Bei Nacht und Nebel

Unsere Expedition dauerte knapp zwei Monate, wir benötigten jedoch neun Monate zur Vorbereitung. Außergewöhnlich gute Bergsteigerinnen waren wir nicht, dafür aber genaue und sorgfältige Organisatorinnen. Keine von uns war ein Beispiel an Effektivität, und die detaillierte Planung, die wir mit unserem Beruf bzw. unseren Aufgaben in Haushalt und Familie zu vereinbaren hatten, ging uns oft gegen den Strich. Aber jedes Mal, wenn wir uns vertaten und Probleme auftauchten, sagten die Leute: »Diese Frauen sollte man niemals allein in die Berge lassen!« Diesen Zweiflern wollten wir unter keinen Umständen Recht geben. Es erschien uns nicht notwendig, eine von uns als Anführerin zu wählen, da wir alle sehr individuelle Persönlichkeiten sind und daher auf gleichberechtigte Weise wahrscheinlich besser zusammengearbeitet haben, als wenn eine die Führung übernommen hätte. In den meisten Fragen bezüglich der Expedition waren wir uns einig, und über anstehende Entscheidungen stimmten wir immer gemeinsam ab. Unser größtes Problem zu Beginn war die Auswahl des Zielgebiets. Die Hochebenen von Charwal und Sikkim, die zu den schönsten Gegenden des Himalaya zählen, schieden aufgrund gesetzlicher Beschränkungen der indischen Regierung aus. Das Karakorum-Gebirge stellte mit seinen vielen gigantischen Gipfeln zwar eine große Versuchung dar, war aber leider recht teuer und auch zu schwierig für uns. Also blieben noch Kullu und Nepal. In Kullu gab es unerforschtes Gelände und unbestiegene Gipfel, und man erzählte uns, dass viele dieser Beinahe-Siebentausender weniger gewaltig und Furcht erregend als in anderen Gebirgszügen wären. Allerdings erschien uns dieses Gebiet als zu bekannt und »überlaufen«. Im nepalesischen Himalaya würden wir andererseits gefährliche Schluchten, kaum erkundete Gegenden und Gipfel antreffen, die als unbezwingbar galten. Wir entschieden uns schließlich für Nepal als das größere Abenteuer vielleicht sogar zu groß. Die nepalesische Nordgrenze verläuft 800 Kilometer entlang der Hauptkette des Himalaya, deshalb mussten wir unsere Wahl noch weiter eingrenzen. Wir wandten uns an Douglas Scott, einen erfahrenen Teilnehmer an zwei schottischen Himalaya-Expeditionen mit einem besonderen Gefühl für abenteuerliche und doch exakt ausgearbeitete Tourenpläne. Ohne Zögern deutete er auf eine große Schleife der Himalaya-Kette nordöstlich von Kathmandu und sagte nachdenklich: »Dort hat sich bis jetzt wenig getan. Ich interessiere mich selbst schon lange für diesen Teil der Welt.« Weitere Nachforschungen ergaben, dass diese Schleife den Langtang Himal, den H. W. Tilman 1949 auf einer der ersten genehmigten Bergexpeditionen nach Nepal erkundete, und den Jugal Himal umfasste. Tilmans Gruppe hatte das Langtang-Gebirge recht genau erforscht, aber aufgrund schlechter Schneebedingungen und Monsun-Nebel keine Gipfel dort bestiegen. Seitdem war diese Gegend nicht mehr begangen worden. Im Jugal Himal war bis dahin überhaupt noch niemand gewesen. Dieser hufeisenförmige Gebirgszug war unseres Wissens das letzte große unerforschte Gebiet Nepals. Dies erschien uns seltsam, da sowohl der Langtang als auch der Jugal Himal näher an Kathmandu liegen als irgendein anderer Teil des nepalesischen Himalaya. Allerdings fanden wir heraus, dass es zwei gute Gründe für die geringe Beachtung dieser Gebiete gab: Die ersten Expeditionen nach der Öffnung Nepals für Bergsteiger führten verständlicherweise vor allem zu den Giganten der großartigen Gebirgsketten, insbesondere in die Everestregion. Demgegenüber lag die höchste Bergspitze im Langtang-Jugal-Gebiet weit unter 7300 Metern Höhe. Der zweite Grund lag wohl darin, dass diese Gipfel trotz ihrer geringeren Höhe nicht einfach zu erklettern und die einzigen über sie existierenden Berichte alles andere als ermutigend waren.

Dach der Welt
Unsere Neugier wurde geweckt, als wir erfuhren, dass Tilman zwar einen Pass vom Langtang-Tal zum Jugal Himal gefunden hatte, ohne jedoch weiter in dieses Gebirge vorzudringen. Er folgte dem Gletscher auf der anderen Seite des Passes und lagerte an seinen unteren Ausläufern. »Frühmorgens«, so schrieb er, »bevor Wolken aufzogen, stiegen Tensing und ich zur Moräne hinauf, um zu sehen, wo wir uns befanden. Der Gletscher endete gar nicht weit entfernt, und sein Schmelzwasser floss in südöstlicher Richtung durch eine tiefe Schlucht ab. Dahinter konnten wir die dunkle Spalte des Haupttals erkennen. Allem Anschein nach war diese Schlucht sogar noch tiefer als die erste, und da der Wasserstand sehr hoch war, mussten wir mit allen möglichen Schwierigkeiten rechnen. (...) Wenn wir das Haupttal also von oben nicht erreichen konnten, warum sollten wir es nicht von unten versuchen, vom nächstgelegenen Bergdorf aus? Unserer Karte zufolge gab es einen Ort namens Tempathang an der östlichen Talseite in der Nähe einer Brücke. Nach unseren Erfahrungen aus dem Langtang und Ganesh Himal hätten wir von dort aus einen Zugang zu einer Hochalm im Herzen des Jugal Himal finden müssen.« Aber dieser Versuch schlug fehl. Die Einwohner Tempathangs »konnten uns nichts geben außer grünen mehligen Maiskolben und, was noch schlimmer war, sie informierten uns, dass es keinen Pfad in das Tal gäbe. Das Weideland auf den Hochalmen sei schon seit langer Zeit aufgegeben worden und der Weg hinauf daher zugewachsen und durch eingestürzte Brücken unpassierbar.« Wir beschlossen, direkt nach Tempathang zu gehen und uns von dort aus auf die Suche nach möglichen Zugängen zum Jugal Himal zu machen - falls es denn welche gab. Wir hegten wenig Hoffnung, da Tilman in seinem Bericht noch hinzufügte: »Bei einem letzten flüchtigen Blick erschienen sie (die Gipfel des Jugal; M. J.) genauso unbeugsam wie die Langtang-Gipfel und weit weniger erreichbar.«
Der zweite und größte Teil unseres Plans bestand darin, über Tilmans Pass ins Langtang-Tal zu gelangen. Wir hofften, zu den von ihm entdeckten Gebirgspässen vorzudringen und, von dort oben Tibet überblickend, bei klarem Wetter die Position zu bestimmen und zusätzliches Fotomaterial zur Dokumentation dieses Gebietes zu machen. Um dieses Vorhaben erfolgreich verwirklichen zu können, mussten wir die Monsunzeit mit ihren dichten Wolken und den angeschwollenen Flüssen meiden und entweder davor im Frühling oder danach im Herbst aufbrechen. Das Frühjahr ist die beliebteste Zeit für Trekkingtouren im Himalaya. Doch trotz herrlicher Wolkenkontraste und der Blüte vieler Hochgebirgsblumen muss man während dieser Jahreszeit auch mit schweren Gewittern und Lawinen rechnen. Das Herbstwetter ist, von ein, zwei heftigen Stürmen abgesehen, sehr viel ruhiger. Die Berge erscheinen in einer unerschütterlichen theatralischen Klarheit, wie riesige sperrige Teile einer Bühnenausstattung. Eisige Kälte und Dunkelheit treiben den Bergsteiger jedoch jeden Tag früher in seinen Schlafsack. Wir wogen all diese Punkte und einen weiteren, nämlich dass wir lieber bald als überhaupt nicht losziehen wollten - sorgfältig gegeneinander ab und entschieden uns schließlich für den Frühling.
Der erste entscheidende Schritt war getan, als wir unser Projekt dem Prüfungsausschuss des damaligen Himalayan Committee of the Royal Geographical Society (Himalaya-Ausschuss der Königlichen Gesellschaft für Geografie) und dem Alpenclub vorlegten (heute ersetzt durch die Mount Everest Foundation, die für die Genehmigung von Trekkingtouren im Himalaya zuständig ist). Nur über die Büros dieser erhabenen Institution konnten wir auf eine Einreisegenehmigung für Nepal hoffen, insbesondere da die nepalesischen Behörden angesichts kürzlicher Unruhen im Land eine reine Frauengruppe wahrscheinlich nicht unterstützen würden. Wir sahen keine großen Chancen auf eine Empfehlung des Himalaya-Ausschusses: Erstens waren wir Frauen, und zweitens zählten wir nicht annähernd zu den englischen Top-Bergsteigern. Zu unserer großen Begeisterung und Dankbarkeit schien jedoch keiner dieser Punkte eine ausschlaggebende Rolle zu spielen. Unsere allgemeine bergsteigerische Erfahrung im Hochgebirge und auf Bergtouren fiel augenscheinlich mehr ins Gewicht.
Wir hatten ein Empfehlungsschreiben vom Auswärtigen Amt an die Britische Botschaft in Kathmandu, die in direktem Kontakt zum nepalesischen Außenministerium stand. Andere maßgebliche Autoritätspersonen zeigten sich verständlicherweise nicht so zuversichtlich, was das Gelingen unseres Vorhabens anging. Manche prophezeiten uns auch, dass wir die Berge gar nicht erst erreichen, sondern schon auf dem Weg dahin umgebracht, ausgeraubt oder vergewaltigt würden. Besser Informierte wollten wissen, dass wir zwar bei den freundlichen Bewohnern der Gebirgsausläufer vollkommen sicher waren, dachten jedoch, dass wir in den Bergen selbst Schaden nehmen würden. Wieder andere vertraten die Ansicht, dass die Sherpas, deren Auftreten sich radikal geändert hatte, seit sie durch die Besteigung des Everest (* Durch Sherpa Tenzing Norgay im Jahr 1953 (Anm. d. Übers.)) ins Rampenlicht gerückt waren, uns an einem kritischen Punkt unseres Marsches einfach im Stich lassen würden. Es vergingen Monate, bevor wir erfuhren, dass unser Gesuch erst nach Vorlage einer weiteren aussagekräftigen Referenz an die Nepalesen weitergeleitet würde. Unsere Bergsteigererfahrung wäre ja schön und gut - aber was würden wir mit einem betrunkenen Sherpa anfangen? Monica begegnete diesen Einwänden überzeugend mit dem Hinweis darauf, dass Esmé Speakman als Mitglied einer Wohlfahrtsorganisation während des Krieges der Befreiungsarmee in die Niederlande und nach Deutschland gefolgt war. Außerdem berichtete sie von den Klettertouren in Nord-Norwegen, die Evelyn und ich unternommen hatten und auf denen unser Hauptproblem die andauernde zudringliche Aufmerksamkeit betrunkener Lappen in den Basislagern war. Wir gingen aus dieser »Zwangslage« mit Anstand und davon unbeeinträchtigten internationalen Kontakten hervor.
Monica selbst verbrachte einen Großteil ihres Lebens in Indien und sprach fließend wenn auch grammatikalisch unvollkommen - Hindustani. Auf ihrer vorherigen Himalaya-Expedition war sie sehr gut mit den Sherpas ausgekommen und hatte als Vermittlerin zwischen dem Expeditionsleiter und dem sirdar fungiert. Noch eine weitere, ganz zufällig auftauchende Tatsache beeinflusste die Situation zu unseren Gunsten: Ich war früher einmal per Anhalter mit einer anderen Frau durch die Alpen gereist, und wir hatten uns unterwegs mit kommunistischen LKW-Fahrern, einem sehr emotionalen Rechtsanwalt und einem Wanderzirkus herumgeschlagen ...
Dieses Mal wurde unser Antrag an die nepalesischen Behörden weitergereicht. Da wir davon ausgingen, vor unserer Abreise keinen Bescheid zu bekommen, kümmerten wir uns einfach weiter um die detaillierte Organisation unserer Tour. Wir hatten einen wichtigen Grundsatz vernachlässigt, den W. H. Murray einmal folgendermaßen formulierte: »Wenn man eine Expedition, beispielsweise in den Himalaya, unternehmen will, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass man sich zuallererst mindestens 350 Pfund zusammensparen muss - oder jemanden davon überzeugen, einem diesen Betrag zur Verfügung zu stellen. Vorher ist an Aufbruch nicht zu denken.« Das war 1951. Die Kosten im Himalaya sind seither gestiegen. Heute muss man mit 450 Pfund (pro Person!) kalkulieren. (1951 entsprachen 350 britische Pfund etwa 400 DM. 1956 waren 450 Pfund etwa 5 300 DM) Ganz ohne Geld waren wir nicht aufgebrochen: Esmé Speakman hatte uns, obwohl sie nicht mitkommen konnte, ein großzügiges Darlehen gegeben. Aber wir hatten immer noch nicht annähernd genug für eine Expedition. Außerdem fehlte uns die Zeit, es anzusparen. So blieb uns nur die Möglichkeit, jemanden zu überzeugen, uns zu sponsern.
Diese schwierige Aufgabe übertrugen wir Monica, da sie in der Großstadt London lebte. Wir wussten, dass uns als erster reiner Frauenexpedition im Himalaya ein gewisses Öffentlichkeitsinteresse sicher war. Allerdings wollten wir uns auch nicht als billige Schaunummer verkaufen. Wir verdanken es letztendlich einem gewissen sportlichen Interesse bei Redaktionen und Verlagen, dass wir überhaupt bis zum Jugal Himal kamen. Aber erst kurz vor unserer Abreise hatten wir dieses Problem endlich gelöst. Monica kümmerte sich auch um die vier Sherpas, die wir nicht als Führer - in unerforschtem Gebiet kann es keinen Führer geben -, sondern als Lastenträger brauchten. Sie schloss Versicherungen für sie ab, beantragte zollfreie Einreise- und Ausfuhrgenehmigungen, besorgte eine Erlaubnis der Bank auf England, genug Geld nach Nepal mitnehmen zu dürfen, und Kartenmaterial. Nach einer Weile begann sie, alles in dreifacher beziehungsweise in vierfacher Ausfertigung zu sehen. Ich plante die Lebensmittelversorgung, beschaffte die gesamte Expeditionsausrüstung und erstellte Listen, was jede von uns an persönlichen Gegenständen mitzunehmen hatte. Stuart Bain von der Firma Andrew Lust & Co, der viel Erfahrung bei Expeditionen zum Everest, Kangchenjunga und in die Antarktis gesammelt hatte, übernahm das Verpacken und Verschiffen unserer Vorräte und eines Teils der Ausrüstung. Auf seinen Rat hin stellte ich einen genauen Plan auf und verteilte die verschiedenen Lebensmittel so, dass in jeder Kiste ein kompletter Wochenvorrat verpackt war. Sollte eine Kiste zum Beispiel in einen reißenden Fluss fallen, würden wir auf diese Weise nicht alle unsere Suppen oder Marmeladegläser verlieren. Außerdem musste ich darauf achten, eine besondere Auswahl für die Wochen hoch oben in den Bergen zu treffen, wo wir der Höhe entsprechende Rationen benötigen würden.
Diese Aufgabe war schwieriger, als man vielleicht denkt: Gerade wenn ich ein wirklich wunderschönes Set auf meiner Liste zusammengestellt hatte, kam Stuart Bain und erklärte: »Du kannst nicht 500 Gramm Kekse in Kiste 7 packen. Kekse gibt es nur in 1-Kilogramm-Packungen.« Oder Evelyn, deren Kommentare immer mit »ich esse alles ...« begannen, schaute mir über die Schulter und schränkte diese Aussage bei fast allen Artikeln auf meiner Liste sofort wieder ein. »Wir sollten unbedingt noch Süßigkeiten mitnehmen«, beendete sie schließlich ihre Überprüfung, »falls wir uns mal niedergeschlagen fühlen.« Der Menge und Auswahl der vorgeschlagenen Süßigkeiten nach zu urteilen, rechnete sie nicht damit, dass die Expedition besonders fröhlich verlaufen würde. Zu guter Letzt kam dann Monica und sagte vorwurfsvoll: »Du hast nur 24 Büchsen mit Sardinen. Ich liebe Sardinen.« Unsere Kletterausrüstung mussten wir auf ein Minimum beschränken und nur die allernötigsten Dinge mitnehmen. Daunenkleidung konnten wir uns nicht leisten, und glücklicherweise war kein Sauerstoff für die von uns angestrebten Höhen notwendig. Sehr viel kostete uns die Ausrüstung für die Sherpas, die wir zu stellen hatten. Da wir nicht wussten, dass auch die Ansprüche der Sherpas gestiegen waren, kauften wir nur gebrauchte Sachen. Früher hatten schottische Expeditionen triumphierend die Glasgow Barrows, einen Secondhand-Markt, aufgesucht, wo man Stiefel, Windjacken, Reisetaschen und Schutzbrillen zu unglaublich günstigen Preisen aufstöbern konnte. Aber diese glücklichen Tage waren vorbei. Meine einzige Errungenschaft waren einige wollene Unterhemden. Ich wage zu behaupten, dass unsere Sherpas die ersten waren, die ihre Sachen von den Expeditionsteilnehmern selbst gewaschen, gelüftet und geflickt erhielten. Jedenfalls war es ein besonderer Glücksfall, dass ich von einem Billigverkauf langer Männerunterhosen erfuhr: Eine Kameradin aus unserem Bergsteigerinnenclub stürzte sofort los, stellte sich viermal hintereinander in die Schlange (die Hosen wurden nur einzeln verkauft) und sicherte uns so die günstigen Preise.
Viele Firmen stellten uns kostenlos oder zu speziellen Konditionen Lebensmittel und Ausrüstung zur Verfügung. Manche Hersteller wiesen uns sogar darauf hin, dass wir noch nicht ausreichend versorgt wären, was besonders großzügig war, da Himalaya-Expeditionen immer populärer wurden und alle offensichtlich zur gleichen Zeit wie wir als Bittsteller unterwegs waren. Abgesehen von den anfänglichen Akzeptanzproblemen bekamen wir jedoch von allen Seiten tatkräftige Unterstützung, egal ob von Geschäftsleuten, staatlichen Angestellten oder englischen, indischen und nepalesischen Beamten. Viele Vereinbarungen und Genehmigungen wurden sogar speziell für uns ausgestellt. Ohne Zweifel hatten wir als Frauen einige Vorteile, obwohl wir diese Tatsache niemals bewusst einsetzten, um eine Sonderbehandlung zu genießen. Die Leute waren entweder aufrichtig an unserem Abenteuer interessiert, oder sie wollten uns zumindest keine Steine in den Weg legen und für unsere Schwierigkeiten verantwortlich sein, oder sie hatten Angst, uns am Hals zu haben, falls etwas passierte.
Dach der Welt
Evelyn, die neben ihrer Arbeit in einer Schwangerschaftsklinik die wenigste Zeit erübrigen konnte, informierte sich über Tropenmedizin, sorgte dafür, dass wir alle ausreichend geimpft wurden, und kümmerte sich mit Hilfe der wertvollen Beratung von Himalaya-erfahrenen Arztkollegen und Pharmazeuten um unsere Reiseapotheke und medizinische Ausstattung. Ich fand es recht unfair, dass ich ihre Listen im Gegenzug nicht kritisieren und verbessern konnte, da sie für mich leider aus lauter geheimnisvollen Dingen bestanden, mit denen ich überhaupt nichts anfangen konnte. Aber als Evelyn einmal hochtrabend erklärte, sie »habe genug Antacid dabei, um ein ganzes Kriegsschiff zu versenken«, nützte ich die Gelegenheit, um zu entgegnen: »Ich habe genug Trockengemüse, um die gesamte Expedition zu versorgen, was ja wohl wichtiger ist.« Immer wieder musste ich alles auflisten und bewerten: für das englische Hochkommissariat in Neu-Delhi, für die Verpackungsleute, die indischen Zollbehörden, den Handelsausschuss, die P & O-Dampfschiffsverkehrsgesellschaft und - so kam es mir zumindest vor - für alle ihre Freunde. Wir waren versucht, unsere neu gewonnene Gerissenheit einzusetzen und alle Artikel zweimal zu bewerten: einmal für den Zoll, an den wir im Verlustfall den festgesetzten Warenwert zu bezahlen hätten, und einmal für die Versicherungsleute, die uns den dadurch entstandenen Schaden wieder ersetzen würden. Im letzten Moment entdeckten wir aufgrund dieser »Jonglierereien«, dass wir Topfkratzer und Seife vergessen hatten. Es fiel sehr schwer, während dieser ganzen Organisationsangelegenheiten körperlich im Training zu bleiben. Angesichts der kurzen Strecke von Kathmandu zu dem von uns gewählten Gebiet war das jedoch besonders wichtig. Evelyn und ich gingen an den Wochenenden so oft wir konnten klettern oder Ski fahren und beließen es dabei. Monica, die in London lebte, konnte nicht so oft in die Berge fahren, strengte sich dafür aber im Vergleich zu Evelyn und mir umso mehr an. Jeden Morgen rannte sie eine Runde im Regent's Park. Es war noch so dunkel, dass sie über die schlafenden Enten stolperte, aber die sichtbaren Erfolge rechtfertigten ihr umfangreiches Programm.
Es erscheint mir auch nicht mehr lächerlich, bei der Beantragung der Klettererlaubnis im Himalaya als Tätigkeit »Hausfrau« angegeben zu haben - eine sitzende Arbeit, die einen in schlechtem Training hält. Wir achteten darauf, unsere Pläne nicht an die große Öffentlichkeit zu bringen, da wir übermäßige Publicity und unangemessene Berichterstattung in der Presse befürchteten. Unsere Erwartungen waren bescheiden, und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass wir scheiterten. Zu dieser Zeit nannten wir uns die »Nacht-und-Nebel-Expedition«. Evelyn, der Geheimnistuerei eher fremd ist, hatte großen Spaß daran, gab überall versteckte Hinweise und erzählte den meisten unserer Freunde, unter dem Siegel der Verschwiegenheit, alles über unser Projekt. Dann erfuhren wir aus Kathmandu, dass unser Antrag endlich bestätigt war. Wir mussten uns an die Idee gewöhnen, dass es nun also tatsächlich losging. Außerdem sahen wir uns mit einer weiteren, eher beunruhigenden Tatsache konfrontiert: Bei Erhalt der offiziellen Bekanntgabe stellten wir fest, dass unsere Erlaubnis nur für den Jugal Himal galt. Raymond Lambert und ein belgischer Wissenschaftler hatten eine Genehmigung für den Langtang Himal bekommen, und die nepalesische Regierung wollte verständlicherweise nicht mehr als eine Expedition gleichzeitig in einem bestimmten Tal zulassen, aus Angst, die örtliche Wirtschaft durcheinander zu bringen. Also mussten wir unsere Planung in letzter Minute noch einmal völlig umstellen. Aber wir würden einen Weg in den Jugal Himal finden!
Das nötige Kartenmaterial für Nepal sollten wir in Neu-Delhi bekommen, aber die indische Regierung erlaubte nicht, es außer Landes zu bringen, und in England gab es unseres Wissens keine Unterlagen über unser Zielgebiet. Monica war Mitglied der Königlichen Gesellschaft für Geografie geworden und hatte entdeckt, dass man sämtliche Karten von Nepal in deren Bibliothek einsehen konnte. Die Karte vom Jugal Himal schien Tilmans Bericht zu bestätigen. Es gab keine Dörfer in unmittelbarer Bergnähe - Tempathang liegt auf 2500 Metern Höhe - und keine Pässe über die Hauptkette. Darin unterschied sich diese Gegend eindeutig vom Langtang Himal oder der Everest-Region. Der Balephi-Khola-Fluss, der den Jugal Himal durchzieht, und seine Nebenflüsse graben tiefe Schluchten. Wahrscheinlich würden wir Tage damit verbringen, bis wir beim Aufstieg auf der einen Seite einen Übergang über das reißende Wasser finden würden. Dann wieder das Gleiche beim Abstieg auf der anderen Seite und auf dem ganzen Weg würden wir womöglich auch noch Trägerprobleme haben. Das Innere des Jugal-Hufeisens ähnelte einem Nanda-devi-Heiligtum, und der Himmel allein wusste, ob wir überhaupt jemals dahin gelangen würden und, wenn ja, heil wieder heraus.

 

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