia verstärkt: fast dreitausend Mann.
In den frühen Morgenstunden des 5. Juni klingelte an meinem Bett das Telefon. Ben Bradlee war am Apparat, um mir zu sagen, daß Bobby Kennedy erschossen worden sei. Er fügte hinzu: »Wir müssen die Druckmaschinen anhalten und mit einer neuen Titelseite herauskommen. Doch Jim Daly weigert sich, das zu tun, und ich glaube, es ist besser, wenn Sie möglichst schnell rauskommen.« Daly, der Geschäftsführer der Post, hatte Angst vor einer verspäteten Auslieferung und unzufriedenen Abonnenten. Als ich im Verlagsgebäude ankam, traf ich Harry Gladstein, den Vertriebsmanager, auf der Auslieferungsrampe und befragte ihn nach unseren Alternativen. Weil es vier Uhr morgens und unser Auslieferungstermin damit bereits überzogen war, beschlossen wir, die gedruckten Zeitungen auszuliefern und anschließend die Routen nochmals mit einer Sonderausgabe abzufahren.
Natürlich bedeutete das hohe Zusatzkosten, aber wenn wir unseren Lesern die erschütternde Nachricht so schnell wie möglich überbringen wollten, gab es keine andere Möglichkeit. Meine Entscheidung, so zu verfahren, beschwor allerdings schon wieder einen Konflikt mit John Sweeterman herauf. Ich hätte ihn konsultieren sollen, war jedoch schon vor ihm an Ort und Stelle und dachte einfach nicht in Managerkategorien. Auch John befand sich bereits auf dem Weg zur Zeitung und sagte, als er dort eintraf, mit eisiger Stimme: »Wie ich höre, haben Sie auf der Laderampe Anweisungen gegeben.« Ich bejahte, doch diesmal scheuten wir beide vor einem offenen Konflikt zurück. Vermutlich hätte John aber genauso entschieden wie ich, weil er, wenn es wirklich darauf ankam, immer bereit war, Geld auszugeben. Und hier konnte an der Wichtigkeit kein Zweifel bestehen.
Als Reaktion auf den Mord an Bobby Kennedy zeichnete Herblock eine Karikatur, in der auf einer Art Schandmal die Namen sämtlicher US-Senatoren verzeichnet waren, die gegen ein Waffenkontrollgesetz gestimmt hatten. Die Bildunterschrift lautete »Mord«. Phil Geyelin schien diese Karikatur am Tage der Ermordung Bobby Kennedys jedoch zu starker Tobak zu sein, und er entschied, die Zeichnung ohne die Bildunterschrift zu drucken. Das brachte Herb auf die Palme, und seine Reaktion war heftig. Nicht nur sprach er nach dem Vorfall etwa sechs Monate lang kein Wort mehr mit Phil, sondern entzog sich auch Schritt für Schritt der redaktionellen Kontrolle und wurde immer unabhängiger. Er begann eine Praxis, der er bis heute treu geblieben ist: Er ging in der Nachrichtenredaktion umher und zeigte seine Zeichnungen zahlreichen Leuten seines Vertrauens, um sich zu vergewissern, daß er mit seinem kritischen Urteil nicht danebenlag. Diese Prozedur war Geyelin natürlich ein Dorn im Auge, doch Herb war damals schon so mächtig und allseits respektiert, daß er sich diese selbstgewährte Autonomie leisten konnte.
Am 6. Juni ging ich mit Reverend Walter Fauntroy, einem schwarzen Pastor und lokalen Führer der Schwarzen, in ein - »Resurrection City« (Auferstehungsstadt) benanntes - Lager der schwarzen und weißen Bürgerrechtskämpfer, die nach der Ermordung Martin Luther Kings nach Washington marschiert waren - eine sehr matschige und feuchte Angelegenheit. Und am folgenden Tag, am 7. Juni, flog ich zur Trauerfeier für Bobby Kennedy nach New York.
Der Gottesdienst in der St. Patrick's Cathedral war sehr aufwühlend, ebenso die anschließende Rückfahrt nach Washington im Beerdigungszug. Beigesetzt wurde Bobby auf dem Heldenfriedhof in Arlington vor den Toren Washingtons. Die Erinnerung an diesen Tag hat sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt - all die trauernden Menschen entlang der Bahnstrecke, die Weinenden in den Bahnhöfen und dann der traurige letzte Weg zum Grab an der Seite des toten Bruders.
Ich habe Bobby als sehr komplexen Charakter erlebt. Er konnte knallhart sein - etwa als Wahlkampfmanager seines Bruders, wo es wahrscheinlich auch gar nicht anders ging. Gelegentlich haben wir uns gestritten, aber den Streit letztlich vergessen. Wir waren Freunde geworden. Wie Tausende anderer Menschen habe ich miterlebt, wie er zu einer wichtigen Figur in der Politik heranwuchs. Er konnte die Menschen mit seinem Charisma, das anders, aber genauso stark war wie das seines älteren Bruders, in seinen Bann schlagen. Nicht immer und bei allen Themen war ich mit Bobbys Positionen einverstanden, aber er war ein leidenschaftlicher und eloquenter Anwalt für viele Dinge geworden, von denen ich selbst zutiefst überzeugt war.
1968 wurde ein großer Teil des Sommers auf unterschiedliche Weise von der Politik beansprucht. Ohne Johnson und Kennedy nahm der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen eine völlig andere Gestalt an. Die wichtigsten Kandidaten im Rennen waren nun Hubert Humphrey, Eugene McCarthy, Richard Nixon, Ronald Reagan, Nelson Rockefeiler und George Wallace.

Nixon, der sich 1962 in Kalifornien mit einer berühmten Ansprache beleidigt aus der Politik zurückgezogen hatte, war in die politische Arena zurückgekehrt und arbeitete während der gesamten Vorwahlsaison an der Überwindung seiner Imageprobleme. Mitte Juli kam er zu einem Lunch in die Redaktion der Post. Unter den Teilnehmern des Gesprächs befand sich neben mehreren Reportern und Redakteuren auch Don Graham, der erst eine Woche zuvor gesund aus Vietnam zurückgekehrt war. Eine Woche vor Nixon war auch Rockefeller mit großem Gefolge zum Lunch in der Redaktion erschienen. Nixon dagegen kam allein. Er begann das Gespräch mit der Versicherung, daß er sich sehr freue, zu einer solchen Zusammenkunft bei der Post zu sein. Essen wollte er nichts, weil er angeblich mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte. Ich drängte ihm einen Eiskaffee auf, den er höflich entgegennahm, dann aber doch nicht trank. Nixon zeigte sich zuversichtlich, daß er die Nominierung zum Kandidaten der Republikaner gewinnen werde. Rockefeller habe bei den Republikanern sogar noch weniger Chancen als McCarthy bei den Demokraten. Er dachte bereits über seinen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft nach, wußte jedoch, daß diese Entscheidung ganz wesentlich davon abhing, welchen großen Staat er mit Hilfe dieser Nominierung bei den Präsidentschaftswahlen gewinnen wolle. Er nannte verschiedene Möglichkeiten, aber Spiro Agnew war nicht darunter. Er wagte die These, daß Humphrey die größten Chancen hätte, Präsident zu werden, wenn er sich radikal von der Leistungsbilanz der gegenwärtigen Regierung absetzte. Diese Vorhersage erwies sich als richtig, doch Humphrey distanzierte sich viel zu spät von Johnson, so daß sein Schritt keinen großen Einfluß mehr hatte.
Zum Vietnamkrieg sagte Nixon, seit seinem Abschied von der Macht hätten sich die Verhältnisse nachhaltig verändert; im Jahre 1968 sei die Dominotheorie nicht mehr so wichtig wie früher. Er erkannte auch, daß die Öffentlichkeit eindeutig ein Ende des Krieges wünschte; der neue Präsident müsse jedoch noch ein Weilchen durchhalten, bis eine »ehrenhafte Lösung« erreichbar sei. Während des ganzen Lunches verkaufte sich Nixon so blendend, daß wir alle wirklich beeindruckt waren. Meg Greenfield, die noch ganz neu bei der Post war, sagte, sie müsse jetzt erst einmal nach Hause gehen und sich hinlegen, um in Ruhe über das Gesehene und Gehörte nachzudenken. Als Phil Geyelin sich später an diese Episode erinnerte, sagte er, wahrscheinlich sei dies einer der ganz seltenen Momente in Nixons Leben gewesen, in denen er sich von niemandem bedroht fühlte. Er hatte das Gefühl, daß alles nach Wunsch lief und ihm auf dem Nominierungsparteitag praktisch nichts mehr passieren könne. Doch kaum war Nixon in Miami, fühlte er sich schon bei der kleinsten Herausforderung durch Rockefeller und Reagan wieder bedroht. Er fürchtete, beide könnten sich miteinander verbünden und ihn doch noch zu Fall bringen. Von diesem Augenblick an wurde er, so Phil, wieder bösartig wie früher. Ich nahm am Parteitag der Republikaner teil und erlebte Nixons Nominierung mit - nach seiner Niederlage bei den kalifornischen Gouverneurswahlen im Jahre 1962 ein außerordentliches Comeback.
Später flogen Steve und ich nach Chicago, direkt in die Turbulenzen des demokratischen Nominierungsparteitags. Humphrey ging gegen den »Friedenskandidaten« McCarthy als Sieger aus dem Rennen hervor, aber der chaotische Verlauf des Parteitags fügte seinem weiteren Wahlkampf im Herbst irreparablen Schaden zu. Nur wenige konnten die Bilder gewalttätiger Demonstrationen draußen auf den Straßen - die ich zusammen mit Nick von Hoffman aus nächster Nähe miterlebte - schnell genug vergessen. Auch das im Fernsehen landesweit übertragene Bild von Bürgermeister Daley, der seinen Wunsch, die Demonstrationen niederzuschlagen, durch eine symbolische Geste des Halsabschneidens signalisierte, blieb im Gedächtnis haften.
Die Post blieb ihrer Linie treu, keinem der Kandidaten ausdrücklich den Vorzug zu geben - wenigstens theoretisch. Tatsächlich unterstützten wir Humphrey in Form von indirekten Aussagen in Leitartikeln, etwa: »Wenn Sie an dieses oder jenes glauben, dann sollten Sie für X oder Y stimmen.« Zum Zeitpunkt von Nixons Nominierung war in einem Leitartikel der Post zu lesen, er habe »in seinen öffentlichen Äußerungen zum Vietnamkrieg in bewundernswertem Maße Einsicht und Zurückhaltung gezeigt; auch sein Verständnis einiger Aspekte der sozialen Probleme unseres Landes« sei lobenswert. Gleichzeitig hieß es aber auch, bei nichtöffentlichen Auftritten habe Nixon »einen beunruhigenden Mangel an Prinzipientreue, um nicht zu sagen, gesundem Urteilsvermögen« gezeigt, »wenn er sich unter anderem zu Themen wie Krieg, Rechtsprechung, Wohnungsbau und Schußwaffenkontrolle äußerte. Auch wenn wir ihn inzwischen eigentlich gut kennen sollten, bleibt er ein bemerkenswert unbekanntes Wesen.«
Auch über Nixons Kandidatenauswahl für die Vizepräsidentschaft äußerten wir uns in einem Leitartikel. Unter der Überschrift »Warum Spiro gefährlich ist« hieß es dort: »Aus historischer Distanz wird Nixons Entscheidung... Agnew als seinen Partner zu nominieren, vielleicht einmal als die bizarrste politische Ernennung gelten, seit der römische Kaiser Caligula sein Pferd zum Konsul machte.« Der Autor dieses Artikels, Ward Just, schrieb ferner: »Man kann Agnew mit Besorgnis betrachten oder mit Stolz auf ihn verweisen, aber wir ziehen es zunächst vor, ihn mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination zu betrachten.«

Hubert Humphrey war mein Freund geworden. Ich bewunderte ihn sehr und habe immer noch das Gefühl, er hätte einen vorbildlichen Präsidenten abgegeben. Er hatte nie zu Johnsons Favoriten gehört. Der Präsident hielt ihn für geschwätzig und sagte mehrfach zu Jack Valenti: »Diese Leute aus Minnesota können einfach ihre Klappe nicht halten.« LBJ hatte das Gefühl, Humphreys Redseligkeit habe ihm, Johnson, letztlich sogar ernsthafte Probleme bereitet, weil Hubert Informationen preisgegeben habe, die der Regierung schadeten. Zwar sei dies nicht absichtlich geschehen, aber er sprudele eben manchmal über und rede, wenn er besser nur zugehört hätte.
Mit dieser Einschätzung hatte Johnson natürlich recht. Aber Hubert war auch bemerkenswert eloquent. Er konnte seine Zuhörer fast gleichzeitig zum Lachen bringen oder zu Tränen rühren. Oft schüttelte er brillante Bemerkungen aus dem Ärmel, konnte dann aber nicht aufhören zu reden. Er machte immer weiter, bis die blendenden Effekte sich abgenutzt hatten und das Publikum unruhig wurde, statt gebannt an seinen Lippen zu hängen. Doch immer wieder rettete ihn sein Humor. Er war unglaublich witzig, und ich erlebte ihn stets als wunderbaren Kameraden.

Trotz Humphreys Anziehungskraft gewann Richard Nixon die Wahl in einem der knappsten Kopf-an-Kopf-Rennen der amerikanischen Geschichte. In seinem Leitartikel über Nixons Sieg schrieb Phil Geyelin in der Post, Nixon habe diese

  • »Gelegenheit, sich zu beweisen, vollauf verdient, und er hat auch Ermutigung, Kooperationsbereitschaft, gute Wünsche und Offenheit seitens all jener verdient, deren Sicherheit und Wohlergehen nun weitgehend in seine Hände gelegt sind«.

Selbst Herblock gewährte Nixon eine - allerdings kurze - Schonfrist. In seinen Karikaturen während des Wahlkampfes, ja schon während Nixons gesamter politischer Karriere hatte ihn Herb immer mit einem »Fünf-Uhr-Schatten« gezeichnet, der im Lauf der Wochen (und Jahre) immer dunkler geworden war, bis hin zu deutlich unrasiertem Aussehen. Russ Wiggins hatte Herb daraufhin ein Rasiermesser geschickt - mit der Bemerkung, es sei wohl an der Zeit, Nixon einmal richtig zu rasieren. Als der Bart eines Tages sogar Thema in der Redaktionskonferenz war, konnte Herb allerdings auf ein Foto von Nixon verweisen, das gerade am selben Tag in der Post erschienen war und auf dem der starke Bartwuchs als deutlich erkennbares Merkmal zu sehen war. Das dunkle Gesicht, behauptete Herb, sei ein Merkmal wie andere auch, etwa große Ohren oder Nasen, und darum legitimer Gegenstand karikaturistischer Übertreibung. Herbs Karikatur am Tag nach Nixons Wahlsieg verdeutlichte indes seine Einsicht, daß ein Präsident der Vereinigten Staaten anders zu behandeln sei als ein Kandidat für dieses Amt. Herb zeichnete sein eigenes Büro als Friseurladen, in dem ein Schild mit folgender Aufschrift an der Wand hing: »Dieser Laden gewährt jedem neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Gratisrasur. H. Block, Inhaber.«
Im Verlauf dieses politisch überaus ereignisreichen Jahres passierte auch bei der Post eine Menge. Auf seine typische bescheidene Art hatte mir Russ im Juni 1968 offiziell mitgeteilt, daß er sich wie geplant zum Jahresende an seinem fünfundsechzigsten Geburtstag in den Ruhestand verabschieden wolle, und zwar »ohne viel Getöse und übertriebene Aufmerksamkeit«. Wie Russ in seinem Brief an mich erklärte, habe er »eine Abneigung gegen zuviel Brimborium«, und dessen Vermeidung liege sicher auch im Interesse der Post.
Ich schrieb Russ, daß ich mir die Washington Post ohne ihn buchstäblich nicht vorstellen könne. Von all den hilfreichen Leuten, die mir Beistand leisteten, als ich noch ganz neu im Geschäft war, habe mir Russ am meisten geholfen: »Und das Beste, was Du getan hast, war, daß Du mich zu einem Zeitpunkt ernst genommen hast, als viele andere Leute das nicht getan hätten - aber auch nicht zu ernst. Und das war genau richtig.« Russ ging sogar noch früher als erwartet, weil ihn Präsident Johnson Ende September zum Botschafter bei den Vereinten Nationen ernannte. Einundzwanzig Jahre zuvor war er zur Post gekommen. Sein Abschied ging mir sehr nahe.
Russ' Ausscheiden zog eine ganze Reihe von Strukturveränderungen in unserer Organisation und im Management der Nachrichtenredaktion der Post nach sich. Ben Bradlee war eigentlich an Politik und am politischen Meinungsstreit nicht sonderlich interessiert, sondern konzentrierte sich eher auf Fakten (»hard news«) und Recherche als auf die Kommentierung. Darum beschlossen wir, daß die Kommentarseite, für die jetzt Phil Geyelin verantwortlich war, nach Bens Ernennung zum Herausgeber und Leiter der Redaktion (als Nachfolger von Russ Wiggins) nicht Ben, sondern letztverantwortlich mir unterstellt sein sollte. Meg Greenfield kannte ich damals noch nicht sehr gut, und zunächst war ich etwas verwirrt darüber, daß Phil sie überall hin mitnahm. Doch Meg eroberte sich schnell ihren eigenen Platz in der Hierarchie, und nur zehn Monate, nachdem sie zu unserer Zeitung gekommen war, schickte ich Phil eine Notiz: Ich hätte mir schon Gedanken gemacht, daß er irgendwann vielleicht eine »Nummer zwei« brauche und ob das nicht möglicherweise Meg sein könne. »Oder diskriminierst Du? Oder hätte sie selbst ernsthaft etwas dagegen?« Nur ein Jahr nach ihrer Ankunft wurde Meg von Phil offiziell zur stellvertretenden Chefredakteurin für die Kommentarseite ernannt. Für Phil war Meg eine echte Partnerin; er beschrieb die Zusammenarbeit einmal als eine Art »Klavierspiel zu vier Händen«.
In jenen Jahren herrschte auf der Führungsebene der Post eine beträchtliche Fluktuation, wofür oft mir die Schuld gegeben wurde, manchmal zu Unrecht. Ein Fall, in dem eindeutig Ben für das Kommen und Gehen verantwortlich war, ergab sich, als Ben zum Herausgeber aufrückte und sein alter Posten als Chefredakteur vakant wurde. Ben holte Gene Patterson, der zuvor in gleicher Funktion bei der Atlanta Constitution gearbeitet hatte.
Gene sagte man eine unabhängige, an harten Fakten orientierte, schnörkellose Berichterstattung nach, wie wir sie alle bewunderten. Doch im Verlauf der folgenden drei Jahre zeigte sich, daß die Temperamente nicht zueinander paßten, Zuständigkeiten nicht richtig geklärt waren und sich auch im Nachrichtenbereich Probleme ergaben. All dies überzeugte Ben, daß es so nicht weitergehen könne, und er brachte seine Zweifel Gene gegenüber deutlich zum Ausdruck, woraufhin dieser sofort seinen Rücktritt einreichte.
Als Gene ging, faßte er seine Erfahrungen in einem drastischen Bonmot zusammen, das Ben enorm amüsierte: »Ben Bradlee braucht einen Redaktionsgeschäftsführer so dringend wie ein Eber Titten.« Damit brachte Gene treffend zum Ausdruck, was er schon lange vermutet hatte: »Es gab diesen Job überhaupt nicht.« Wie durch ein Wunder blieben wir trotzdem alle Freunde, und das war in erster Linie Genes großartigem, liebenswerten Charakter zu verdanken.
Howard Simons, Genes Stellvertreter, rückte bei dessen Abschied auf und arrangierte sich bestens mit Bens Persönlichkeit und Arbeitsweise. Er war bereit, den Job ganz nach Bens Vorgaben auszufüllen - im Grunde also all das zu tun, was Ben selbst nicht erledigen konnte oder wollte. Zum Glück ergänzten sich beider Talente. Howard interessierte sich besonders für die Ressorts, die er zusammenfassend respektlos SMERSH nannte: Science (Naturwissenschaften), Medizin, Education (Bildung und Erziehung), Religion »and all that Shit« (»und das ganze Gelaber«). Er baute eine Gruppe von Reportern auf, die sich eingehender um diese Bereiche kümmerten und ausführlicher als bisher darüber berichteten. Immer häufiger fand ich den Mut, selbst Ideen, Anregungen oder Kritik weiterzugeben und Storys, die in der Post oder in Newsweek erschienen waren, zu loben oder zu kritisieren. Wenn ich der Redaktion Ideen für eine Story vermittelt hatte und diese Story dann gedruckt sah und mich gar von
ihrem Einfluß auf andere überzeugen konnte, dann bereitete mir das große Genugtuung. In einem solchen Fall gab ich Ben einen Tip, den dieser jedoch - später zu seinem eigenen großen Bedauern - nicht weiterverfolgte: Truman Capote hatte mir anvertraut, er wisse, daß Jackie Kennedy Aristoteles Onassis heiraten werde - eine ganz große Story, wenn es stimmte. Ich rief Ben aus Südamerika an (wo ich gerade auf Reisen war) und sagte ihm, ich sei ganz sicher, daß Truman recht habe. Doch Ben kabelte zurück: »Toll... aber ich habe Schiß. Quelle bestätigt, aber alle anderen Kontakte - haben viele gefragt - sehr skeptisch. Habe entschieden, daß Basis zu schwach, um Ruf der Zeitung aufs Spiel zu setzen.« Natürlich hatte Truman recht, und die Post verpaßte auf diese Weise einen Knüller.
Doch zum Glück trugen Ben und ich uns solche Vorfälle nicht nach. Howard Simons hatte ständig neue Ideen, gute und nicht so gute, und überhäufte mich mit Memos, die er oft an »Mama« adressierte - ein Spitzname, den sowohl er als auch Ben für mich benutzten (Ben wählte allerdings meistens die Form »Mums«). Das machte mir nichts aus; im Gegenteil, ich fühlte mich geehrt. Das Team Ben und Howard funktionierte viele Jahre reibungslos; erst nach dem Watergate-Skandal gab es erste Auflösungserscheinungen.
Als Russ im Herbst 1968 ging, verlor ich einen alten Freund und eine der Stützen bei der Post. Gegen Ende desselben Jahres sagte mir nun auch John Sweeterman, daß er von seiner tagtäglichen Verantwortung als Verleger und Unternehmenschef entbunden werden wolle - im Grunde wollte er sich ebenfalls zur Ruhe setzen. Obwohl ich mit ihm persönlich meine Schwierigkeiten hatte, war ich mir doch völlig im klaren darüber, was er alles für die Zeitung getan hatte und noch tat und von welch zentraler Bedeutung er seit seinem Eintritt im Jahre 1950 gewesen war, als die Post noch dahinsiechte: Schon beim Aufkauf unseres Konkurrenzblattes war er eine Schlüsselfigur gewesen, und er blieb es auf dem langen Weg der Post, bis sie ihre gegenwärtige Stabilität und Stärke erreicht hatte. Fritz Beebe und ich versuchten, ihm die Rücktrittsgedanken auszureden, aber er blieb standhaft. Später sagte er mir einmal, er sei damals einfach müde gewesen und habe »gewissermaßen genug gehabt. Ich wollte einfach frei sein.«
Als ich merkte, daß es John wirklich ernst war, beriefen wir ihn auf den neugeschaffenen Posten eines stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Washington Post Company. Sein Aufgabenbereich sollte die
Planung der zukünftigen Entwicklung aller Teilbereiche des Medienkonzerns sein. Ich bat ihn, mir bei der Suche nach einem geeigneten Nachfolger für seine alte Position zu helfen. Doch John sagte, ich solle und könne nun selbst als Verlegerin fungieren (damals war ich als Präsidentin der Verlagsgesellschaft offiziell an der Leitung der Zeitung noch nicht beteiligt).
Meine spontane Erwiderung lautete, das könne ich nicht und wir müßten unbedingt jemand anders finden. John aber blieb stur, und ich akzeptierte schließlich trotz aller Ängste den Titel Verlegerin und übernahm damit die gleiche Funktion wie vor John schon mein Vater und Phil. Für die wirtschaftliche Leitung des Unternehmens benötigten wir allerdings trotzdem einen neuen Spitzenmanager. Doch woher nehmen? Weder wußte ich, daß es »Kopfjäger« gab, noch hatte ich fundierte Branchenkenntnisse. Nicht einmal eine konkrete Stellenbeschreibung konnte ich formulieren. Nachdem ich ein oder zwei Bekannte in der Zeitungsbranche befragt hatte, wandte ich mich auch an meinen Freund Bob McNamara. Dieser empfahl Paul Ignatius, den früheren Marineminister, der sich mit der Organisation des Vietnam-Nachschubs einen Namen gemacht hatte. Pauls Qualitäten, wie sie mir von Leuten beschrieben wurden, mit denen er zusammengearbeitet hatte, reichten von »einfallsreich« über »budgetbewußt« bis zu »profitorientiert« - alles Eigenschaften, an denen wir wahrlich interessiert waren. Er war auch für mehrere Bauprojekte verantwortlich gewesen, und weil ich vorrangig an ein neues Verlagsgebäude für die Post dachte, kam
ich zu dem Schluß, daß dieser Mann sehr gut zu uns passen würde. Er hatte zwar keine Kenntnisse vom Zeitungsgeschäft, aber die könnte er sich ja noch aneignen.
Also stellte ich Paul Ignatius ein, der im Januar 1969 seine Tätigkeit als Präsident der Zeitung und als Vizepräsident der Verlagsgesellschaft aufnahm. Allerdings gab es fast von Beginn an ernsthafte Probleme, und
schon recht bald sagte ich Fritz, diese Entscheidung sei ein Fehler gewesen. Der plädierte jedoch dafür, daß auch Paul eine faire Chance erhalten müsse, und Paul blieb schließlich bis Mitte 1971 bei uns.
Indes, Johns Ausscheiden leitete tatsächlich eine sehr schwierige Phasefür mich ein. Überall taten sich plötzlich zu gleicher Zeit Probleme auf, und die Leitung der Firma erschien mir als fast unmögliche Aufgabe. Bei
der Post wurden nicht nur die Zustände in der Produktion immer schlimmer, hinzu kamen noch ernsthafte Konflikte mit den Gewerkschaften. Bei Newsweek gab es Probleme im redaktionellen und geschäftlichen Bereich, und bei den Fernsehsendern sorgte man sich um Profite und Wettbewerbssituation. Ich litt unter Versagensängsten und sah vor meinem inneren Auge schon die ganze Washington Post Company bankrott gehen.
Meine diversen Entscheidungen und Unterlassungen machten mir schwer zu schaffen, wobei mich von den vielen Fehlern und Sünden jene am meisten quälten, die in Beton gegossen zu sein schienen: Bauten und Tarifverträge mit den Gewerkschaften, die wie Mühlsteine an meinem Hals hingen. Eine der schmerzlichsten Episoden hatte mit dem neuen Zeitungsgebäude zu tun. Wir wählten den Stararchitekten I.M. Pei dafür aus, verloren jedoch fast vier Jahre mit Planungen und Entwürfen für ein hochentwickeltes Gebäude, das den praktischen Anforderungen der Zeitungsherstellung letztlich aber nicht genügen konnte. Schließlich waren nicht nur wir, sondern auch Pei selbst entmutigt. Wir beschlossen, die bereits beträchtlichen Ausgaben in den Wind zu schreiben und die Pläne ruhenzulassen. Die anschließende unüberlegte Eile bei der Errichtung eines Neubaus durch die weniger renommierte Firma, die bereits das bisherige Gebäude geplant hatte, war zwar der nächste Fehler, doch die grundlegende Entscheidung gegen die Pläne Peis war sicher korrekt - trotz aller Verluste. Es war die richtige Entscheidung, aber ich haßte sie trotzdem. Seit der Vollendung des Neubaus im Jahre 1972 hege ich für dieses Gebäude, in dem
ich noch heute arbeite, höchst zwiespältige Gefühle: Es ist schlicht, schlampig und steckt voll fauler Kompromisse. An allzu vielen Tagen erinnern mich Einzelheiten des Erscheinungsbildes an den chaotischen Entscheidungsprozeß - und an meine Rolle darin. Alles durchaus nicht so, wie es hätte sein sollen! Ich hatte immer noch viel zu lernen.
Trotz des Durcheinanders und meiner Selbstzweifel gab es bei der Post und in der Verlagsgesellschaft aber auch positive Entwicklungen und Nachrichten. Eine der bahnbrechenden Errungenschaften der Post unter
Bens Leitung war die Schaffung des Bereichs »Style« (kurz für Lifestyle), der an die Stelle der früheren Frauenseiten (offizieller Titel: »For and About Women«) trat. Die Idee dazu stammte von Ben, doch realisiert wurde das neue Konzept hauptsächlich von Dave Laventhol.
Als der neue Teil erstmals erschien, war ich vorsichtig optimistisch. Nicht alles, was ich sah und las, gefiel mir, aber ich wollte nicht vorschnell urteilen. Ziemlich rasch bereitete mir jedoch die Richtung, die die »Style«-Seiten einschlugen, Kummer. Allerdings war ich selbst unsicher in meiner Kritik. Sie war wohl auch - ein alter Fehler von mir - nicht immer konstruktiv genug, denn ich biß mich zu sehr an negativen Einzelheiten fest und übersah dabei die positive Gesamtentwicklung. Ben indes ließ sich nicht beirren und riskierte mehrfach sogar Konflikte mit mir.
Wir hatten eine alte Form aufgegeben und waren nun dabei, eine vollkommen neue zu entwickeln: eine geeignete Form für die sich ankündigenden Zeiten, in denen die Interessen von Männern und Frauen sich einander annäherten. Niemand wollte jetzt noch mit Nachrichten behelligt werden, wer wann wo beim Tee zusammengesessen habe. Ben brachte es auf den Punkt: »Wir waren zu der Überzeugung gekommen, daß die traditionellen Frauennachrichten uns alle zu Tode langweilten. Noch ein weiteres Bild, auf dem Mrs. Dean Rusk [die Frau des Außenministers] auf dem Empfang irgendeiner Botschaft (es gab immerhin insgesamt 101 davon) anläßlich des jeweiligen Nationalfeiertags zu sehen war, und wir wären uns alle an die Gurgel gesprungen.«
Allmählich gewannen die neuen Seiten Kontur. An »Style« versuchten sich eine ganze Reihe von Redakteuren und Redakteurinnen, von denen jede(r) Neuerungen hinterließ, bis schließlich 1976 Shelby Coffey kam.
Shelby war ein charmanter Südstaatler, der zum Schriftsteller und vor allem zum Redakteur geboren war. Die Autoren liebten ihn, und unter seiner Leitung wurde »Style« wirklich eigenständig. Hier veröffentlichte jetzt
eine Gruppe hochtalentierter Leute großartige Storys. Einer der begabtesten von ihnen, Tom Shales, wurde später der Fernsehkritiker unserer Zeitung.
Ben war es auch, der Sally Quinn engagierte, die sich zu einer erstklassigen Journalistin entwickelte. Phil Geyelin hatte Sally kennengelernt, als sie noch die gesellschaftlichen Veranstaltungen in der algerischen Botschaft in Washington organisierte. Er hatte sie interviewt und dann zu Ben geschickt. Bens Reaktion: »Klar, eine gute Frau, aber sie hat in ihrem ganzen Leben noch keine einzige Zeile geschrieben.« Phils Antwort: »Niemand ist vollkommen.« Und so kam Sally als völlig unerfahrener Neuling in die Redaktion. Bei ihrem ersten Auftrag am ersten Arbeitstag - sie sollte über eine Party berichten - war sie wie gelähmt. Wie sie mir später erzählte, rief sie ihren Freund, einen Journalisten der New York Times, an und sagte: »Ich habe Termindruck und stehe kurz vor dem Nervenzusammenbruch.« Doch dieser gab ihr den Rat, sie solle sich einfach vorstellen, sie telefoniere mit einer Freundin über diese Party, und die Sache dann laufen lassen. Der erste Artikel war noch sehr geschwätzig, aber Sally sagte zu Recht: »Die Leute mochten das, weil es komisch und leicht zu lesen war. Ich hatte ein Gefühl, als wäre ich nach Hause gekommen. Nach den ersten paar Wochen merkte ich dann, daß ich genau so sein sollte, wie ich war.«
Henry Kissinger sagte einmal über seine Gefühle, als er seinen Namen in »Style« erwähnt fand, leicht pikiert zu mir: »Maxine [Cheshire, die Klatschkolumnistin] weckt in mir den Wunsch zu morden, doch Sally läßt mich an Selbstmord denken.« Was er damit sagen wollte, war, daß Sally die Gabe hatte, Leute zum Reden zu bringen und ihnen dann aus ihren eigenen Worten einen Strick zu drehen. Je besser und markanter Sally als Journalistin wurde, desto mehr wurden ihre Profile verschiedener Persönlichkeiten zum Stadtgespräch in Washington. Gelegentlich konnte sie Menschen mit ihrer Art zu schreiben sogar vernichtend treffen. Noch heute ist »Style« eine große Talentschmiede. Und das Konzept dieser Seiten bewährte sich nicht nur bei uns, sondern wurde von Zeitungen im ganzen Land erfolgreich nachgeahmt.