Am Donnerstag, dem 5. Mai verließen wir das Basislager und begannen den zweiten Aufstieg zum Phurbi-Chyachumbu Gletscher. Der erste Versuch war ein dekhna ka waste, nur ein Erkundungsgang, gewesen. Diesmal meinten wir es ernst. Wir verfolgten zwei Hauptziele: Zum einen wollten wir den Bergrücken des Grenzmassivs erreichen, von wo aus wir umgekehrt waren, zum zweiten wollten wir, wenn möglich, den wohlgeformten Gipfel im Westen des niedrigen Passes oberhalb des Gletschers besteigen. Ein weiterer vorläufiger Plan bestand darin, den nördlichen Gipfel der Phurbi Chyachu in Angriff zu nehmen. Wir waren nämlich zu dem Schluss gekommen, die gesamte Nordflanke dieses Berges sei zumindest vom Basislager aus gesehen - »bezwingbar«. Allerdings handelte es sich hier um einen ausgesprochen lang gezogenen Grat, und wir würden viele Lager und weit mehr Sherpas und Begleiter brauchen, als wir zur Verfügung hatten. Ein Aufstieg auf den Nordgipfel würde zeigen, ob unsere Vermutung zutraf oder nicht. An diesem Morgen standen wir um vier Uhr dreißig auf und beteten inbrünstig um gutes Wetter. Bei Sonnenaufgang war das ganze Lager auf den Beinen, und jeder war mit letzten Erledigungen beschäftigt.
Die Hauptvorbereitungen waren natürlich schon am Vortag getroffen worden. Betty hatte die Lebensmittel bis auf die kleinste Rosine zusammengestellt; Seile, Steigeisen, Felshaken und Markierungsfähnchen für den Weg waren eingepackt, die Stiefel eingefettet und die Rucksäcke fertig gepackt. Aber nun mussten noch die Biwakzelte zusammengerollt und in ihren Hüllen verstaut werden, die Primuskocher und die Küchenausrüstung verpackt und verschiedene kleinere Entscheidungen gefällt werden. Mingma hatte gefragt, ob Bahu als Ersatz für Kusung, dem es nicht besonders gut ging, mit uns zum Gletscher hinaufsteigen sollte. Also schlugen wir Kusung vor, im Basislager zu bleiben, doch er versicherte uns heftig und ärgerlich, er wäre gut ausgeruht und fit genug für den Aufstieg. Da Evelyn bei einer Untersuchung auch nichts Auffälliges mehr fand, stimmten wir zu. Bahu besaß wenig Erfahrung im Schnee- und Eisklettern, aber er war sehr kräftig und schließlich auch ein »echter« Sola-Khombu-Sherpa. Die Schwierigkeit bestand darin, genügend Kleidung und Ausrüstung für ihn zu finden; unsere eigenen knappen Vorräte waren erschöpft. Betty und Evelyn gaben ihm Ersatzsocken und eine Schneebrille, von mir bekam er Handschuhe. Er besaß schon ausgezeichnete Schuhe mit Profilsohlen, die er auf einer der großen Expeditionen erhalten hatte. Die zwei Sherpas aus Tempathang sollten uns bis zum Lager I begleiten und dann zum Basislager zurückkehren. Lakpa hatte einem unserer bergsteigenden Sherpas (der schon besseres Schuhwerk besaß, als wir ihm anbieten konnten) ein Paar Stiefel abgekauft und benötigte jetzt nur noch Socken, um darin laufen zu können. Mit dem gleichen herzerweichenden Gesichtsausdruck, der Evelyn dazu veranlasst hatte, sich auf dem vorangegangenen Trip von einem Paar Handschuhe zu trennen, schlich er sich an mich heran und erklärte mir, ohne Socken würden ihm seine wunderschönen neuen Stiefel überhaupt nichts nutzen. Vielleicht war es Zufall, dass er sich zuerst an mich wandte. Andererseits hatte ich am Abend zuvor Murari gegenüber erwähnt, Lapka sähe meinem kleinen Sohn sehr ähnlich. Er bekam seine Socken jedenfalls, wenn auch etwas widerwillig.
Nima Lamas Sohn, der ihn während seiner Abwesenheit vertrat, besaß weder Lakpas Charme noch seine Dreistigkeit. Er gab sich mit einem Paar ausrangierter Hockeystiefel aus Segeltuch zufrieden. Das Wetter war strahlend und klar, und es sah so aus, als ob es schön bleiben würde. Trotzdem sollte Ang Droma ein kleines Votivfeuer auf einem Felsen entzünden, in der Hoffnung, die Berggeister versöhnlich zu stimmen. Wir hatten trotz allem ein generelles, wenn auch unlogisches Gefühl, dass diese Tour erfolgreich sein würde, und es lag eine Atmosphäre freudiger Erwartung in der Luft. Zehn Minuten vor acht gingen wir los. Drei Memsahibs, Mingma, Ang Temba, Chhepala, Kusung und Bahu, zusätzlich Lakpa und der andere Junge. Der Aufstieg ins Lager I war die übliche lange Plackerei. Wieder einmal stolperten wir über Geröll und sprangen über Felsbrocken, bis wir die steilen Schneehänge erreichten. Wir versanken hüfttief in dem neuen und nicht besonders festen Schnee und fragten uns allmählich besorgt, ob es wirklich so schlau gewesen war, so bald nach dem Unwetter zurückgekehrt zu sein. Die zwei bedrohlichen Rinnen sahen morscher und brüchiger denn je aus, aber auch dieses Mal hielten unsere Fußtritte auf wunderbare Weise, und schon bald rutschten wir auf lockerem weichem Schnee zur Moräne hinunter. Als wir uns dem Lager näherten, sahen wir, dass eine große Lawine ein paar Meter neben dem Zelt, das wir dort zurückgelassen hatten, abgegangen war. Wir überquerten die Trümmer, um zum Lager zu kommen, und hörten, wie Fels- und Eisbrocken von den Höhen über uns herunterstürzten. »Unser gutes altes Lager I«, sagten wir liebevoll zueinander. »Es hat sich überhaupt nicht verändert.« Der einzige Unterschied bestand darin, dass der Schnee einen Meter höher lag und weicher und nasser war. Das Zelt war unter seinem Gewicht zusammengebrochen.
Ang Temba kroch sofort hinein und begann, den Schnee abzuschütteln. Der Anblick der zum Leben erwachten auf- und abwogenden und sich wölbenden Zeltplanen war unwiderstehlich komisch, und die ganze Expeditionsgruppe, normalerweise eh schon leicht zu erheitern, blieb stehen, auf die Eispickel gestützt und brüllend vor Lachen. Ang Temba war ein echter Spaßvogel mit einem untrüglichen Gespür für Komik. Seine Scherze waren in der Regel einfach, aber von erfrischender Spontaneität, und was wir besonders liebenswert fanden, war die Tatsache, dass er selbst immer so herzlich über sie lachen konnte. Eines seiner Lieblingsspiele hing mit unserem Abendessen zusammen, das er uns gewöhnlich ins Zelt brachte. Es ging! darum, uns dazu zu bewegen, mehr auf unsere Teller zu schöpfen, nachdem wir schon »Danke, genug« gesagt hatten. Schaffte er es, dass wir die Pfanne leerten, bekam er einen Punkt. Der größte Spaß jedoch bestand darin, jedem, der gerade nicht hinsah, noch einen Löffel voll auf den Teller zu schöpfen. Dabei gestikulierte er wie wild, um die Zuschauer eindringlich zur Ruhe zu mahnen. (In Wirklichkeit entstand dieses Spiel auch aus der Besorgtheit der Sherpas um unser Wohlergehen heraus. Da sie den großen Appetit westlicher Männer in den Bergen gewöhnt waren, waren sie überzeugt, wir würden nicht genug essen.) Ein weiterer genialer Zeitvertreib Ang Tembas bestand darin, seine Mitmenschen nachzuahmen. Er neigte jederzeit dazu, jemanden plötzlich zu imitieren. Eines Tages bat ich ihn, meine Kamera zu halten. Sofort begann er, eine Memsahib nachzumachen, die gerade fotografiert und offensichtlich Schwierigkeiten sowohl mit der Kamera als auch mit der zu fotografierenden Person hat. Sein Spiel fand bei allen großen Anklang, nur Chhepala fand, es fehlte etwas.
Im Basislager trug ich normalerweise einen leuchtenden Baumwollschal um meinen Kopf, nach Bäuerinnenart unter dem Kinn zugebunden. Chhepala nahm seelenruhig ein kariertes Abtrockentuch und überreichte es Ang Temba, der es genau in der Art aufzog, wie ich es immer zu tragen pflegte. Alle brachen in stürmisches Gelächter aus, einschließlich des Hofnarren selbst, der wie üblich von seinem eigenen Witz mitgerissen wurde. Wir schickten die Jungs aus Tempathang gleich nach unserer Ankunft wieder zurück, da die elenden Wolken wieder aufgezogen waren und es zu schneien begonnen hatte. Wie gewöhnlich hatten sich die Erwartungen nach dem viel versprechenden Vormittag nicht erfüllt. Schlimmer noch: Es war immer noch sehr warm, und die Monsunströmung war merklich stärker geworden während unseres Aufenthaltes im Basislager. Wir befürchteten, der Gletscher würde in hohem Maße gefährlich werden, wenn die Temperatur nachts nicht unter den Gefrierpunkt fiel. Die Mulde, die wir bei unserem ersten Aufenthalt als Badezimmer benutzt hatten, offenbarte nun ihr wahres Wesen: eine schneegefüllte Gletscherspalte, die schnell taute, so dass wir jedes Mal, wenn wir uns dahin zurückzogen, mit unserem Leben spielten. Aber es war der einzige geschützte Platz in der Nähe, der sicher vor herabstürzenden Fels- und Eisbrocken war. Das heikle Problem, wie wir ohne Risiko eine Privatsphäre erhalten konnten, musste in jedem Lager aufs Neue gelöst werden.
Die Sherpas hätten sich nicht rücksichtsvoller verhalten können, sie sahen immer in die andere Richtung, wenn eine von uns sich zielstrebig zurückzog. Aber manchmal mussten wir sehr weit gehen, bevor wir außer Sichtweite waren, was in Hochlagen besonders ärgerlich war. Glücklicherweise lösten wir das Problem, nachts in die bittere Kälte hinaus zu müssen, schon zu Beginn ein für alle Mal durch meinen festen Entschluss, eine so genannte »Pinkelbüchse« anzuschaffen. Diese Idee gefiel meinen Freundinnen so gut, dass wir in sehr kurzer Zeit zwei dieser Büchsen besaßen - eine für jedes Zelt. Eine kurze Überprüfung der Route den Eiswasserfall hinauf zeigte, dass unsere guten breiten Stufen immer noch da waren, wenn auch mit Schnee bedeckt. Es blieb jetzt nichts weiter zu tun, als uns in unsere Zelte zurückzuziehen und den nachmittäglichen Schneefall abzuwarten. Unsere Schlafsäcke waren bei der Überquerung nass geworden, und wir saßen voller Hoffnung essend und trinkend auf den nassen Stellen, mit dem Gedanken, die Feuchtigkeit mit unseren Hosen aufzusaugen und durch die Körperwärme zu trocknen. Unsere nassen Socken hatten wir wie gewöhnlich in den inneren Schlafsack gesteckt. Auch hier hofften wir, die Körperwärme würde sie trocknen, was bis zu einem gewissen Punkt auch funktionierte. Allerdings gibt es sicher wenige Dinge, die noch unbequemer als ein Schlafsack voller nasser Socken sind, abgesehen vielleicht von einem Paar Bergstiefel, die am selben Ort liegen, damit sie nicht einfrieren. (Nicht, dass diese Vorsichtsmaßnahme in den Hochlagern etwas genutzt hätte!)
Im Inneren der Memsahib-Zelte - und zweifellos auch bei den Sherpas - herrschte nachmittags ein malerisches Durcheinander: Da lagen schneebedeckte Stiefel am Zelteingang; Zucker rieselte aus einer Plastiktüte, und eine undichte Tintenflasche, die durch die Höhe schon ziemlich gelitten hatte, lief über einem schon unleserlichen Tagebuch aus; Sardinen balancierten auf den Klingen der Messer, die von Hand zu Hand gereicht wurden. Ab und zu hörte man von draußen Ankündigungen von Gaumenfreuden, wenn Ang Temba rief-. »Memsahib! Tee? - Kaffee? - Ovo-Tee? (Der Sherpa-Ausdruck für Ovomaltine.) Horli? Orangensaft?« Während er die Namen dieser Getränke rezitierte, wurde seine Stimme immer höher. Als Betty einmal bei ihrer Wahl zögerte, endete er mit einem abschließenden Quieken: »Rakshi?« Unnötig zu erwähnen, dass es zu dieser Zeit im Lager gar keinen Rakshi gab. Die Düsternis des Wetters draußen wurde durch die düstere Atmosphäre unserer Bücher noch verstärkt. Betty las Moravias Die Römerin, Evelyn ein Buch von Scott Fitzgerald, und ich hatte mir Balzacs Die alte Jungfer vorgenommen. Unsere Aufmerksamkeit wurde häufig von diesen Chroniken über unerwiderte Liebschaften abgelenkt, wenn draußen donnernd Lawinen abgingen und krachend Felsbrocken herabstürzten. Aber wir hatten uns im Lager I an solche Geräusche gewöhnt, und sie beunruhigten uns nicht mehr sonderlich. Vor allem hinderten sie uns nicht an einem friedlichen Schlaf. Am nächsten Morgen stiegen wir den Eiswasserfall in zwei Seilschaften hinauf-, Betty führte die erste und ich die zweite. Zu unserer großen Erleichterung waren die Schneebedingungen gut, und der Schnee blieb lange genug fest gefroren, so dass wir schnell und zuversichtlich vorankamen. Mittlerweile kannten wir jeden Schritt auf dieser Route, die uns zuerst so kompliziert erschienen war. Wir alle kletterten über den Gletscherbruch hinweg und sprangen über die Gletscherspalten mit einer Leichtigkeit, die aufgrund der Vertrautheit mit dem Gelände entstand. Alle außer Bahu!
Obwohl er ein kräftiger und geschickter junger Mann war, stellte er sich bei seinem ersten Gang den Eisfall hinauf fürchterlich an. Teilweise lag dies daran, dass er nicht wusste, was ihn erwartete, aber auch daran, dass er Angst hatte und daher oft auf oder über Hindernisse gezogen werden musste, vor Schreck einen schrillen Ton von sich gebend. Trotzdem dauerte es nicht lange, bis er sein anfängliches Misstrauen gegenüber steilen Schnee- und Eishängen überwunden hatte. Denn war er nicht ein Sherpa aus Sola Khombu? Bis wir den oberen Gletscher erreicht hatten, war es extrem heiß geworden, und die ganze Gruppe begann unter Gletschermüdigkeit zu leiden. Wir kämpften uns weiter aufwärts, bis wir an einen Platz genau unterhalb unseres früheren Lagers II kamen. Hier seilten wir uns ab und ruhten aus. Wir reichten die Wasserflaschen mit Zitronengetränk herum und teilten Pfefferminzkuchen und Schokolade aus. Danach ließen Chhepala, Kusung und Bahu ihre Lasten zurück und machten sich singend auf den Weg den Gletscher hinunter, um die verbleibenden Lebensmittelkisten aus dem Lager I heraufzuholen. Wir anderen stiegen weiter den Gletscher hinauf. Es ging sehr langsam voran, da die Sonne jetzt außerordentlich stark war, und zum ersten Mal machten wir uns Sorgen, dass die Nachmittagswolken (die uns den Gletscher hinauf folgten) uns überholen könnten. Ich ging an der Spitze und beschwerte mich hinterher, da ich an Verdauungsbeschwerden litt und die Aufgabe des Spurens in dieser Lage als unangemessene Belastung empfand. Aber ich bekam kein Mitgefühl. Da ich schon vorher in Hochlagen gewesen war, machte mir die Höhe wenig zu schaffen, und ich war so fit, dass die anderen es nur gerecht fanden, wenn auch ich mich gelegentlich ein wenig unwohl fühlte.
Außerdem bekamen diejenigen, die mir in dem tiefen Schnee nachfolgten, selbst Probleme. ich war so leicht, dass jeder andere hinter mir, egal wie hart ich aufstampfte, in meinen Fußstapfen einbrach. An diesem besonderen Tag stampfte ich nicht sehr hart auf... Wir hatten beschlossen, in Richtung zweier auffallender Felsen hinaufzusteigen. Sie lagen auf dem Gletscher, etwas unterhalb unseres bisherigen Lagers III. Als wir sie erreichten, lagerten wir dort und nannten das Lager II A. Sobald die Zelte aufgestellt waren, gingen Mingma und Ang Temba zurück, um die von den anderen Sherpas zurückgelassenen Traglasten zu holen. Wir hatten ein schlechtes Gewissen, da wir unterdessen in unseren Zelten vor dem Schnee Zuflucht suchten, aber Betty war die Einzige, die etwas dagegen unternahm. Sie schaufelte Schnee in eine Pfanne, zündete den Primuskocher an und hielt für die zurückkommenden Sherpas Tee bereit. Sie freuten sich sehr, was unser Gewissen ein wenig beruhigte.
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