An der Grenze

Es war eine kalte und stürmische Nacht, und am Morgen rüttelte der Wind immer noch an den Zeltwänden und blies uns eisige Schauer unseres gefrorenen Atems ins Gesicht. Die Sonnenstrahlen erreichten die Berge auf der Westseite des Gletschers um etwa sechs Uhr, und innerhalb von einer Stunde gingen an ihren Flanken die ersten Pulverschnee-Lawinen ab. Es sah aus wie Streuzucker. Unser Lager lag jedoch näher an der Ostseite, im kalten Schatten der Nordflanke der Phurbi Chyachu, und wir mussten unerhört lange warten, bis die Sonne kam und die betäubende Kälte vertrieb. In der Zwischenzeit zwängten wir unsere Füße in halbgefrorene Stiefel und schnürten sie mit vielen Unterbrechungen, weil wir immer wieder unsere vor Kälte schmerzenden Finger warm pusten mussten. Wir wärmten unsere Hände dankbar an Bechern mit heißem süßem Ovo-Tee und widmeten uns dann gequält der täglichen Pflicht, unsere Gesichter, Nacken und Ohren mit Gletschercreme einzuschmieren und eine weitere Spezialsalbe auf die Lippen aufzutragen. Dazu mussten wir uns auf die Tuben setzen, bis sie so weit aufgetaut waren, dass der Inhalt herausgedrückt werden konnte. Danach verteilten wir geduldig die fast feste Creme - die immer zu plastilinähnlicher Konsistenz gefroren war - auf jedem kleinsten Hautflecken, der in Gefahr war, von den in dieser Höhe zerstörerischen ultravioletten Sonnenstrahlen beschienen zu werden.
Jede Stelle, die versehentlich ausgelassen wurde, war bis zum Abend mit Blasen übersät. Unsere Lippen mussten wir immer noch zusätzlich mehrere Male nachcremen, bevor am Nachmittag die Wolken aufzogen, da die Salbe leicht abgeleckt wurde. Als wir noch höher kamen, stellten wir fest, dass wir sogar die Innenseite unserer Lippen eincremen mussten, um die Blasenbildung zu verhindern, wenn wir keuchend atmeten. Als Ang Temba und Chhepala das sahen, kamen sie mit ihren kleinen Spiegeln an und wollten auch von der Creme haben. Sie hatten eine hellere Haut als die anderen Sherpas und nicht genug Pigmente, um völlig geschützt zu sein. Ihre Gesichter wurden zunächst immer schmerzhaft von der Sonne verbrannt, bis sie auf die Idee kamen, unsere Creme zu benutzen. Wir wollten den hohen Pass im Grenzmassiv am nächsten Tag unbedingt erreichen, bevor die Wolken aufzogen. Unser nächstes Lager sollte so hoch wie möglich liegen, am liebsten auf dem Gletschervorsprung direkt unterhalb des letzten Steilhangs, der hinauf zum Höhepunkt des Bergrückens führte, an der Stelle, wo wir das letzte Mal umgekehrt waren. Um alles auf einmal dort hinauftragen zu können, beschlossen wir, zwei Lebensmittelkisten vorübergehend zurückzulassen, und verstauten sie im Schutz eines der großen Felsen.
Als wir alle startbereit waren, entbrannte wieder einmal die ewige Diskussion um das Anseilen. Von Anfang an hatten wir darauf bestanden, sich an allen Kletterstellen, wo ein Sturz tödlich wäre, anzuseilen, besonders auf dem Gletscher. Die Sherpas hassten diese Regelung. Selbst Mingma, ein ausgezeichneter und erfahrener Bergsteiger, wäre lieber ungerechtfertigte Risiken eingegangen, anstatt sich anzuseilen, hätte man die Entscheidung ihm selbst überlassen. Manchmal war seine Einschätzung der Schnee- und Eisverhältnisse auch falsch, da er eher zu optimistischen Beurteilungen neigte. Wir stellten fest, dass unsere Sherpas sich generell sehr auf ihr Glück verließen. Im Gegensatz dazu taten wir unser Bestes, so wenig wie möglich dem glücklichen Zufall zu überlassen. Bis jetzt hatten wir immer unnachgiebig an unserem Anseil-Grundsatz festgehalten, aber an diesem Tag gaben wir zum ersten Mal nach. Der Schnee war - wie Mingma sofort betonte - an diesem Morgen hart gefroren, und die Route zu dem steilen Eiswasserfall, den wir schon einmal hinaufgestiegen waren, führte erstens über den flachsten Teil des Gletschers und außerdem entlang einer kleinen, in der Mitte liegenden Moräne. Wir waren schnell startklar, und es war anscheinend sicher genug. Daher beschlossen wir, nicht unsinnig lange auf dem Anseilen zu bestehen. Etwas schuldbewusst, aber auch mit einem herrlich uneingeschränkten Gefühl machten wir uns also, jeder in seinem Tempo, auf den Weg über die verharschte Schneedecke des Gletschers. Zu ihrer unbändigen Freude, der sie lautstark Ausdruck verlieh, fühlte sich Evelyn immer noch sehr fit, obwohl sie nun ein gutes Stück höher war, als an der Stelle, wo sie zuvor unter der Höhenkrankheit gelitten hatte. Sie war ungeheuer erleichtert, dass sie ihre körperlichen Grenzen hatte erweitern können. Auch ich hatte meine Form wiedererlangt, aber dieses Mal fühlte sich Betty schlecht. »Mir war schwindlig«, schrieb sie später in ihr Tagebuch, »und ich hörte ein leichtes Ohrensausen, und die anderen taten mir nicht den Gefallen zuzugeben, dass sie es auch hörten ...« Zu diesem Zeitpunkt erwähnte sie uns gegenüber jedoch nichts davon und stapfte tapfer hinter uns her. Die Sonne brannte auf uns herunter, und wir beeilten uns, so schnell wir konnten vom Gletscher wegzukommen, bevor er unsicher wurde, und den Eisfall hinter uns zu bringen, bevor die Schneedecke aufweichte. Nach einer Weile setzten Mingma und Ang Temba ihre Traglasten ab und machten einen Umweg, um das Ersatzseil, die Steigeisen und den kleinen Essensvorrat einzusammeln, die wir auf unserem früheren Trip im Lager III versteckt hatten. Die übrigen drei Sherpas folgten langsam nach - sehr langsam, immer wieder anhaltend, um auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Evelyn und ich gingen voraus und schlugen Tritte. Wir machten für die beladenen Sherpas eine Treppe den steilen Eisfall hinauf, der nun mit einer dicken festen Schneeschicht bedeckt war. Unserer Meinung nach viel zu fest, da wir für jede Stufe mindestens drei harte Fußtritte benötigten, was in dieser Höhe überhaupt keinen Spaß machte. Vielmehr war es eine sehr anstrengende Arbeit, auch wenn wir uns abwechselten. Wir brauchten immer länger für das Tritte-Schlagen, je höher wir kamen, und das Atmen fiel zunehmend schwerer.
Wann immer wir anhielten, um zu verschnaufen, fühlten wir uns stark und energiegeladen, aber sobald wir weitergingen, wurde jeder Schritt zur Qual. Nach etwa drei Stunden sahen wir Mingma hinter uns die Stufen heraufkommen. Er trug den großen Korb mit der Küchenausrüstung auf seinem Rücken und obendrauf noch seinen eigenen Rucksack. Um uns einzuholen, musste er schnell aufgestiegen sein, allerdings war er sicher auch müde, da er nicht wie gewöhnlich anbot, die Führung zu übernehmen. Unterdessen wurden wir von Wolkenfetzen umhüllt, die die Pracht der Bergszenerie um uns herum vor unseren Blicken verbargen. Der blendende Schnee, der dunkle Fels, das blaue Eis und die schnurgerade Linie unserer Stufen, die hinter uns den Abhang hinunterlief - all das verschwand in grauem Nebel. Nur in den kleinen Löchern, die die Spitzen unserer Eispickel im Schnee hinterließen, blieb ein wenig Farbe übrig: Sie waren immer noch blau wie das Eis selbst. Wir stiegen weiter bergauf, bis wir ein Steilstück überwunden hatten, das - wie wir bald erkannten - nicht weit von der Stelle entfernt war, an der wir das letzte Mal umgekehrt waren. Dort machten wir eine Pause, um auszuruhen, Wasser zu trinken und Rosinen und Süßigkeiten zu teilen. Anschließend ließen Mingma und ich Rucksack und Traglast zurück und gingen ein Stück weiter nach oben, um einen Lagerplatz zu suchen. Ohne zusätzliches Gewicht auf den Schultern fiel sogar das Bergaufgehen leichter, und wir stiegen schnell in den Nebel hinein. Wir kletterten einen weiteren Steilhang hinauf. Beim letzten Mal hatten wir hier Steigeisen benötigt, doch jetzt bot eine Schneeschicht genügend Halt, und wir erreichten den Rand einer Mulde, die zwischen der Stelle, an der wir vorher zurückgegangen waren, und dem Beginn des letzten Steilanstiegs lag, der hinauf zum Kamm des Grenzmassivs führte. Wir mussten warten, bis der Nebel sich etwas gelichtet hatte, bevor wir etwas sehen konnten. Aber als er sich endlich hob, stiegen wir, zwei Gletscherspalten umgehend, in die Senke hinab und fanden einen guten Lagerplatz. Wir blieben eine Weile dort und besprachen die Pläne für die nächsten zwei Tage. Mingma hatte Zweifel bezüglich der Berge, die wir im Auge hatten, und war der Meinung, wir hätten keine Chance, die Phurbi Chyachu zu besteigen. Er dachte, der steile Nebengletscher, der von den hohen Gipfeln des Grenzgebirgszuges westlich vom Phurbi Chyachumbu her kam, würde sich als lohnender erweisen. Ich für meinen Teil fand, er sah Furcht erregend aus. In jedem Fall mussten wir bis zum nächsten Morgen warten, in der Hoffnung, einen besseren Blick auf die gesamte Umgebung zu erhalten, und so machten wir uns schnell an den Abstieg zu Betty und Evelyn hinunter. Ein paar Minuten später schulterten wir alle widerwillig unsere Lasten und stapften langsam weiter. Nach einer halben Stunde trafen die anderen Sherpas am Lagerplatz ein, und wir stellten die Zelte auf, als es gerade anfing zu schneien. Die Schlafsäcke waren wieder einmal völlig durchnässt. Sobald Ang Temba dies entdeckt hatte, versammelte er uns um sich herum und zog einen nach dem anderen mit dramatischen Gesten aus seiner Hülle. Wir stöhnten in gespielter Bestürzung auf, als einer feuchter als der andere zum Vorschein kam, und lösten wahre Begeisterungsstürme bei ihm aus. Der Nachmittag im Lager III A, wie wir es nannten, verging mit Lesen, Schlafen, Tagebuch-Schreiben und der Pflege unserer aufgesprungenen Gesichter. Das Abendessen, das Ang Temba uns in seiner üblichen ausdrucksvollen Art servierte, bestand aus der unvermeidlichen Tütensuppe, gefolgt von Trockenfleisch und Eintopf aus getrocknetem Gemüse, und zum Abschluss gab es gedämpfte Pflaumen mit Kakao. Wir waren sehr zufrieden, dass wir in der Lage waren, dies alles zu essen, weil wir zu dieser Zeit glaubten, das Lager befände sich auf einer Höhe von knapp 6000 Metern.
Da wir keinen Höhenmesser hatten, schlossen wir das aus den Höhenlinien auf der Karte und aus Mingmas beharrlicher Behauptung, er wisse aufgrund seiner körperlichen Symptome immer genau, auf welcher Höhe er sich befände, und im Moment sei er ungefähr 6000 Meter hoch. Doch die Karte war sehr ungenau und obwohl man mit Pauschalaussagen vorsichtig sein muss, fühlten wir, dass Mingmas »Symptome« möglicherweise nicht immer unfehlbar waren. Rückblickend sind wir der Ansicht, dass das Lager nicht höher als auf 5800 Meter gelegen war. In dieser Nacht erwachte Betty und sah den Mond durch die Zeltwände scheinen. Sie krabbelte aus ihrem Schlafsack und zog den Reißverschluss am Zelteingang auf, um hinauszuschauen. Glänzend im Mondlicht ragten die schweigenden Gipfel rund um den oberen Teil des großen Gletschers vor ihr auf. Sie trugen keine Namen und waren nie zuvor bestiegen worden vielleicht waren sie sogar unbezwingbar -, und wenige unter ihnen waren auf der Karte verzeichnet. Im Mondlicht sahen sie seltsam klein aus, aber feindseliger denn je. Trotzdem versprachen die klare Nacht und die eisige Kälte schönes Wetter für den nächsten Tag. Zuversichtlich kroch sie zurück in ihren Schlafsack und schlief wieder ein. Der Morgen erwachte strahlend, ein blendendes Farbspiel aus Weiß und Gold. Wir standen früh auf und frühstückten, und kurz nach sieben waren wir bereit zum Aufbruch. Der letzte Steilhang, der uns vom Höhepunkt des Bergrückens noch trennte und auf dem zuvor das blanke Eis geglitzert hatte, war nun mit hartgefrorenem Schnee bedeckt und stieg verlockend ein paar Meter hinter unseren Zelten in die Höhe. Betty hatte sich fast ganz erholt, und Evelyn, die von ihrem Zelt aus die ganze Gruppe durch ständige Kommentare an ihren Vorbereitungen teilhaben ließ, unterbrach ihre Bemerkungen immer wieder mit dem Gesang »Ich fühl' mich gut, ich fühl' mich gut«. Dieses Mal gab es keine Auseinandersetzungen: Wir ließen das Seil unbekümmert zurück. Der Hang war steil, und die Auswirkungen der Höhe teilten die Gruppe bald in zwei Hälften. Betty und Evelyn stiegen in ihrem eigenen Tempo aufwärts, und ich stolperte hinter Mingma her, der sofort die Führung übernommen hatte. (Zwischen dem Sirdar und mir herrschte eine gewisse stillschweigende Rivalität. Er war der Fittere von uns beiden - was er auch wusste -, aber er forderte mich gern zu Wettrennen heraus, die er, zu seiner unverhohlenen Freude, immer gewann.) Ich hatte diese Nacht Beschwerden gehabt, vermutlich weil ich zu viel gegessen hatte. Doch sobald wir losgingen, war ich in Topform, meine Blähungen waren wie »weggeblasen«, und es machte mir Spaß, hinter Mingma den Berg hinaufzurasen. Oben angekommen, holte ich ihn ein und hielt mühelos mit ihm Schritt, obwohl er ganz aufgeregt war und schnell ging.
                               Dach der Welt                                   Dach der Welt

Wir befanden uns auf einem wunderschönen, sanft gewölbten Bergrücken. Zu unserer Linken lag eine Eiskuppel mit einem Kamm aus Felsengeröll, rechts sahen wir die beeindruckenden Schneewechten, Eiszinnen und schroffen Felsspitzen auf der Nordseite der Phurbi Chyachu. Der Pass war sehr breit, und zuerst sahen wir nichts außer dem unendlichen Blau des Himmels vor uns. Wir eilten erwartungsvoll weiter und entdeckten plötzlich ein paar Felsen vor uns. Enttäuscht sagte Mingma: »Aur pahar (noch mehr Berge), Memsahib.« Aber als wir die Rundung des Bergrückens überschritten hatten und den Abstieg antraten (vermutlich Richtung Tibet hinunter), merkten wir, dass die Felsen nur zwei einzeln stehende Felsnadeln waren. Wie eine Art Fensterrahmen, mit einem Haufen zerbrochener Schieferfelsen dazwischen, bildeten sie ein Sims. Unterhalb davon fiel ein steiler Abgrund direkt nach Tibet ab. Rechts von den Felsnadeln war der Abgrund ein fast senkrechter Eiswasserfall, links davon ein senkrechter Eiscouloir. Als wir den Felsen entgegeneilten, kamen wir an einigen schneebedeckten Gletscherspalten vorbei. Mingma sagte: »Hath do (gib' mir deine Hand), Memsahib.« Das tat ich, und wir gingen Hand in Hand wie Kinder dem Felsvorsprung entgegen, mit den Worten »Tibet, Tibet«. Als wir dort ankamen, setzten wir uns nieder (unsere Füße baumelten in tibetischer Luft!) und widmeten unsere Aufmerksamkeit abwechselnd dem atemberaubenden Ausblick und dem wunderschönen Schauspiel einer Schar Schneehühner, die unter uns kreisten, bis Betty und Evelyn ankamen. Es war uns mittlerweile klar geworden, dass das Grenzmassiv des Jugal Himal, anders als im Langtang, sehr schroffe und markante Formen aufweist. Das ist erstaunlich. Die Berge dieses Massivs erstrecken sich größtenteils nach vorn, also auf der nepalesischen Seite ihre Kämme, Zinnen, Schneefelder und überhängenden Gletscher -, während sie hinten, der tibetischen Seite zu, keine Besonderheiten aufweisen. Von seinem höchsten Punkt aus fällt der Gebirgszug steil nach Tibet ab, nicht allmählich oder stufenweise, sondern senkrecht. Von einem Standort auf dem Grat selbst aus gesehen, hat man den Eindruck, einige der Berge seien fast zweidimensional, wie ein Bühnenbild.
Ihre Umrisse scheinen tatsächlich nur aus schmalen und scharfkantigen Bergkämmen zu bestehen. Von Tibet aus sieht diese riesige Wand aus Eis und Fels sicher besonders eindrucksvoll aus. Die kahlen Berge Tibets, die einer nach dem anderen emporragten, lagen rötlich-braun vor uns und verliefen sich in der Ferne. Im Nordwesten gab es am Horizont Anzeichen breiter Ebenen, nordöstlich jedoch blickten wir auf ein riesiges Gewirr von Bergen, die auf der Karte überhaupt nicht verzeichnet waren. An ihrer Stelle befand sich ein breiter weißer Streifen mit der Aufschrift »unvermessen«. Tausende von Metern unter uns lag eine Alm mit zugefrorenen Seen, und noch etwas weiter entfernt entdeckten wir ein Flusstal. In diesem Tal befand sich, allerdings vor unseren Blicken verborgen, der tibetische Grenzposten Nyenam, der, wie man uns sagte, mit chinesischen Kommunisten besetzt war. Wir waren davor gewarnt worden, die Grenze zu ihrem Territorium zu überschreiten. Abgesehen von diesem breiten Pass, wo wir uns rein theoretisch gesehen auf unserem Felsvorsprung sitzend nur wenige Meter über der Grenze befanden, war es jedoch ausgeschlossen, aus Versehen den Jugal Himal zu verlassen und unbefugt die Grenze zu überschreiten. Die einzige Möglichkeit, von einem der Punkte, die wir im Grenzgebiet erreicht hatten, nach Tibet zu kommen, hätte im freien Fall bestanden. Nachdem wir das verbotene Land zur Genüge betrachtet hatten, wandten wir unsere Aufmerksamkeit dem Ladies-Peak zu, den wir zu besteigen hofften. Wir entdeckten, dass unser Vorhaben alles andere als einfach werden würde und der Gipfel von unserem jetzigen Standort fast unmöglich zu erreichen war. Im Norden und Süden fiel er extrem steil von einem langen messerscharfen Grat mit schweren Wechten ab, und er schien für beladene Bergsteiger nicht in Frage zu kommen. Enttäuscht sahen wir nach Osten, um noch einen weiteren sehnsüchtigen Blick auf den niederschmetternden Einstieg zur Nordflanke der Phurbi Chyachu zu werfen. Was für ein Berg! Seine Eis- und Felsformationen neigten sich in fantastischer Weise auseinander und bildeten groteske Formen. »Wie eine sich öffnende Blume«, fand Betty. Wir wandten unseren Blick schnell wieder ab.
Die Phurbi Chyachu war nichts für uns. Doch Ang Temba, der mit Betty und Evelyn heraufgekommen war, wollte seine Missachtung zum Ausdruck bringen. Rasch überquerte er den Pass und lief den Grat hinauf. Er hatte eine unserer Markierungsflaggen dabei und ging, bis er an der ersten Eiswand nicht mehr weiterkam. Dort steckte er die Fahne in den Boden, wie ein Straßenkind, das einer Adeligen einen Streich spielt, und kehrte triumphierend zurück. Wir hatten vollstes Verständnis, waren aber leider der Ansicht, wir würden die Fahne noch brauchen. Also schickten wir ihn zurück, um sie zu holen. Während Betty auf dem Felssims blieb (völlig versunken in begeisterter Betrachtung und die stummen Erinnerungen an die Pflicht ignorierend, die in Form von Fernglas, Kompass, Belichtungsmesser und einer Vielzahl von Linsen und Filtern um sie herum lagen), überquerten Evelyn, Mingma und ich noch einmal den Pass, um die Berge im Westen in Augenschein zu nehmen, besonders den einen, den wir besteigen wollten. Fast sofort entdeckten wir eine Möglichkeit - oder besser gesagt: Wir entdeckten die einzige Möglichkeit. Es war ein Berg mit einem langen, sanft ansteigenden Hang aus blankem blauem Eis, der hinauf zu einem kuppelförmigen Gipfel führte. Verglichen mit seinen unbezwingbar erscheinenden Gefährten sah er eher harmlos aus - fast einladend. Doch er wirkte auch recht unzugänglich. Er befand sich weiter nördlich als alle, anderen, darum war er vom Hauptgletscher aus nur schlecht zu sehen gewesen. Um ihn zu erreichen, musste man einen schwierigen Gletscher überwinden, den wir bisher nicht weiter beachtet hatten, da uns sein Anblick abgeschreckt hatte. Hinter diesem Berg ragte ein schöner Kegel aus Eis und Schnee empor, den wir als den großen weißen Gipfel rechts des Dorje Lakpa wiedererkannten. Er hatte keinen Namen, war aber laut Karte über 7000 Meter hoch. Er war der höchste Berg des Jugal Himal und der einzige Gipfel in dem gesamten Gebiet, der auch noch erreichbar erschien. Allerdings waren wir sicher, dass er eine so kleine Expedition wie die unsrige überfordern würde: Wir würden zusätzliche Lager benötigen, für die wir weder die Ausrüstung noch die erforderliche Anzahl an begleitenden Bergsteigern und Trägern hatten. Mingma deutete auf den kuppelförmigen Gipfel und sagte: »Das ist ein guter Berg, Memsahib. Warum steigen wir nicht dort hinauf? Er ist viel höher als der andere mit dem schmalen Grat. «
Nachdem ich seine Bemerkungen übersetzt hatte, fügte ich sarkastisch hinzu: »Natürlich erreichen wir ihn über diesen wunderbaren Gletscher, wo wir geschickt den Lawinen ausweichen müssen.« Dieser »wunderbare Gletscher« war der schwierige, der zum Gipfel hinaufführte und auf den Mingma in unserem Gespräch am Vortag hingewiesen hatte. Wir hatten an diesem Morgen vom Lager aus mit wachsendem Interesse zu ihm hinübergesehen, ihn allerdings bis zu diesem Moment nicht als ernst zu nehmende Möglichkeit in Betracht gezogen. Der Gletscher fiel von dem großen weißen Gipfel und dem kuppelförmigen Berg aus zum Phurbi Chyachumbu ab und war recht steil. Seine untere Hälfte bestand aus einem Eiswasserfall, und seine rechte Seite war von Lawinen überrollt worden, die von dem hoch aufsteigenden Gipfel oberhalb abgegangen waren. Auf der linken oder Nordseite befand sich eine Art Schneekorridor, der auf den ersten Blick der Schlüssel zu seiner relativ sanft ansteigenden oberen Hälfte zu sein schien. Allerdings war dieser Korridor auch lawinengefährdet, denn darüber hingen an manchen Stellen Eiswechten. Der Mittelteil des Gletschers war lawinensicherer, dafür aber von riesigen Gletscherspalten durchzogen. Der ganze Gletscher hatte die Form eines Ypsilons und gabelte sich unter einem Felspfeiler des großen weißen Gipfels. Ein Arm verschwand nach Norden hinter dem kuppelförmigen Berg. Wir waren der Meinung, er müsse von einem hohen Pass des Grenzmassivs herunterkommen. Der andere Arm verlief in südwestlicher Richtung zu einem Bergrücken, der so aussah, als ob er zu einem Pass zum Anfang des Dorje-Lakpa-Gletschers führte. Sollten wir es wirklich schaffen, über den steilen Eiswasserfall hinauf zu den sanfter ansteigenden, aber trotzdem noch steilen Hängen des oberen Gletschers zu gelangen, dann könnten wir am Kreuzungspunkt des Y unser Lager aufschlagen. Es war abzuwarten, ob wir noch ein zusätzliches Lager weiter oben oder genau unterhalb des Grenzgrates bräuchten, von wo aus wir dann den letzten Anstieg auf unseren Berg in Angriff nehmen konnten. Von einem Lager im Verbindungspunkt des Y aus hätten wir zudem die Möglichkeit, den Bergrücken über dem Dorje-Lakpa-Gletscher zu besteigen, um uns zu vergewissern, ob es sich um einen wirklichen Pass handelte oder nicht. Evelyn verkündete, ihrer Ansicht nach sei der Mittelteil des Gletschers recht lawinensicher. Wir stimmten ihr zu. Das Problem bestand jedoch darin, einen Weg an den klaffenden Gletscherspalten vorbei zu finden, die den Mittelteil des Eisfalls durchzogen. Sogar aus der Entfernung sahen sie Ehrfurcht gebietend aus. Trotzdem begannen wir gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu umgehen. Durch diese Gespräche machten wir uns gegenseitig Mut und gewannen allmählich eine optimistische Haltung. Völlig begeistert eilten wir zu Ang Temba und Betty zurück, die schon vorher, gänzlich uneinsichtig, mit der Fahne umgekehrt waren. Nach Ansicht der Sherpas mussten wir nun unbedingt eine Steinpyramide errichten.
»Wir sind die Ersten, die jemals hier oben waren«, erklärte Mingma. Es lag genug Baumaterial überall herum, das wir verwenden konnten, da der Felsvorsprung ein einziges Durcheinander aus losen Schieferplatten war. Wir halfen alle, die Sherpas waren jedoch die Architekten, mit dem Ergebnis, dass die Steinpyramide am Ende ein sehr stattliches Chorten wurde. Wir fanden, es sei eine weit bessere Idee, ein Chorten aus bescheidener Dankbarkeit zu Ehren Buddhas erbaut zu haben, als eine Steinpyramide aus reiner Selbstbeweihräucherung. Mingma und Ang Temba kletterten anschließend auf eine der verrückten Felsnadeln und errichteten in einem bedauernswerten Anflug von Draufgängertum ein weiteres Chorten auf ihrer Spitze. Evelyn und ich betrachteten den Felsen misstrauisch und unternahmen keinen Versuch, ihnen zu folgen. Betty jedoch stieg den Sherpas nach. Der Fels war schroff und bröckelig - von derart, wie man ihn in Alpträumen erklimmt. Daher blieb sie nicht lange mit ihnen zusammen oben, nachdem sie mutig bewiesen hatte, dass eine Memsahib das Recht hatte, genauso gefährlich wie ein Sherpa zu leben, sondern zog sich würdevoll zurück. Es war nun sehr kalt geworden.
Der Wind blies in eisigen Böen über den Pass, und die Berge Tibets waren in Wolken gehüllt. Es wurde Zeit für den Abstieg. Unterwegs hielten wir an, um Bettys Zustimmung für unseren neuen Plan zu gewinnen. Sie war begeistert, und die ganze Gruppe kehrte in ausgelassener Stimmung zum Lager zurück. Außer Chhepala, der in der Sonne schlief, war niemand bei den Zelten. Kusung und Bahu holten die Lebensmittelkisten von Lager II A herauf. Da wir unsere Pläne geändert hatten, war dies nun nicht mehr nötig, und wir schickten Chhepala los, ihnen nachzueilen und sie zurückzurufen. Wir anderen machten eine Teepause, aßen Kekse und die Sardinen vom Mittagessen und freuten uns zu sehen, dass die Nachmittagswolken nur sehr halbherzig höher stiegen. Es sah fast so aus, als ob sie völlig vorbeiziehen würden. Später kamen Mingma und Ang Temba von einem kurzen Ausflug außer Sichtweite zurück - dem wir uns, wohl erzogen, nicht angeschlossen hatten - und berichteten, sie hätten einen schnelleren Weg nach unten entdeckt. Einen steilen, aber praktikablen Schneecouloir, der in den Hauptgletscher mündete. Die Zeit verging, die Wolken kamen und gingen, und es war warm genug, draußen auf unseren Luftmatratzen zu sitzen und an unseren Tagebüchern weiterzuschreiben, Fotokommentare niederzuschreiben und die Karte und Kompassanzeigen zu studieren. Unterdessen war von den drei Sherpas nichts zu sehen. Wir vermuteten allmählich, Chhepala hätte unsere Anweisungen missverstanden und die drei seien zum Lager II A zurückgekehrt, um dort auf uns zu warten.
Mingma, der sich ein wenig schuldig fühlte, dass er es ihnen nicht deutlich genug erklärt hatte, machte sich pflichtbewusst auf den langen Weg, um sie zurückzuholen. Die Wolken lichteten sich im Verlauf des Nachmittags vollständig. Es war der erste klare Nachmittag, seit wir das Basislager erreicht hatten, und wir wussten dies sehr zu schätzen. Es war ein Tag, der alle Qualitäten besaß, um einmalig glücklich und denkwürdig zu sein ein makelloser Tag, für den die Arbeit und Anstrengung der vergangenen Wochen und Monate ein geringer Preis zu sein schienen. Nun begann Ang Temba sich wegen Mingmas langer Abwesenheit Sorgen zu machen. Er lief ruhelos umher, kickte leere Dosen in Gletscherspalten und hastete von einem Beobachtungsposten zum nächsten, in der Hoffnung, die zurückkommenden Männer zu entdecken. Schließlich wurden auch wir unruhig. Es wurde spät. Aber endlich stieg Ang Temba, der unterwegs gewesen war, um nachzusehen, ob die Sherpas vielleicht den neu entdeckten Couloir heraufkämen, einen er-leichterten Schrei aus. Wir eilten zu ihm hin und fanden ihn viel zu nahe an einer riesigen Schneewechte, die über den Hauptgletscher hing. Wir zogen ihn unter Protest zurück, über den er fröhlich hinwegging und ausrief-. »Dort, dort sind sie!« Dabei stieg er den schrillen weithin hörbaren Pfiff der Sherpas aus. Es ertönte ein schwaches Antwortecho.
Er deutete über den Gletscher, und endlich sahen wir, weit unten und direkt am Fuß des Eiswasserfalls, den wir am nächsten Tag hinaufkIettern wollten, eine Reihe von Punkten. Es waren Mingma und die zwei Sherpas. Durch unsere Ferngläser konnten wir sehen, dass sie sich vernünftigerweise angeseilt hatten und auch eine Lebensmittelkiste trugen. Mingma war den ganzen Weg bis ins Lager II A zurückgegangen, er schwitzte stark. Dann hatte er einen Geistesblitz. Warum nicht eine der Kisten am Beginn des morgigen Aufstiegs deponieren? Also nahm er Chhepala und Bahu auf unserer Route vom Vortag mit zurück zum Lager III A. Kusung ging nicht mit, da er müde war.
Wir beobachteten sie, wie sie über den Gletscher zurückkamen und dann langsam den langen Couloir zu uns hinaufstiegen. Als sie fast oben waren, kam Kusung mit gesenktem Kopf ins Lager geschlurft, zu müde, um auf unsere Begrüßungsrufe mit seinem üblichen herzlichen Lachen zu antworten. Die anderen Sherpas kletterten kurz danach über den Rand des Couloirs, und wir gratulierten ihnen und hießen sie mit Tee willkommen. Sie grinsten breit und freuten sich, die Helden des Tages zu sein.