Chang, das Teufelszeug

Der nächste Morgen war so kalt, dass der Reißverschluss an meinem Zelt, der am Abend zuvor nass geworden war, eingefroren war und ich einige Schwierigkeiten hatte hinauszukommen. Der Tag war klar und sonnig, doch hinter dem Rand des Beckens tauchten schon wieder einige verdächtig aussehende Wolken auf. Ohne auf das Frühstück zu warten, zogen Betty, Evelyn und ich uns schnell an und machten uns auf den Weg zu dem Steinhügel auf dem »Pass« oben, um zu fotografieren. Wir hofften inständig, den ganzen Jugal Himal überblicken zu können und den Bergen nahe genug zu sein, um alle Eindrücke, die wir während unseren Erkundungstouren dort gewonnen hatten, auch im Bild festzuhalten. Ich ging mit schnellen Schritten voraus, da ich sicher war, dass die Wolken schnell heraufziehen würden. Vom Pass aus war es nicht möglich, die Berge zu sehen, also eilte ich oben um den Beckenrand herum, bis ich an einen Punkt gelangte, von dem aus der Jugal Himal deutlich zu erkennen war. Leider hatten sich die Gipfel schon wieder in einen Wolkenschleier gehüllt. Ich machte einige Fotos, war aber nicht ganz bei der Sache, wie die Ergebnisse später zeigten. Dann ging ich langsam wieder zum Lager hinunter. Ich hatte zu viel Heimweh nach den Bergen, um noch länger dazubleiben und mit den anderen über sie zu reden. Als Betty und Evelyn die gleiche Stelle erreichten, warteten sie klugerweise, in der Hoffnung, die Wolken würden zumindest so weit aufreißen, dass sie ein paar lohnende Fotos schiegen konnten. Dies geschah auch, und einige wirklich gute Aufnahmen des Jugal Himal und ein oder zwei ausgezeichnete Bilder von Panch Pokhari belohnten ihre Geduld. Doch wir konnten an diesem Tag nichts Unbekanntes aus dem Jugal dokumentieren. Das Bungalowzelt war auf unseren Wunsch hin als Badezimmer reserviert worden. Wir wuschen uns der Reihe nach darin und zogen passendere Kleider für die zu erwartende Hitze auf unserer Reise nach Kathmandu an. Das hieß, dass wir uns von unseren unbezahlbaren Netzhemden trennen mussten, die wie eine zweite Haut gewesen waren. Ich fühlte mich ganz nackt und schutzlos, als ich meines abstreifte und mit einem Seufzer in meiner Reisetasche verstaute. Tadellos sauber tauchten wir wieder auf und gingen zum größten Pokhara hinunter, um unsere Haare zu waschen.
                                                                                     Dach der Welt

Das Wasser war furchtbar kalt, so eisig, dass wir vorübergehend unter Nervenschmerzen litten, die jedoch nach einer entsprechenden Behandlung wieder verschwanden. Die Behandlung bestand aus einem üppigen Frühstück: Käseomelett, Kartoffeln, Keksen und Marmelade. Da wir ihren Hang, Pausen zu machen und herumzusitzen, kannten, schickten wir die Sherpas schon voraus, nur Mingma, Murari, Nima Lama und Bahu blieben bei uns. Etwa um Viertel nach zehn brachen wir widerwillig auf, da es uns wahrhaftig nicht leicht fiel, das zauberhafte Panch Pokhari zu verlaßen. Wir folgten dem Pfad, »der breit genug für ein Yak« war, und kamen zu dem Schluss, dass Mingmas Yaks wohl weitaus aktiver als die meisten sein mussten. Zunächst führte der Weg lange Zeit steil nach unten, was sehr entmutigend war, da wir den Chang Samaphu vor uns sehen konnten; er sah recht hoch aus, und wir wussten, dass unser nächstes Lager auf halber Höhe zu ihm hinauf lag. Nach etwa einer halben Stunde holten wir die anderen ein, die sich in ihren bevorzugten Ruhepositionen befanden, und gingen alle zusammen weiter.
Zuerst querten wir die Berghänge in dichtem Nebel, doch später klärte sich das Wetter auf, und wir hatten einen wunderbaren Tag, auf schmalen Kämmen entlangwandernd, rechts das lndrawati-Tal und links das des Balephi. Die Hänge waren mit blühenden Rhododendronbüschen bewachsen. Murari und ich pflückten sträflicherweise große Sträuge davon, obwohl wir wussten, dass sie nicht lange halten würden. Wir konnten den ungewöhnlicheren Farbtönen von Malve und Violett und auch den reinen schneeweißen Blüten einfach nicht widerstehen. Am Spätnachmittag kamen wir an eine Stelle mit grünem Gras, und Nima Lama verkündete, dies sei der Lagerplatz, den wir gesucht hatten. Mingma zog los, um nach Wasser zu sehen, während wir alle besorgt warteten. Wir hatten gewusst, dass es ein Glücksspiel sein würde, Wasser in den Hochlagen des Nauling Lekh zu finden, und wären nicht auf diesem Weg zurückgekehrt, wenn uns die Sherpas aus Tempathang nicht versichert hätten, dass sie wüssten, wo ganzjährige Quellen zu finden seien. Eine Reihe schriller Pfiffe sagte uns, dass unser Vertrauen in die Sherpas gerechtfertigt war - bis jetzt zumindest. Mingma hatte einen Bach gefunden. Er war nicht nahe genug an dem Grasplatz, um das Lager dort auf freiem Feld aufbauen zu können, deswegen gingen wir Mingma nach und stellten unsere Zelte auf einer sanft ansteigenden Lichtung in einem Rhododendronwald auf. Hier gab es viel Wasser in dem Bach - sogar einen kleinen Wasserfall - und Feuerholz im Überfluss. Betty und ich begannen - ihrer Aussage zufolge wie französische Aristokraten, die ihre Kühe in Versailles molken - Stöcke zu sammeln. Es war ein schöner Zeitvertreib, aber unnötig, da Feuerholz überall greifbar herumlag. An diesem Abend machten wir ein schönes großes Feuer und saßen um es herum, sogar als der Regen durch die Bäume herunterklatschte und in die Glut zischte. Der nächste Morgen war warm, und zum ersten Mal seit Wochen hatten wir nichts dagegen, aus unseren Schlafsäcken zu kriechen. Nima Lama zeigte uns wieder den Weg, und wir folgten ihm durch den Wald bergauf und über die Schulter des Chang Samaphu.
Manchmal konnten wir zwischen den Bäumen hindurch einen wunderschönen Blick auf den Jugal erhaschen, doch bis wir wieder offenes Gelände erreicht hatten, war die Sicht schon durch Wolken getrübt. Trotzdem lernten wir von hier aus mehr über den Jugal im Vergleich zum Langtang und dem Gauri Shankar Himal als von irgendeinem anderen Punkt unseres Rückwegs aus. Wir befanden uns nun auf dem eigentlichen Nauling-LekhGebirgszug und genossen den ganzen Tag die sonnige Gratwanderung in einer Höhe von ungefähr 3000 Metern. Blumen blühten überall entlang des Pfades; am häufigsten war ein recht großes kornblumenblaues Gänseblümchen. Bei einer Pause begann ich eine Kette daraus zu reihen und war überrascht festzustellen, dass Sherpa-Kinder dies nicht tun. Schließlich waren alle Sherpas - sowohl jene aus Sola Khombu als auch die aus Tempathang - höchst fasziniert, und für den Rest des Tages war das Knüpfen von Blumenketten angesagt. Sogar Mingma machte eine, wenn auch unter dem Vorwand, mir bei meiner zu helfen. Arig Temba, der nicht auf seine Ehre achten musste, machte die neue Mode begeistert mit und hängte sich Blumenketten um den Hals, über die Ohren, seine Mütze und in die Knopflöcher, bis er aussah wie ein Überbleibsel vom Karneval in Nizza. Unsere ausgelassene Stimmung begann zu schwinden, als wir beim nächsten Lagerplatz überhaupt kein Wasser fanden. »Macht nichts«, sagte Nima Lama. »Es gibt einen anderen Platz, nur zwei Stunden weiter, und dort gibt es immer Wasser.« In diesem Moment begegneten wir ein paar Dorfbewohnern aus einem kleinen Weiler etwas weiter den Berg hinunter, die im Wald Bambusrohr geschlagen hatten. Als wir sie fragten, machten sie sich über unsere Vorstellung lustig, dass wir überhaupt Wasser auf unserer Route finden würden. Unser Mut sank, es blieb uns jedoch nichts anderes übrig, als weiterzugehen und das Beste zu hoffen.
Der Lagerplatz war nicht gerade begeisternd. An einem kahlen Abhang standen zwei dachlose Unterstände für Pilger, und etwa einen halben Kilometer entfernt davon lag neben dem Pfad ein Platz, wo ein paar Tagen voll schlammiger Flüssigkeit aus einer Böschung in ein Loch sickerten, das ungefähr so groß wie ein Suppenteller war. Das sollte unsere Wasserversorgung sein, und selbst der optimistischste Sherpa musste zugeben, dass sie, zumindest für eine Gruppe unserer Größenordnung, völlig unzulänglich war. Bei diesem Anblick verspürten wir alle sofort großen Durst. Als Erstes mussten wir feststellen, wie viel Wasser wir aus der Quelle bekommen würden. Wir schöpften das Wasser ab, bis nichts mehr kam, und rationierten es. Es ergab ungefähr eine Vierteltasse voll für jeden, wobei nichts zum Kochen übrig blieb. Verärgert und schimpfend stellten die Sherpas die Zelte auf. Sie wollten sie unter den Unterständen aufbauen, obwohl ich überhaupt nichts von dieser Idee hielt. Doch ich fühlte mich zu niedergeschlagen, um zu widersprechen. Die Stimmung der Expeditionsteilnehmer befand sich insgesamt an einem Tiefpunkt. Nur einer konnte unserem Dilemma etwas Gutes abgewinnen. Es gab nichts, was Ang Temba mehr erfreute, als eine nette kleine Katastrophe. Nichts Ernstes natürlich, sondern nur irgendein Ereignis, das ein gewisses Unbehagen verursachte. Bei dieser Gelegenheit kam er zur Vorderseite unserer Zelte und fand die Memsahibs bedrückt beim Bonbonlutschen, weil sie nichts Besseres zu tun hatten. Energisch deckte er den »Tisch« mit Bechern und Tellern, Keksen, Sardinen und Marmelade und zog Messer, Gabeln und Löffel aus den verschiedenen Taschen heraus, in denen er sie zu Essenszeiten immer für uns aufbewahrte. Dann stellte er sich vor uns in Position und verkündete mit der gleichen Stimme, die er normalerweise für seinen Singsang »Tee? Kaffee?« usw. benutzte: »Memsahibs, kein Tee! Kein Kaffee! Kein Orangensaft! Kein Horlick! Keine Bouillon! Kein Kakao!« Noch bevor er geendet hatte, überwältigte ihn die Komik der Situation in solchem Maße, dass er sich auf die Oberschenkel schlug und lachte, bis ihm die Tränen kamen. Seine gute Laune war derart ansteckend, dass wir einfach mitlachen mussten. Sherpas finden sich nicht leicht mit einer Niederlage ab, und die Männer aus Tempathang waren nicht gewillt, ohne ihren Reis ins Bett zu gehen, wenn es nicht unbedingt sein musste. Ein paar von ihnen zogen los, den Hang hinunter, um ein Dorf ausfindig zu machen, und stiegen tatsächlich auf eines, das ungefähr drei Kilometer entfernt war. Dort füllten sie ihre Kanne mit Wasser und kamen triumphierend zurück. Als Mingma das sah, schickte er umgehend Bahu mit unserer größten Wasserkanne und der Thermoskanne hinunter.
Zur Freude, Dankbarkeit und Erleichterung aller brachte er beide Behälter gefüllt zurück. Er brachte auch einen Frosch mit, der in einer Büchse versteckt war. Die Sherpas forderten mich auf, sie zu öffnen, zweifellos in der Hoffnung, eine befriedigende Reaktion hervorzurufen. Da ich jedoch Frösche mag, zuckte ich nicht mit der Wimper. Außerdem war ich bereit, ihn anzufagen, was sie selbst nicht wollten. Betty und Evelyn waren genauso unbeeindruckt wie ich, und obwohl Bahu mit dem armen Tier seine Runden drehte, funktionierte sein Scherz nur bei Ang Droma, die einen entsetzten Schrei ausstieg und davonlief - zur Schande ihres Geschlechts. Evelyn und ich wurden am nächsten Morgen von Bettys Bewunderungsschreien geweckt, und es bot sich uns ein fantastischer Anblick, als wir aus den Zelten kamen. Der ganze Jugal und Langtang Himalaya erhob sich wie ein prächtiger Fries in den Himmel über dem Gipfel des Chang Samaphu. Wir fotografierten und wiesen uns gegenseitig auf markante Punkte hin, denen wir begegnet waren. Wir konnten sogar den Berg sehen, den wir bestiegen hatten, eine kleine Kuppe hinter dem Dorje Lakpa und dem Großen Weißen Gipfel (Big White Peak). Wir betrachteten diese Kuppe mit gemischten Gefühlen, zwischen Zuneigung und Missbilligung, als ob sie, wie Betty es ausdrückte, ein recht unbedeutender, armseliger Verwandter sei. Es war ein traumhafter Tag, und wieder einmal war der Marsch größtenteils eine reine Freude, auch wenn es am Nachmittag unangenehm heiß wurde, als wir immer weiter in die niedrigeren Lagen des Nauling Lekh in Richtung Okhreni vordrangen. So hieß der SherpaOrt, in dessen Nähe wir auf dem Hinweg nach Tempathang unser drittes Lager aufgeschlagen hatten, bevor wir nach Osten zum Balephi Khola abgebogen waren. Als das Dorf in Sicht kam, eilte Mingma, gefolgt von anderen Sherpas, zielstrebig voraus. Wollte er schon einmal das Lager vorbereiten und Tee kochen? Natürlich nicht. Er war auf der Suche nach Chang. Wir drei Frauen durchquerten mit Murari das Dorf und ein Stück Rhododendronwald, in dem wir glücklicherweise einige schnell fließende Bäche entdeckten, und gingen zu der Wiese, die uns das letzte Mal als Lagerplatz gedient hatte. Von allen, außer unserem treuen Murari, verlaßen, warteten wir hier über zwei Stunden. Zwar hatten wir uns auf eine Wartezeit eingestellt, da es keinen Grund gab, warum die Sherpas sich nicht ein wenig »erfrischen« sollten, doch das war etwas zu viel des Guten. Als unser Sirdar endlich aufkreuzte mit der Erklärung, er sei nur geblieben, um die Nachzügler einzusammeln, die ansonsten immer noch in der Chang-Bar wären -, musste er sich anstrengen, um die drei zornigen Memsahibs wieder für sich einzunehmen. Wir waren nicht so leicht zu besänftigen, auch wenn die Szene um uns herum uns wohl unwiderstehlich komisch vorgekommen wäre, wenn wir nicht so erhitzt, durstig und verärgert gewesen wären.
Auf Anraten der Sherpas gingen wir zu einer höher gelegenen Wiese weiter, wo es kühler war. Es stellte sich heraus, dass dieser Platz so etwas wie ein örtlicher Piccadilly Circus war. Andauernd wurde er von Dorfbewohnern auf ihrem Heimweg von den Bergen überquert. Sie trugen Bündel aus Stöcken, Gras oder Blättern und trieben ihre Herden vor sich her. Vor jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind hielten sie an, um ihnen hinterherzustarren, während ihr Vieh unbeaufsichtigt im Lager herumspazierte. Es war ein Chaos. Ziegen verfingen sich in den Zeltschnüren, Babys krabbelten in die Zelte, und Rinder stolperten in die Suppe. Hunde bellten, leicht betrunkene Sherpas wedelten zögernd mit den Armen, um die Eindringlinge abzuwehren, und über allem hing eine dichte Staubwolke. Kusung, der die Zuschauer weiter von unseren Zelten wegscheuchen sollte, stellte sie in einer Reihe auf und hielt eine Rede, deren Hauptaussaee darin lag, dass er ein Sherpa aus Sola Khombu sei, wo Männer noch Männer seien und zudem noch gute Bergsteiger. Aus seinen Gesten schlossen wir, dass er fortfuhr zu beschreiben, wie er und seine Kameraden so manchen Tag auf einem beängstigenden Gletscher oder Gipfel gerettet hätten. Immer wieder hörten wir ungläubige Zwischenrufe und Einwürfe, die zweifelsohne die Nepali-Version von »Das kannst du deiner Großmutter erzählen« waren. Die ganze Situation war eine einzige Farce, und Kusung wirkte so herrlich komisch, dass es vorbei war mit unserer Ernsthaftigkeit. Wir brachen in schallendes Gelächter aus. Als er sah, dass wir uns entspannten und wieder ansprechbar waren, kam Mingma umgehend zu uns. Die TempathangMänner, sagte er, wobei er sich selbst mit einem bedeutsamen Schulterzucken von ihnen distanzierte, beschwerten sich, dass ihre Fußsohlen von dem heißen Boden verbrannt seien. Daher wollten sie sehr früh am Morgen aufbrechen und nur bis zum Mittag marschieren, nicht länger. Ob wir damit einverstanden seien? Selbstverständlich, gaben wir zur Antwort, wenn sie ihrerseits dazu bereit seien, nicht ständig anzuhalten und uns am Ende stundenlang warten zu lassen. Mingma, der offensichtlich nicht erwartet hatte, dass wir so schnell einwilligen würden, grinste breit und versicherte uns, die TempathangMänner würden glücklich sein, wenn er ihnen erzähle, dass ihr Vorschlag angenommen worden sei. Wir vereinbarten, um vier Uhr morgens aufzustehen und noch vor fünf Uhr dreißig wieder unterwegs zu sein.
Die Nacht war furchtbar. Die Sherpas hatten anscheinend einen Vorrat an Chang beiseite geschafft, da sie bis weit nach Mitternacht herumgrölten und johlten, während ein Hund die ganze Zeit bis in die frühen Morgenstunden wie verrückt bellte. Wir lagen wach in unseren Zelten und hatten glücklicherweise keine Gewehre bei uns. Der Hund hätte wohl als Erster dran glauben müssen, doch es war unmöglich zu sagen, wo die Schießerei, einmal begonnen, geendet hätte. Doch so konnten wir nur die Zähne zusammenbeißen und alle Männer und Hunde verfluchen, die sich nicht an die üblichen Zeiten hielten und das auch noch jeden wissen ließen. Als es vier Uhr war, standen wir dankbar und erleichtert auf und zogen uns schnell an. Wir waren gespannt auf die Überreste der nächtlichen Raserei. Kurz nach fünf hatten wir alles hinter uns gelassen, und es war sehr angenehm, in der frischen Morgenluft dahinzuwandern und zuzusehen, wie die aufgehende Sonne am Horizont allmählich die Berggipfel erreichte. Um acht Uhr kamen wir nach Nawalpur. Wir waren glücklich über unser schnelles Vorankommen und darüber, dass unser neues System des Frühaufstehens so erfolgreich war. Doch hier erlitten wir einen Rückschlag. Die Sherpas aus Tempathang wollten im Dorf Halt machen, anscheinend um die Lebensmittelversorgung für ihren Rückweg zu klären. Dies stimmte möglicherweise auch, allerdings merkten wir bald, dass es noch andere Gründe für diese Pause gab, die dringlicher und nicht ganz losgelöst von dem Teufelszeug Chang waren. Einer nach dem anderen huschten unsere Freunde davon, versuchten dabei ganz lässig und unbeteiligt auszusehen und verschwanden in Chang-Bars. Nawalpur war kein besonders ansprechender Ort, und seine Einwohner schienen sich auch nicht sonderlich über unsere Anwesenheit zu freuen. Wir hatten uns so daran gewöhnt, überall in Nepal mit offenen Armen empfangen zu werden, dass die Gleichgültigkeit, der wir hier begegneten, uns fast beleidigend vorkam. Wir redeten uns ein, dass wir uns nun unter »kultivierteren« Menschen befanden, die wohl schon einige Fremde vor uns gesehen hatten, aber das tröstete uns nicht ganz. Wir waren eben verwöhnt. Die Sonne brannte inzwischen heiß vom Himmel, und nachdem wir mehr als eine Stunde herumgesessen hatten und Mingma zweimal erschienen war, um - im Namen der Tempathang-Männer - für weitere »fünf Minuten« um Nachsicht zu bitten, stellten wir ein Ultimatum. Wir wollten zum Indrawati hinunter. Sollten wir dort nicht in Kürze von der gesamten Mannschaft eingeholt werden, wären wir ernstlich böse. Nachdem wir diese wenig überzeugende Drohung ausgesprochen hatten, sammelten wir Murari, Kusung, Chhepala, Ang Droma und ein oder zwei andere Sherpas ein, die entweder ihr Pflichtbewusstsein rief oder (was wahrscheinlicher war) die kein Geld mehr hatten, und verließen Nawalpur recht aufgebracht. Diesmal würden wir nicht den Fehler begehen, die Fähre nicht zu benutzen.
Wir fanden genau heraus, wo sich ihre Anlegestelle befand, und nahmen die schnellste Route bis dorthin den Berg hinunter. Unterwegs wurden wir von Mingma, Ang Temba und einigen anderen Sherpas eingeholt. Die übrigen folgten nicht weit dahinter. Wir hofften, es war unser resolutes Auftreten, das sie gehörig beeindruckt hatte. Mittlerweile hatte die brennende Sonne den steinigen Boden noch mehr erhitzt, so dass die Sherpas aus Tempathang sich ihre nackten Fußsohlen verbrannten. Da sie in Höhenlagen leben, wo es nicht besonders heiß wird, und immer gras- oder moosbewachsene Pfade benutzen, sind sie nicht so gegen die Hitze abgehärtet wie die Dorfbewohner aus den niedrigeren Bergen und den Tälern. Daher litten sie arg, besonders als wir den glühendheißen silberfarbenen Sand des Indrawati-Flussbettes überquerten. Wir unterdrückten die Bemerkung, die uns auf der Zunge lag: »Wir wollten ja früher losgehen.« Die Fähre war ein Einbaum, der von zwei Männern mit Stangen geschickt durch die schnell fließende Hauptströmung gelenkt wurde. Hatte man die hinter sich, musste man noch ein Stück bis zum gegenüberliegenden Ufer waten beziehungsweise von Stein zu Stein springen. Da nur vier Personen gleichzeitig mit ihren Lasten in das Boot passten, dauerte es einige Zeit, bis unsere Gruppe wieder an der anderen Seite des Flusses versammelt war. Die Tempathang-Sherpas luden sogleich ihre Lasten auf und marschierten wie von unsichtbaren Fäden gezogen auf das nahe gelegene Dorf zu. Es war inzwischen Mittag, und wir waren bereit, uns an die Abmachung zu halten und das Lager aufzubauen. Allerdings nicht neben dem Dorf! Vom anderen Ufer aus hatten wir einen großen Baum, der in dieser trockenen Landschaft auffallend ins Auge stach, ungefähr zwei Kilometer flussabwärts hinter dem Dorf gesehen. Wir hatten diese Stelle Mingma, Nima Lama und anderen als guten Lagerplatz vorgeschlagen, und sie hatten uns zugestimmt. Doch es schien, als ob das Dorf, das wie eine personifizierte Versuchung unseren Weg querte, ein zweites Nawalpur zu werden drohte. »Mingma«, sagte ich, »wir werden in diesem Dorf nicht anhalten. saß das allen!« - »Ja, Memsahib«, erwiderte er und sah verzweifelt von einer Seite zur anderen. Er konnte lange schauen, denn es war niemand mehr zu sehen. Sie waren alle schon längst in den Chang-Bars verschwunden.
Mir wurde bewusst, dass der arme Mingma sogar noch weniger Kontrolle über die Männer aus Tempathang hatte, als wir dachten. Ein Wort von ihm genügte, und sie taten, was sie wollten. Wir näherten uns dem Dorf, und Murari sorgtefür Unterhaltung, indem erbeim Überqueren eines Nebenarms des Indrawati unvermutet und in voller Montur ins Wasser fiel. Als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten, hielten Betty, Evelyn und ich an. Wir waren nun allein, nur in Begleitung eines Mückenschwarms. Würden wir weitergehen, müssten wir vielleicht ein paar Stunden lang warten, wie in Okhreni. Blieben wir hier, müssten wir diese unangenehme Situation mindestens eine Stunde lang aushalten, wie in Nawalpur. Es sah so aus, als ob wir ganz umsonst so früh aufgestanden waren. Mir wurde die Ungerechtigkeit uriserer Lage bewusst, und ich entschied mich, ganz nachdrücklich mit den Sherpas darüber zu sprechen. Ich erklärte den anderen, ich würde gleich wiederkommen, und kehrte ins Dorfzentrum zurück. Die Tempathang-Sherpas saßen alle in einer Chang-Kneipe und starrten unbewegt auf Murari, der ihnen eine Strafpredigt hielt. Mingma und unsere anderen Sherpas, die irgendwo diskret Eier und Kartoffeln einkauften, waren nirgends zu sehen. Murari schien erleichtert, als er mich sah. »Sie wollen nicht mitkommen, Memsahib«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Sie sagen, ihre Füße seien wund.« »Hör mal«, erwiderte ich fest und bedachte die Sherpas mit einem vorwurfsvollen Blick, »du kannst ihnen sagen, dass wir bereit waren, um vier Uhr morgens aufzustehen, weil uns ihre Füße Leid taten. saß ihnen, wir würden die ganze Nacht hindurch marschieren und am Tag schlafen, wenn ihnen das lieber sei, aber frag sie, ob sie es fair finden, dass sie uns unseren Schlaf rauben, um dann später herumzusitzen und Chang zu trinken, bis der Boden zu heiß geworden ist, um darauf zu laufen. saß ihnen, sie könnten nicht beides haben.«
Nepali ähnelt Hindustani so weit, dass ich den Sinn jedes einzelnen von Murari übersetzten Satzes verstehen konnte. Er hielt sich eng an die ursprüngliche Aussage, und als er geendet hatte, hielt ich den Atem an und wartete gespannt auf die Wirkung dieser Worte auf die Sherpas. Zuerst sahen sie mich an, dann sich gegenseitig, mit hochgezogenen Augenbrauen. Dann breitete sich - zu meiner übergroßen Befriedigung - ein Grinsen auf ihren Gesichtern aus, sie nickten zustimmend und erhoben sich. Es war ein vernünftiges Argument, und sie waren vernünftige Männer. Sie würden mitkommen. Ich ging kein Risiko ein und blieb bei ihnen, bis wir den Baum erreicht hatten. Als wir dort ankamen, gab ich versöhnlich eine Runde Glukosetabletten aus. Dieses Lager oberhalb des Indrawati hatte viele Nachteile. Es lag zu nah am Weg nach Kathmandu, so dass wir permanent von Schaulustigen umgeben waren, die Fragen stellten, Zigaretten erbettelten und unsere Aussprache der Ortsnamen korrigierten. Es gab Tausende von Fliegen, und nachts umschwirrten uns die Moskitos. Zudem hatten wir nicht viel Platz, und es war sehr heiß. Es gab allerdings einen großen Vorteil, der alles andere aufwog: der Fluss. Innerhalb kurzer Zeit begannen die Sherpas in Zweier- und Dreiergrüppchen zu nahe gelegenen Becken hinunterzugehen, die Männer aus Sola Khombu nahmen sogar solche Attribute der Zivilisation wie Seife und Handtücher mit. Betty, Evelyn, Ang Droma und ich taten uns schwer, einen Platz für uns allein zu finden, und mussten weit gehen. Als wir endlich an eine passende Stelle gelangten, wuschen wir unsere Haare, wateten dann ins Wasser und legten uns hinein wie Wasserbüffel, nur unsere Nasen schauten noch heraus. Dies traf zumindest für uns Memsahibs zu. Ang Droma, die kein geeignetes Badekostüm hatte, tauchte nicht ganz unter, obwohl sie sich gründlich wusch. Badeanzüge waren tatsächlich vonnöten, da die Abgeschiedenheit dieses Ortes nur relativ war. Die Leute beobachteten uns neugierig, hielten sich mit ihren Fragen jedoch höflich zurück, bis wir vollständig angezogen waren und unsere Haare kämmten. Dann stürzten sie sich allerdings auf uns.
Wir gingen zum Lager zurück, wo wir ein denkwürdiges Mahl mit gebratenem Huhn bekamen. Als Hauptgericht war uns so ziemlich alles ausgegangen, bis auf das Trockenfleisch, von dem wir einen unerschöpflichen Vorrat zu haben schienen und das wir nie wieder essen wollten. Das Huhn war klein und sehnig, doch im Vergleich zu Trockenfleisch ein richtiges Festessen. An diesem Abend gingen Evelyn und ich noch einmal schwimmen, um uns für die Nacht abzukühlen. Das Becken, in das wir hineintauchten, roch ein wenig ungut, doch wir waren schon lange nicht mehr wählerisch. Ins Wasser einzutauchen, genügte uns. Am nächsten Morgen standen wir um vier Uhr dreißig auf, und ein beschwerlicher Tag lag vor uns. Wir mussten den letzten hohen Bergrücken überqueren, die Wasserscheide zwischen dem Indrawati- und dem Kathmandu-Tal. Eine Zeit lang folgten wir einem Bach und stiegen dann stundenlang einen Gebirgsvorsprung höher und höher hinauf. Es wurde sehr heiß, auch wenn es auszuhalten war, da wir die ganze Zeit in höhere kühlere Lagen vordrangen. Schließlich kamen wir oben an und sahen den Platz, wo wir auf der Hinreise Lager 1 errichtet hatten. Danach war der Weg nicht mehr so steil, aber immer noch genauso staubig und ungeschützt der Sonne ausgesetzt. Wir kamen zu einem großen Dorf, wo die Sherpas anhielten, um sich mit Lebensmitteln und Chang zu versorgen. Ich sagte zu Nima Lama: »Versprich mir, nicht zu lange zu bleiben. Nicht länger als eine halbe Stunde!« Auf meiner Uhr zeigte ich ihm, was eine halbe Stunde bedeutete. Er nickte und lächelte zustimmend. Wir drei Memsahibs gingen weiter und stoppten an einer Stelle am Wegrand, wo wir zufällig den Hinterhof der Chang-Kneipe überblicken konnten. Wir hatten eine gute Aussicht auf die essenden und trinkenden Sherpas und beneideten sie fast. Doch Im Gegensatz zu den Sherpadörfern waren diese niedriger gelegenen nepalesischen Ansiedlungen extrem schmutzig, und wir hatten keine Lust, unsere gute Gesundheit im letzten Moment noch zu ruinieren. Als die halbe Stunde vorbei war, sahen wir Mingma bei dem vergeblichen Versuch, die Männer mit seinen »Lo, lo, lo«Schreien zum Aufstehen zu bewegen. In der Hoffnung, meinen Erfolg vom Vortag wiederholen zu können, rannte ich zurück und ging auf den Hof der ChangBar. Es war ein vergammelter Ort, und überall auf der Veranda waren Chang-Pfützen. Zwischen ihnen lag ein schlafendes Baby, um dessen Augen und Nasenlöcher sich die Fliegen sammelten.
Die Männer tranken Reisbier, so dick wie Hafergrütze und wahrscheinlich auch sehr nahrhaft. Sie boten mir etwas davon an, doch ich entgegnete wahrheitsgemäg, ich würde mich nicht trauen, da mein Magen das sicher nicht vertragen könnte. Dann erinnerte ich Nima Lama an sein Versprechen. Die Männer aus Tempathang erhoben sich sanft wie Lämmer und schulterten ihre Lasten. Ich hätte sie umarmen können, obwohl ich zu behaupten wage, dass Mingma diesbezüglich nicht einer Meinung mit mir war. Er war eine gutmütige Seele und machte seinen Einfluss nicht so gern geltend, und ich glaube, die humorvolle Unabhängigkeit der Tempathang-Männer war für ihn eine Herausforderung, mit der er nicht gerechnet hatte. Wir sahen ihm an, dass er manchmal befürchtete, sie würden - wenn man sie zu sehr bedrängte - einfach ihre Lasten hinschmeißen und heimgehen. Sie konnten tatsächlich sehr provozierend sein. Einmal, als wir alle abmarschbereit waren und unsere Sherpas aufstanden und »Lo! Lo! Lo!« schrieen, sah ich, wie einer der Tempathang-Burschen bedächtig eine Zigarette herausholte und sie anzündete. »Wir sind noch nicht fertig«, sagte er mit einem süffisanten Lächeln. »Seht Ihr nicht, dass wir noch am Rauchen sind?« Trotzdem schien es mir, als ob sie eine wohl überlegte und faire Bitte verstehen und auch schätzen konnten. Wir marschierten immer weiter, durch Dörfer und schattenlose Terrassenfelder mit kräftigen Maispflanzen, doch nirgends konnten wir einen möglichen Lagerplatz entdecken. Inzwischen kam die Anhöhe der Wasserscheide in Sicht, ein unbepflanztes parkähnliches Plateau, das mit Gras und Dornengestrüpp bewachsen war, und wir fragten uns wehmütig, ob wir wohl die Sherpas davon überzeugen könnten, bis dorthin weiterzugehen. Vorsichtig erkundigte ich mich bei Nima Lama, ob er dächte, wir würden dort Wasser finden. Wenn ja, sei dies nicht ein guter Lagerplatz? Ich war überrascht und erleichtert, als er sagte, es gäbe tatsächlich genug Wasser dort oben, und es sei ein ausgezeichneter Ort zum Zelten.
So gelangten wir schließlich nach ein paar weiteren »Trinkpausen« (die wir ihnen jedoch gönnten, da wir ja unseren Kopf durchgesetzt hatten, bis zu dem unkultivierten Gelände weiterzumarschieren, obwohl Mittag schon lange überschritten war) zu der schönen Anhöhe, weit entfernt von den vielen Menschen und Dörfern, und stellten unsere Zelte auf einer Kuppe in der Nähe eines klaren Baches auf. Dieser Ort war kein Vergleich mit Pomba Serebu oder Panch Pokhari, aber er war ruhig und friedlich, und es ging eine angenehme Brise. Am Nachmittag spannten wir das Palomine-Zelt auf und lagen auf dem Rücken in seinem Schatten. Eine Sache mussten wir an diesem Tag noch regeln. Tags darauf würden wir die Stadt Sankhu erreichen, und wir hatten keine Lust, uns mitten auf dem Marktplatz wiederzufinden und von allen angestarrt zu werden, während die Sherpas ihren Durst löschten. Wir hatten allerdings auch nicht die Absicht, allein weiterzugehen und unsere Sherpas (und ganz nebenbei noch unsere gesamte Ausrüstung) unbeaufsichtigt zurückzulassen. Deshalb beschlossen wir, dass ich den »Betriebsrat« einberufen sollte. Ich machte mich also auf die Suche nach Mingma, Murari und Nima Lama. Doch wenn ich gedacht hatte, dies sei ein privates Treffen mit den »großen Drei«, so hatte ich mich getäuscht. Im demokratischen Sherpaland gibt es weder Kasten noch Klassen, und keiner unserer Männer betrachtete sich als einfachen Arbeiter. Als sie sahen, wie die Mitglieder des Komitees beiseite genommen wurden, kamen sie alle angerannt, um zu sehen, was da Im Gange war, wie eine Hühnerschar, die darauf hofft, dass ein paar Körner für sie abfallen. Außerdem waren sie nicht nur als passive Schaulustige gekommen, sondern als richtige Komiteemitglieder. Resigniert fand ich mich damit ab, dass dies nun eben ein öffentliches Treffen werden würde, und ich erklärte durch Murari unsere Bedenken wegen Sankhu. Alle nickten bedeutsam und zustimmend, und man hörte das Gemurmel: »Sehr richtig, sehr richtig.« Dadurch ermuntert fuhr ich fort und sagte, wir wollten, dass alle Expeditionsmitglieder sich außerhalb von Sankhu sammelten und wir gemeinsam, ohne anzuhalten, direkt durch die Stadt hindurchgingen. Als Murari seine Übersetzung in Nepali beendet hatte, wiederholte Mingma das Ganze in Sherpasprache, woran ich noch einen Nachtrag auf Hindustani anschloss.
Die freundlichen Sherpas freuten sich über das ihnen entgegengebrachte Vertrauen, klopften mir mehr oder weniger auf den Rücken und versicherten mir, ich solle mir keine Sorgen machen, alles sei in bester Ordnung. Sie würden sich persönlich darum kümmern, dass in Sankhu niemand die Memsahibs anstarren würde. Sie hielten ihr Wort. Als wir am nächsten Morgen die Kathmandu zugewandte Seite der Wasserscheide hinabstiegen, wartete die Vorhut der Gruppe - sobald Sankhu in Sicht kam auf die Nachzügler. Währenddessen machte ich ein paar Fotos von Mingma, Chhepala und Ang Droma: jeder posierte mit meinem Hut unter dem beifälligen Kichern ihrer Freunde. Dieser Hut, ein niedriger runder Filzhut mit Stickerei in einem unvorteilhaften Khakiton, hatte mir während der heißen Marschtage gute Dienste erwiesen. Die Sherpas fanden ihn lustig, was er sicher auch war, doch ich hatte nicht gemerkt, dass er in ihren Augen auch ein begehrenswertes Objekt darstellte. Als Betty am Vortag von jedem ein Bild machte, wollte Ang Temba unbedingt mit diesem Hut fotografiert werden. Wir hatten es als Spaß angesehen, was es vielleicht auch war, doch als wir in Kathmandu ankamen, zog er los und kaufte sich genau den gleichen. Er sah damit aus wie ein ordinärer Städter, und wir waren froh, dass er ihn kurze Zeit später an Kusung weitergab. Keine Kopfbedeckung konnte aus Kusung etwas anderes machen als die einfache gute Seele, die er nun einmal war. Jetzt waren wir für den Ansturm auf Sankhu gerüstet. Wir schulterten unsere Lasten und näherten uns in einer geschlossenen Gruppe mit schnellen Schritten der Stadt. Die Einwohner, die ihren Alltagsbeschäftigungen nachgingen, verharrten bewegungslos vor Überraschung, als sie die gesamte schottische Frauen-Himalaya-Expedition sahen, die weder nach links noch nach rechts blickte, sondern wie von der Tarantel gestochen durch die Straßen zog. Bevor die Menschen überhaupt realisierten, dass eine Expeditionsgruppe durch ihre kleine Stadt kam, hatten wir sie schon durchquert und eilten eine richtige Straße nach Kathmandu hinunter. Nur Kusung war so damit beschäftigt, den Blick starr geradeaus zu halten, dass er nicht bemerkte, wie der Rest der Gruppe in eine Seitenstraße einbog, und er geradeaus weitermarschierte. Später fragten wir uns oft, wo er wohl gelandet wäre, wenn Evelyn sein Verschwinden nicht bemerkt und ihn zurückgeholt hätte. Ungefähr zwei Kilometer außerhalb der Stadt kamen wir an eine Stelle, wo die ruhige Straße angenehm von Eukalyptusbäumen beschattet wurde. Die Sherpas hielten an. »Können wir hier eine Pause machen?«, fragten sie. »Natürlich«, antworteten wir großzügig, hocherfreut über das Gelingen unseres Plans, ohne Stopp durch Sankhu gekommen zu sein. Sie ließen ihre Lasten fallen, und wir setzten uns alle in den Schatten. »Ist alles in Ordnung? Fühlt Ihr Euch wohl hier?«, wollte jemand von uns wissen.
Wir sagten, dass alles bestens sei. »Das ist schön«, erwiderten die Sherpas zuckersüg, »denn wir werden jetzt nach Sankhu zurückgehen. Es dauert nicht lange.« Betty, Evelyn und ich schauten uns sprachlos an. Dann überkam uns die Komik der Situation, und wir brachen in schallendes Gelächter aus. Die Sherpas hatten ihr Wort gehalten: Sie hatten uns an einen ruhigen, angenehmen Ort gebracht, wo niemand uns anstarrte. Warum sollten sie jetzt nicht losziehen und etwas trinken gehen? Wir baten sie, nicht länger als eine halbe Stunde wegzubleiben, und verbrachten eine sehr lustige Zeit mit Mingma und Murari, die mit uns warteten. Erstaunlicherweise kamen die anderen nach einer halben Stunde wahrhaftig wieder zurück. Unsere »Rüpel« aus Tempathang waren eben ehrenwerte Gentlemen. Etwa elf Kilometer vor Kathmandu machten wir an dem letztmöglichen Lagerplatz Halt: einem abgegrasten Wiesenstück außerhalb eines Dorfes. Wir hätten die Hauptstadt zwar noch an diesem Abend erreichen können, wenn wir weitergegangen wären, doch aus verschiedenen Gründen - einschließlich unserer Angst, Reporter anzutreffen - wollten wir unser Kommen im Voraus auf keinen Fall ankündigen und zogen es vor, am Morgen statt am Abend dort einzutreffen. Also stellten wir zum letzten Mal unsere Zelte auf und saßen zum letzten Mal mit den Sherpas ums Lagerfeuer. Wir beschlossen, sämtliche verbleibenden Reste an Milch, Zucker und Kaffeepulver aufzubrauchen, und reichten Kaffee und Kekse herum. Die Sherpas, die selbst bei einfachstem Essen eine Partystimmung aufkommen lassen konnten, hatten viel Spaß. Sie leckten sich die Lippen über den Kaffee, machten Wettrennen und tanzten und sangen bis spät in die Nacht ums Feuer herum. Die Dorfbewohner - vor allem die Kinder dachten bestimmt, wir seien ein Zirkus. Sie kamen in Scharen angelaufen, um zuzusehen und zu applaudieren. Wegen der vielen Menschen bekam Mingma Angst um die Geldkiste. Er brachte sie zu mir und bat mich, sie über Nacht zu verwahren, da ich im Biwakzelt schlief, das man vollständig schließen konnte. »Schrei, wenn in der Nacht jemand kommt, um dich auszurauben!«, sagte er in Unheil verkündendem Ton, als er zum Zelt der Sherpas zurückging. Das versprach ich ihm und fischte stolz mein gutes großes Fahrtenmesser heraus, das bis dahin zu keinem spektakuläreren Einsatz als zum Zerteilen von Sardinen verwendet worden war. ich legte es griffbereit neben mich und war fest entschlossen, zur Verteidigung unseres Geldes notfalls Blut zu vergießen. In dieser Nacht schlief ich jedoch so tief, dass ich vermute, ein Plünderer hätte die Geldkiste und das Fahrtenmesser mitnehmen können, wenn er gewollt hätte. Am Morgen packten wir die gesamte vertraut gewordene Lagerausrüstung ein letztes Mal zusammen und begannen den letzten Abschnitt unserer Reise. Ang Droma war durch die bevorstehende Trennung so bedrückt, dass sie Bettys Hand nahm und sie bis Kathmandu nicht mehr loslieg. Die beiden Seite an Seite - die große Betty und die kleine Ang Droma - boten ein rührendes Bild. Unsere Straße führte wieder an dem Buddha-Stupa vorbei, den wir bald in einiger Entfernung auftauchen sahen und der unseren Blick durch das beunruhigende hypnotisierende Starren der großen gemalten Augen fesselte. Als wir bei den äugeren Toren angekommen waren, hielten die Sherpas, um zu essen. Wir wollten die neugierige Menge, die sich bei jedem Halt um uns scharte, vermeiden und begaben uns deshalb in den Innenhof des Stupa Tempels.
Wir schlenderten umher und betrachteten die Gebetsmühlen und Schnitzereien an den Häusern, die um den Hof standen. Genau in diesem Augenblick streckte der Chinni Lama seinen Kopf aus einem Fenster und lud uns, als er uns bemerkte, zum Frühstück ein. Wir waren sehr glücklich, seine Gastfreundschaft annehmen zu können, und genossen ein zweites Mal die interessante Unterhaltung mit seiner aufgeweckten Tochter. Als wir sahen, dass sich unsere Männer allmählich im Innenhof versammelten, bedankten wir uns überschwänglich und verabschiedeten uns, um zu ihnen zu gehen. Neben Mingma stand ein seltsamer Sherpa, der mich höflich mit Salem begrügte. Ich grüßte geistesabwesend zurück und beachtete ihn nicht sonderlich, bis er sagte: »Memsahib, kennen Sie mich nicht mehr?« Beim zweiten Hinschauen sah ich, dass es sich um den jungen Lakpa Gyelbu handelte, der mit mir im Sikkim geklettert war. Er war fülliger und größer geworden, und ich erkannte ihn kaum wieder. Doch ich freute mich sehr, ihn wiederzusehen, da er damals mein Lieblings-Sherpa gewesen war. Wir schüttelten uns die Hände und tauschten Neuigkeiten über alte Freunde aus. Inzwischen hatte sich die ganze Gruppe um uns geschart. Alle befanden sich in ausgelassener Stimmung und rochen penetrant nach Chang. Bevor wir den Stupa verließen, mussten sie ihn einmal umrunden und die Gebetsmühlen drehen. Wir machten es ihnen nach und murmelten dabei: »Om mani padme hum.« - »So ist es richtig, Memsahib«, stellte Kusung erfreut fest, »mach es so wie ich.« Wir gingen immer schneller, bis wir alle herumsausten und die Gebetsmühlen wie verrückt drehten. »Denkst du nicht«, flüsterte Betty mir ins Ohr, »dass das Ganze ziemlich sinnlos ist?« Da ich keine Buddhistirl bin, konnte ich es ihr nicht sagen, zumindest schien keiner der Sherpas dieser Ansicht zu sein. Schließlich hatten wir anscheinend die religiösen Pflichten erfüllt, nahmen unsere Lasten auf und machten uns wieder auf den Weg in die Stadt. Als wir an eine Kreuzung kamen, ging die schnellere Route laut Murari in die eine Richtung, während Mingma darauf bestand, dass es die andere war. Keiner der beiden war bereit, einzulenken, und eine Zeit lang schien es nicht weiterzugehen.
Dann teilte sich die Gruppe in zwei Parteien, jede bereit, ihrem auserwählten Führer zu folgen. Muraris Gefolgsleute, zu denen auch wir Memsahibs zählten, marschierten in gemächlichem Tempo die Straße entlang, bis Mingmas Leute außer Sicht waren. Dann rannten wir alle gleichzeitig los. Wir mussten doch beweisen, dass wir Recht gehabt hatten. Die anderen hatten natürlich den gleichen Gedanken, und da die beiden Strecken ungefähr gleich lang waren, entwickelte sich ein regelrechtes Rennen. Wir erreichten die Stelle, an der sich die zwei Routen wieder vereinigten, im selben Moment, als die anderen die Straße heruntergestampft kamen, und die rivalisierenden Gruppen trafen sich unter fröhlichen Rufen, spöttischen Bemerkungen und Gelächter. Unsere Ankunft in Kathmandu war nicht gerade sehr würdevoll, zumindest jedoch unbeschwert und ausgelassen. Bei der Auszahlung der Männer aus Tempathang an diesem Nachmittag (von unseren bergsteigenden Sherpas mussten wir uns noch nicht so bald verabschieden) spielten sich Szenen ab, die wahrscheinlich einzigartig in der Geschichte des Bergsteigens im Himalaya sind. Der Lohn wurde in einem großen Raum ausbezahlt, in dem eine Tischtennisplatte stand. Die Sherpas baten uns, ihnen zu erklären, wie man sie nutzte. Wir demonstrierten es ihnen und fanden uns bald in ein wildes Spiel nach fortschrittlichen Tischtennisregeln verwickelt, bei dem 14 Sherpas immer abwechselnd nach dem Ball schlugen. Sie waren von dem neuen Spiel so fasziniert, dass sie sich kaum auf ihre Bezahlung konzentrieren konnten. Daher gab es diesbezüglich auch nur wenig Einsprüche oder Unstimmigkeiten. Als es Zeit für sie war zu gehen, waren wir tieftraurig, und ich denke, sie empfanden das Gleiche. Nima Lama, dieser liebenswerte alte Mann, nahm mit Tränen in den Augen unsere Hände in die seinen. Es gab keine Postzustellung nach Tempathang, also auch keinen Weg für uns, diesen freundlichen Menschen je eine Nachricht zu senden. Bei unseren bergsteigenden Sherpas verhielt es sich etwas anders - wir konnten ihnen immerhin nach Darieeling schreiben, und unser Brief würde sie letztendlich erreichen, sogar in Sola Khombu. Wir hatten sogar schon unsere Adressen ausgetauscht und hofften darauf, vielleicht eines Tages wieder mit ihnen zu klettern.
Mit Murari Kontakt zu halten, war selbstverständlich auch relativ leicht. Sollten wir jedoch durch irgendein Wunder eine weitere Gelegenheit bekommen, zu einem späteren Zeitpunkt in den Jugal Himal zurückzukehren, würden wir mit Sicherheit unsere Freunde aus Tempathang mitnehmen. Während die Auszahlung noch im Gange war, kam der Hoteldirektor mit einem Foto herein, das jemand vor unserer Abreise in die Berge von uns dreien gemacht hatte. Die Sherpas stürzten sich darauf und reichten es unter Ausrufen des Wiedererkennens herum. Als es bei Tensing Lama ankam, steckte er es in seine Hosentasche. »Ich behalte es«, erklärte er. Der Hoteldirektor protestierte, dies sei sein Eigentum, doch es war nicht leicht für ihn, es zurückzubekommen. »Aber Memsahib«, rief Tensing Lama gekränkt, »ich wollte es in meinem Haus aufhängen!« - »Können wir nicht auch Fotos bekommen?«, ertönten jetzt auch andere Stimmen. Wir hätten ihnen gern welche gegeben, aber wir besaßen keine. Später waren wir froh darüber. Wir hätten zu ungepflegt ausgesehen bei unserer Rückkehr in die Zivilisation, zerlumpt und mager, mit ungekämmten Haaren und von der Sonne verbrannt - allerdings waren wir zumindest als Pin-upGirls gefragt! Es gibt nur noch einige wenige Dinge anzumerken. Wir hatten zwar keine spektakulären Taten vollbracht, doch wir hätten es uns nie träumen lassen, mit so wenigen Menschen das, was wir geschafft haben, zu erreichen. Unsere Pläne, einen Zugang zum Jugal Himal - dem letzten großen unerkundeten Gebiet des nepalesischen Himalaya - zu finden und ihn zu erforschen, waren erfolgreich gewesen. Dass es uns zudem gelungen war, einen 6400 Meter hohen unbekannten Gipfel zu besteigen, war vollkommen unbeabsichtigt - eine Art Bonus sozusagen. Wir durften uns glücklich schätzen, dass nichts schief gelaufen war und wir weder Krankheiten noch Unfälle erlitten hatten. Doch selbstverständlich war nicht alles nur auf unser Glück zurückzuführen; oder, wie Mark Twain es einmal formuliert haben soll: »Ich finde, je härter ich arbeite, desto mehr Erfolg habe ich.« Wir hatten neun Monate äußerst hart gearbeitet, um eine effiziente Expedition zu planen und zu organisieren, weil wir wollten, dass unser Abenteuer ein Erfolg war. Doch wir hatten zudem bewiesen, dass gewöhnliche Frauen ein solches Projekt genauso gut durchführen können wie ihre männlichen Kameraden.
Für uns war es übrigens nur gut, dass tatsächlich alles klappte. Denn während ein Fehlschlag bei einer rein männlichen beziehungsweise gemischten Gruppe wahrscheinlich fast kommentarlos übergangen worden wäre und zumindest nur Mitgefühl erregt hätte, hätte man bei unserem Scheitern sicher kein Erbarmen gezeigt. Alle Welt wartete darauf zu sagen: »Das haben wir doch gewusst. Was kann man auch von Frauen anderes erwarten?« Was für ein Glück, dass wir so darauf geachtet hatten, alles gut zu organisieren. Über unsere Zeit im Jugal Himal möchte ich noch Folgendes anfügen. Unter Bergsteigern herrscht der weit verbreitete G laube, dass Klettern im Himalaya zwar eine großartige und unvergessliche Erfahrung bedeutet, jedoch nicht zwangsläufig auch mit Spaß verbunden ist, wie zum Beispiel das Klettern in den Alpen oder in unseren schottischen Bergen einfach Spaß machen kann.
Der Marsch in die Berge und wieder zurück wird als weitaus vergnüglicherer Teil einer Himalaya-Tour angesehen, während das Klettern selbst in dem Ruf steht, nur eine frustrierende Schinderei zu sein, die der Bergsteiger so gut er es eben kann erträgt, solange er nur den Gipfel erreicht. Dies war bei unserer Expedition mit Sicherheit nicht der Fall. So sehr wir teilweise den Anmarsch hin und zurück genossen, und so sehr wir auch Pomba Serebu ins Herz geschlossen hatten, so waren es doch die Tage, an denen wir hoch oben in den Bergen, Gletschern und Schneefeldern des Jugal unser Letztes gaben, die uns für immer in Erinnerung bleiben werden: nicht nur als die glücklichsten, sondern kurioserweise auch als die vollkommensten und friedvollsten Tage unseres Lebens. Dort oben wurde jeder Augenblick zum Geschenk, und wir waren von jeglichen Zwängen der Welt befreit.