Zweites Kapitel

Im Einklang mit seinem »Atlas des Lebens« war für meinen Vater jetzt der rechte Zeitpunkt gekommen, sich dem Dienst an der Öffentlichkeit zuzuwenden. In den Jahren unmittelbar vor meiner Geburt hatte er bereits begonnen, in New York eine halböffentliche Rolle zu spielen. 1913 war er in das Leitungsgremium der New Yorker Börse gewählt worden und hatte sich dann eifrig darum bemüht, jene Veränderungen und Reformen in die Wege zu leiten, für die er zuvor in Finanzkreisen eingetreten war. Er spielte eine aktive Rolle beim Gegensteuern gegen verschiedene Börsenpaniken, die dem Aktienhandel zu schaffen machten, als die Kriegsgefahr in Europa immer größer wurde, und später nochmals, als die Wahrscheinlichkeit eines amerikanischen Kriegseintritts wuchs.
Im Herbst 1914 bedrohte der Krieg in Europa beispielsweise die Textilindustrie, hauptsächlich weil zu jener Zeit das deutsche Farbenkartell mindestens 90 Prozent des amerikanischen Bedarfs an Textilfarben deckte. So vergab mein Vater an Dr. William Gerard Beckers, einen in Deutschland ausgebildeten Chemiker, einen Kredit für Fabrikgebäude und ein dringend benötigtes Labor, damit dieser seine Experimente mit Industriefarben fortsetzen konnte. 1916 schloß sich Beckers' Firma mit zwei anderen zur National Aniline and Chemical Company zusammen, und einige Jahre nach dem Krieg führte mein Vater die Verhandlungen über einen Zusammenschluß der National Aniline mit vier älteren Firmen. Der neue Konzern, der aus dieser Fusion hervorging, die Allied Chemical and Dye Corporation, konnte selbst in den Zeiten der Weltwirtschaftskrise jedes Jahr zuverlässig eine Dividende ausschütten. 1931 waren die Anteile meines Vaters an diesem Konzern 43 Millionen Dollar wert, und die Dividendenzahlungen dienten später dazu, Verluste bei der Washington Post auszugleichen.
Trotz verschiedener finanzieller Rückschläge und schon lange vor dem Riesenerfolg der Allied Chemical war der Reichtum meines Vaters beträchtlich. 1915 wurde sein Vermögen auf zwischen 40 und 60 Millionen Dollar geschätzt. Das Geldverdienen verschaffte ihm zwar Befriedigung, aber es war nie sein primäres Ziel. Sein ganzes Leben lang suchte mein Vater auch immer nach Wegen, wie er sein Geld zum Wohl der Allgemeinheit arbeiten lassen könnte. Er engagierte sich zum Beispiel bei verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen, er war Präsident des Kuratoriums des Mount Sinai Hospital, und sein Interesse an Fragen der psychischen Gesundheit äußerte sich bereits in seiner Unterstützung entsprechender Klinikbauten. An seiner Alma mater, der Yale University, stiftete er einen Fonds für die Ausbildung junger Männer für den öffentlichen Dienst. Gleichzeitig begann er seine intensive Suche nach einer Gelegenheit, selbst in die Dienste der Regierung zu treten. Als Republikaner hatte er eben Beitrag zu Wahlkämpfen und programmatischen Anliegen seiner Partei geleistet, doch weil die Gegenpartei mit Woodrow Wilson den Präsidenten stellte, hatte mein Vater keine unmittelbare Aussicht auf ein Regierungsamt.
Kurz nach den Wahlen von 1916 bot er dennoch seinen Freunden in der Regierung, Richter Louis Brandeis und Bernard Baruch, sowie Präsident Wilson seine Dienste an, weil er fest davon überzeugt war, Amerika werde in den Krieg hineingezogen werden. Ohne speziellen Aufgabenbereich wechselte er für ein symbolisches Jahresgehalt von einem Dollar nach Washington und bekam nach einigen Fehlstarts schließlich unter sieben Präsidenten diverse Ernennungen und hochkarätige Regierungsämter. Am Anfang stand seine Mitarbeit im Komitee für Rohstoffe und im Rüstungsbeschaffungsamt (General Munitions Board), die beide am Ende im War Industries Board aufgingen.
Anfang 1917 verließ mein Vater New York in Richtung Washington. Meine Mutter blieb nach meiner Geburt im Juni den Sommer über noch in Mount Kisco, ehe sie im Oktober ebenfalls nach Washington zog - in ein großes gemietetes Haus an der K Street. Mit diversen vagen Begründungen - weil Washington überfüllt sei, ein andermal, weil dort eine epidemische Lungenentzündung herrsche, oder weil ihr Aufenthalt ohnehin nur vorübergehender Natur sei - ließen unsere Eltern uns Kinder die nächsten vier Jahre in New York allein. Drei dieser vier Jahre verbrachten sie größtenteils in Washington. Gelegentlich kamen sie nach New York, und manchmal durften wir Kinder sie auch in Washington besuchen. Seltsamerweise behaupteten sie, sie hätten nicht gewußt, wie lange sie dort bleiben würden. Dabei war mein Vater, sobald er nach Washington gegangen war, von seinem Posten an der New Yorker Börse zurückgetreten und hatte auch seine Mandate und Direktorenposten in verschiedenen Firmen aufgegeben. Er verkaufte überdies alle Aktien, die ihn in einen Interessen konflikt hätten bringen können, und liquidierte im August 1917 sogar seine eigene Investmentbank, weil er schon damals wußte, daß er im US Finanzministerium eine entscheidende Rolle spielen würde. Er behielt nur noch ein kleines Büro für seine persönlichen Geschäfte sowie mehrere Angestellte, die für ihn Aktien kauften oder verkauften und sich um seine Steuerangelegenheiten kümmerten.
Im Jahr 1917 bewohnten wir in New York noch die gesamte oberste Etage sowie eine darunterliegende halbe Etage im Hause 820 Fifth Avenue. Dort kam ich zur Welt. Und dort lebten wir »Kleinen« (»babes«), wie unsere Mutter uns in ihrem Tagebuch zu nennen beliebte, mit Powelly. Nach Bills Geburt war zur Kinderbetreuung noch eine Gouvernante namens Anna Otth hinzugekommen. An die Jahre in New York kann ich mich selbst allerdings nicht mehr erinnern. Weil ich noch ein Baby war, litt ich von allen Kindern wohl am wenigsten unter dieser langen Zeit der Trennung von den Eltern. Die Auswirkungen auf meine älteren Geschwister jedoch können nur Psychiater ermessen. Viel später erst wurde mein Bruder, als er sich bei der Ausbildung zum Psychoanalytiker selbst einer Analyse unterziehen mußte, regelrecht böse, als er über diese Trennungszeit nachdachte. Gereizt fragte er meine Mutter, wie sie ihre Kinder nur in so jungen Jahren allein in New York habe zurücklassen können. Worauf sie nur erwiderte: »Aber ihr wart doch alle in der Schule.« Tatsächlich waren meine älteren Geschwister, als meine Eltern nach Washington zogen, jedoch erst zwei, vier und sechs Jahre alt, ich selbst gar erst wenige Monate.
Durch den Umzug nach Washington veränderte sich das Leben meiner Mutter drastisch - zu ihrem Vorteil. Zum ersten Mal war sie Teil eines Teams, weil sie in eine fremde Stadt kam, in der nicht nur sie, sondern auch mein Vater neu war. Auch scheint es in Washington weniger antisemitische Vorurteile gegeben zu haben als in New York. Und anders als viele Frauen, die Washington bis heute hassen, weil sie dort nur als Anhang ihrer Männer gelten, fand meine Mutter in dieser Stadt ein breites Spektrum an Betätigungs- und Selbstdarstellungsmöglichkeiten.
Ihre alten Interessen verfolgte sie weiter insbesondere die chinesische Kunst. In ihrer Autobiographie gesteht sie sogar: »Ich war so in die Übersetzung chinesischer Texte und in das Schreiben eines Buches über die Philosophie der chinesischen Kunst vertieft, daß es mir überhaupt nicht in den Sinn kam, einen aktiven Beitrag zur Kriegsanstrengung zu haben Den Ersten Weltkrieg habe ich schlicht und einfach ausgesessen.« Gleichzeitig stürzte sie sich jedoch entschlossen in das gesellschaftliche Leben Washingtons - teils weil sie es genoß, aber auch weil sie das Eintauchen in diese Sphäre als ihren Betrag zur Förderung der Interessen meines Vaters ansah.
Zur Zeit des Umzugs nach Washington begann meine Mutter ein neues Tagebuch, aus dem klar hervorgeht, wie sehr sie meinem Vater zugetan war. Sie machte sich oft Sorgen, daß seine Talente nicht genügend erkannt würden, und erwähnte regelmäßig die Fortschritte in seiner Karriere. Auch ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten wird sehr deutlich: »Er ist so groß, daß ich mir wünschte, er könnte in dieser schrecklichen Situation des Chaos, das aus einer Verbindung von Inkompetenz und Politik resultiert, einen größeren Beitrag zur Abhilfe leisten.«
Trotz gegenteiliger Beteuerungen blühte meine Mutter bei ihren Aktivitäten zur Schaffung eines neuen, sehr vielfältigen Bekanntenkreises regelrecht auf. Wie in Paris lernte sie schnell außergewöhnliche und berühmte Menschen kennen, darunter Baruch, Brandeis, Felix Frankfurter, Elihù Root, Charles Evans Hughes und H. G. Wells. Mit Mrs. Alice Roosevelt Longworth, der Tochter von Expräsident Theodore Roosevelt, kam mein Vater gut aus, meine Mutter jedoch hielt Distanz: »Welch brillanter, aber steriler Geist! « schrieb sie nach einer Begegnung mit »Mrs. L.« in ihr Tagebuch, »genau wie ihr Vater ... « Von ähnlichen kritischen Kommentaren über die Leute, die sie auf Partys traf, über die Stadt und deren Bewohner ist das ganze Tagebuch durchsetzt: »Washington ist überhaupt nicht intellektuell. Daran kann es absolut keinen Zweifel geben«; »Roosevelt (Franklin D. Roosevelt, der spätere Präsident, damals noch stellvertretender Marineminister) ist sehr nett, aber seine Frau (Eleanor) ist wie alle Frauen von Amtsinhabern schrecklich statusbewußt«; »Ich kam sehr trübsinnig nach Hause, weil mir die Dinnerparty als Form der menschlichen Unterhaltung wirklich sehr unzulänglich vorkommt.«
Dinnerpartys mögen ihr zwar mißfallen haben, insgesamt aber genoß sie das gesellschaftliche Leben Washingtons sehr. Einmal findet sich der Ausruf: »Endlich kann mir Mt. Kisco egal sein. Ich glaube, der Komplex ist jetzt endgültig ausgestanden« - die einzige Anspielung auf die Tatsache, daß die dortige soziale Ausgrenzung sie sehr verletzt hatte.
Was in ihrem Tagebuch ebenfalls sehr deutlich wird, ist, daß die Mutterrolle bei ihr nicht unbedingt die oberste Priorität genoß. Nur selten wird eines von uns Kindern individuell erwähnt. Ich erscheine dort namentlich (oder besser gesagt mit dem Anfangsbuchstaben meines Namens) erstmals im Februar 1920, zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt: »Die Kleinen (Bill und K) beanspruchen diese Woche einen Teil meiner Zeit. Beim Frühstück gestern sagte Enge: >K wird mal eine große Frau werden.< Bill (41/2): >Sie wird keine Frau, sondern eine Dame werden.< K: >Nein, das werde ich nicht, ich werde eine Frau.<«
Im Tagebuch werden sporadisch Besuche der Kinder in Washington oder der Eltern in New York vermerkt. Diese Einträge konzentrierten sich vor allem auf unsere Lernfortschritte und auf unsere Entwicklung unter dem Regiment von Powelly und Mrs. Satis N. Coleman, einer Lehrerin, die später mit ihrem Programm für die musikalische Früherziehung von Kindern sehr bekannt wurde - sie sah in der musikalischen Erziehung einen wesentlichen Beitrag zur Charakterbildung sowie zum häuslichen und gesellschaftlichen Leben. Wenn meine Mutter in New York zu Besuch weilte, lud sie oft ein paar Leute ein, denen wir - besonders meine Schwestern Flo und Bis, die Geigenunterricht bekamen - etwas vorspielten oder vortanzten. Meine Mutter schien in solchen Aufführungen das Wesen einer glücklichen Kindheit zu sehen, denn sie vermerkte immer wieder, daß alle von den Kindern und »ihrer unbewußten Freude« sehr angetan oder »bezaubert« seien »vom Können, von den vielversprechenden Aussichten und der überall spürbaren Atmosphäre kindlichen Glücks«. In solchen Einträgen wird ihr charakteristisches Talent zum Wunschdenken besonders deutlich.
Weil uns die alltägliche liebevolle Zuwendung der Mutter fehlte, wandten wir uns Powelly als Bezugsperson zu. Sie nahm uns in den Arm, liebkoste und tröstete uns und vermittelte uns jenes Gefühl menschlichen Kontakts, ja sogar der Liebe, das uns unsere Mutter vorenthielt. Sie war freundlich und weise, vor allem aber warmherzig und immer für uns da; mit Vernunft und Augenmaß löste sie unsere Probleme und versorgte unsere Wunden, selbst wenn ihre Methoden manchmal recht ungewöhnlich waren. Als überzeugte Anhängerin der Christian Science versuchte sie - wie aus anderen Gründen auch meine Mutter - so weit wie möglich ohne Ärzte auszukommen und Krankheiten einfach zu ignorieren. Dank meiner robusten Gesundheit und starken Konstitution überstand ich im ersten High-School-Jahr sogar ehe Tuberkulose ohne Hinzuziehung eines Arztes, obwohl ich den ganzen Winter husten mußte. Powellys von mir verinnerlichte Philosophie führte dazu, daß ich kleinere Krankheiten und Anfechtungen immer gut durchstehen konnte. Jedenfalls fehlte ich in der Schule so gut wie nie.
Wer von den Kindern aus dem Alter heraus war, für das Powelly zuständig war, wurde der Obhut von Mademoiselle Otth übergeben, bei der es zwar immer etwas chaotisch zuging, die jedoch ihr Bestes gab und es immer gut mit uns meinte. Sie war liebenswürdig, konnte sich, als wir älter wurden, jedoch nicht mehr durchsetzen. Eine weitere vielgeliebte feste Größe in unseren Kinderjahren war Al Phillips, der Familienchauffeur, den wir Phil nannten. Er war unser Freund, Kollege, Aufpasser und Beschützen
Nach ihrem ersten Jahr in Washington zog meine Mutter mit uns Kindern den Sommer über nach Mount Kisco, ehe sie im Herbst erneut nach Washington zurückkehrte - diesmal in das Haus von Mrs. George Vanderbilt, ein »wesentlich charmanteres Milieu als im letzten Jahr«. Abermals beschloß sie jedoch, uns Kinder in New York zu lassen, weil sie Angst vor dem feuchten Winterwetter in Washington mit seinen Grippeepidemien hatte.
Wiederum stürzte sie sich ins gesellschaftliche Leben mit seinen Partys und Dinners. Sie war Mitbegründerin eines Damen-Lunchelubs, über dessen erste Zusammenkunft im Jahre 1920 sie schrieb: »Wir diskutierten die Frage: >Wer ist die herausragendste Gestalt, die durch den Krieg in den Vordergrund gerückt ist?< Mrs. Hard trat für Lenin ein und Mrs. Harriman für Hoover. Zuweilen prallten die Emotionen heftig aufeinander ... Wir beschlossen, bei unserem nächsten Treffen die Frage zu diskutieren: >Sollte die Rußlandblockade aufgehoben werden?< Insgesamt hat es viel Spaß gemacht, und unter den teilnehmenden Frauen waren die intelligentesten in ganz Washington.« Zu den Eingeladenen gehörte Alice Roosevelt Longworth ausdrücklich nicht.
Von dem Wunsch getragen, sich in Washington nützlich zu machen, hatte mein Vater inzwischen das War Industries Board und das War Savings Committee (Kriegssparkomitee) hinter sich gelassen und war im Januar 1919 zum Vorsitzenden der War Finance Corporation, WFC (zur Abwicklung der Kriegsschulden), ernannt worden. Als deren Arbeit im Mai 1920 für eine Weile unterbrochen wurde, zogen meine Eltern ein letztes Mal für kurze Zeit zurück nach New York. Doch Washington mit seinem von der Politik geprägten Lebensrhythmus hatte die beiden längst in seinen Bann geschlagen. Sie fühlten sich vor allem von der Offenheit der Hauptstadt und von der - wie meine Mutter sagte - »interessanten Anspannung, die das Leben hier für uns bereithält«, angezogen.
Als die Wahlen von 1920 die Republikaner an die Macht brachten, war sogleich die Rede davon, daß mein Vater nach Washington zurückkehren solle. Nach einem Streit im Kongreß über die War Finance Corporation große Teile der Finanzwelt an der Wall Street waren der Meinung, diese Regierungsagentur stelle eine zu weitgehende Einmischung in Finanzangelegenheiten dar - wurde sie wieder ins Leben gerufen, und Präsident Harding ernannte meinen Vater zum Mitglied. Im März 1921 wurde er zum geschäftsführenden Direktor gewählt. Nach dieser erneuten Ernennung war meinen Eltern schließlich klar, daß sie nun einige Jahre in Washington )eben würden, und so wurden wir im Zeichen der Familienzusammenführung im Herbst 1921 mit nach Washington genommen.
Nachdem ich auf diese Weise mit vier Jahren nach Washington gekommen war, blieb ich für den Rest meines Lebens dort. Das erste Haus, in das wir gemeinsam zogen, war ein großes dunkles Gebäude aus rotem Ziegelstein an der Connecticut Avenue. Meine Mutter bezeichnete es in ihrem Tagebuch als »große, altmodische Scheune«, fügte jedoch hinzu: »Die Kinder sind in diesem halb ländlichen Leben glücklich, und wir alle freuen uns darüber, daß wir wieder zusammenleben.« Auf dieses Haus, in dem ich mich recht wohl fühlte, beziehen sich meine frühesten Kindheitserinnerungen. Es war ein weitläufiges viktorianisches Herrenhaus, dessen Eßzimmer einen Erker mit bunten Glasfenstern besaß. Wir hatten es von den Woodwards, den Eigentümern der Kaufhauskette Woodward and Lothrop, gemietet. Der Garten um das Haus erstreckte sich über die ganze Länge eines Häuserblocks und wurde zum Spielplatz für die gesamte Nachbarschaft.
In großen Familien ist es wohl am schwersten, das älteste oder das jüngste Kind zu sein. In unserer Familie jedenfalls war es so. Florence, die Älteste, die auf der Hochzeitsreise gezeugt und im Jahre 1911 geboren worden war, war die einzige der Meyer-Töchter, die im klassischen Sinn schön war. Flo war gescheit, aber auch verletzlich. Sie hatte künstlerische und literarische Neigungen und las viel. Doch nach den Idealvorstellungen meiner Mutter hätten die Meyer-Mädchen kämpferisch und sportlich sein sollen. Flo war beides nicht. Auf dem Tennisplatz trug sie immer einen großen dekorativen Hut, um zu demonstrieren, daß sie das Spiel nicht so ernst nahm. Statt in den Sport vertiefte sie sich zunächst in die Musik und später - viel zu spät, wie sich herausstellen sollte - in den Tanz. Ihr Debüt als Tänzerin gab sie 1935 in Max Reinhardts The Eternal Road. Obwohl meine Eltern an ihrem Tanz interessiert waren und sie auch unterstützten, bekam Flo von ihnen niemals jenen emotionalen Rückhalt, den sie gebraucht hätte, als sie aufwuchs. Sie hatte ein besonders schwieriges Verhältnis zu meiner Mutter - zweifellos, weil diese in ihrer Mutterrolle unerfahren war und auch kein Interesse daran hatte.
Während Flo sich letztlich, wenn auch widerwillig, den Wünschen meiner Eltern beugte, lebte Bis, die zwei Jahre später auf die Welt kam, in einem Zustand ständiger Rebellion. »Mein ganzes Leben war eine einzige Missetat«, sagte mir Bis später. »Ich war gegen die Erwachsenen.« Sie wehrte sich gegen die Macht, die unsere Eltern über sie hatten, und setzte, wann und wie immer sie dazu in der Lage war, Macht gegen Macht.
Bis hatte einen Lieblingsausdruck, »Du hast erst gelebt, wenn du ... «, der ihr viel Ärger und Probleme einbrachte, aber auch große Abenteuer ermöglichte. Ihre »lebenserhaltenden« Eskapaden schlossen Besuche in Varietés und bei Ringkämpfen ein. Bei den Jungen war Bis beliebt. Mit sechzehn kam sie auf das renommierte Vassar College, und später setzte sie ihr Studium in München und am Barnard College fort. Zu Hauspartys brachte sie oft glamouröse Gestalten mit nach Hause, die meine eher biederen Freunde weit in den Schatten stellten.
1915 kam Eugene Meyer III hinzu. Jeder Junge mit einem solchen Namen mußte Schwierigkeiten bekommen. Das galt auch für Bill (wie wir ihn immer nannten), besonders als er älter wurde. Als einziger Junge von fünf Geschwistern hätte er es in jeder Familie schwer gehabt, ganz besonders aber in unserer - zum einen wegen der Unnahbarkeit und Prominenz meines Vaters und zum anderen, weil meine Mutter kein lockeres, unkompliziertes Verhältnis zum männlichen Geschlecht hatte. Doch über Bills Geburt war sie hocherfreut. Sie hatte immer nur Söhne gewollt und nach dieser Geburt, wie sie selbst zugab, das »lächerliche Gefühl, etwas Besonderes geleistet zu haben«.
Schon als kleines Kind fand Bis in Bill einen Gefährten ihrer Rebellion, oder sie zog ihn sich als solchen heran. Die beiden bildeten ein Gespann, wie Bis nahm auch Bill eine trotzige Haltung gegenüber der Welt der Erwachsenen ein. Einmal, als wir alle mit einer Jacht auf Reisen waren, blieb Bill allein zu Hause. Er nahm Flugstunden und erwarb seinen Pilotenschein. Als er meiner Mutter nach unserer Rückkehr sagte, er müsse ihr etwas zeigen, hielt diese den Atem an, denn sie fürchtete, dieses »etwas« sei eine Heiratsurkunde. Im Vergleich dazu war der Pilotenschein jedoch harmlos. Und dann »zeigte er es ihr«, indem er über unser Haus in Mount Kisco hinwegdonnerte und als Erkennungszeichen mit den Tragflügeln wackelte.
Solange ich zurückdenken kann, habe ich meine älteren Geschwister immer angehimmelt, besonders Bis und Bill. Ich war verzweifelt darum bemüht, Teil ihres abenteuerlichen Lebens zu werden, und schrecklich neidisch auf Bis' nonkonformistisches Image. Ich wollte sogar wirklich Bis sein. Ich beneidete sie um ihre Selbstsicherheit, ihre Unabhängigkeit, ihr Draufgängertum und ihre Bereitschaft, kompromißlos mit der Familie zu streiten. Wo Bis rebellisch war, folgte ich den Regeln. Ich war zimperlich und wollte trotzdem von Bis und Bill überallhin mitgenommen werden. Kein Wunder, daß sie mich als ein Ärgernis ansahen.
Schlimmer noch: Als ich ganz klein war, war ich eine elende Petze. Dabei merkte ich nicht einmal, was ich tat. Ich verpetzte die Älteren ja nicht, weil ich gemein sein, ihnen etwas heimzahlen oder mich bei meinen Eltern einschmeicheln wollte. Ich hatte einfach keinerlei Unrechtsbewußtsein und war an ihrem Leben so wenig beteiligt, daß ich gar nicht verstand, daß ihre Aktivitäten geheim bleiben sollten. Also erzählte ich alles. Als das wieder einmal vorgekommen war - ich war damals gerade vier Jahre alt - brachten mich Bis, Bill und Flo ins Badezimmer in Mount Kisco und klebten mir sorgfältig den Mund mit Pflaster zu. Daran erinnerte sich Bis: »Die großen Tränen, die über diese schrecklich dicken Bäckchen kullerten, brachten mich beinahe um. Sehr traurig das alles, aber um der Sache willen gerecht.«
Als viertes von von fünf Kindern war ich auf eigenartige Weise vor den Härten des Zusammenlebens mit Eltern geschützt, die Perfektion verlangten, sowie vor einigen eher exzentrischen Aspekten unserer seltsamen Kindheit. Mehr als meine Geschwister wurde ich von den Eltern aus der Ferne beaufsichtigt und hatte so in mancher Hinsicht das Glück, gewissermaßen allein aufzuwachsen und nicht wie die älteren Kinder dem strengen Regiment elterlicher Erziehung ausgesetzt gewesen zu sein.

Als ich aufwuchs, waren die Kämpfe zwischen den Kindern und den Eltern bereits ausgefochten. Zum einen waren unsere Eltern mehr denn je mit sich selbst und ihren Aufgabenbereichen beschäftigt, zum anderen neigte ich schon immer dazu, anderen gefallen zu wollen. Erst viel später merkte ich, daß diese seltsame Passivität mir auch mehr innere Freiheit gelassen hatte als meinen älteren Geschwistern, die durch ihre Rebellion in stärkerem Maße Gefangene und Betroffene der familiären Mythen und Wünsche blieben. Irgendwie konnten sie sich später von den negativen Aspekten unserer Kindheit und Jugend schlecht wieder lösen. Meine Position in der Familie erwies sich somit als die des Glückskindes. Weder hatte ich darunter zu leiden, daß meine Mutter sich mit ihrer neuen Rolle noch nicht abgefunden hatte, noch bekam ich wie meine jüngere Schwester Ruth die ganze Wucht ihrer Midlife-crisis zu spüren. Ich war immer irgendwie geschützt. Mit Glück überstand ich alles und ging gestärkt daraus hervor. Was ich damals indes wirklich wollte, war ein Platz in der fernen, aufregenden Welt meiner älteren Geschwister. Es war Bis, die im Rückblick meine Lage genau auf den Punkt brachte: »sicher, aber zu kurz gekommen«.
Meine Schwierigkeiten hatten eher mit einem Mangel an vorbildlichen Bezugspersonen zu tun, denn emotional mußte ich mich praktisch im Alleingang erziehen, und ich mußte auch allein herausfinden, wie ich mit den Situationen, in die ich mich gestellt sah, am besten zurechtkam. Obwohl ich von extremem Luxus umgeben war, führte ich letztlich ein spartanisches Leben mit den Eckpfeilern Schule und Unterricht, Reisen und Studium. Die einzige, die mir als Kind auch körperlich Wärme und Zuwendung gab, war Powelly. Ihr war ich jedoch mit ungefähr sieben Jahren emotional entwachsen und danach ganz auf mich allein gestellt.
Unsere Jüngste, Ruth, wurde im Juli 1921 in Mount Kisco geboren. Man führte mich ins Gästezimmer, um das neue Baby anzuschauen, das dort auf dem Bett lag, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie und woher dieses Baby dorthin gekommen war. Ich kann mich auch nicht erinnern, neugierig gewesen zu sein, sondern starrte nur ehrfürchtig auf das kleine Wesen mit seinen winzigen gekrümmten Fingern. Ruths Geburt als Nesthäkchen der Familie besiegelte die Kluft zwischen mir und den drei älteren Geschwistern, in deren Augen Ruth und ich als Kleinkinder zusammengehörten. Ruthie war In bezauberndes Kind: blond, blauäugig und schön. Ich dagegen war dunkel und pummelig - und eifersüchtig auf Ruth.
Ruthie und ich wurden auch noch auf andere Weise abgegrenzt. Wir beide blieben bei Powelly, während die älteren Geschwister ihrer Obhut schon entwachsen waren und teilten, bis ich zwölf war, sogar ein Kinderzimmer miteinander. Wenn Gäste zum Abendessen kamen, was fast täglich der Fall war, mußten Ruthie und ich allein eine Stunde früher essen. Bis ich neun war und mich fortan der älteren Abteilung zurechnen durfte, nahmen meine Eltern die drei anderen jeden Sommer auf eine Europareise oder, immer im Wechsel, auf eine Campingtour in den Westen mit. Während die anderen also in der Ferne aufregende Abenteuer erlebten, mußten Ruthie und ich bei unserer Gouvernante in Mount Kisco bleiben.
Als fünftes und letztes Kind erhielt Ruthie sogar noch weniger elterliche Aufmerksamkeit und Zuwendung als wir anderen; ihre Bezugspersonen waren in noch stärkerem Maße die Gouvernante oder das Kindermädchen. Weil wir beiden immer als getrennte Einheit betrachtet wurden und ich vier Jahre älter war als sie, fiel mir natürlich auch eine Art Elternrolle ihr gegenüber zu; zumindest war ich ihr eine wichtige Mentorin. Sie wurde immer schüchterner und zarter und zeigte immer weniger Selbstbehauptungswillen. Meistens lebte sie in ihrer eigenen Welt und wurde schließlich eine begabte und hingebungsvolle Reiterin.
Außer in Washington spielte sich mein Leben als Kind in unserem Sommerhaus in Mount Kisco ab. Das  Anwesen des riesigen Landhauses war wunderbar; man spürte dort nicht unbedingt Wärme, aber festliche Pracht und Lebendigkeit. Als Junggeselle hatte mein Vater einen alten Bauernhof gekauft und das Anwesen im Lauf der Jahre immer weiter vergrößert, bis es schließlich auf dem Höhepunkt - das heißt während des größten Teils meiner Kindheit 280 Hektar umfaßte. Ursprünglich stand dort ein schönes altes Bauernhaus, das mein Vater genutzt und in dem die Familie in den Anfangsjahren der Ehe meiner Eltern den Sommer über gewohnt hatte, ehe der Entschluß fiel, ein größeres Haus zu bauen.
Das neue Steinhaus wurde 1915 von dem Architekten Charles Platt entworfen und war so gebaut, daß man das ganze Jahr darin wohnen und mein Vater von dort mit dem Auto oder mit den hervorragenden Vorortzügen zur Wall Street pendeln konnte. Das Haus lag, von riesigen umgepflanzten Bäumen umgeben, auf einem zuvor kahlen Hügel, mit Blick auf das alte Bauernhaus. Auf der anderen Seite konnte man Byram Lake sehen, ein Wasserreservoir für New York City, auf dem wir jedoch jeden Sommer wenigstens einmal eine Boots- und Angeltour unternahmen. Das klassizistische Landhaus hieß bei uns nur »die Farm«, weil es in den Augen meiner Eltern das Landleben repräsentierte und zum Anwesen auch ein landwirtschaftlicher Betrieb mit Schweinen, Hühnern und Kühen gehörte. Die Jersey-Milchkühe lieferten uns Milch, Buttermilch und Sahne. Neben großen, üppigen Obstbäumen lag am Fuß des Hügels ein Garten, aus dem wir frisches Gemüse aßen. Auch die prächtigen Blumenbouquets im ganzen Haus, die jeden Mg erneuert wurden, stammten aus diesem Garten. Im Sommer waren auf dem Anwesen zwölf Gärtner beschäftigt, und ein weiteres Dutzend arbeitete auf der Farm.
Das Haus selbst war groß, aber schnörkellos. So blieb trotz großräumiger Planung ein Gefühl der Ungezwungenheit. Gebaut war es aus rötlichgrauen Granitsteinen, die in einem Steinbruch auf dem Gelände der Farm gewonnen und von Steinmetzen grob behauen worden waren, bis sie wie beige Ziegelsteine wirkten. Die Bauzeit hatte zwei Jahre betragen.
Die Räume waren alle groß, und vor den meisten Schlafzimmern befanden sich Veranden mit Insektengittern, auf denen man im Sommer draußen schlafen konnte. Es gab ein Hallenbad, eine Kegelbahn und einen Tennisplatz. Unmittelbar an das Haus schloß sich an einer Seite ein schöner französischer Park an, der durch eine große klassische Orangerie begrenzt wurde. Zwei schwere italienische Vogeltränken lagen zu beiden Seiten eines Teiches, auf dem am Rande große Lotuspflanzen und in der Mitte Seerosen schwammen.
Am überraschendsten war jedoch eine große eingebaute Orgel, deren Pfeifen sich über alle Stockwerke durch das ganze Haus zogen. Mein Vater liebte es, uns am Sonntagmorgen aus dem Bett zu jagen, indem er mit größter Lautstärke den Choral »Nearer My God to Thee« spielte. Das hieß soviel wie »Alles aufstehen!«. Wir besaßen auch einen Flügel, und sowohl die Orgel als auch das Klavier konnten zusätzlich mit mechanischen Walzen bespielt werden, den Vorläufern der Schallplatte. Zu unserer Sammlung gehörten viele Aufnahmen mit Paderewski, einem engen Freund meiner Mutter. Eine meiner nachhaltigsten Kindheitserinnerungen besteht darin, daß eine von Liszts »Ungarischen Rhapsodien« durch das ganze Haus tönte.

Meine Mutter war stolz darauf, daß sie keinen Innenarchitekten benötigt hatte. Gemeinsam mit Platt hatte sie die Möbel ausgesucht - mit teils seltsamen, vor allem aber etwas unpraktischen Folgen. Weil die beiden groß waren, hatten sie für die Wohnzimmer natürlich Stühle ausgewählt, die etwas zu hoch waren. In einigen berührten die Füße meines Vaters, der fast zehn Zentimeter kleiner war als meine Mutter, kaum den Boden, wenn er darin saß. Nirgends gab es geeignete Leseleuchten in der Nähe der Betten. Auch Schreibtische mit passenden Stühlen und Lampen waren Mangelware - sehr zum Verdruß meines Vaters. Im Erdgeschoß gab es in keinem Zimmer genug Stühle für ein gemütliches Zusammensitzen und Plaudern im großen Kreis - außer auf einer Veranda vor dem Arbeitszimmer meines Vaters. Deshalb spielte sich fast unser gesamtes Familienleben auf dieser offenen, aber überdachten Veranda ab. Nach dem Abendessen versammelten wir uns regelmäßig im Arbeitszimmer meines Vaters. Doch selbst dort gab es nur zwei große Sessel zu beiden Seiten des Kamins, während der Schreibtisch meines Vaters samt Stuhl und ein Sofa in den entfernten anderen Ecken des Raumes standen, so daß sich die Gesprächsrunde jeden Abend neu bilden mußte, indem zusätzliche Stühle hereingeholt und rund um den Kamin gruppiert wurden. Nicht genug damit, daß meine Mutter keinen Innenausstatter benötigte, es mußte auch alles so bleiben, wie es einmal eingerichtet worden war; nur wir Kinder durften, als wir älter wurden, unsere Zimmer umräumen. Im ganzen Haus hingen große chinesische Gemälde, und auf einem Tisch im größten Wohnraum standen die schönen Bronzestatuen meiner Mutter, ihre Vasen und andere Objekte. In ihrem Arbeitszimmer waren zwei Werke von Brancusi aufgestellt: auf dem Kaminsims Danaide und auf dem Boden Die blonde Negerin. In der Bibliothek stand ein weiteres: Vogel im Raum, eine große Skulptur aus weißem Marmor auf einer hölzernen Basis, die Brancusi in unserem Garten geschnitzt hatte, als er zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten weilte und dabei auch uns in Mount Kisco besuchte. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich staunend dabeisaß und Brancusi bei der Arbeit zusah, während er gleichzeitig mit uns plauderte. Als Ruthie und ich älter wurden, durften wir meistens auch mit den anderen zusammen essen. Besonders an den Wochenenden, wenn mein Vater aus Washington kam, versammelte sich die ganze Familie bei Tisch. Wir hatten zwei Eßzimmer. Wenn viele Leute zu Gast waren, benutzten wir den größeren, steiferen Raum mit dem Marmorfußboden, das sogenannte innere Eßzimmer. Doch das kam nur selten vor und war etwas ganz Besonderes. Wenn wir in der Familie unter uns waren oder nur ein paar Freunde eingeladen hatten, war im »äußeren« Eßzimmer gedeckt, in dem rund zwanzig Personen gut Platz hatten. Der einzige Schmuck in diesem Raum war eine Statue von Brancusi, die meine Mutter darstellen sollte: ein sehr abstraktes Werk aus schwarzem Marmor, das mir immer sehr gefallen hat und das nur ein einziges Mal in einer Brancusi-Ausstellung zu sehen war. Als damals meine Schwester Bis einen verständnislosen Ausstellungsbesucher fragen hörte: »Was zum Teufel soll denn das sein?«, konnte sie sich die Antwort an den verblüfften Kunstfreund nicht verkneifen: »Mein Herr, das ist meine Mutter!«
In meiner frühen Kindheit bestand das Hauspersonal aus etwa zehn bis zwölf Bediensteten. Die meisten von ihnen blieben für längere Zeit und wurden gute Bekannte, Vertraute und manchmal sogar Freunde. Neben unserem Chauffeur Phil sind auch noch der Pferdepfleger und sein Assistent zu nennen, die bis zu acht oder neun Reitpferde zu versorgen hatten.
Die Oberaufsicht über das ganze Anwesen hatte zunächst der Gutsverwalter John Cummins, später der Obergärtner, ein schottischer Gentleman namens Charles Ruthven, der in einem schönen weißen Bauernhaus auf dem Gelände wohnte. Seine Tochter Jean und deren jüngerer Bruder George waren meine Spielkameraden, wenn wir in Mount Kisco wohnten. Hinzu kam noch Tom, der Sohn unseres Chauffeurs. Nachmittags, nach dem morgendlichen Unterricht, spielten wir alle miteinander, pflückten uns Obst in den Bäumen und fuhren auf Heuwagen mit.
Was aber Mount Kisco insgesamt anbetrifft, so hatte ich mein ganzes Leben lang eher zwiespältige Gefühle. Einerseits lag mir das Anwesen wirklich am Herzen, und als Kind verbrachte ich dort viele glückliche Stunden, vor allem weil auf der Farm andere gleichaltrige Kinder waren. Auch als ich älter wurde, zwischen meinem zwölften und achtzehnten Lebensjahr, dachte ich über die Farm weiterhin nur positiv, weil ich mich als kleines Kind dort wohl gefühlt hatte. Tatsächlich aber hatte ich in meinen Jugendjahren keine Freunde mehr in der Nachbarschaft und fühlte mich dort völlig allein.
Erst als ich wesentlich älter war, ging mir auf, daß unsere Familie in Mount Kisco fast vollständig isoliert war. Wir hatten zwar am Wochenende oder auch für längere Zeit viele Besucher und Hausgäste, doch mit den Nachbarn gab es fast keinen gesellschaftlichen Verkehr. Erst später erfuhr ich, daß meine Eltern unter dem lokalen Antisemitismus gelitten hatten. Ich glaube, sie waren, als sie mit dem Bau des großen Steinhauses anfingen, gewarnt worden, man werde ihnen gesellschaftlich die kalte Schulter zeigen. Tatsächlich wurden meine Eltern nie in die Häuser ihrer Nachbarn eingeladen, und auch im Country Club waren sie nicht willkommen. Das änderte sich erst, als der Club finanziell am Ende war. Dann wurden meine Eltern auf einmal gebeten, Mitglieder zu werden (und ich glaube, sie sind dieser Aufforderung sogar nachgekommen, nur um dem Club zu helfen). Ich selbst bin aber niemals dort gewesen und habe das Clubhaus nicht einmal gesehen.
Solange meine Mutter lebte, freute ich mich immer auf den Aufenthalt in Mount Kisco - ich war oft mit meinen eigenen Kindern dort, die das Anwesen heiß und innig liebten, und auch später noch, um meine Eltern oder auch nur einen Elternteil zu besuchen - doch es dauerte höchstens fünf Minuten, nachdem ich die schöne große Eingangshalle betreten hatte, dann waren alle schmerzlichen Realitäten wieder gegenwärtig. Je älter ich wurde, desto stärker mißfiel mir die Einsamkeit der Farm. Doch in meinen Kindheitstagen war sie für mich, wie ich meinem Vater einmal schrieb, als ich zehn war, »ein großartiges altes Herrenhaus«.
Als ich in der fünften Klasse war, wurde unser Haus in Washington von den Woodwards verkauft, und so zogen wir in ein rotes Ziegelsteinhaus an der Massachusetts Avenue um, das einige Blocks vom Dupont Circle entfernt lag. Dadurch wurde mein Schulweg etwas weiter. Jeden Morgen ging ich die Avenue zu Fuß hinauf - ungefähr acht Häuserblocks bergauf - und nahm meine Rollschuhe mit. Der Heimweg am Nachmittag war dann ein Kinderspiel; ich sauste einfach bergab, meine Schultasche in der einen Hand. Die andere Hand mußte frei bleiben, damit ich mich an den Straßenecken zum Bremsen an den Laternenmasten festhalten konnte.
Nach einer zweijährigen Zwischenphase an der Massachusetts Avenue zogen wir in ein großes Haus, das Henry White gehörte, dem früheren US-Botschafter in Frankreich. Es lag am Crescent Place, Nr. 1624, nicht weit von der 16. Straße. Damals war ich in der siebten Klasse, und in diesem Haus bin ich dann wirklich aufgewachsen. Es war sozusagen mein Elternhaus, und meine Mutter lebte hier bis zu ihrem Tod.
Das Haus am Crescent Place, das mein Vater zunächst mehrere Jahre gemietet hatte, ehe er es 1934 kaufte, war 1912 von dem berühmten Architekten John Russell Pope entworfen worden. Ursprünglich hatte es vierzig Zimmer - ein Haus im großen Stil, sehr ausladend und ziemlich förmlich. Der einzige etwas gemütlichere Raum im Hauptgeschoß war die Bibliothek, und darin verbrachten wir die meiste Zeit. Meine Schwester Ruth und ich teilten uns wiederum ein großes Zimmer, doch als unsere älteren Schwestern auf das College gingen, wurde das Haus neu aufgeteilt, und ich durfte mir mein eigenes Zimmer aussuchen und es nach meinem Geschmack einrichten. Ich wünschte mir ein modernes Zimmer. Also wurde ein auf moderne Einrichtung spezialisierter Designer damit beauftragt, einen simslosen Kamin aus Gips zu schaffen, der weiß angestrichen wurde; das Zimmer selbst wurde mit schönen maßgefertigten modernen Möbeln ausgestattet. Es bildete einen seltsamen Kontrast zu all den Chippendale-Möbeln, den Gemälden und Skulpturen von Cézanne, Manet, Renoir, Brancusi und Rodin und der Woolworth-Serie der Aquarelle von Marin, die in der Diele im oberen Stockwerk hing. In der Eingangshalle standen ein wunderschöner chinesischer Wandschirm, ein bronzener Buddha und ein vergoldeter Spiegel, der später ins Weiße Haus kam, um dort mit sein ein Gegenstück wiedervereinigt zu werden.
Damals merkte ich es zwar nicht, aber die Atmosphäre des Hauses am Crescent Place schüchterte einige meiner Freundinnen ein. Als ich in der High-School war, blieb meine Freundin Mary Gentry einmal über das Wochenende bei uns. Sie kann sich noch erinnern, wie sie als erste zum Frühstück herunterkam und allein in dem riesigen Eßzimmer Platz nehmen mußte. Der Butler kam und fragte nach ihren Wünschen. Sie war so verschreckt, daß ihr außer Grapenuts, einer besonders knusprigen Cornflakes-Sorte, nichts anderes einüel Der Butler setzte ihr also eine Schüssel Grapenuts vor und blieb hinter ihrem Stuhl stehen. In Marys Erinnerung sind die Qualen noch gegenwärtig, die sie ausstand, als das Krachen der Cornflakes aus allen Ecken des Speisesaals widerhallte. Obwohl sie viele Wochenenden bei uns verbrachte, kam Mary nie wieder allein zum Frühstück herunter.
Wo immer wir uns aufhielten, ob in Washington oder auf der Farm, wir waren immer beschäftigt. Für den Unterricht galt ein strikter Stundenplan, und nach der Schule gab es, auch im Sommer, eine große Vielfalt geplanter Aktivitäten. Wir verbrachten viel Zeit im Sattel, besonders auf den etliche Kilometer langen Reitwegen rund um die Farm oder im Rock Creek Park in Washington. Als ich neun Jahre alt war, erschien im Washington Evening Star sogar ein Foto von mir auf meinem Pony Pete. In der Bildunterschrift hieß es, ich sei »eine versierte Reiterin«. In Wirklichkeit aber war ich nicht gut im Reiten und mochte diese Art der Freizeitgestaltung auch nicht besonders gern. Trotzdem gehörte bei uns das Reiten dazu, und so gab es auch für mich kein Pardon.
Wir hatten auch Musikunterricht, in dem die Traditionen von Mrs. Coleman fortgeführt wurden. Sogar die richtige Körperhaltung sollte mir per Unterricht beigebracht werden, denn angeblich hielt ich mich zu krumm - übrigens, trotz allen Unterrichts, bis auf den heutigen Tag. Auch wurden wir alle in der Dalcroze-Methode unterrichtet, einer Art Tanz, durch den ein Gefühl für den Rhythmus vermittelt werden soll. An eine dieser Übungen kann ich mich noch erinnern: Die Arme mußte ich im Dreiertakt bewegen, während meine Füße im Zweiertakt marschierten gar nicht so einfach!
Französischunterricht erhielten wir von einer Dame, die jahrelang bei uns lebte. Sie war nicht mit uns verwandt, hatte aber denselben Nachnamen wie wir: Mademoiselle Gabrielle Meyer. An den Wochenenden mußten wir französische Texte vortragen: Noch heute, nach fast siebzig Jahren, kann ich Teile aus La Fontaines Fabeln und bestimmte von mir bewunderte Monologe aus Cyrano de Bergerac auswendig rezitieren.
Der Sport füllte einen wesentlichen Teil unseres Programms aus. Im Sommer hatte mein Bruder dafür eigene Tutoren, selbst für das Bauen und Steigenlassen von Drachen. An Bills Ringkampflektionen nahm gelegentlich auch meine Schwester Bis teil. Als wir älter wurden, stand dauernd Tennis auf dem Programm, und ganz zu Beginn der dreißiger Jahre lebte sogar ein Tennisprofi mehrere Sommer bei uns, um insbesondere Bis Stunden zu geben. Auch ich hatte jeden Tag ein kurze Trainerstunde.
Nach meiner ersten Campingtour in die kanadischen Rocky Mountains im August 1926, bei der meine Mutter vergeblich versuchte, uns ihre Liebe zu den Anstrengungen des Bergsteigens nahezubringen, folgten einige Jahre lang sommerliche Europareisen. Meine erste fand 1928 statt, als ich elf Jahre alt war. Auf dieser Reise führte ich eines meiner seltenen Tagebücher. Wir fuhren von Frankreich nach Deutschland und Österreich, in die Schweiz, nach Italien und zurück nach Frankreich. In meinem Tagebuch spiegeln sich alle Interessen einer Elfjährigen: von der Bemerkung, unsere Kabine auf dem Dampfer trage den Namen »Prince of Whales (!) Suite«, über die Anzahl der Stufen zwischen den Stockwerken des Eiffelturms bis zur Nacherzählung der Anekdote von der Öffnung von Napoleons Sarg auf dem Weg zur letzten Ruhestätte im Invalidendom. Ich erinnere mich auch noch, daß mein Gefühl, von den älteren Geschwistern getrennt zu sein, dadurch neue Nahrung erhielt, daß ich mit Ruthie in unserem Hotel in der Schweiz bleiben mußte, als meine Mutter mit Flo und Bis einen Berg bestieg, und daß ich in der Schweiz gelassen wurde, als die älteren Geschwister mit meinen Eltern nach Italien weiterfuhren. Ruth und ich galten als noch zu jung, um von Museumsbesuchen zu profitieren, und so wurden wir mit unserer Gouvernante in einem Kurhotel »geparkt«. Dort nahmen wir am Unterhaltungsprogramm für die kleinen Hotelgäste teil. Auf einem alten Foto ist eine Kostümparty zu sehen, und ich kann mich noch daran erinnern, daß mir das Verkleiden damals Spaß machte. Ich ging als Gänsemagd, und Ruthie war meine Gans.
Obwohl wir in der Marne schwammen und Notre-Dame und Versailles besuchten, ist die einzige wirklich lebhafte Erinnerung an diese Reise die, daß ich während einer Autofahrt mit meinem Vater bei geschlossenen Fenstern fast an seinem dicken Zigarrenrauch erstickt wäre. Er rauchte nur schwere, lange, teure Zigarren aus kubanischem Tabak und steckte sich eine nach der anderen an. In kleinen Räumen wie Autos oder Eisenbahnabteilen war das kaum auszuhalten, wenn die Fenster geschlossen waren, doch allmählich gewöhnte ich mich an den Qualm - oder fand mich zumindest damit ab.
Drei Jahre später waren wir erneut in Europa und verbrachten viel Zeit in Deutschland. Am denkwürdigsten war für mich diesmal ein Besuch bei Albert Einstein in dessen Haus. Meinem Vater, der zu Hause geblieben war, um zu arbeiten, schilderte ich diesen Besuch in einem Brief:
Ich nehme an, Mutter hat Dir erzählt, daß wir Einstein besucht haben. Er war einfach toll! Seine Haare sind wie ein Vogelnest, und er trug eine Art leuchtendblauen Overall. In der Hand hielt er eine Pfeife ... Ihr Haus ist sehr schlicht, aber schrecklich schön - nahe an einem See. Er segelt allein in einem Boot. Das hat einen ganz flachen Boden, damit es nicht umkippen kann, wenn er sich in Gedanken verliert. Wenn die Leute sehen, daß das Boot immer im Kreis fährt, wissen sie, daß er gerade wieder eine neue Theorie ausbrütet.

1929 kaufte mein Vater eine Ranch in Kelly, Wyoming, im Teton Valley. Die Rauch, Red Rock, war schön und damals noch sehr abgelegen. Man konnte sie nur nach einer Autofahrt von mehr als 300 Kilometern von Rock Springs aus erreichen, von denen die letzten 50 Kilometer über enge, kurvige Bergstraßen führten. Die 280 Hektar der Red Rock Ranch lagen direkt am Fuße der herrlichen Tetons, einer spektakulären Bergkette der Rocky Mountains aus rotem Sandstein. Im September des Jahres, als er die Rauch gekauft hatte, nahm Papa Flo, Bill und mich mit dorthin. Ich war damals zwölf, und wir verbrachten unsere Zeit mit Reiten, Angeln, Wandern und Zielscheibenschießen. Weil wir als Teenager schon unsere eigenen Pläne und Aktivitäten hatten, fuhren wir anfangs nicht gerade begeistert mit. Das änderte sich jedoch, als wir dort waren. Denn die Gegend gefiel uns sehr, und es stimmt mich immer noch traurig, daß mein Vater die Ranch einige Jahre später wieder verkaufte, weil er unser Interesse daran nicht auf Dauer wecken konnte.
All diese Reisen und Lektionen trugen zwanglos zu unserer Bildung bei. Doch auch unsere offizielle Schulbildung verlief in mancherlei Hinsicht ungewöhnlich. Meine älteren Geschwister hatten zunächst die progressive Lincoln School in New York besucht, ehe sie nach dem Umzug nach Washington auf die Friends School, eine Quäker-Schule, überwechselten, während ich meine Schullaufbahn in Washington auf einer Montessori-Schule begann, einer fortschrittlichen Institution, auf der wir ermutigt wurden, unsere eigenen Interessen in unserem eigenen Tempo zu verfolgen - mit anderen Worten, wir konnten, wann immer wir wollten, tun, was uns am meisten lag. Ich lernte als erstes, wie man Schnürsenkel bindet, und las dann viel, was mir wirklich Spaß machte. Mathe dagegen, das ich überhaupt nicht mochte, ging ich meistens aus dem Weg. Bleibendes Ergebnis unserer Eurhythmie-Klasse, in der bunte Tücher verwendet wurden, war die Fähigkeit zum Kopfstand und Radschlagen. Diese Schule besuchte ich von der Vorschulklasse bis zu dem der dritten Klasse entsprechenden Jahrgang. Am Ende war ich eine gute Akrobatin, meine Rechenkünste indes ließen sehr zu wünschen übrig.
Mit acht Jahren kam ich in die vierte Klasse der Potomac School, die nur zwei Blocks von unserem Haus entfernt lag. Es handelte sich um ein konventionelles Privatgymnasium, und so wechselte ich von einer ungezwungenen, sehr liberalen Schule in eine vollständig durchstrukturierte über. Die Bänke standen in Reih und Glied, der Schultag verlief streng nach Programm, wir bekamen Hausaufgaben, und, was am allerschlimmsten war, wir begannen mit der Bruchrechnung, die mir vorkam wie böhmische Dörfer.
Als Mädchen neu auf die Potomac School zu kommen, war nicht einfach. Das Leben in meinen ersten Jahren dort erscheint mir im Rückblick als einsam. Ich fühlte mich unwohl und deplaziert, einfach anders, zumal ich die einzige war, die gerippte Socken trug. Die vierte Klasse war die letzte, in die Mädchen und Jungen gemeinsam gingen. Von der fünften bis zur achten - weiter konnte man die Potomac School ohnehin nicht besuchen gab es dann nur noch Mädchenklassen. Auch die Madeira School, meine High-School, war eine reine Mädchenschule, ebenso das Vassar College, auf dem ich meine beiden ersten Studienjahre verbrachte.

Die Potomac School verlangte mir die erste große Umstellung meines Lebens ab, und ich lernte dabei eine grundlegende Lektion: in jeder Welt zurechtzukommen, in die man hineingestellt wird. Ich mußte genau zusehen, was die anderen taten, und es nachmachen, mit meiner Einsamkeit und meinem Anderssein fertig werden und mich anpassen. Bis zu meinem zweiten Schuljahr dort, also bis zur fünften Klasse, blieb ich mehr oder weniger isoliert, doch dann bekam ich heraus, wie man eine Freundschaft beginnt: indem man sich andere nach Hause einlädt. Auf diese Weise wurde Rose Hyde meine beste Freundin - trotz der ungeschickten Formulierung meiner ersten Einladung: »Rose, ich habe schon alle anderen gefragt, und demand kann zu mir kommen. Kannst du nicht kommen?« Sie konnte, und das war der Beginn einer langen Freundschaft.
Bis zur siebten und achten Klasse hatte ich weitere Freundinnen gefunden: Julia Grant und Madelin Lang, beide Töchter von Armeeoffizieren. Julia war sogar die Enkelin von Präsident Grant. Als wir in der sechsten Klasse den amerikanischen Bürgerkrieg durchnahmen, sollten alle Schülerinnen Bilder von Verwandten mitbringen, die in diesem Krieg gekämpft hatten. Rose zeigte ein Bild ihres Urgroßvaters, der in der Südstaatenarmee Feldgeistlicher gewesen war, Julia dagegen das berühmte Foto, auf dem General Grant, der Führer der Nordstaatenarmee, gegen einen Baum gelehnt steht. Rose konnte sich den Kalauer nicht verkneifen: »Rat mal, warum er sich an diesen Baum lehnt. Weil er so besoffen ist, daß er nicht mehr gerade stehen kann.« Das mußte sie allerdings bitter büßen, denn Julia schlug sie auf dem Spielplatz zu Boden. Und Roses Mutter mußte Mrs. Grant einen Entschuldigungsbrief schreiben, ehe der Friede wiederhergestellt werden konnte.
In den Mannschaftssportarten war ich ganz gut. Wir waren immer in zwei Gruppen eingeteilt, die Roten und die Blauen. Ich spielte im Team der Roten eine entscheidende Rolle, hatte aber den Hang, andere ständig zu kritisieren, bis mich eines Tages die Sportlehrerin, Miss Preisha, die ich gern mochte, beiseite nahm und mir die Augen öffnete. Wenn ich diese überhebliche Einstellung meinen Mitspielerinnen gegenüber ablegen könnte, sagte sie, dann hätte ich sogar gute Chancen, zum Kapitän der Roten gewählt zu werden. Ich nahm ihren Rat an, und, o Wunder, es kam, wie sie vorhergesagt hatte. Ich wurde Mannschaftskapitän. Dieser kleine Triumph verschaffte mir große, heimliche Befriedigung. Es war mein erster sozialer Erfolg - ein Zeichen, daß sich in dieser Richtung allmählich doch etwas tat. An die Tanzstunde in der achten Klasse habe ich hingegen nur unschöne Erinnerungen. Wie eine Bohnenstange überragte ich die anderen Mädchen und Jungen - mit den vorhersehbaren negativen Folgen.
Ungefähr um diese Zeit sammelten und tauschten wir Mädchen allesamt Seifen- und Shampoo-Proben. Wie meine Freundinnen sammelte ich auch Fotos von meinen Lieblingsfilmstars Greta Garbo und Marlene Dietrich, deren Filme ich mir an den Wochenenden anschaute. Ich lernte - auf deutsch - ein Lied aus dem Blauen Engel auswendig: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt«. Natürlich verschlangen wir auch die Kinomagazine.
Wie die meisten anderen jungen Mädchen hatte auch ich Wunschträume, aber schon damals erkannte ich - anders ab sie n daß es sich nur um Wunschträume handelte. Ein Traum war, daß es toll wäre, Modell zu sein. Als ich darüber mit meiner High-School-Freundin Nancy White sprach, holte sie mich durch eine Frage auf den Boden der Tatsachen zurück: »Wofür willst du denn Modell sein? Für Häuser?« Ein weiterer Wunschtraum, den ich wohl mit vielen anderen Kindern teilte, war der, »berühmt« zu werden - vielleicht nicht gerade als Filmstar (obwohl ich auch zaghafte Visionen hegte, einmal einen Raum wie die Dietrich zu betreten), aber doch irgendwie so, daß ich Erfolg hätte und die Leute wüßten, wer ich war. Dieser Traum erfüllte sich sogar bis zu einem gewissen Grad, denn spätestens nach der Watergate-Affäre wußten die Leute, wer ich war.

Die High-School, die ich besuchte, war wie gesagt Madeira. Als ich dorthin kam, lag die Schule noch in Washington, in der Nähe des Dupont Circle. Mein Vater bewunderte die Schulgründerin, Lucy Madeira Wing, sehr. Er beteiligte sich an der FlanAemng des neuen Schulgebäudes, und so zog die Schule, als ich im zweiten Jahr dort war, auf das wunderschöne neue Gelände in Virginia. Dadurch wurde ich fünf Tage pro Woche zur Internatsschülerin und kam nur noch am Wochenende nach Hause.
Die Meyer-Töchter gingen selbstverständlich alle auf die Madeira School. Miss Madeira hatte einige recht fortschrittliche Ideen und versuchte, unseren Horizont zu erweitern. Sie glaubte beispielsweise, Gott sei eine Frau. Unter dem Deckmantel des Religionsunterrichts versuchte sie auch, uns über die Armut aufzuklären. Sie nutzte ihre Ansprachen in der Schule, um uns zu sozialdemokratischen Reformern, zu »Fabianern im Sinne George Bernard Shaws« zu erziehen, wie Rose Hyde es nannte. Auch in der Schule selbst zeigte sich ein sehr egalitärer Geist. Unsere Schuluniformen halfen, die unterschiedlichen finanziellen Verhältnisse der Herkunftsfamilien zu kaschieren, und auch über den Sozialstatus der Mitschülerinnen wußten wir im allgemeinen nichts; das war uns einfach egal.
Miss Madeira achtete auf strikte Disziplin und Sparsamkeit. Ihr Motto, das sie in ihren Ansprachen vor der Schulversammlung oft wiederholte, verriet eine Menge puritanischer Energie. Es lautete: »Funktioniere in der Not und bring alles stilvoll zu Ende.« Die Internatsschülerinnen durften zum Einkaufen in den Ort gehen, aber nur in ein bestimmtes Kaufhaus, und in der Schuhabteilung rnußte immer eine Anstandsdame dabeisein, weil dort ja ein Mann die Füße der Schülerinnen berühren mußte. Als eine meiner Freundinnen, Jean Rawlings, einmal von ihrer Zimmergenossin und deren Vater zum Unch ehgebden wurde, durfte sie diese Einladung nicht annehmen. »Unmöglich«, sagte unsere Hausmutter, »du kannst nicht mit dem Vater deiner Zimmergenossin ausgehen.« Offenbar war einige Jahre zuvor eine Schülerin mit dem Vater einer anderen durchgebrannt.
Obwohl ich immer dazu neigte, gehorsam zu sein und alle Vorschriften zu beachten, nahm ich einmal auch an einer verbotenen Aktivität teil. Ich wurde nämlich Mitglied eines Geheimbundes, der Vestes ad Mortem, »Jungfrauen bis zum Tod« - eigentlich ein sehr seltsames Ziel, muß ich heute sagen. Mitten in der Nacht standen wir Jungfrauen auf, legten uns schwere Regencapes um, die Miss Madeira aus einem französischen Kloster besorgt hatte, und marschierten zwei Kilometer in den tiefen Wald, wo wir ein Paar Galoschen beerdigten - was das alles bedeuten sollte, weiß ich leider nicht mehr.
Meine soziale Entwicklung machte nur langsame Fortschritte. Mit Jungen hatte ich viele Jahre nichts zu tun. An einem Silvesterabend während meiner High-School-Zeit - ich war damals sechzehn - besuchte ich mit meiner Familie einen der berühmten Bälle, die Evalyn Walsh McLean gab. Mein Bruder war so nett, als mein Tanzpartner auszuhelfen. Weil ich aber praktisch niemanden sonst kannte, tanzten wir den ganzen Abend zusammen. Endlich gingen die Lichter aus, und auf einer elektrischen Anzeigetafel leuchteten die Worte »Happy New Year« auf. Wir sangen alle »Auld Lang Syne«, und mein Bruder schaute mich an. Dann sagte er: »Das war der letzte Silvesterabend, den ich je mit dir verbracht habe.«
Als ich etwa siebzehn Jahre alt war, gab ich mir entschieden Mühe herauszubekommen, wie man den Jungen, die bei Partys und Bällen zusammenstanden, imponieren und gefallen könne. Ich merkte, daß die Jungen einen dann für attraktiv und ansprechend hielten, wenn man über die albernsten Witze am lautesten lachte und lebhaft gestikulierte, um den Eindruck zu vermitteln, daß man sich königlich amüsiere. Diese Erkenntnis wendete ich dann schamlos an. Ich machte ihnen zwar nur etwas vor, wurde auf diese Weise aber ziemlich beliebt. So kam ich allmählich in Washington auf Partys herum und schaffte es soga4 nicht bei einem Jungen »hängenzubltben«. Das galt damals als Alptraum. (Erst viele Jahre später, als ich schon auf der University of Chicago war, konnte ich wirklich Freundschaft mit Männern schließen oder sogar gelegentlich Verehrer ernsthaft für mich interessieren.)
Auf der Madeira School gab ich mir große Mühe, wie alle anderen zu sein. Im Basketball, Hockey und in der Leichtathletik gehörte ich zur Schulmannschaft. Ich sang im Schulchor mit und erhielt Klavierunterricht. Ungefähr ein Jahr lang übte ich täglich den zweiten Satz aus Beethovens »Appassionata«. Meinen Mitschülerinnen war es ein Greuel, daß aus dem Übungsraum immer dieselben Klänge kamen, doch ich lernte dabei etwas über musikalische Strukturen. Auch in der Theatergruppe der Schule spielte ich mit.
Weil ich mich für Journalismus interessierte, trat ich in die Redaktion der Schulzeitschrift ein, die passenderweise Tatler [1] hieß. Obwohl wir uns das Ziel gesetzt hatten, »Einfluß zu nehmen und die Dinge in Bewegung zu bringen«, konzentrierten sich unsere Kommentare mindestens ebensosehr auf das Wetter wie auf gesellschaftliche Phänomene. Unter den vielen Anzeigen, die wir brachten, fand sich auch eine mit der Überschrift: »Gebt den sich entwickelnden Kurven ein schönes Zuhause: in einem kleinen Korsett von Redfence.«
In der Oberstufe an der Madeira School wurde ich zu meiner ungläubigen Überraschung zur Sprecherin der Abschlußklasse gewählt. Ich hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, daß es so etwas wie eine allgemeine Wertschätzung meiner Person gab und/oder daß die anderen mich gut fanden. So erfreute mich diese Wahl außerordentlich, und meinen Vater sogar noch mehr.
Trotz meiner High-School-Erfolge verließ ich Madeira, ohne für das Leben, das ich später führen sollte, wirklich vorbereitet zu sein. Ich hatte immer noch das Gefühl, ziemlich anders zu sein als meine Mitschülerinnen, vor allem schüchtern, und glaubte, nur wenige Freundinnen zu haben. Doch offenbar sahen meine Klassenkameradinnen mich ganz anders. Im Jahrbuch der Abschlußklasse werden mein Lachen und mein männlicher Gang hervorgehoben. Bezüglich meiner Zukunft heißt es dort über mich: »Kay wird im Zeitungsgeschäft mal eine ganz Große.« Doch ich sah eine solche Zukunft für mich selbst noch nicht; genauer gesagt, ich sah überhaupt keine konkrete Zukunft für mich. Anstatt mir meinen eigenen Weg zu bahnen und ihn zu gehen, versuchte ich die ganze Zeit, mich an die jeweils vorgefundenen Lebensumstände anzupassen. Ich hätte es zwar schöner gefunden, anderen zu zeigen, wo es langgeht, und natürlich auch, abenteuerlustig wie Bis zu sein, doch die Gedichtzeilen, die man zu meinem Klassenfoto in Madeira ausgesucht hatte, beschreiben eine ganz andere Persönlichkeit: »Wer um sie ist, wird von den vollkommenen Wegen der Ehre lesen.« Mit anderen Worten: Sie ist zu brav und tugendhaft.
1921 hatte meine Mutter William L. Ward kennengelernt, einen der letzten großen politischen Bosse, die man im traditionellen Sinn als aufgeklärt bezeichnen konnte. Er bestimmte praktisch im Alleingang, was in Westchester County - dem Bezirk, zu dem Mount Kisco gehörte - ging oder nicht ging, und er brachte meine Mutter dazu, sich aktiver für die Lokalpolitik der Republikaner zu engagieren. Bill Ward wurde ihr Mentor und enger Freund, und er überredete sie, sich stärker an der Regelung des Gemeinwohl zu beedlen. Mutters leidenschaftliche Annahme dieser Idee und ihr hingebungsvoller Dienst an der Allgemeinheit bedeuteten, zumal sich mein Vater von ähnlichen Gedanken leiten ließ, daß wir mit der Überzeugung aufwuchsen, man müsse, ganz gleich in welchem Beruf, automatisch die öffentlichen Belange mitbedenken und der Gemeinschaft etwas zurückgeben, sei es in Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Interesses, sei es im politischen Dienst an der Öffentlichkeit. Eine Ohne-mich-Mentalität durfte es nicht geben.
Schon bald hatte Ward in Westchester County eine aus fünf Frauen bestehende Recreation Commission ins Leben gerufen, die unter der Leitung meiner Mutter Sommerferienlager für unterprivilegierte Kinder einrichtete. Im ganzen Bezirk half meine Mutter bei der Gründung von Chören, und sie organisierte ein großes alljährliches Musikfestival für Erwachsene und Kinder. Dieses fand zunächst in einem riesigen Zelt statt, ehe Bill Ward, hauptsächlich auf Drängen meiner Mutter, ein County Center bauen ließ, das im Mai 1930 eröffnet wurde - eine große MehrzweckhaUe 1 Müe Müng die immer noch genutzt wird. Darin fand alles mögliche statt, von Theateraufführungen oder Konzerten bis zu Geflügelschauen und anderen Tierausstellungen.
Überdies stürzte sich unsere Mutter mit solcher Verve in die republikanische Parteipolitik, daß sie 1924 zur Parteitagsdelegierten für den Wahlkonvent gewählt wurde. Als sie zur Unterstützung ihrer Kandidaten und Anliegen auch noch in der Gegend umherreiste, dichteten wir während des Präsidentschaftswahlkampfes von 1924 folgenden kleinen Vers: »Coolidge aiid Dawes, Coolidge and Dawes. When Mother's away, they're the cause.« (Coolidge und Dawes - wenn Mutter nicht da ist, sind sie der Grund.) Als man sie ermutigte, sich um ein Amt im Staat New York zu bewerben, und manche Frauen sie sogar dazu bewegen wollten, für den Kongreß zu kandidieren, lehnte sie jedoch ab, weil »ich in erster Linie für meinen Mann und meine Familie dasein muß«. Zusammen mit ihr besuchte ich 1933 Franklin D. Roosevelts erste Amtseinführung als Präsident. Ich sah, wie Roosevelt aus dem Kapitol kam und seine berühmte Antrittsrede hielt, und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie Mutters Blick auf die Figur des scheidenden Präsidenten Hoover gerichtet war, der gegenüber seinem triumphierenden Nachfolger ein Bild des Jammers abgab. Roosevelt strahlte über das ganze Gesicht, ein Regenschauer war gerade vorübergezogen, und aus den Wolken hervorbrechende Sonnenstrahlen tauchten sein schönes Gesicht in helles Licht. Da wandte sich meine Mutter zu mir und sagte, mit einem bemerkenswerten Mangel an politischer Weitsicht: »Wartet nur ab, in vier Jahren sind wir wieder dran!« Meine Mutter gehörte zu den besonders emotionalen Roosevelt-Hassern.
Auch mein Vater war an der republikanischen Parteipolitik beteiligt, aber längst nicht so aktiv. Er war vielmehr für beide Parteien in übergeordneten Angelegenheiten tätig, vom War Industries Board bis zum Farm Loan Board (einer Art staatlicher Agrarkreditbank) und zum Federal Reserve Board (der amerikanischen Zentralbank). Bis Mitte der zwanziger Jahre hatte er durch seine Arbeit in der War Finance Corporation zum Wiederaufschwung der amerikanischen Landwirtschaft beigetragen, denn die WFC war speziell dazu gedacht, an Farmer und Viehzüchter Regierungskredite zu vergeben. 1925 löste mein Vater die WFC in bester Ordnung auf: Bei einem Finanzvolumen von 700 Millionen Dollar hatte es weder Pleiten noch Skandale gegeben, und die Kasse stimmte auch - eine Leistung, die weithin als bemerkenswert galt.
In meiner Kindheit, wenn mein Vater mit seinen diversen Regierungs~tufgaben beschäftigt war, waren meine Eltern meistens abwesend. Waren sie aber doch einmal zu Hause, dann gab es formelle Gelegenheiten, sie zu sehen, sozusagen Privataudienzen, etwa zum Frühstück. Meine Mutter nahm ihr Frühstück immer im Bett ein, und mein Vater gesellte sich mit seinem Frühstück hinzu; er saß dabei an einem Tischchen neben ihr. Wir Kinder kamen dann kurz nach oben, um sie zu begrüßen, ehe wir alle unserer Wege gingen.
An den meisten Abenden waren meine Eltern woanders zum Essen eingeladen, oder es gab bei uns zu Hause aufwendige Dinnerpartys. Manchmal besuchte ich dann meine Mutter, wenn sie sich ankleidete, massiert wurde oder ihre Nägel pflegen ließ. Sie machte auf mich einen unglaublich glamourösen und hochherrschaftlichen Eindruck; sie war sehr schön, und ich war heimlich stolz auf sie, wenn sie bei schulischen Gelegenheiten elegant gekleidet auftrat. Obwohl ich sie als ganz kleines Mädchen sehr gern hatte, jagte sie mir doch zugleich auch Ehrfurcht und Schrecken ein. In der Regel war ich viel zu eingeschüchtert, um Ungehorsam auch nur zu erwägen. Und wenn ich es - ganz selten - doch einmal wagte, dann blieben mir die Folgen dauerhaft in Erinnerung. Auf meiner ersten Europareise - ich war damals elf Jahre alt - schickte unsere Mutter Bill und mich zum Schiffsfriseur zum Haareschneiden. Doch wir Kinder hatten etwas Besseres vor. So schickte mich Bill mit der Ausrede zu ihr, beim Friseur gebe es zur Zeit eine lange Warteschlange und wir würden später gehen. Ohne weiter darüber nachzudenken, führte ich Bills Auftrag aus - eine Neigung, die ich an mir auch im späteren Leben viel zu oft beobachtete. Doch irgendwie fand meine Mutter heraus, daß es diese Warteschlange beim Friseur gar nicht gab. So handelte ich mir schwere Vorwürfe ein, ich hätte gelogen, und war mir dessen nicht einmal bewußt. Zur Strafe mußte ich allein in meiner Kabine bleiben. Ich war am Boden zerstört, aber diese Episode hinterließ bei mir den unauslöschlichen Eindruck, daß es enorm wichtig sei, die Wahrheit zu sagen.
Kinder beobachten ihre Eltern und hören auf sie, manchmal kritisch, manchmal aber auch fraglos. Beide Elternteile beeinflußten uns im Großen wie im Kleinen. Manche ihrer Gewohnheiten färbten auf uns ab und hinterließen ihre Spuren. Eine ganz besondere Eigenheit, die ich unbewußt von meiner Mutter übernommen habe, ist die Neigung, bei kleinen Dingen mißtrauisch und geizig zu sein und es an Großzügigkeit fehlen zu lassen. In mancherlei Hinsicht war sie zwar sehr verschwenderisch, doch über kleine Rechnungen beschwere de sich häufig, weil sie sicher war, von den Leuten betrogen zu werden. Wenn sie einen Pelz kaufte, pflegte sie zu sagen: »Da muß man sehr aufpassen, denn sonst hast du dir einen ausgesucht, und sie tauschen ihn gegen einen anderen aus.« Ein weiterer Ausspruch lautete: »Wenn du deine Perlenkette neu aufziehen läßt, mußt du dabeisitzen und aufpassen, daß du am Ende auch deine eigenen Perlen zurückbekommst.« Wenn es um Gehaltserhöhungen für das Hauspersonal ging, war sie regelrecht gemein und knauserig. Sie haßte es geradezu, etwas herzugeben, sogar Lob oder Ermutigung. Auch ich AUe später Bebemmungen beim Geldausgeben- auch ich litt unter dem untergründigen Verdacht, alle Leute wollten mich übervorteilen; auch ich konnte nicht mit Freuden geben. Viele dieser Angewohnheiten konnte ich überwinden, als ich Phil Graham heiratete, der außerordentlich großzügig war und beim Geben unerschöpflichen Einfallsreichtum entwickelte. Andere Gewohnheiten, die ich niemals überwinden konnte, sind seltsame Eigenheiten, die ich von meinem Vater übernommen habe. Trotz unseres sehr aufwendigen Lebensstils war mein Vater auf bestimmte kleine Ausgaben geradezu fixiert. Mit nimmermüdem Eifer predigte er Sparsamkeit im Kleinen - die Dinge mußten immer aufgebraucht, nie durfte etwas verschwendet werden; wenn man telegrafieren konnte, sollte nicht telefoniert werden; noch besser aber war es, Briefe zu schreiben. Geradezu zwanghaft muß ich immer noch alle Lichter im Haus löschen, ehe ich abends zu Bett gehen kann.
Manche Lektionen lernte ich auch durch abschreckende Beispiele. Als ich jung war, empfand ich, daß die Erwachsenen sich gelegentlich recht seltsam benahmen. Ich kann mich noch gut erinnern, daß mich bestimmte Dinge, die ich beobachtete, schockierten oder regelrecht abstießen und daß ich im stillen gelobte, mich als Erwachsene selbst niemals so zu verhalten. Meine Mutter pflegte zum Beispiel, wenn sie vor dem Kino Schlange hätte stehen müssen, direkt zur Kasse zu rauschen und kundzutun: »Ich bin Mrs. Eugene Meyer von der Washington Post«, woraufhin sie erwartete, sofort in den Saal geleitet zu werden und einen der besten Plätze zu bekommen. Und damals funktionierte dieses Rezept sogar. Mir war die Sache geradezu körperlich peinlich, und ich wäre am liebsten im Boden versunken. Solche Szenen hatten auf mich einen nachhaltigen Effekt: Bis heute kann ich mich in Restaurants nicht gegen Oberkellner durchsetzen, die mich in abgelegenen Teilen plazieren wollen anstatt auf den besten Plätzen. In aller Bescheidenheit füge ich mich.
Im Lauf der Jahre schien meine Mutter sich emotional immer schwerer zu tun. Zunehmend vertiefte sie sich in ihre Freundschaften mit den diversen Männern in ihrem Leben, doch ich glaube, daß nur eine dieser Freundschaften vielleicht eine Affäre im traditionellen Sinn war die mit Bill Ward. Ständig hatte sie mit Erkältungen, Lungenentzündung oder verschiedenen anderen Krankheiten zu tun, und auf jede reagierte sie mit dem größtmöglichen Maß an Sorge, Selbstmitleid und Theatralik. Sie verlangte und empfing ständig Besuch. Wir alle mußten ihr unsere Aufwartung machen. Im Rückblick frage ich mich, ob vielleicht auch Depressionen zu dieser intensiven Konzentration auf die eigene Gesundheit beitrugen.
Außerdem begann meine Mutter stärker zu trinken; manchmal fing sie schon um zehn Uhr morgens an, wenigstens in einer bestimmten Phase ihres Lebens. Dieses Problem beunruhigte meinen Vater sehr, und in zunehmendem Maß wurde es für ihn wie für uns alle zu einer Last.
Die Verhaltensweisen meiner Mutter hatten auf uns oft widersprüchliche Wirkungen. Einerseits erhielten wir jede erdenkliche Ermutigung für unsere Leistungen und Erfolge, doch war andererseits ihr Ego so dominang daß de unseren außtmenden Immeam und unserer Begeisterung sogleich einen massiven Dämpfer versetzte. Sagte ich, daß mir Die drei Musketiere sehr gut gefielen, so erwiderte sie prompt, ich könne das Buch gar nicht richtig genießen und beurteilen, wenn ich es nicht - wie sie selbst - in der französischen Originalsprache gelesen hätte. Bis in ihre letzten Lebenstage war meine Mutter eine eifrige Leserin: Philosophie, Geschichte, Biographien sowie alle englischen, amerikanischen, französischen, deutschen und russischen Klassiker. Für Leser seichter UnterhalWngnomne haue sie nur Verachtung übrig - ganz zu schweigen von Groschenromanen oder vom Lesen zum Zeitvertreib.
Fast den ganzen Sommer zwischen der vierten und fünften Klasse verbrachte ich allein in einem Zimmer im dritten Stock des Hauses in Mount Kisco und las: alle Werke von Dumas, acht Bände Louisa May Alcott (angefangen mit Kleine Frauen), Stevensons Schatzinsel und eine aufregende AbenhueNete von einem Autor namens Knipe Als ich am Ende Bilanz zog, stellte ich fest, daß ich rund hundert Bücher gelesen hatte. Meinen Eltern schrieb ich, daß ich »nur noch im Reich der Bücher schwebte«. Ich hätte gar nicht glücklicher sein können. Leider verschwand diese frühe Leselust jedoch irgendwie nach der fünften Klasse, bis ich sogar nur noch ganz sporadisch las.
Insgesamt setzte uns unsere Mutter unerreichbare Maßstäbe. Dadurch waren wir einem enormen Druck ausgesetzt, der nicht zuletzt unsere Fähigkeit beeinträchtigte, bescheidenere selbstgesteckte Ziele zu erreichen. Im Grunde hatten wir wohl alle das Gefühl, ihren Erwartungen nicht gerecht geworden zu sein, und die dadurch verursachte Unsicherheit und der Mangel an Selbstbewußtsein machten uns noch lange zu schaffen. Doch trotz aller persönlichen Zweifel, die sie vielleicht an uns hatte, war das Bild ihrer Familie, das sie der Welt präsentierte, makellos. Sie schuf den Mythos von der Vollkommenheit ihrer Kinder und ließ sich davon auch nicht wieder abbringen. Aus ihrer Sicht waren wir allesamt glückliche, zweisprachige Überflieger. Hinzu kam eine Erwartungshaltung bezüglich unseres gesellschaftlichen Erfolgs - ebenfalls ein Kriterium, das nur schwer zu definieren und zu handhaben ist. In der Schule oder bei Partys mußten die Meyer-Mädchen beliebt sein, das gehörte unverzichtbar dazu. Deshalb sagte ich nach jeder Party, ich hätte mich herrlich amüsiert, auch wenn das ziemlich oft nicht stimmte. Kam ein Elternteil in die Schule oder ins College, dann spürte ich die Notwendigkeit, eine Gruppe von Freundinnen um mich zu versammeln und so wenigstens den Anschein zu erwecken, im Kreise der anderen wohlgelitten zu sein.
Als wir noch ganz klein waren, gaben die McLeans, denen damals die Washington Post gehörte, Kinderp~rtys, auf denen die Gäste teure Geschenke erhielten, sogar Uhren. Mutter erzählte mir, welch schlechter Geschmack das sei und daß meine Schwestern deshalb nicht dorthin dürften. Als eine ihrer Freundinnen daraufhin sagte, vielleicht sei es doch ganz gut, sich dort sehen zu lassen, antwortete meine Mutter: »Ich will, daß meine Kinder diejenigen sind, um deren Gegenwart man sich reißt.«
Ihre Neigung, so zu denken, bedeutete auch, daß sie auf den Durchschnitt, das UnprätenÜöse und Alltägliche herabsah. Diese negative Sicht auf das Normale und das gesunde Mittelmaß habe ich sehr stark verinnerlicht und sie hat nicht wenig zu meiner Verwirrung beigetragen. Denn ich wußte, daß ich eigentlich nichts von all dem war, was mir als erstrebenswert hingestellt wurde. Ferner wußte ich, daß ich mich in die Welt einfügen wollte, denn mir lag daran, von den Menschen in meiner Umgebung gemocht zu werden. Und doch übernahm ich wie meine älteren Geschwister einen großen Teil der Familienphilosophie. Ich kann mich noch erinnern, wie ich im College zu meiner Freundin Mary Gentry sagte, als wir über den Vassar-Campus gingen: »Magst du diese Mädchen hier?« Als sie ohne Wenn und Aber ja sagte, ging mir schlagartig auf, daß meine Maßstäbe suspekt sein könnten. Ich meinte, auf nette, normale Menschen herabschauen zu müssen und nur brillante Exzentriker bewundern zu können, und benötigte lange, um den Gedanken loszuwerden, daß ich anders sein müsse als die anderen. Ich mußte erst noch lernen, mich in Gegenwart ganz unterschiedlicher Menschen wohl zu fühlen und die anderen so zu nehmen, wie sie sind.
Ich kann nicht sagen, ich sei davon überzeugt, daß unsere Mutter uns wirklich geliebt hat. Gegen Ende ihres Lebens war auch ich in ihren Augen erfolgreich, und wahrscheinlich war es der Erfolg, den sie wirklich liebte. Gleichwohl fühlte ich mich meiner Mutter trotz all ihrer Vielschichtigkeit in meiner frühen Kindheit näher als meinem Vater, einer sehr zurückhaltenden und ziemlich schwierigen Gestalt. Ich mochte ihn gern, aber immer aus einer gewissen Distanz. Dabei war mein Vater eigentlich kinderlieb; und wenn überhaupt dergleichen stattfand, dann war es mein Vater, der mit uns herumtollte, als wir klein waren.
Meinem Vater fehlte zwar die Gabe zu Nähe und Wärme, doch seine tragende, fürsorgliche Liebe spürte ich trotzdem. Ohne es je deutlich auszudrücken, vermittelte er mir irgendwie das Gefühl, daß er an mich glaubte, und das war in meinem Leben das Aufbauendste, was ich überhaupt kannte. Dieser Glaube hat mich gerettet. Ich habe das allerdings erst im Rückblick erkennen können, denn unsere Beziehung brauchte lange, um zu wachsen.

Heikle Themen kamen bei uns zu Hause nur selten zur Sprache, drei Themen aber waren ausdrücklich tabu: Geld, die jüdische Identität meines Vatus und Sex. Niemals sprach irgendein Familienmitglied darüber. In der Tat wurde unter uns überhaupt nichts Schwieriges oder Persönliches besprochen. Die Abneigung, über unseren Reichtum zu sprechen, war so groß, daß unser Leben auf eine seltsam verquere Art eine recht spartanische Qualität besaß. Mit demonstrativen Besitztümern, teurem, aufwendigem Spielzeug oder exquisiten Kleidern wurden wir nicht überhäuft.
Ich besaß weniger als die meisten Mädchen in meiner Klasse, ganz bestimmt weniger Kleider. In der Gymnasialzeit war mein Kleiderschrank ziemlich leer: neben der Schuluniform ein oder zwei Pullover und Blusen sowie ein Sonntagskleid. Auch die Zuteilung des Taschengeldes wurde imiiier sehr strikt gehandhabt. Ich kann mich noch an ein Telegramm erinnern, das Bis meinem Vater aus Vassar sandte: »Schick schnell Geld oder ich bin pleite.« Das Antworttelegramm lautete lakonisch: »Dann bist Du pleite.« Die einzigen Diskussionen über den Reichtum, an die ich mich erinnern kann, hingen damit zusammen, daß wir gesagt bekamen, man könne nicht einfach ein reiches Kind sein, sondern müsse etwas dafür tun, nämlich nützliche, produktive Arbeit verrichten. Nichtstun war nicht gestattet. Auch in meinem Leben gehörte die Arbeit immer dazu.
Bemerkenswerterweise wurde auch die Tatsache, daß wir zur Hälfte jüdischer Abstammung waren, nicht häufiger erwähnt als Geld. Kaum zu glauben, aber ich hatte überhaupt kein Gespür für Antisemitismus, geschweige denn ein Bewußtsein der jüdischen Identität meines Vaters. Dabei glaube ich nicht einmal, daß dies Absicht war. Ich bin sicher, daß meine Eltern das Judentum meines Vaters vor uns weder bestritten noch verbargen, noch sich dessen schämten. Gleichwohl war das Thema offenbar so heikel, daß man es nicht offen besprach, geschweige denn, daß man Stolz über diese Herkunft zeigte. Wir besaßen sogar eine eigene Kirchenbank in der St. John's Episcopal Church, der Kirche der Präsidenten am Lafayette Square - hauptsächlich weil der Pastor ein Freund der Familie war. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, wurden wir Meyer-Kinder alle in einer häuslichen Zeremonie getauft, damit meine fromme lutherische Großmutter mütterlicherseits zufrieden war, die glaubte, daß wir ohne eine solche Vorsichtsmaßnahme alle in die Hölle gekommen wären. Ansonsten aber spielte die Religion in unserem Leben fast keine Rolle.
Eine der wenigen Erinnerungen, die ich überhaupt daran habe, daß meine jüdische Abstammung zur Sprache kam, betrifft ein Ereignis, als ich zehn oder elf war. Als in der Schule die Rollen für das laute Lesen von Shakespeares Der Kaufmann von Venedig verteilt wurden, schlug eine Klassenkameradin vor, ich solle doch den Shylock lesen, weil ich jüdisch sei. Und genauso unschuldig, wie ich einst meine Mutter gefragt hatte, ob wir Millionäre seien, nachdem jemand in der Schule dies meinem Vater vorgeworfen hatte, fragte ich sie nun, ob ich jüdisch sei und was das denn bedeute. Meine Mutter muß damals dem Thema ausgewichen sein, denn ich kann mich an ihre Antwort nicht erinnern. Die Verwirrung bezüglich der Religion war nicht nur auf mich beschränkt: Meine Schwester Bis erinnert sich noch, einst bei einem Mittagessen in unserer New Yorker Wohnung vor Gästen unverblümt gefragt zu haben: »Sag mal, wer ist denn dieser komische Jesus eigentlich, von dem alle reden?« Erst 1935, als Hitler bereits in aller Munde war, wurde ich auf dem College für das Thema Antisemitismus sensibilisiert.
Über das dritte Tabuthema unserer Familie, die Sexualität, wußte ich überraschend lange überhaupt nichts. Ich hatte keine Ahnung, was Sex war oder wie Babys gezeugt wurden. Unsere rigorosen Stundenpläne und sportlichen Übungsprogramme waren anscheinend bewußt so angelegt, daß wir keine Zeit hatten, viel über Sex nachzudenken. Ich habe meine Mutter einmal gefragt, was denn beim Sex wirklich vor sich gehe, und ihr erzählt, ich hätte von Sperma und Eiern gelesen, wüßte aber gern, wie das in der Praxis funktioniert. Ihre Antwort lautete: »Hast du denn noch nie Hunde auf der Straße gesehen?« Zwar hatte ich leider noch nie kopulierende Hunde gesehen, doch was hätte ich ihr anderes sagen sollen als »Ach ja, natürlich«? Damit war das Aufklärungsgespräch beendet. Als sich meine Mutter schließlich dazu durchrang, mit mir über die Periode zu sprechen und darüber, was es heißt »ehe Frau zu werden«, konnte ich nur erwidern: »Mutter, mach dir darum keine Sorgen, das ist bei mir schon einige Monate her.« Weil diese Dinge bei uns niemals thematisiert wurden, hatte ich so gut wie keine Ahnung von Geld, Religion und Sex. Seltsam, ich bekam natürlich mit, daß unsere Häuser groß waren und daß wir eine Menge Dienstboten hatten, doch daß wir reich waren, war mir nicht geläufiger als unsere jüdische Abstammung. In mancher Hinsicht war dieser Zustand geradezu bizarr, in anderer dagegen heilam Ebenso seltsam war, wie wenig wir über die praktischen Aspekte des Lebens beigebracht bekamen. Ich konnte die einfachsten Aufgaben und Hausarbeiten nicht erledigen. Ich konnte mich nicht richtig kleiden, nicht nähen, kochen, einkaufen; und ich konnte, was eigentlich noch wichtiger gewesen wäre, keine Kontakte zu anderen Menschen knüpfen, vor allem nicht zu jungen Männern.
Natürlich hatte ich immer genug zu essen, und auch an anderer Pflege mangelte es mir nicht. In der Tat erinnerte uns unsere Mutter ständig daran, wie glücklich wir doch dran seien und wieviel wir unseren Eltern zu verdanken hätten; wie weitsichtig und großartig mein Vater in seiner Fürsorge für uns alle sei. Wir konnten ja auch wirklich von Glück sagen, und wir waren wirklich sehr privilegiert. Überdies hatten wir Eltern, die solide Werte vertraten. Unser Interesse an Kunst, Politik und Büchern wurde geweckt. Doch in all diesen Bereichen spielten auch meine eigenen Gefühle der Unfähigkeit und Minderwertigkeit eine große Rolle nicht nur meiner Mutter, sondern auch meinen älteren Geschwistern gegenüber. Meiner Meinung nach sah ich als Heranwachsende meine eigenen Vorzüge und Fähigkeiten ziemlich realistisch Ich war nicht sehr hübsch. Schon früh schoß ich ziemlich in die Höhe und fand mich deshalb unvorteilhaft. Auch glaubte ich nicht, daß ich Hervorragendes leisten könne, und war sicher, nie einen wirklich liebenswerten Mann für mich begeistern zu können einen Mann, dem meine Eltern und Geschwister nicht mit Herablassung begegneten.
In all der familiären Unruhe und in unserer seltsamen Isolation sowohl von unseren Eltern als auch von der Außenwelt waren wir Kinder uns letztlich selbst überlassen. Emotional und intellektuell mußten wir uns selbst erziehen. Wir führten ein Leben, in dem es von Ambivalenzen nur so wimmelte. Und darum fiel es uns nicht leicht, eine eigene Identität zu entwickeln und zu behaupten.
Die Frage, wer wir wirklich waren und welches unsere geistigen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen waren, blieb für uns eine stete Quelle der Beunruhigung. Das belastende Erbe meiner seltsamen Kindheit bestand aus einem Gefühl, das wir bis zu einem gewissen Grad alle kannten: dem Glauben, die Dinge irgendwie immer nicht ganz richtig zu machen. Habe ich das Richtige gesagt? Hatte ich das Richtige an? War ich attraktiv'? Solche Fragen ließen mich nie recht zur Ruhe kommen und beanspruchten viel Aufmerksamkeit. Ich war sehr mit mir selbst beschäftigt, manchmal auch von dieser Unsicherheit überwältigt, und das blieb mein ganzes Erwachsenenleben über so - bis ich schließlich die Geduld verlor und mich nicht länger ständig mit meiner Vergangenheit auseinandersetzen wollte.