Prolog

Im Frühjahr 1955 bildeten wir - drei unbedeutende Bergsteigerinnen ohne Ambitionen nach Ruhm - die erste Expedition der Geschichte im Himalaya, die ausschließlich aus Frauen bestand. Zunächst einmal ist mir die Feststellung wichtig, dass der Punkt, »die Ersten« gewesen zu sein, völlig unbeabsichtigt war. Erst nach Beginn unserer Planungen wurde uns bewusst, dass wir einen Präzedenzfall darstellten. Viele Frauen, auch ich selbst, waren schon im Himalaya geklettert. Es fiel uns zunächst gar nicht auf, dass dies immer als Teilnehmerinnen von Expeditionen unter männlicher Führung geschah. Natürlich freuten wir uns, als wir entdeckten, dass wir in mehrerer Hinsicht »Pionierinnen« waren. Das würde unsere Chancen auf finanzielle Unterstützung von Sponsoren erheblich vergrößern. Andererseits ahnten wir, dass wir uns deswegen auch mit einigen Vorurteilen auseinander zu setzen hätten. Beide Vermutungen erwiesen sich als richtig. Wie sich herausstellte, schafften wir jedoch alles, was wir uns vorgenommen und erhofft hatten: Wir fanden einen Weg durch die niedriger gelegenen Schluchten zu den Gletschertälern des Jugal Himal, dann weiter hinauf zu den Gletschern im Herzen des Gebirges. Wir entdeckten Pässe, die über die Bergketten führten und einen Gletscher vom anderen trennten. Wir überprüften und korrigierten die Genauigkeit unserer Karten da wir in völlig verlagenem Territorium ganz auf uns selbst gestellt waren und nur aus der Ferne überwacht wurden - und erkundeten das letzte unerforschte Gebiet des nepalesischen Himalaya. Außerdem bestiegen wir einen bis dato nicht verzeichneten Berg und gaben ihm einen Namen. Im Jahr 1954 sollte ich vor den Damen des Ladies' Scottish Climbing Club, der schottischen Bergsteigerinnenvereinigung, deren Mitglied ich war, einen Vortrag halten. Mein Thema war erstens, dass das Klettern im Himalaya, entgegen dem allgemeinen Glauben, für erfahrene Bergsteiger beiderlei Geschlechts nichts »Esoterisches« an sich hat. Zweitens vertrat ich die Ansicht, dass Sherpas, vorausgesetzt man behandelt sie respektvoll und freundlich, Bergsteigerinnen nicht mehr Schwierigkeiten als ihren männlichen Kollegen machen. Nach meiner Rede sprachen Elizabeth »Betty« Stark und Evelyn Camrass mich an, und wir verbrachten den Rest des Abends mit intensiven Diskussionen über eine hypothetische reine Frauenexpedition, an der noch Esmé Speakman, eine erfahrene Alpinistin, teilnehmen sollte. Von da an schien sich das Projekt wie von selbst weiterzuentwickeln.
Betty und Evelyn redeten darüber in einem Zelt in Nord-Norwegen, Esmé und ich in schweizerischen Almhütten. Später konnte man Sätze hören, die mit den Worten »Mir fällt gerade noch etwas ein, was wir unbedingt berücksichtigen müssen ... « begannen. Sie wurden auf unseren Touren in Glencoe und auf den Ben Nevis von Fels zu Fels gerufen und vom Sturm in nebligen Hochtälern davongeblasen. Während wir zitternd hinter Felsbrocken vor Schneestürmen in schottischen Bergen Schutz suchten und durchnässte Sandwiches aßen, schmiedeten wir weitere Pläne. Wir trafen Vereinbarungen bei Kerzenlicht und einer Tasse Tee in schottischen Berghütten. So nahm unser Abenteuer innerhalb eines Jahres trotz aller Zweifel und Rückschläge Gestalt an und konkretisierte sich zusehends. Wie auf einem Zauberteppich, gewebt aus unseren eigenen Bemühungen, wurden wir schließlich bis zum »Dach der Welt« getragen: in den Himalaya, dem höchsten Ziel aller Bergsteiger.
Und dann - im letzten Moment - wurde Esmé krank und konnte nicht teilnehmen. Das war eine bittere Enttäuschung für sie selbst und ein ziemlicher Tiefschlag für uns andere. Sie war unsere erfahrenste Kletterin, unsere beste Fotografin und die Einzige, die kartographische Kenntnisse besaß. Wie sehr wir sie achteten und respektierten, zeigt sich in dem Umstand, dass wir sie trotz ihrer Abwesenheit immer als Teil der Expedition betrachteten. Wir drei anderen waren Menschen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen und Persönlichkeiten. Aber wir hatten zumindest folgende Gemeinsamkeiten: unsere Liebe zu den Bergen und unberührten Plätzen auf dieser Erde, unser Können und die Achtung vor der Kunst des Bergsteigens. Evelyn hatte gerade den Doktorgrad erlangt, Betty arbeitete als Sprachtherapeutin und Lehrerin, und ich war freie Journalistin, Ehefrau und Mutter. Obwohl wir uns bewusst waren, welch großes Glück wir während unseres ganzen Abenteuers hatten, ahnten wir nicht, was für ein Privileg es war, zu der damaligen Zeit in diesen Bergen unterwegs zu sein. Wettbewerbsdenken und Kommerzialisierung haben mittlerweile deutliche Spuren menschlicher Eingriffe an diesen Stellen, die zu den traumhaftesten der Erde gehören, hinterlaßen. Da sie heutzutage für jeden zugänglich sind, wurde das Verhältnis zwischen Bergbewohnern und Touristen durch die Masse der Besucher merklich getrübt. Wer unerforschtes Gebiet entdecken will, ist auf immer anspruchsvollere Routen auf einzelne Berge angewiesen. Natürlich sind die Gipfel auch heute noch atemberaubend schön. Aber trotzdem empfinde ich es als besonderes Geschenk, dass wir unsere Tour zu jener Zeit unternahmen, als wir noch die Möglichkeit hatten, über völlig unberührte Schneefelder zu gehen und die Karten zu ändern. All dies liegt nun über vierzig Jahre zurück. Was ist aus uns geworden? Betty, die mit ihrem Mann in Amerika lebt, ist von ihrer Professorinnenstelle pensioniert. Evelyn und ich leben immer noch in unserem Geburtsland Schottland. Sie ist auch in Pension gegangen und hat ihre gynäkologische Praxis aufgegeben. Ihre Kinder und Enkel halten sie in Bewegung, außerdem klettert sie noch immer und läuft Ski. Auch ich habe Enkel, bin in Pension - mit einem Doktortitel in Anthropologie - und habe mein Forschungsgebiet von sozialen und demographischen Studien zu der Aufgabe hin verlegt, eine Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Metaphysik zu finden. In gewisser Hinsicht sind wir alle drei noch immer am Forschen.

Oft wurde mir die folgende Frage gestellt, die allen Bergsteigerinnen vertraut sein dürfte: Was konnte zwei sensible Frauen dazu bewegen, ihre Arbeit aufzugeben, und eine dritte dazu, ihre geliebte Familie zu verlaßen? Und das alles, um sich extremen Unannehmlichkeiten und möglicherweise sogar lebensgefährlichen Situationen auszusetzen, während sie auf einigen besonders einsamen, fremdartigen und rauen Unebenheiten der Erdoberfläche herumkrabbelten. Eine präzise Antwort auf diese Frage kenne ich nicht. Ich kann nur sagen, dass es sicher nicht wegen des Nervenkitzels war, obschon wir manchmal »aufregende« Situationen erlebten. Wir taten es auch nicht, um uns absichtlich in Furcht erregenderen Risiken und Gefahren zu beweisen als jemals zuvor. Ich denke, dass wir - wie viele andere Bergsteiger im Himalaya auch - eine Art Pilgerreise unternahmen. Meinem Empfinden nach bringen die folgenden Zeilen von Matthew Arnold die Beweggründe sehr gut zum Ausdruck:

Bist du den Bergen verbunden?
So lass mich mit dir gehen,
dorthin, wo hinter eis'gen Schranken
unendlichen Weiten aus Schnee,
durch leichte Wolken verschleiert,
die weißen Gipfel den Himmel berühren.
Wie tief ist die Stille.
O wäre ich nur da!

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