- HÜTE DICH VOR DEM SPIEL, VOR DES SCHAUSPIELERS ROLLE
DER REDE, DIE ENTWORFEN, GELERNT, GESPROCHEN WIRD, DENN SIE WIRD DICH VERRATEN, UND DANN STEHST DU DA, WIE EIN NACKTER KLEINER JUNGE, DER IN SEIN KINDERBETTCHEN PINKELT.
ANNE SEXTON, »RAT AN EINEN GANZ BESONDEREN MENSCHEN«, 1974
Sommer 1989. Ich war fünfzehn und fühlte mich ungeheuer erwachsen. Es war ein klebriger, schweißtreibender Sommer in Minnesota. Ich war high und betrunken durch die neunte Klasse gestolpert und hatte sie auf die gleiche Weise hinter mir gelassen. Endlich würde ich, so sagte ich zu meinen Freundinnen während der Abendessen, die die ganze Nacht dauerten, während ich Kaffee trank, das Haar zurückwarf und den jungen Rauch ins Gesicht blies, zum Teufel noch mal aus diesem Kleinstadtnest herauskommen. Ich bereitete mich auf meine Abreise ins Internat vor und hatte nicht die Absicht, jemals wieder zurückzukehren. Ich verbrachte faule Sommernächte damit, in fremden Autos herumzufahren, die Fenster heruntergekurbelt, über die Musik hinweg schreiend. Ich betrachtete mein Spiegelbild im Heckfenster, probierte neue Gesichter aus, Gesichter, die einem Mädchen von Welt besser zu Gesicht standen, einem Mädchen, das seinen Weg machen würde, einem selbständigen Mädchen: Schlafzimmerblick, gleichgültiger Blick, flüchtiger Blick, langsames Lächeln. ich stellte mir vor, wie ich meine Eltern von der Schule aus anrief, ihnen beiläufig von meinen großartigen Leistungen berichtete. Ich stellte mir vor, in einer Wolke von Parfüm nach Edina zurückzukehren, das Gesicht nur noch Wangenknochen und Augen. jeder würde dieses neue Wesen voller Verwunderung anstarren meine Güte, hast du aber abgenommen! Ich konnte förmlich hören, wie sie das sagten - und ich würde eine lässige Handbewegung machen und in beiläufigem Ton von dieser Vorlesung oder jenem Schriftsteller sprechen und natürlich davon, wie absolut überflüssig Nahrung für eine Künstlerin sei, die sich nur von ihren Gedanken ernährte. Ich war fünfzehn, unglücklich, auf der Suche nach meinem inneren Gleichgewicht, und gab mein Bestes, um jemand anderes zu werden als ich selbst. Nichts Ungewöhnliches für einen Teenagen Teenager wie mich, die verzweifelt auf das Gaspedal treten, um innerhalb von Sekunden von null auf hundert zu beschleunigen, die alles niedermähen, was sie auf dem Weg aus ihrer privaten Hölle behindert, einschließlich ihrer Vergangenheit. Einschließlich ihrer selbst. Teenager wissen nicht, daß die Vergangenheit und das Selbst sich nicht plattbügeln lassen, daß sie an ihnen kleben bleiben und ihnen überall hin folgen, wohin sie auch gehen. Wie ein Schatten oder ein Geist.
In diesem Sommer hatte ich einen Job bei McDonald's. Ich genoß es, hinter der Theke zu stehen, genoß es, daß die Männer aus der Fabrik nebenan mit mir flirteten. Ich lebte für die Geschwindigkeit, die acht Stunden gaben meinem Tag Struktur, Ordnung. Ich mochte den Pausenraum, das schmutzige Gerede durch den Nebel aus mentholhaltigem Rauch und die Frühschicht - alte Männer in schwarzen Mänteln und Hüten, die auf Stöcke gestützt hineinschlurften, zwei Kaffee mit Milch und ein Wasser, Schatz, bestellten und mir zublinzelten. Sie nannten mich Polly mit den Grünen Augen. Ich genoß es, einer von ihnen zu sein, zwang mich zu lautem Lachen, wenn irgendein frettchengesichtiger Kerl laut sagte: »Mösen sind potthäßlich.« Alle Frauen erröteten, außer mir. Kein mädchenhaftes Erröten mehr für mich. In diesem Sommer verhärtete sich mein Blick. Ich betrachtete meine Augen im Spiegel, beobachtete das höhnische Grinsen, das ich geübt hatte. Klatschte mir Wasser ins Gesicht, spülte die Reste des Erbrochenen vom Mund ab, tastete meine Drüsen ab, ob sie geschwollen waren, trug neuen Lippenstift auf, schenkte meinem Spiegelbild ein kühles Lächeln. Schlang die Finger um meine Handgelenke und ging den Flur entlang, zur Tür hinaus, fühlte die Knochen.
Ich war ERWACHSEN: Ich ging fort, zur Schule. Ich hatte einen Job. Ich ließ alles hinter mir. Ich spürte die Trauer wie einen Stich. Ein ziemlich heftiger Stich, eher wie ein Messer, das einem zwischen die Rippen gerammt wird. Ich war ganz schön mies drauf, weil ich meine Freunde verlassen mußte. Denn im Hinterkopf wußte ich, daß die Freundschaften mit dem Sommer enden würden, wenn ich ging. Die Wege trennen sich etc. Wir versprachen, einander zu schreiben. Sie waren das einzige, das verhindert hatte, daß ich in all den Jahren vollends verrückt geworden war, und ich liebte sie verdammt noch mal sehr. Natürlich war ich auch traurig, daß ich meine Eltern verlassen mußte, obwohl dieses Gefühl deutlich schwächer ausgeprägt war - sie würden auch nach dem Ende dieses Sommers noch meine Eltern bleiben. Und natürlich hatte ich Angst vor dem, was geschehen würde, wenn das Sicherheitsnetz weggezogen würde. Ich hatte die üblichen Ängste der Menschen, die in die Welt hinaus ziehen. Mit der Trauer und der Angst kam der Zwang der Notwendigkeit. Das Bedürfnis zu gehen. Ein Bedürfnis, das so heftig war, daß ihm nur zwei Bedürfnisse in meinem Leben gleichkamen: zu essen und mich zu übergeben.
Mir schien, daß es zwei existentiell wichtige Dinge gab, mit denen ich meinen Wert und meine Kontrolle beweisen konnte, wobei das eine ohne das andere nicht ausreichte: »Erfolg«, dieser leere Begriff, und Gewichtsverlust. Ich mußte mich von allem losreißen, was mich nach unten zog: den Sorgen meines Vaters, den Zweifeln meiner Mutter, meiner kleinen Stadt, meinem Körper. Ich würde beweisen, daß sie falsch lagen, dieses Große Sie, für das ich immer gelebt habe. Ich würde beweisen, daß es kein Kind gab, keine weinerliche, schwache, kleine Kreatur, kein herumhüpfendes, lächelndes kluges-aber-faules, albernes Baby, keinen verrückten Teenager, nichts von dem, was sie in mir sahen. Ich würde verschwinden, um in neuer Gestalt wieder aufzuerstehen. Bei meinen kurzen Besuchen würde ich nicht mehr wiederzuerkennen sein. Dieser Traum wurde wahr, wenn auch nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Als ich den Entschluß faßte, mich neu zu erschaffen, verdrängte ich, daß ich dazu zunächst per definitionem das Selbst, das es schon gab, auslöschen mußte. Viele Jahre später fragte ich mich, ob die totale Auslöschung nicht eigentlich von Anfang an meine Absicht gewesen war. Nachts hatte ich das Gefühl, schwerelos zu sein; ich spürte das Gewicht meiner weißen Bettdecke nicht mehr. Ich schoß in die Höhe: Im Halbschlaf hatte ich geträumt, ich ging den Bordstein herunter, der Fuß ertastete den Grund und fand nichts als Luft unter dem Schuh. Ich wachte kurz bevor ich fiel auf und tastete nach dem lauwarmen Wasser auf meinem Nachttisch, trank. Drückte mich ins Bett, umklammerte das Kissen, etwas Greifbares, rief mir ins Gedächtnis: Nur ein Traum. Das ist das Gute an Träumen, daß man aufwacht, bevor man fällt. Es war eine Zeit des Wartens. Warten in der Vorhölle der zu Ende gehenden Kindheit auf die Ankunft des Lebens. In gewisser Weise spürte ich, obwohl ich es nicht ausdrücken konnte, daß die letzten Stunden verstrichen, in denen ich noch zurückkehren konnte. Ich hatte vor, mit dem Essen aufzuhören, sobald ich die Grenze des Staates Minnesota überquert haben würde. Ich hatte genug von der Bulimie. Sie kam mir so grob, so linkisch, so ganz anders vor als der Mensch, in den ich mich verwandeln wollte: eine Frau, dunkel und geheimnisvoll, majestätisch. Wie meine Mutter. Ich wollte, daß sie die Köpfe nicht in geilem Spott oder in lüsterner Verwirrung nach mir umwandten, sondern vor Ehrfurcht und Bewunderung. Ich wollte unberührbar werden, grausam, glitzernd, schlank und hochmütig wie eine Katze. Ich wollte Anlauf nehmen und springen, die Jugend überspringen, ganz sauber in der Welt der Erwachsenen landen, wo ich - endlich - gut genug sein würde. Bei McD's hatte ich eine Kollegin, viel älter als ich, zwei Kinder, ein Mann, der sie sitzengelassen hatte, blauer Lidschatten, Übergewicht. Sie und ich saßen essend beieinander und sprachen über Diät und Gewicht. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, merke ich, daß die meisten Frauen, mit denen ich zusammenarbeitete, über Diät und Gewicht sprachen. Aber diese Frau, die wahrscheinlich fünfzig oder sechzig Pfund mehr wog als ich, dafür aber genauso groß war, sagte eines Tages zu mir: »Du bist richtig pummelig. Aber dir steht das. Siehst richtig niedlich aus. Du siehst aus wie ich.« Es ist nichts Ungewöhnliches, daß übergewichtige Menschen schlankeren erzählen, daß auch sie Übergewicht haben. Aber zum damaligen Zeitpunkt wußte ich das noch nicht. Seit diesem Zeitpunkt bedeutet niedlich für mich pummelig. Wenn andere mir sagen, ich sehe »niedlich« aus, dann höre ich »pummelig«, egal wie weit weg von beidem ich auch sein mag. Ich höre, daß sie mir sagen, ich sei immer noch das stubsnasige kleine Mädchen mit den zu großen Brüsten und dem runden Arsch, das zu laut und zu intensiv und insgesamt viel zu viel ist. In diesem Sommer hatte ich beschlossen, daß »niedlich« das letzte war, was ich sein wollte. In der Mittagspause aß ich einen Big Mac mit Käse, eine große Portion Pommes und eine Kirschtasche. Dann erbrach ich mich in der antiseptisch riechenden Toilette, wusch mir das Gesicht und ging an meinen Arbeitsplatz zurück, mit glasigen Augen, überwach. Nach der Arbeit kaufte ich mir einen Big Mac mit Käse, eine große Portion Pommes und eine Kirschtasche, aß alles auf dem Nachhauseweg, übergab mich zu Hause bei laufendem Wasserhahn, aß zu abend, übergab mich, ging mit Freunden aus, übergab mich, ging nach Hause, fiel bewußtlos ins Bett. In diesem Sommer nahmen meine Eltern meine Verwandlung wahr, denn das ständige Erbrechen führte zu schneller Gewichtsverminderung. Bulimikerinnen schwanken häufig zwischen »normalen« Phasen, in denen sie in Gesellschaft anderer essen, und einsamen Freß-Brech-Phasen hin und her, so daß sie ihr Durchschnittsgewicht halten. Ich hatte den »normalen« Teil der Bulimie bereits hinter mir gelassen. Ich nahm Drogen, die meinen Augen einen seltsamen Schimmer verliehen, und schlief auf den Rücksitzen diverser Autos mit irgendwelchen Männern, die dumm wie Stroh waren. Ich hatte rote Flecken auf den Wangen, und mir war ständig schlecht. Ich ignorierte meine Eltern, denn ich war sicher, daß ich eines Tages in ihr Haus treten würde, schlank wie ein Model, kühl und gesammelt, eine neue Frau, du kommst von weit her, Baby. Und dann würden sie schon sehen. Dann würden sie erkennen, daß sie mich die ganze Zeit falsch eingeschätzt hatten. Ich würde in ihr vollkommenes weißes Wohnzimmer rauschen und mich auf die Couch setzen, würde die (auf magische Weise lang gewordenen) Beine übereinanderschlagen und sie gelangweilt ansehen. Dann wären sie beeindruckt.
Ganz sicher!
Ich war auf den großen Amerikanischen Traum hereingefallen, auf die weibliche Version, und zwar total. Wie viele junge Frauen glaubte ich aufrichtig daran, daß, wenn ich nur ein paar Pfund verlöre, auch plötzlich ein neues Ich entstünde. Männer, die aussähen wie Barbies Ken, würden meinen dünnen Beinen hinterherjagen und die Straßen, auf denen ich wandelte, mit Blumen bestreuen. Ich wäre reich und berühmt und strahlend, würde meine Sommersprossen verlieren, blonde Haare bekommen und mindestens eins achtzig groß werden. Ich würde eine coole, intellektuell aussehende Brille tragen und ein Oxford-Hemd für Männer, würde in einer sonnendurchfluteten Wohnung in New York wohnen, Kaffee schlürfen und dabei Mmmmm machen und meine Zeitung ordentlich falten, und Er würde hinter mich treten und mich mit bewunderndem Blick ansehen. Mit verführerischem Hüftschwung würde ich mich in mein rotes Cabriolet schwingen, und der Wind würde mir durchs Haar wehen, während ich durch irgendeine große Stadt fuhr, aus dem Aufzug stieg und (mit weiblichem und dennoch gebieterischem Schritt) in mein Büro ging, wo jeder von meinen weiblichen und dennoch gebieterischen Worten beeindruckt wäre. Am Abend würde ich heimfahren und Delikatessen auf den Tisch zaubern und drei Bissen davon essen, und Er würde mich im Kerzenlicht ansehen, und ich wäre eine Superfrau, die Göttin der achtziger Jahre, ja, ganz sicher. Sobald ich erst meine Heimatstadt verlassen und ein paar Kilo verloren haben würde. Irgendwie gelang es mir, diesen Schwachsinn zu glauben (den ich mir ausdachte, während ich auf der Seite auf dem grünen, struppigen Teppich meines Vorortzimmers lag, die Artikel über Diäten in irgendwelchen Teenager-Magazinen verschlang und endlos oft die Beine hob und senkte), obwohl ich mir zweier Tatsachen durchaus bewußt war: (1) Ich wollte eigentlich nur eines, und zwar Gedichte schreiben, und (2) Ich hatte diesen geleckten Typen aus meinen Träumen ja schon kennengelernt, und er hatte mich zu Tode gelangweilt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, daß ich zu jener Zeit sogar mit Absätzen nur einssiebzig groß war und eine Zukunft als ruhige, kühle und gesammelte Frau angesichts meiner Persönlichkeit kaum in Aussicht stand. Aber egal. In Amerika konnte man schließlich alles erreichen, wenn man nur hart genug dafür arbeitete, und ich war verdammt noch mal bereit, hart zu arbeiten.
In der Fachliteratur kann man nachlesen, daß Kinder sich Schritt für Schritt von ihren Eltern lösen. Nicht ohne Schmerzen, aber die kleinen Risse im Herzen verheilen mit der Zeit. Ich stand abrupt auf und riß mich selbst an den Wurzeln heraus. Natürlich stand ich dadurch haltlos da. Aber für meine Eltern muß es viel schlimmer gewesen sein. Die Fragen, was ist schiefgegangen, was geschieht hier, das Gefühl tief im Herzen, daß etwas mit meiner Tochter nicht stimmt, von all dem habe ich lediglich eine vage Vorstellung. Ich habe kein Kind, ich weiß nicht, was es bedeutet, wenn man zusehen muß, wie ein Teil seiner selbst zu eitern, zu schrumpfen und zu sterben beginnt.
Auf eine bestimmte Weise war ich mir bewußt, daß meine Eltern sich Sorgen machten. Ich versuche, mir die Unterhaltung im Schlafzimmer meiner Eltern vorzustellen, die Gedanken, die sie im Jahr vor meiner Abreise quälten. Vielleicht lief es so ab: Sie sitzt den ganzen Tag im Dunkeln wie ein Vampir. Ich komme herein, sage: »Zieh die Jalousien hoch, mach die Fenster auf, du brauchst Licht.« Sie sagt: »Ich hasse Licht. Laß mich allein.« Das Zimmer riecht nach Krankheit und Schweiß. Sie liegt auf dem Bett, mager, das Gesicht zur Wand. In der Nacht hört man Geräusche aus ihrem Zimmer. In ihrer Tasche sind Tabletten. Was nimmt sie? Ist sie süchtig? Was ist los? Warum? Warum? Warum? Irgend etwas stimmt nicht mit ihren Augen, was ist es? Sie schreit und weint beim kleinsten Anlaß. Sie lügt. Ich sehe doch, daß sie lügt. Aber weshalb lügt sie? Ich stamme aus einer Familie begnadeter Lügner. Überall ist der Geruch der Lüge, der Geruch des Unausgesprochenen. Ich habe nie verstanden wieso, aber in jenem Sommer war ich die Lüge, die wandelnde Lüge, der Elefant im Wohnzimmer, den jedoch niemand erwähnte, weil es taktlos gewesen wäre. Mittlerweile erbrach ich mich drei- oder viermal am Tag. Ich nahm ständig einen Übelkeit erregenden Drogen-Cocktail, und ich trank Alkohol. Ich begann jetzt recht offen mit meiner »Diät« umzugehen. Meine Eltern waren keineswegs prinzipiell dagegen, vor allem deswegen nicht, weil ich ständig darauf hinwies, wie gesund ich mich jetzt fühlte, und weil mein Vater, solange ich denken kann, die ein oder andere Diät machte (er schlug sich auf den Bauch, sagte Dieses Ding muß ich unbedingt loswerden), und weil meine Mutter sich ständig, wenn auch nur auf implizite Weise, Sorgen über mein Gewicht und über das ihre und über das aller anderen Menschen gemacht hatte. Ein Mittagessen, das ich in jenem Sommer zusammen mit meiner Mutter in einem Café einnahm, lief dann folgendermaßen ab: Ich bestelle den Diätteller, Hüttenkäse in einem »Nest« aus Salatblättern, zwei Dosenpfirsiche. Ich erinnere mich daran, daß ich sagte: Das ist richtig cool, Mama, ich kann eine kleine, gesunde Mahlzeit wie diese zu mir nehmen und irgendwie total satt sein! Sie nickte. Ja, das kannst du, sagte sie. Ich war zu gut für die Bulimie geworden und zog mich langsam von ihr zurück. Dies war mein letzter Hurraschrei auf der Achterbahnfahrt des Essens und Erbrechens.
Die folgende Bewertung ist etwas heikel, weil es sich um eine rein subjektive Einschätzung meiner eigenen Beziehung zu Bulimie und Anorexie handelt. Bulimie ist in meinem Leben verbunden mit Phasen intensiver Leidenschaften, Leidenschaften jeder Art, aber in der Hauptsache emotionaler Leidenschaften. Die Bulimie erkennt den Körper explizit an, und zwar verzweifelt, leidenschaftlich. Sie greift den Körper an, aber sie verleugnet ihn nicht. Abscheu und Bedürfnis werden gleichermaßen zum Ausdruck gebracht. Diese Abscheu und dieses Bedürfnis betreffen sowohl den Körper als auch die Emotionen. Die Bulimikerin empfindet sich als übertrieben, zu emotional, zu leidenschaftlich. Dieses Gefühl wird auf den Körper übertragen. Der Körper trägt die Schuld, ist aber nicht das vornehmliche Problem. Die Bulimikerin ist vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit befallen, ein Na-ja-ist-ja-sowieso-alles-egal, dann kann ich auch fressen. Dies ist eine gefährliche Aussage, aber der bulimische Impuls ist trotzdem erheblich realistischer als der anorektische, denn trotz seines schrecklichen Nihilismus versteht er, daß man dem Körper nicht entkommen kann. Die Magersüchtige handelt unter dem Einfluß der erstaunlichen Illusion, daß sie dem Fleisch, und damit natürlich auch ihren Gefühlen, entkommen kann. Im Sommer bevor ich ins Internat abreiste, verstand ich mich zum letzten Mal als menschliches Wesen und behandelte mich gelegentlich auch noch als solches. Ich war auf dem Wege zur Magersucht. Das bedeutet, ich, das Mädchen, das ich als mein Selbst wahrnahm, sollte verschwinden. Sie sollte eine Leerstelle im Spiegel werden, dort, wo mein Körper vorher gewesen war. Sie sollte nicht mehr sein als eine sehr leise Stimme.
Ich wußte es - sei es durch Vorahnungen, durch einen Verdacht oder weil ich es bewußt geplant hatte. Ich wußte es, und ich hatte Angst. Doch ich wünschte es mir mehr als alles auf der Welt.
Irgendwann hatte sich die Intensität meiner Lebenslust, die Erotik der Kindheit, der natürliche Hunger und die instinktive, kindliche Reaktion, diesen Hunger zu befriedigen, in meine größte Angst verwandelt. Mein Geist, mein Körper begannen, mich zu ängstigen. Ich war ein unkontrollierbares Kind. Egal wie sehr ich mich bemühte, ich war nicht in der Lage, meinen Geist zu bändigen, seine Streifzüge in ferne Königreiche, seine dunkle Neugier. Die Tiefe meiner Phantasie wurde zur Bedrohung. Leidenschaft ist etwas Seltsames. Meine ist grimmig, allumfassend, ein unbezähmbarer Wille zu leben. Als Kind wußte ich bereits, daß es ihn gab, und ich lebte ihn, als Neigung zur Explosion, zu Flammen, zu Lärm. Diese Seite der Leidenschaft war meine erste Perversion. Die Neigung zum Exzeß geriet außer Kontrolle und wurde zur Bulimie, zu diesem Zustand aus Furcht und Begierde, diesem gewaltsamen Vor und Zurück zwischen Hunger und der Austreibung von Hunger, zwischen dem Aufnehmen und dem Zurückweisen dessen, was man am meisten braucht und nach dem man instinktiv verlangt: Nahrung. Das Brot des Lebens. Und es gibt die andere Seite der Leidenschaft. Der Teil von mir, der das Feuer fürchtete und sich nach dem Eis sehnte, der bei Lärm zusammenzuckte und der nach Stille, hungerte, der vor der Berührung zurückschreckte und sich so lange betäuben wollte, bis er im Nichts aufging. Der implodieren wollte. Dies war die zweite Seite der Leidenschaft, die mich hinabzog. Vielleicht als Reaktion auf die erste. Ich fürchtete die Geschwindigkeit und die Kraft des Lebens und meine eigene Kraft und wandte mich dem Tod zu. Ich fürchtete das beständige Donnern in meinem Geist, das die Bulimie mit sich brachte, und wandte mich der Stille der Anorexie zu. Ich fürchtete mich vor der eindeutigen Leidenschaft der Bulimie und suchte das, was ich mit dem leidenschaftslosen Zustand des Verhungerns verwechselte. Ich wußte nicht, daß Leidenschaft sich verschiedener Masken bedienen kann. Ich hatte keine Ahnung, daß der Hunger nach Nahrung und ihrer lebensspendenden Kraft sich ins Gegenteil verkehren konnte, wenn er boykottiert wurde, daß er sich in eine andere Art Hunger verwandeln konnte: in den Hunger nach Hunger den Hunger nach seiner lebensverzehrenden Kraft. Lange Zeit glaubte ich, der Tod sei das Gegenteil der Leidenschaft. Ich irrte mich. Leidenschaft und Tod bedingen einander, das eine verbirgt sich im anderen. Und an der Grenze des funkensprühenden Lebens angelangt, beginnt die Unterwelt. Ich kann diesem Weg nachspüren, der mich an Orte führte, so heiß, daß sie mir die Lungen versengten. Ich kehrte nicht um. Ich ging weiter, und schließlich überschritt ich die Grenze, hinter der wiederum ein Ort liegt, der wortlos und kalt so kalt, daß dort, wie auf dem Merkur, eine eisige, blaue Flamme brennt.
Manche sagen, die Welt, sie endet im Feuer,
manche sagen in Eis.
Doch ich habe von der Begierde gekostet,
und halte es mit denen, die für Feuer plädieren.
Doch wenn sie zweimal untergehen müßte,
dann weiß ich genug vom Haß,
um sagen zu können, daß zur Zerstörung Eis
ebenfalls ein hervorragendes Mittel ist
und genügen würde.
Robert Frost, »Feuer und Eis«, 1922
Juni 1989: Im flackernden, blauen Licht des Erdgeschosses meines Elternhauses richtet die chinesische Regierung in Peking ein Massaker unter den Studenten an. Ich hing über dem Abfalleimer, und mir war entsetzlich schlecht, ohne daß ich es selbst provoziert hatte. Zwei Wochen später bestieg ich zusammen mit meinem Chor ein Flugzeug, das uns in den Fernen Osten bringen sollte. Auf Hawaii, unserer ersten Station, gingen wir an den Strand. In meinem Kopf sah ich schrecklich fett aus, wenigstens im Vergleich zu den anderen Mädchen. Auf den Bildern grinsen wir breit in die Kamera, unsere Haut glänzt vor Schweiß, wir haben einander die Arme um die Schultern gelegt. Ich sehe müde aus, bleich und ziemlich dünn. Ich hatte die kluge Idee, mich im Bikini zwölf Stunden lang ohne Sonnenschutzmittel an den Strand zu legen. Ich habe extrem weiße Haut. In dieser Nacht schlief ich unter einem riesigen Aloe-Blatt, meine Haut war von Kopf bis Fuß übersät mit Blasen und Verbrennungen zweiten Grades. Wir flogen nach Japan, mein Gesicht entstellt von Blasen und Haut, die sich schälte. Meine Erinnerungen an die alten Städte des Ostens werden überlagert von der Erinnerung an meinen BH, der über meine wunde Haut scheuert. Und durch das unbehagliche Schuldgefühl in meinem Bauch. Nichts zu essen wäre eine Beleidigung meiner Gastfamilien gewesen, aber wenn ich aß, wo sollte ich mich dann übergeben? Ich erinnere mich an jede einzelne, gottverdammte Mahlzeit: was uns serviert wurde, was ich aß, was ich erbrach. Das ängstigt mich. Es ist fast acht Jahre her, und ich erinnere mich an die Hähnchenflügel, die ich in der U-Bahn-Station auskotzte, an die Fischfrikadellen, die ich in meiner Serviette versteckte und aus dem Fenster warf, als meine Zimmergenossin schlief. Und ganz genau erinnere ich mich an die Forelle, die uns als kalte Platte zum Frühstück gereicht wurde, an die Mädchen, die um den Tisch herumsaßen, den Fisch mit gezückten Stäbchen anstarrten und darüber nachdachten, wie sie den Kopf abbekommen sollten. Gemeinsam mit meiner Freundin, die ebenfalls an Bulimie litt, klagte ich über die mangelnde Gelegenheit zum Kotzen. Wir saßen in unserer Unterwäsche auf dem Bett unseres Gästezimmers auf Hawaii und zuckten zusammen, während wir uns gegenseitig den Rücken mit Aloe einrieben. In Osaka verliebte ich mich unglücklicherweise in sie. Ich hielt den Mund und wandte das Gesicht ab, als sie nackt in der großen Wanne unseres gemeinsamen Badezimmers stand und sich darüber beklagte, daß sie zu dicke Schenkel habe. Ich betrachtete erst ihre Schenkel, dann schlug ich die Augen nieder. Ich war nicht in der Stimmung, Schenkel zu vergleichen, wo ich doch schon Probleme hatte, die Hände von ihr zu lassen. Ich bat sie, mit dem Erbrechen aufzuhören, sagte, daß sie großartig aussehe, drehte sie herum, damit sie ihre nackte Gestalt im Spiegel betrachten konnte, während sie weinte, weil sie gerade gegessen hatte. Die Berührung ihrer Haut machte mich fast ohnmächtig. Wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich eine Frau wirklich wahr, die elementare, weibliche Gestalt, nicht im Vergleich, sondern in einer schrecklichen, möglichen Verbindung zu mir selbst. In der Hoffnung, sie dazu zu bringen, zu essen, ohne sich zu übergeben, verkündete ich eines Tages, daß ich mich ab sofort nicht mehr erbrechen würde und daß ich es nicht zulassen würde, wenn sie damit weitermachte. Fortan kotzte ich heimlich. Wahrscheinlich tat sie das gleiche. Wir reisten im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms, verbreiteten Goodwill und Brüderlichkeit, sangen sechsstimmig »Home on the Range« und die japanische Nationalhymne, die wir nicht verstanden, zu der wir aber trotzdem lächelten. Irgendwie war das alles sehr traurig. Es gibt ein paar Photos, auf denen ich mit meiner Zimmergenossin zu sehen bin, lächelnd, in den traditionellen Kleidern, die uns unsere Gastfamilien gegeben hatten. Wir sehen beide ziemlich weiß aus. Ohne daß jemand darüber sprach, schwebte die Peking-Krise wie ein Damoklesschwert über uns. Wir fuhren nach Guangzhou, das sich, damals noch Kanton nannte. Ich habe ein paar Photos, auf denen wir beide zusammen mit der Frau zu sehen sind, bei der wir wohnten: eine winzige Frau mit zwei Kindern und einem Ehemann, der den Blick von uns abwendet, und wir alle halten zwei Finger in die Höhe. Als der Blitz ausgelöst wurde, sagte sie: »PEACE.« Wir gingen in einen Tanzclub, an dessen Tür ein riesiger Buddha aus rosafarbenem Gips prangte, die Farbe blätterte von seinen Fettrollen aus Gips ab, ein geisterhaftes, pupillenloses Lächeln lag auf seinem Gesicht. Drinnen rauchten junge Männer mit dauergewellten Haaren einen Joint und forderten uns zum Tanz auf. Ich empfand es als schmerzhaft peinlich, Amerikanerin zu sein. Wir tanzten, und die glitzernde Discokugel drehte sich an der Decke. Wir sangen lange Konzerte, wobei wir täglich ermahnt wurden, unsere Knie zu beugen, damit uns nicht schwindelig wurde, und wir in einem Wirbel aus rosa Taft die Treppenstufen hinunterfielen. Ich beugte die Knie immer wieder, und trotzdem schwankte ich und mußte mich an der großen Schleife des vor mir stehenden Mädchens festhalten. Große Konzerthallen, ein Nebel aus Gesichtern, die hinter den Scheinwerferlichtern kaum zu erkennen waren, heiß wie die Hölle, nicht genug Luft. Ich aß kaum etwas. Reis, kleine Fischstückchen. Ich perfektionierte die Kunst des lautlosen Kotzens: kein Husten, kein Würgen, nur vornüberbeugen und die Nahrung per Willenskraft hinausbefördern.
In Hongkong wohnten wir in einem Hotel. Die Mädchen schwärmten aus und ermahnten einander, schnell etwas zu kaufen, denn schließlich würde Hongkong bald in den Besitz der Chinesen übergehen. Wir kauften wie verrückt ein, schoben uns durch die engen, von Menschenmassen wimmelnden Gassen, die gelben Bögen von McDonald's warfen ihr seltsames, gelbes Licht in den späten Abend. Auf dem Marktplatz, an einem heißen, sonnigen Tag, kaufte ich Unmengen von Calamares, aß sie auf, während ich durch die schmalen Reihen der Marktstände ging, die mit bunten Tüchern bedeckt waren. Ich schlich mich in eine Seitengasse, beugte mich vor und leerte meinen Magen. Dann erhob ich mich. Am anderen Ende der Gasse stand ein sehr alter Mann, der mich mit ausdruckslosem Gesicht beobachtete. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. Ich tat es nicht. Ich eilte in die Hitze des Tages zurück, mein Kopf schwirrte von der Austrocknung, der sengenden Sonne und einem unerklärlichen Entsetzen. Ich hatte das Gefühl, beten zu müssen. Aber ich konnte nur an eines denken, das ich irgendeinem tauben Gott hätte sagen können: Es tut mir leid. Als die Reise vorüber war, flog ich nach Seattle, wo ich mich mit meiner Mutter treffen wollte. Wir wollten meinen alkoholkranken Großvater und seine magersüchtige, alkoholkranke Frau besuchen. Ich hatte beide seit meinem zehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen. In der Zwischenzeit war ich natürlich nicht nur älter geworden, sondern hatte mein Ich-bin-ein-kleiner-Liebling-Gesicht verloren. Jetzt wurde ich von meiner Stiefgroßmutter als Bedrohung empfunden. Sie hatte mir ein Outfit gekauft, das einer Zehnjährigen gepaßt hätte. Es war viel zu eng, so daß ich darin aussah wie eine Wurst. Als meine Mutter und ich allein im Gästezimmer waren, fing ich an zu weinen und sagte, daß ich fett sei. Meine Mutter schrie und befahl mir, aufzuhören. Ich bewahrte das Kleid auf. Ein paar Jahre später im Krankenhaus trug ich es fast jeden Tag. Damals war ich siebzehn, und das Kleid hing mir von den knochigen Schultern und Hüften herunter und beulte sich aus wie ein Sack. Die Spannung im Haus meines Großvaters vibrierte wie die Saite einer Violine. Meine Mutter hat ihr ganzes Leben mit dem Bemühen zugebracht, ihrem Vater zu gefallen, und ich wiederum habe mein ganzes Leben lang versucht, meiner Mutter zu gefallen. Plötzlich wurde mir klar, daß das Flehen nach Lob und Zustimmung ein ermüdendes, fruchtloses Unterfangen war. Ich spielte den Hampelmann für sie, sie spielte den Hampelmann für ihn, und er starrte derweil zum Himmel hinauf, betrunken wie ein Pfarrer im Urlaub.
Drei Frauen - meine Mutter, meine Stiefgroßmutter und ich - konkurrierten um den Titel der Perfekten Frau. Meine Mutter beschimpfte mich, ich beschimpfte sie, Jeanne, meine Stiefgroßmutter, beschimpfte alles, was einen Rock trug, und mein Großvater trank einfach weiter. Wir stocherten in unserem Essen und wetteiferten darum, wer am wenigsten aß. In der Familie meiner Mutter galten dicke Menschen als Menschen zweiter Klasse. Sie gehörten der Unterschicht an und wurden höhnisch verlacht. Die Familie meiner Mutter war der Ansicht, daß dicke Menschen sich nicht unter Kontrolle haben, nicht wie die perfekte, zierliche Familie Williams mit ihren perfekten, mageren Genen. Meine Mutter hat mir erzählt, daß meine Urgroßmutter, eine stattliche Person, immer verspottet wurde. Essen wurde als Ärgernis betrachtet. Mahlzeiten waren eigentlich nur eine Entschuldigung, um ein paar Drinks zu sich zu nehmen. Man sollte in seinem Essen lediglich herumstochern. Kein Wunder, daß meine Mutter seltsame Eßgewohnheiten hatte. Kein Wunder, daß alle anderen diese Eßgewohnheiten teilten. Und kein Wunder, daß ich immer den heimlichen Verdacht hatte, daß meine Mutter mich für fett hielt. Arme Frau, einem normal großen Kind das Leben zu schenken. Wie konnte es nur sein, daß ich aus ihrem Körper kam, dieses kleine runde Ding, das sich so ungebärdig verhielt, das schrie und sich schmutzig machte und weinte? Du bist genau wie dein Vater, sagte sie. Heute, im Alter von sechsundfünfzig, sagt mir meine Mutter, daß das Problem nicht darin bestand, daß ich wie mein Vater war, sondern daß ich wie sie war. Intensiv. Temperamentvoll. Getrieben. Bulimisch. Leidend.
Meine Mutter und ich gingen spazieren. Ich berichtete ihr über meine Reise in den Fernen Osten, wie sehr sie mich verändert hatte, daß ich das Gefühl hatte, ein paar Dinge über die Welt und über mich selbst gelernt zu haben, daß ich jetzt bereiter denn je war, auf die High School zu gehen. Sie schwieg. Ich fragte sie, was los sei. Sie sagte, Du sprichst ziemlich viel über dich selbst, Marya. Das stimmte. Es ist normal bei Teenagern, die (1) ihre Mutter eine ganze Weile nicht gesehen haben und (2) bald ihr Elternhaus verlassen werden und (3) gerade von der Reise in einen politisch explosiven Teil der Erde zurückgekehrt sind.
Als ich sie später danach frage, sagt sie mir, daß ich überdreht war, zu erregt, nervös, daß ich vor mich hinbrabbelte, und daß sie besorgt war. Meine Mutter ist und bleibt mir manchmal ein Rätsel. Wir gingen zusammen mittagessen, wir vier. Nach dem ersten Drink begann meine Stiefgroßmutter, mich zu beschimpfen, und zwar ohne Unterbrechung, ohne auch nur eine Pause zu machen, um zu essen, und zwar während des Salats, des zweiten und des dritten Drinks, der Vorspeise, des vierten und fünften Drinks. Sie zankte weiter, während ich mich plötzlich stark für die Serviette in meinem Schoß zu interessieren begann. Meine Stiefgroßmutter war eine eloquente und phantasievolle Frau, weshalb sie detailliert auf meine Arroganz einging, auf mein anmaßendes Gehabe, das ich jetzt, da ich auf eine dieser dreckigen Kunstschulen gehen sollte, an den Tag legte. Sie sagte, daß ich jetzt wahrscheinlich erst recht eingebildet werden würde, daß ich mich für etwas Besonderes halten würde, daß meine Eltern mich völlig verzogen hätten und daß ich wahrscheinlich zu einem schrecklichen Menschen heranwachsen würde, wenn sie mich weiterhin der Überzeugung überließen, daß ich talentiert und klug sei. Es ist auch heute noch faszinierend anzusehen, welche Mühe meine Familie darauf verwendete, mich daran zu hindern, mein Selbstbild, das immer einem Haufen Scheiße glich, zu überwinden. Als ich sicher war, daß sie fertig war, entschuldigte ich mich, ging auf die Toilette und übergab mich. Als ich zurückkam, machten meine Mutter und mein Großvater gerade Smalltalk, während meine Stiefgroßmutter vor sich hin trank: Ihr Kopf wackelte dabei ständig auf merkwürdige Weise hin und her, und sie ließ mich nicht aus den Augen. Dies war das letzte Mal, daß ich sie sah. Sie starb ein Jahr später an einem Krebsleiden, von dem niemand etwas geahnt hatte. Mein Großvater starb vor zwei Jahren, drei Monate, nachdem er seine dritte Frau geheiratet hatte. Er und ich sprachen uns nur ein paarmal im Jahr. Die Unterhaltung lief immer gleich: »Na, bist du wieder klar im Kopf?« »Haha, ich glaube schon, Opa.« Meine Mutter und ich kehrten nach Minnesota zurück, wo ich für die Schule packte, mich von allen verabschiedete und zu meinen Eltern ins Auto stieg. Dann begann das, was sich als endlose Folge aus Abschieden und Ankünften, Kommen und Gehen entpuppen würde, die Große Suche nach etwas, das ich nie finden würde. Wir fahren durch Wisconsin, dann auf die kommaförmige »Halbinsel« Michigans, anschließend beschreiben wir einen Kreis nach Süden und schließlich wenden wir uns nach Westen in Richtung Interlochen. im Hotel bestelle ich einen Chef-Salat. Mein Vater klagt, daß ich nicht genug esse, daß ich kaum etwas gegessen habe, seit wir Edina verlassen haben. Meine Eltern bekommen jetzt plötzlich doch mit, daß ich nur in meinem Essen herumstochere. Ich habe plötzlich kein Interesse mehr daran, es zu verbergen. Abends auf unserem Zimmer absolviert mein Vater seine Gymnastikübungen und ich die meinen. Wenn wir über Sport reden, sind wir plötzlich Konkurrenten. Mein Vater sagt: »Du machst sie jeden Abend.« Ich sage: »Ja, stimmt. Woher weißt du das?« Er sagt: »Hmmm« und streckt den Rücken. Auch später reagieren meine Eltern ganz unterschiedlich auf mein Problem. Ein Jahr später, kurz nach meinem ersten Krankenhausaufenthalt, stehe ich vor dem Spiegel, während meine Mutter im Sessel sitzt.
Ich wiege 51,5 Kilo. Ich versuche, eine neue Sicht auf mich selbst zu finden, und übe meine Affirmationssätze. Ich sage: Ich bin ziemlich dünn. Und meine Mutter antwortet: Ich würde dich nicht als dünn bezeichnen. Wir kommen in der winzigen Stadt an, in der ich ein Jahr bleiben werde. Es ist eines der schönsten Jahre meines Lebens. Interlochen, Michigan, besteht aus einer Tankstelle, zwei Pizzerien, einem Pfannkuchenhaus, einem Waschsalon, einer Bar. Kilometerweiten Wäldern. Einem See mit glasklarem, grünem Wasser, gesprenkelt mit regungslos daliegenden Booten, zusammengehalten durch eine dunkle, dicke Grenze aus Pinien. Schwere Bäume überschatten die Schule, winzige Straßen winden sich zwischen den Schlafhäusern, der Kapelle, der Aula, die Studios entlang. Weiter draußen in den Wäldern der Tanzsaal, die Bühne, das Technikum, leere Hütten, in denen alt aussehende, langhaarige Kinder sich treffen, pärchenweise, im geheimen, und die leere Stille auf den nackten, durchgelegenen Matratzen nutzen, die von der Zeit befleckt sind. Wir trugen meine Kisten mit Kleidern und Büchern in das Mozart-Beethoven-Haus, wo ich schlafen sollte und das neben dem Brahms-Haus und gegenüber von Hemingway und Picasso, den beiden Jungenschlafhäusern, lag. Das Zimmer war winzig klein. An der Wand, unter den Fenstern, stand ein langer Schreibtisch mit Bücherregalen an jeder Seitenwand und zwei Klappstühlen aus Metall. Es gab einen sehr kleinen Ankleidetisch, über dem ein Spiegel hing, ein kleines Bad, einen kleinen Kleiderschrank. Meine Zimmergenossin war bereits eingezogen, ihre beeindruckende Gegenwart zeigte ein riesiger, schwarzer Schrankkoffer an, der das halbe Zimmer einnahm. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß meine Eltern gingen. Doch irgendwann müssen sie sich von mir verabschiedet haben, denn das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein drahtiges Mädchen mit üppiger, roter Mähne, das ich später Tigger nennen würde. Sie hüpfte ins Zimmer, unglaublich nervös, sah sich mit wildem Blick um. Dann platzte sie heraus: Ich habe mir noch kein Bett ausgesucht, du kannst also wählen. Mir ist es egal, auf welchem ich schlafe. Sie hatte unglaublich lange Beine. Sie trug ein riesiges Sweatshirt und Jeans. Sie schritt, sie sprang, sie hüpfte ich finde keine Worte, um die Bewegung ihrer Beine zu beschreiben - zum Schrank, riß die Tür auf und begann wie wild in ihren Kleidern herumzuwühlen, die sie schon aufgehängt hatte. Dann sagte sie, mehr zu den Kleidern gewandt als zu mir: »Übrigens, ich heiße Lora.« Ich antwortete: »Ich bin Marya.« Sie drehte sich vom Schrank zu mir um, sah mich an, wandte den Blick dann wieder ab und sagte, Ja, ich weiß. Das konnte ja heiter werden. Vor meiner Ankunft hatte ich über ein paar ernste Fragen nachgedacht, die man sich wahrscheinlich immer stellt, bevor man in eine kleine Gemeinschaft wie diese einzieht, und auf engstem Raum mit einem anderen Menschen zusammenleben soll: Wie kann ich mich möglichst unauffällig übergeben? Wie kann ich nachts meinen Sport machen, während ich ein Buch lese? Ich vermute, daß ich nicht die einzige war, die diese Sorgen hatte. Ich wußte von einem Mädchen, die nach Interlochen gegangen war, daß in den Schlafhäusern die Bulimie grassierte. Sie hatte mir erzählt, daß sie und ihre Zimmergenossin Pizza bestellten und sich dann in die leeren Schachteln übergaben. Später fand ich heraus, daß Internate eigentlich immer Brutstätten für Eßstörungen sind. Ich hörte, daß die Betreuungspersonen (»Hausmütter«) sich an den Toiletten postierten, um im Zweifelsfall die Köpfe der Mädchen aus den Toiletten zu ziehen. Später merkte ich, daß die Gerüchte stimmten: Die Toiletten in den Schlafhäusern funktionierten selten, weil die Rohre ständig durch Erbrochenes verstopft waren. Es mag durchaus etwas dran sein an der gängigen Annahme, daß das Verlassen des Elternhauses Wellen der Angst und inneren Unsicherheit auslöst, daß Eßstörungen mit der Trennung von der Mutter einhergehen. Ich persönlich denke, daß junge Menschen - ich selbst eingeschlossen - die nicht länger unter elterlicher Beobachtung stehen, alles riskieren und sich nicht länger darum bemühen, ihre Eßstörung geheimzuhalten. Das Verlassen des Elternhauses ist kein derart traumatisches Ereignis, daß es bei denen, die eine glückliche Kindheit verlebt haben, eine Eßstörung auslösen könnte. Im Gegenteil: Die meisten Jugendlichen sind erleichtert und erleben einen Freiheitsrausch. Schrecklich viele von uns halten die Ablösung vom Elternhaus für einen Freifahrschein zur ungestörten Selbstzerstörung. Ich hatte nicht damit gerechnet, mit Lora auf einem Zimmer zu wohnen. Ich glaube, ich hatte erwartet, mit einem hochnäsigen Mädchen in raschelnden, hauchdünnen Röcken zusammenzuwohnen, die ständig vor dem Porzellangott niederkniete.
Loras Mutter war eine renommierte Therapeutin für Eßstörungen. Eine ganze Weile hatte ich davon keine Ahnung, und Lora hielt es zunächst auch nicht für wichtig - bis zu dem Zeitpunkt, als ich durch meine Eßstörung jegliche Kontrolle über mich selbst verlor und sie in meiner Anwesenheit fast verrückt wurde. Doch zunächst einmal kümmerten wir uns um die Stellung der beiden schmalen Einzelbetten. Ich sagte, daß ich neben der Tür schlafen wollte. Sie sagte, sie wollte am Fenster schlafen. Also schoben wir die Betten hin und her. Egal, wie man sie stellte, die Betten (zusammen mit dem Schrankkoffer) nahmen den gesamten Raum ein. Schließlich schoben wir alle drei Möbelstücke zusammen, um mehr Platz zu haben. Das bedeutete, daß ich entweder über sie hinüberkrabbeln mußte, um aus dem Bett zu steigen, was sie ablehnte, oder ich mußte es über das Fußende verlassen, weil ich meine schmutzigen Klamotten zwischen mein Bett und die Wand stopfte und sie dort liegen ließ, bis Lora damit drohte, auszuziehen. Im Gegensatz zu mir wusch sie ihre Wäsche regelmäßig, faltete ihre Kleider zu ordentlichen Stapeln zusammen: Jeans, Sweatshirts, T-Shirts, Socken. Sie roch immer nach Vanille und frischer Luft. Es war Herbst. Ich liebte diese Jahreszeit heiß und innig, ebenso wie Michigan und Interlochen. Blätter fielen von den Bäumen herunter, die die Wege säumten, und türmten sich auf der Wiese zu riesigen Kissen auf. Eicheln knirschten unter unseren Stiefeln. Abends schien der See langsam zu verbrennen, wenn die Sonne hineinsank und ihre rote Hitze in die Wellen sandte, so daß der Dampf in die kalte Luft aufstieg. Die Magersucht setzte nur langsam ein. Es brauchte seine Zeit, bis ich mich in den Wahn hineingesteigert hatte, der eine wichtige Voraussetzung für diese Krankheit ist. Auf Interlochen gab es unglaublich viele extrem magere Mädchen. Die meisten von ihnen waren Tänzerinnen. Die Besessenheit vom Körpergewicht schien beinahe überall vorzuherrschen. Mit sehnsüchtigem Blick und bewunderndem Flüstern folgten wir denjenigen, die eindeutig magersüchtig waren. Wir saßen an den Tischen in der Cafeteria, diskutierten leidenschaftlich über die Kalorien von Salat, Sellerie, einem Vollkornbrötchen, Reis. Wir lebten in zwei Welten. Wenn wir unsere Stühle zurückschoben und in die Kurse gingen, die wir als Hauptfächer gewählt hatten, verwandelten wir uns. Mädchen, die eben noch vor dem Spiegel gestanden hatten und den Tränen nahe gewesen waren, waren plötzlich voller Leben, die Finger flogen über eine Harfe, eine Geige, die Körper vibrierten, Stimmen schlenderten genüßlich durch den Shakespeareschen Wald der Worte. In den Kursen über kreatives Schreiben saß ich da, nuckelte an zuckerfreien Pfefferminzbonbons, die Finger meiner linken Hand umklammerten die Kante des Schreibtisches, das Gesicht war nur wenige Zentimeter vom Papier entfernt, die rechte Hand hielt den Stift so fest wie die Faust eines Babys. Am Ende eines Workshops war mein ganzer Körper steif, meine Hand arthritisch, mir schwirrte der Kopf. Ich habe niemals erklären können, was in jenem Jahr mit mir geschah, in jenen Workshops, in den Literaturkursen. Sie ließen uns lesen und lesen und nochmals lesen. Und dann schreiben, bis ich glaubte, niemals mehr auch nur ein Wort schreiben zu können. Ganze Seiten waren schwarz vor wütenden Streichungen, Anmerkungen, triumphierende Entdeckungen des genauen Wortes, genau dieses Wortes, Notizbuch um Notizbuch, zerfetzt, zerrissene Halbseiten, zusammengeheftete Fotokopien mit Listen dessen, was man beim Schreiben nicht durfte, Notizzettel mit flüchtig notierten Gedankenfetzen, zusammengehalten von Büroklammern. In Biologie, Geometrie und Deutsch saß ich angespannt da, als ob die Furchen sich für immer in meine Stirn eingraben sollten. Ich kam nicht mit. Ich konnte mich nicht auf den Stoff konzentrieren, aber mein Stift wanderte an den Rand meines Heftes, entwarf immer neue Geschichten, kritzelte Gedichtfetzen. In Mathe, den Naturwissenschaften und Sprachen hatte ich in den Jahren in Edina ständig schlechte Noten gehabt. Aber während dieser Schulstunden hatte ich die Arbeiten verfaßt, mit denen ich die Aufnahmeprüfung für Interlochen geschafft hatte. Ich bemühte mich ernsthaft, nicht in sämtlichen Fächern durchzufallen, die nichts mit meinem Hauptfach zu tun hatten. Die Schule hielt allabendlich Tutorien ab, die ich treu und brav besuchte, die aber auch nichts brachten. Lora saß mit meinen Büchern auf dem Bett, während ich wild im Zimmer auf und ab schritt und versuchte, ihren Ausführungen über mathematische Beweise, die Entwicklung von Körperzellen und den Konjunktiv zu folgen. (»Mar, willst du jetzt, daß ich dir helfe, oder nicht?« - »JA.« - »Dann SETZ DICH HIN.« »ICH KANN NICHT.«)
Langsam wich der Herbst dem Winter. Morgens war es dunkler, die Tage waren kürzer, die Nächte lang und schlaflos und schwarz. Der erste Schnee fiel und schmolz wieder. Zu Fuß gingen wir die zwei Meilen in die Stadt, kauften Zigaretten, drückten uns im Waschsalon herum, rauchten und schwatzten. Wir saßen im Café, teilten unsere Mentholbonbons, tranken unseren Kaffee, warteten auf den Winter. Wenn es dunkel wurde, machten wir uns auf den Rückweg, die letzten pergamentenen Blätter klammerten sich im scharfen Wind an den langen, zerbrechlichen Zweigen fest, als ob es um Leben und Tod ginge. Lastwagen um Lastwagen rollte vorbei. Wir gingen in den Pub am Ende der Straße und spielten Pool Billard. Lora und ich verbrachten außerhalb unseres Zimmers nicht sehr viel Zeit miteinander. Sie war schon im Jahr zuvor nach Interlochen gekommen und hatte ihren eigenen Freundeskreis. Ich hing mit einer wirren Gruppe zusammen, deren Zusammensetzung sich ständig veränderte: ein paar Tänzerinnen, ein paar Musikerinnen, ein paar Leute vom Theater, ein oder zwei Schriftsteller. Als der Winter begann, schien alles intensiver zu werden. Die Kälte zwang uns nach drinnen, wir rückten enger zusammen, gingen im Kreis, verloren uns in der Arbeit. Ich wurde vollkommen manisch. Und ich war nicht die einzige. Es überrascht nicht, daß ein solcher Ort mit solch erstaunlich intensiven Kindern irgendwann zu brodeln beginnt. Der Enthusiasmus für unsere zukünftige Arbeit hatte uns schließlich hergeführt. Das Arbeitspensum war immens. Viele von uns, ich eingeschlossen, hatten so viele Kurse, Workshops, Hausaufgaben und Proben, daß wir sechs Tage die Woche zehn Stunden am Tag beschäftigt waren. Die Tatsache, daß wir schon in jungen Jahren unser Elternhaus verlassen hatten und in eine Welt eingetreten waren, mit deren intellektuellen und künstlerischen Ansprüchen unsere emotionale Entwicklung gar nicht mithalten konnte, war schon an und für sich bemerkenswert. Heim und Kindheit hinter uns zu lassen war nicht genug. Wir wollten mehr. Und wir fanden mehr. Doch viele von uns fühlten sich verloren und suchten in der Kunst nach Orientierung. Doch was wir eigentlich brauchten, war Religion.
Wenn wir einen Gott gehabt hätten, dann wäre es vielleicht Dionysos gewesen. Wir, seine Jüngerinnen, hielten uns selbst für Mänaden;[10] zur Hälfte glaubten wir daran, vom Göttlichen erfüllt zu sein, zur Hälfte spotteten wir darüber. Wie auch immer, es war eine wahrhaft dionysische Zeit. Immerhin erzählt man sich,) daß nicht nur die Mänaden, sondern auch Dionysos selbst zeitweise dem Wahnsinn verfallen waren. Auf Interlochen gab es mehr Informationen über die Welt, über unsere Möglichkeiten, über die Grenzen und ihre Dehnbarkeit, als wir wahrscheinlich verarbeiten konnten. Etliche von uns - zu viele verfielen der alten, romantischen Legende vom wahnsinnigen Künstler, dem Genie, das das beständige An- und Abschwellen der Musik, der Sprache, der Farben auf der Leinwand, die allesamt endlos, wie besessen, in seinem Kopf durcheinander wirbeln, zum Wahnsinn treibt. Und solch ein wahnsinniges Genie wollten wir sein, ein Opfer unserer Geisteswelt. Der Faden der Selbstzerstörung, der Wut und der Freude verwirrte sich, lief durch die Flure, die Straßen, die Schlafhäuser. Wir waren sehr hungrig.
Ich hatte schon vor einiger Zeit beschlossen, 10 Kilo abzunehmen. Die meisten von uns kannten das abscheuliche Gerücht, daß Mädchen in ihrem ersten Collegejahr zunächst einmal 15 Pfund zulegen. Wir nahmen an, daß für uns das gleiche gelten würde. Es schien ein Initiationsritus zu sein, der sich unserer Kontrolle entzog, 15 Pfund, die auf magische Weise auf unserem Hintern landeten, eine Gefahr, gegen die man sich nur durch erhöhte Wachsamkeit wappnen konnte. Auf dem gleichen Flur wie ich wohnten ein paar Tänzerinnen, eine Geigerin, eine Sopranistin, eine Harfinistin sowie Lora und ich. Schon früh hatte ich mich mit der Sopranistin und der Harfinistin, die Zimmergenossinnen waren, angefreundet. Wir waren uns einig, daß wir alle Gewicht verlieren wollten, und schworen bei allen Qualen der Hölle, einander dabei zu helfen. Gleichzeitig versicherten wir einander immer wieder, daß die jeweils anderen beiden es doch eigentlich gar nicht nötig hatten, abzunehmen. Wir sprachen unaufhörlich über Essen und Gewicht, darüber, wieviel Gewicht wir verlieren wollten, fragten einander: Sehe ich aus, als ob ich zugenommen hätte? Abgenommen hätte? Sieht mein Hintern in diesem Rock dick aus, in diesen Jeans, wenn ich so stehe? Ragt mein Bauch hervor, schwabbeln meine Schenkel? Die beiden hatten einen kleinen Kühlschrank im Zimmer, in dem sie Mineralwasser und kleine Thunfischdosen aufbewahrten (»Ein hervorragendes Mittagessen«, sagte eine von ihnen zu mir. »Es hat nur 60 Kalorien, und danach ist man pappsatt«), ebenso wie Studentenfutter und jede Menge Joghurt. Samstags fuhren wir mit dem Bus in die Stadt, zu Melier's, einem der dortigen Supermärkte, und kauften tütenweise Lebensmittel: Bananenchips, zuckerfreie Bonbons, Rosinen (alles mit abführender Wirkung). Wir beluden uns mit Diätlimonade und Popkorn und standen stundenlang vor den Appetitzüglern und Abführmitteln. Wir diskutierten über die Vorzüge von Agiolax und Diurapid. Wir fragten uns allen Ernstes, wie lang ein Mensch wohl überleben konnte, wenn er ausschließlich Mineralwasser trank. Man kann seinen Körper nicht auf Dauer überlisten. So seltsam es uns, die wir an ein Denken in Dualismen gewöhnt sind, auch scheinen mag, unser Körper ist eng mit unserem Gehirn verbunden. Wer Diät macht, dem passiert unweigerlich etwas sehr Elementares: Wenn man nicht genug ißt, verändern sich die Denkprozesse. Man ist plötzlich vom Essen wie besessen. Es gibt zahlreiche Studien, die diesen Zusammenhang nachweisen, und trotzdem glauben wir immer noch, daß wir einfach nur Fett, Zucker und Kalorien reduzieren müssen, um Gewicht zu verlieren, und ansonsten bliebe alles beim alten, nur daß wir eben dünner wären. Nichts bleibt beim alten. Man verspürt den ständigen Drang, über Essen zu reden. Man will über den Geschmack von Essen reden. Salzig? Süß? Bist du satt? Man möchte ständig irgendeinen Geschmack auf der Zunge haben: Wie schmeckt das? fragt man die anderen, während man seine bizarren Mahlzeiten verspeist. Man kaut Kaugummi, man ißt unzählige Tüten zuckerfreier Bonbons, man lutscht Tic Tacs (nur anderthalb Kalorien pro Stück!). Man bevorzugt intensiv schmeckende Produkte. Jede normale Haltung gegenüber dem Essen wird von der verzweifelten Suche nach der Geschmacksexplosion ohne Schuldgefühle verdrängt. Wenn schon nicht der Körper, so soll sich wenigstens der Mund voll fühlen, um dem Geist Sättigung vorzugaukeln. Man streut jede Menge Salz und Pfeffer auf die Lebensmittel. Man ißt Schüsseln mit zuckerumhüllten Cornflakes (kein Fett). Man schüttet Honig und Rosinen auf seinen Reis. Eßstörungen sind eine Sucht. Plötzlich ist man nach den Folgen süchtig. Die beiden wichtigsten sind das reine Adrenalin, das den Körper durchflutet - man ist high, kann nicht schlafen, ist voller frenetischer, schwankender Energie - und die erhöhte Intensität des Erlebens, die zumindest am Anfang - mit der Eßstörung einhergeht. Zuerst schmeckt und riecht alles intensiv, der Tastsinn ist erheblich sensibler als sonst, man hat deutlich mehr Energie und Antriebskraft, ist übermäßig konzentriert und zielstrebig. Außerdem hat man das sehr intensive Gefühl der Macht. Man bemerkt jedoch nicht, wie schnell man abhängig wird. Und das ist der Punkt.
Es ist genau wie bei Drogen: je länger die Sucht andauert, um so mehr braucht man, um das Hochgefühl wieder auszulösen. Man geht davon aus, daß jeder Gewicht verlieren will, deshalb merkt keiner, wenn man von den üblichen Themen am Abendbrottisch - Kurse Hauptfächer, Jungs zum Essen überschwenkt, und zwar fast ausschließlich. Keiner hält diese Entwicklung für besonders merkwürdig, zumindest am Anfang. Später scheren ein paar Mädchen aus. Wir reden über nichts anderes als Essen, sagt eine von ihnen und kaut an ihrem Apfel herum. Ich hab es satt. Aber bis dahin dauert es noch. Zuerst folgen wir unseren Diätplänen mit religiösem Eifer, sie sind eine Art Kult, ein Pakt.[23] Ich schloß einen Pakt mit einem großen, dünnen Mädchen, das mir angeboten hatte, mir beim Abnehmen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Als ich nach Interlochen kam, hatte ich ungefähr mein normales Gewicht, das etwa bei 60 Kilo liegt. Aber 60 Kilo waren mir viel zuviel, und ich beschloß, 10 Kilo abzunehmen. Ich wollte 50 Kilo wiegen, ebenso wie die Tänzerinnen und die verhungerten Künstler, und ich posaunte überall herum, daß ich eine Diät machte. Dieses Mädchen kam eines Abends auf mein Zimmer und hielt mir einen äußerst herablassenden Vortrag darüber, was man essen dürfe und was nicht. Sie ermutigte mich zu meiner Diät und wies mich darauf hin, wieviel besser ich hinterher aussehen würde. Und dann, eines Abends passierte mir ein »Ausrutscher«. In der Cafeteria sollte es Eis geben. Die Mädchen hatten den ganzen Tag darüber gesprochen - die zukünftigen Virtuosinnen von Weltruhm, die Créme de la Céme, trallala, hatten die ganze Zeit mit gedämpften Stimmen darüber diskutiert, ob man die Disziplin fahren lassen und ein Eis essen sollte. Ob wir stark sein könnten und nur die Sahne und keine Eiscreme essen würden? Das hätte weniger Fett, nicht wahr? Was, wenn wir den ganzen Tag, ebenso wie den darauf folgenden Tag nichts essen würden, wäre dann alles wieder in Ordnung? Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt und ein Eis gegessen. Ich ging in die Cafeteria, holte mir ein Eis und setzte mich zu den anderen Mädchen. Wir lachten - endlich hatten wir mal wieder Zucker im Körper, endlich aßen wir mal wieder normal wie jeder andere Teenager auch bis Miß Diät-Polizei plötzlich hinter mir auftauchte, sich vornüberbeugte, mir mein Eis aus der Hand nahm, zum Abfalleimer ging und es hineinfallen ließ. Das wütende, kleine Kind in mir gewann die Oberhand und wurde stocksauer. Ich schob den Stuhl zurück und rannte meinem verschwindenden Eis hinterher. Das Mädchen drehte sich um, und ich versetzte ihr eine Ohrfeige. »Hast du sie nicht mehr alle?« schrie sie. »Ich versuche, dir zu helfen, schließlich wolltest du doch meine Hilfe beim Abnehmen, und jetzt flippst du wegen deines Eises aus!« Den Tränen nahe, wandte ich mich ab. Ich kam mir vor wie ein Vollidiot. Was will ich eigentlich? dachte ich, als ich in meinen Schlafraum hinaufrannte. Bin ich so eine blöde Kuh, daß ich nicht einmal ohne so ein dämliches Eis leben kann? Keine Selbstbeherrschung, überhaupt keine. Schwein. Manchmal wird man einfach schwach. Körper und Seele protestieren gegen die Vernachlässigung. Auch wir wurden von Zeit zu Zeit schwach, bestellten Pizza oder Hähnchen, saßen in unserem Aufenthaltsraum vor dem Fernseher und aßen. Manchmal übergab ich mich hinterher, manchmal nicht. Wir hatten eine seltsame, unausgesprochene Regel: Wenn wir zusammen essen, ist alles gut, dann ist es uns allen erlaubt zu essen. Das waren die guten Augenblicke, in denen ein Teil von uns normal und gesund sein wollte und wir das Essen ebenso liebten wie jeder andere. Kichernd saßen wir auf dem Boden und mampften vor uns hin. Diese Augenblicke kamen für mich immer seltener und in immer größeren Abständen. Marya, willst du nicht auch eine Pizza bestellen? Nein danke, ich habe schon gegessen. Dann verschwand ich auf mein Zimmer, um zu arbeiten. Manchmal kam ich hinterher wieder heraus, saß mit meinen Freundinnen zusammen, aß die übriggebliebenen Krusten.
Alle offensichtlichen Symptome einer Eßstörung waren jetzt voll ausgebrochen: seltsame Lebensmittelkombinationen, die Reste anderer aufessen, Mahlzeiten auslassen. Das wurde mir zunächst allerdings gar nicht so richtig klar, denn mein Verhalten war alles andere als außergewöhnlich. Doch eines Tages, im Spätherbst, standen wir nach dem Unterricht im Aufenthaltsraum zusammen. Ein Mädchen aß gerade eine Tüte mit Popcorn aus der Mikrowelle und bot mir etwas davon an. Ohne nachzudenken, nahm ich eine Handvoll und steckte es mir in den Mund. Noch kauend bat ich um die Tüte. Ich las die ernährungsphysiologischen Informationen und spuckte das Popcorn in den Papierkorb. Sie sagte: »Marya, jetzt verhältst du dich aber wirklich komisch.« Ich sagte: »Das ist nicht komisch, dieses Popcorn ist unglaublich fetthaltig.« Ein anderes Mädchen, das auf der Couch saß, pflichtete mir bei. »Ich hätte es auch ausgespuckt«, sagte sie. Das Popcorn-Mädchen sagte: »Das ist Bulimie.« Ich sagte: »Was für ein Quatsch! Ich muß es wissen, schließlich hatte ich einmal Bulimie, und dabei spuckt man seine Nahrung nicht aus.« Sie zuckte die Achseln. »Sieht aber aus wie Bulimie«, sagte sie. Ich wollte eindeutig nicht als Bulimikerin betrachtet werden. Ich wollte magersüchtig sein. Ich hatte eine Mission: Ich wollte zu einem anderen Menschen werden, einem Menschen, dessen Leidenschaft der Askese und nicht dem Hedonismus galt, der es schaffen würde, der sich im Griff hatte dessen Antrieb und Ehrgeiz konzentriert und rein waren, dessen Körper erst an dritter Stelle kam, immer, und zwar hinter seinem Geist und hinter der Kunst. Ich brachte keine Geduld für meinen Körper auf. Ich wollte, daß er verschwand, damit ich reiner Geist, ein wandelndes Gehirn wurde, bewundert wegen meiner unglaublichen Selbstkontrolle. Die Bulimie paßte einfach nicht mehr in dieses Bild. Ich hatte jetzt seit sieben Jahren Bulimie. Es ist nicht leicht, eine solche Sucht zu überwinden. Aber mein Interesse hatte sich verschoben. Bis zu diesem Punkt hatte die Bulimie ein Eigenleben geführt. Sie war nichts anderes als eine emotionale Reaktion auf die Welt - unter Druck, fressen und brechen; traurig und einsam, fressen und brechen; hungrig, fressen und brechen - und sie hatte, ob Sie es glauben oder nicht, wenig mit meinem Wunsch abzunehmen zu tun. Sicher, ich wollte immer dünner sein, aber ich wollte auch essen. In dem Jahr, in dem ich auf das Internat kam, begann ich, meinen Körper mit so unglaublicher Intensität zu hassen, daß meine Liebe zum Essen starb. Die masochistische Seite meiner Persönlichkeit trat an die Oberfläche, und die Anorexie wurde zum erklärten Ziel. Ein Grund dafür war die Eigendynamik von Eßstörungen. Die Sorgen über das eigene Gewicht lassen nicht nach, egal wieviel Kilos man verliert. Im Gegenteil: Sie steigern sich noch. Und je mehr Sorgen man sich über das eigene Gewicht macht, um so stärker ist die Bereitschaft, entsprechend dagegen anzugehen. Und man muß seinen Körper schon ziemlich hassen, um sich rational davon zu überzeugen, daß das Verhungern eine vernünftige Methode ist, dünner zu werden.
Normalerweise verfügt die Psyche über Selbstschutzmechanismen, die das Gehirn von wirklich gefährlichen Aktivitäten abhalten, egal wie wünschenswert der Effekt des entsprechenden Verhaltens auch sein mag. Eine Frau kann sich beispielsweise durchaus wünschen, Gewicht zu verlieren, aber sie respektiert ihr körperliches Selbst und schreckt deshalb vor ungesunder Ernährung zurück. Ich hatte keinen derartigen Selbstschutzmechanismus. Wenn man kein Gefühl der physischen Integrität besitzt - kein Empfinden, daß die eigene Gesundheit wichtig ist, daß der eigene Körper, egal wie er aussieht, etwas ist, das man pflegen und nähren muß, und daß er als biologischer Organismus Respekt verdient, dann geschieht etwas sehr Einfaches, allzu Häufiges, wirklich Beängstigendes: Man überschreitet eine Grenze: Der diffuse Wunsch, dünner zu werden, wird zum zügellosen Angriff auf das eigene Fleisch. Man betrachtet den eigenen Körper nicht länger als Teil seiner Identität, als etwas, das einen von einer Stelle zur anderen transportiert, das für einen denkt und fühlt und das für diese Leistungen auch ein gewisses Maß an Energie benötigt. Man beginnt, ihn als überflüssiges Anhängsel anzusehen, wie eine Warze, die man sich entfernen lassen will. Wenn man überhaupt über ihn spricht, so neigt man zu Formulierungen wie »Ich habe einen Körper«. Man sagt nicht: »Ich bin ein Körper«. Er ist eine getrennte Größe, die das »Ich« besitzen kann; das »Ich« und der Körper bilden keineswegs das, was die Grammatik suggeriert: eine Einheit ... Körper werden wie launische Frauen behandelt, denen man zeigen muß, wer der Boß ist, selbst wenn das bedeutet, daß man sie manchmal schlagen muß.[24]
Und wer sich selbst keinen Wert beimißt, der wird auch dem Leben keinen Wert beimessen. Es hat nur insofern eine Bedeutung, als es die Voraussetzung für den Kreuzzug gegen sich selbst ist. Eine Kamikaze-Mission. Das Leben und das Selbst sind viel unwichtiger als das Ziel, das man nicht mehr aus den Augen läßt. »Schlankheit« ist ein ebenso guter Name für mein Ziel wie alle anderen. 10 Kilo, sagte ich. Koste es, was es wolle.
Im Winter litt ich an Auszehrung. Unterernährung ist kein Spaß. Ob man nun mager ist oder nicht, der Körper verhungert. Als die Temperaturen fielen, begann mir eine Art Flaum zu wachsen, den man in der Fachsprache als Lanugo bezeichnet. Damit reagiert der Körper auf eine zu niedrige Kalorienzufuhr, die über einen längeren Zeitraum erfolgt. Er versucht, die Körpertemperatur von innen heraus aufrechtzuerhalten (schon interessant, daß wir Kalorien immer als den Antichrist, nicht aber als Energiequelle betrachten). Ich mochte meine Flaumbehaarung. Ich fühlte mich wie ein kleiner Bär. Ich entwickelte Pelz auf meinem Bauch, auf den Rippen, am Kreuz, auf den Wangen, feiner, flaumig weicher, blaßweißer Pelz. Als die Sonne nur noch ein weißes, durchscheinendes Licht spendete, wie es im Norden im Winter üblich ist, wurde auch meine Haut immer weißer, viel heller als sonst. Ich sah aus wie ein Geist. Ich stand unter der Dusche, fühlte die Knochen in meinem Kreuz, die beiden kleinen Punkte am Hintern. Ich ertastete meine Beckenknochen, zwei kleine Spielzeugbeile. Ich nahm Agiolax und Diurapid. Ich trank literweise Wasser. Mir war ständig kalt.
Morgens hievte ich mich um 5 Uhr aus dem Bett, zog die Laufschuhe an und ging durch das violette Licht, das von den schwarzen Armen der Bäume wie von einem Schattengitter durchzogen war, öffnete die Türen, die in den langen Flur des Hauptgebäudes führten, und fing an zu rennen. Das war eigentlich das Seltsamste an der damaligen Entwicklung. Einsamer Sport war mir stets zuwider gewesen. Früher hatte ich Fußball und Racquetball gespielt und war im Schwimmverein gewesen, aber allein zu laufen war mir immer verhaßt gewesen. Ich war sehr stolz auf mich, weil ich meinen Körper zum Laufen zwang. Laufen. Laufen. Und nochmals Laufen. Unterernährung fördert Manien. Das gleiche gilt für Geschwindigkeit. Beides gab es hier, und zwar in großen Dosen. Und Masochismus - die Unterwerfung des Selbst und/ oder des Körpers unter Schmerz und Angst, die schließlich in dem flüchtigen Gefühl des Sieges über Schmerz und Angst kulminiert. Jeden Morgen rannte ich fünf Meilen lang diesen Flur auf und ab, berührte an jedem Ende die Tür, das gehörte zu meiner Zwangsvorstellung. Ich mußte die Tür berühren, sonst zählte es nicht. Man denkt sich diese Regeln selbst aus, und wenn man sie bricht, dann helfe einem Gott, man muß eine zusätzliche Meile laufen, um es zu büßen. Wenn ich fertig war, ging ich die Treppe hinunter in den Fitneßraum, um mich zu wiegen. Tagsüber barst der Fitneßraum fast vor Schülerinnen. Sie standen auf der Waage, schindeten sich auf den Fahrrädern, mit den Hanteln, an der Rudermaschine. Etwas Sport konnte schließlich nicht schaden. In einer kleinen Gemeinschaft wie dieser kommt man nicht umhin, die Veränderungen bei den anderen wahrzunehmen. Man sieht, wie die Mitschülerinnen Tag für Tag mehr zusammenschrumpfen. Später traf ich sie auf dem Campus wieder: Sie saßen frierend in den Klassenzimmern, bei Lesungen, bei Konzerten, immer in zahllose Wollschichten gehüllt. Ich wog mich und ging wieder. Wir wußten voneinander und wußten es auch wieder nicht. Man kann den ganzen Tag mit seinen Freundinnen über Essen reden und seine Geheimnisse trotzdem für sich behalten. Oberflächlich betrachtet tut man dies in aller Freundschaft, eine verdammte, unaufhaltsame, vor sich hin diätende Armee, die zusammen untergehen wird. Aber heimlich konkurriert jede mit jeder darum, wer die Dünnste, die Disziplinierteste, die Standhafteste ist, und man führt seinen eigenen privaten Kreuzzug, auf den einen niemand begleiten kann, es sei denn, der Betreffende wäre genauso hirnrissig wie man selbst. Mitte des Winters joggte ich morgens, aß zum Frühstück jede Menge Grapefruits (jemand hatte mir gesagt, daß sie nur acht Kalorien hatten. Als ich herausfand, daß das nicht stimmte, lief ich zehn Meilen, um all die Grapefruits wieder wettzumachen), ging in meine Kurse. Zur Mittagessenszeit machte ich - ebenfalls auf jenem Flur Walking und las dabei ein Buch, dann ging ich wieder zum Unterricht. Abends lief ich erneut, noch einmal fünf Meilen, ging dann in die Cafeteria, aß Karotten mit Senf. Bald schuf ich mir eine neue Regel: Jetzt mußte ich auch nach dem Abendessen noch einmal laufen. Im Januar lief ich fünfundzwanzig Meilen pro Tag, ungeachtet der massiven Knieprobleme, die sich bereits eingestellt hatten. Im Krankenhaus sind Magersüchtige immer erstaunt, daß sie wirklich die Energie aufgebracht haben, stundenlang zu laufen, auf ihren Fahrrädern zu sitzen und wie verrückt dem sich immer weiter entfernenden Ziel in ihren Köpfen hinterherzustrampeln. Je nach Grundhaltung sprechen sie darüber entweder mit einer Art traurigem Stolz oder völlig schockiert. Letzteres kommt allerdings selten vor. Eine solche Reaktion beobachtet man nur bei Frauen, die verstanden haben, daß ihre Lebensweise unnatürlich war und daß sie dieses Leben nicht aufrechterhalten können. Die Stolzen jedoch neigen dazu, die grandiose Illusion zu nähren, sie seien übermenschlich. Auch ich begann, mich dieser Illusion hinzugeben. Ich war übermenschlich.
Wenn man über einen beträchtlichen Zeitraum hinweg ohne Essen auskommt und immer noch am Leben ist, beginnt man diese Trottel zu verspotten, die doch tatsächlich glauben, daß sie etwas essen müssen. Man steht morgens auf, man tut seine Arbeit, man läuft, man ißt nicht, man lebt. Langsam vergißt man, was es heißt zu leben. Man vergißt Dinge. Man vergißt, daß man sich früher einmal ganz gut gefühlt hat, weil man sich im Hier und jetzt einfach ständig beschissen fühlt und man sich nicht mehr erinnern kann, wie es vorher war. Die Menschen halten es für selbstverständlich, satt zu sein. Sie halten es für selbstverständlich, daß sie beim Gehen nicht schwanken, daß ihre Hände nicht zittern, daß ihr Kopf nicht schmerzt, daß ihre Kehlen nicht wund vor Galle sind, daß sie keine kleinen Wunden haben, die sie sich mit den Fingernägeln selbst beigebracht haben, als sie in aller Eile den Kotzpunkt zu finden suchten. Daß ihre Mägen sich nicht aufzulösen beginnen, weil sie mit einer Mischung aus Koffein und Tabletten gefüllt sind, die ebenso ätzend ist wie Batteriesäure. Daß sie nachts nicht von Krämpfen in Waden und Schenkeln geweckt werden, weil sich ihre Muskeln aufzulösen beginnen. Und vielleicht wachen sie nachts nicht von ihrem eigenen unerklärlichen Schluchzen auf. Man verläßt sich auf seinen Hunger, man genießt die heisere Rebellion, mit der der Körper auf die kleinen Qualen reagiert, die man sich selbst zufügt. Wenn es einem schließlich besser geht, fühlt sich Gesundheit falsch an, sie macht einen verrückt, sie verwirrt einen. Also wird man wieder krank, denn mit Kranksein kennt man sich aus. Ich kann nicht erklären, warum ich an dieses Jahr mit einer solchen Freude zurückdenke. Vielleicht, weil es erst der Anfang war. Dies ist das letzte Jahr, in dem ich mich »vollständig« fühlte, obwohl ich es nicht mehr war. Doch meine private Selbstmißhandlung wird von den Erinnerungen an Interlochen überstrahlt. Im Rückblick habe ich diese Zeit zweifellos glorifiziert, trotzdem war sie herrlich. Die Luft schien vor Leidenschaft zu vibrieren. In Ateliers und Konzertsälen schien sie förmlich greifbar zu sein: Ich erinnere mich an die ständige Musik, die von den Übungszimmern im Keller durch die Entlüftungsschlitze in die Schlafhäuser drang, die dramatischen Stimmen und wild gestikulierenden Arme abends in der Cafeteria, das Gelächter, den unzweifelhaften, wilden Wahnsinn, die Extreme. Vielleicht war ich dort deshalb so glücklich, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben die Erfahrung machte, mit meiner extremen Haltung dem Leben gegenüber nicht mehr allein dazustehen. Tatsächlich war ich ein vergleichsweise harmloser Fall. Aus verschiedenen Gründen verabredete ich mich in jenem Jahr mit Jungen, die sehr jung waren, fast körperlos, harmlos. Ich haßte meinen Körper. Im Laufe des Jahres steigerte sich dieses Gefühl immer mehr, und es wurde nicht durch die Tatsache gelindert, daß ich abnahm.
Es war mir buchstäblich unmöglich, auch nur den leisesten physischen Kontakt zu jemandem zuzulassen, ohne mich abstoßend, ausgeliefert, schmutzig und fett zu fühlen. Nachts, in irgendeinem Zimmer der Schlafhäuser, bei halboffener Tür (wenn wir Besuch vom anderen Geschlecht hatten, durften wir die Tür nicht schließen), gab ich mechanisch die notwendigen Geräusche von mir, tat, was man von mir erwartete, was aber nicht allzuviel mit Sex zu tun hatte, dann verließ ich ihn, stand unter der Dusche, hielt mich eine Stunde lang an meinen Hüftknochen fest, die Augen fest geschlossen. Angesichts meiner früheren Erfahrungen war dies etwas seltsam für mich. Vielleicht aber auch wieder nicht. Vielleicht hatte ich Sex auch nur satt. Traurig, aber möglicherweise trotzdem wahr. Und vielleicht hatte ich Angst vor der Intimität, dem Ausgeliefertsein, der Verletzbarkeit. Vielleicht war es auch etwas anderes, etwas, von dem viele eßgestörte Frauen berichten: die Angst davor, daß man ihren Körper als unersättlich wahrnimmt, daß ihre Gesichter eine Reaktion zeigen, daß ihre Stimme zu laut klingt, unaufgefordert, unkontrolliert, daß ihre Leidenschaft von ihrem Ziel - dem Tod - abgelenkt wird und sich etwas noch viel Angsteinflößenderem zuwendet: dem Leben. Einer der Jungen sagte seinem Zimmergenossen - in besorgtem Ton - daß ich dabei »ganz schön keuchte«. Ich hatte nur so getan als ob, aber trotzdem fühlte ich mich gedemütigt und behielt meine Reaktionen, ob sie nun vorgetäuscht oder echt waren, beim nächsten Mal, da er seine magere Gestalt an der meinen rieb, keuchte, seine Erektion bekam und ansonsten den Blick abgewandt hielt, für mich. Ich horchte auf das Lachen und die Rufe der Menschen, die im Flur an seinem Zimmer vorbeigingen. Im Stillen dankte ich Gott für die Schwerkraft, die dafür sorgte, daß mein Bauch zu meiner Wirbelsäule hinuntersank, wodurch sich eine kleine konkave Höhle zwischen meinen Beckenknochen bildete.
Ein Jahr später, im Krankenhaus, verberge ich das Gesicht in den Händen, als eine schöne Frau in der Gruppe zu weinen beginnt, während sie damit herausplatzt, daß sie Angst vor ihrer eigenen Leidenschaft hat, vor ihrer körperlichen Leidenschaft, ihrem Verlangen nach einem Liebhaber. Der Rest der Gruppe sitzt betreten schweigend da, starrt zu Boden, jede einzelne Frau gibt vor, nicht zu wissen, um was es geht, jede versichert sich selbst, daß sie nicht versteht, was sie meint: So haben wir nie empfunden. Später treiben wir unseren Scherz mit diesem Thema: Sex ist doch nur gut zum Kalorienverbrennen, oder? Und wir lachen. Doch ich hatte verstanden, was die Frau meinte. Mein Gesicht brannte, als ob mein Verständnis mich als eine derjenigen Frauen entlarvte, die sich gehen ließen, deren Gefühle ihrem Innern entsprangen, deren Körper sich manchmal in wortloser Freude dem Partner entgegenbäumen. Ich wollte keine von diesen Frauen sein. In dem Jahr, das ich im Internat verbrachte, versuchte ich, genau diesen Teil meines Selbst wegzuhungern. Die Aufnahme von Nahrung, die Aufnahme eines Geliebten wird als Eingeständnis der Schwäche und der Bedürftigkeit betrachtet, als Eingeständnis des Wunsches nach körperlicher Befriedigung, als Zeichen, daß man sich der »niederen«, der minderwertigeren Seite seines Selbst unterwirft. Eine lose Frau, das ist man, wenn die Leidenschaften außer Kontrolle geraten. Die Regeln unserer Kultur schreiben vor, daß eine gute Frau Sex und Nahrung mit einem Seufzer der Unterwerfung annimmt. Stumm soll sie zur Decke blicken und nur die Reste knabbern.
Außerdem machte mich Sex immer hungrig. Ebenso wie Marihuana. Also mied ich beides. Nachts lagen Lora und ich nebeneinander in unseren Betten. Das Winterlicht war hell und blau und tauchte das Zimmer in unheimliche Schatten. Sie schlief fast noch schlechter als ich. Wir lagen da und redeten unaufhörlich, von Gedichten und Geschichten, von Schriftstellern und Sprache, heiße Schauer aus Worten. In den frühen Morgenstunden wurden unsere Stimmen leiser, bis sie schließlich ganz verstummten. Wir sprachen darüber, wohin wir gehen wollten. Was wir schreiben würden. Selten sprachen wir über das Leben, das wir hinter uns gelassen hatten. Wenn die Uhr dem Morgengrauen entgegenkroch, redeten wir nur noch Unsinn. Sie nannte mich Max. Der Winter dauerte an, länger als lang, und wir standen kurz davor, den Verstand zu verlieren. Meine Manie steigerte sich in Wahnsinn. Nachts saß ich im Lesesaal, tippte wie wild auf der Schreibmaschine herum und verfaßte surrealistische Geschichten. Ich saß an meinem Schreibtisch in unserem Zimmer, trank Tee, flog, mit Höchstgeschwindigkeit. Auf einer Woge des Zorns fegte sie ins Zimmer. Oder sie fegte hinein und lachte wie eine Irre. Oder sie fegte ins Zimmer und setzte sich unter den Schreibtisch, um dort ein Glas Erdnußbutter in sich hineinzustopfen. Sie war süchtig nach Zucker. Se verschlang ihn päckchenweise, ebenso wie die langen, bunten Zuckerstangen. Sie war ständig in Bewegung. Zuerst fragte ich mich, ob auch sie ein Problem mit dem Essen hätte, da sie hauptsächlich von Zucker und Weißbrot mit Erdnußbutter oder Gelee lebte, aber meine Sorge war (wie sie mir darlegte) »reine Übertragung, ernsthaft, Max. Vielleicht hast du ja auch einfach nur Hunger.« An manchen Samstagen fuhren wir zusammen in die Stadt, kauften tütenweise Bonbons, Bisquitröllchen mit Cremefüllung (wir bevorzugten beide Vanille; sie roch immer köstlich und benutzte reines Vanilleextrakt als Parfüm, was mich wiederum hungrig machte), Gummibärchen und saure Drops, bei deren Genuß man unwillkürlich das Gesicht verzog, sowie Karamellbonbons. Wir lagen rücklings auf den Betten, lauschten der Musik von The Who und Queen und bellten mit klebrig-vollem Mund: »I AM THE CHAMPION, YES I AM THE CHAMPION«, oder wir hängten uns an die Rohre über dem Bett und fielen mit wildem Gekreische zu Boden.
Man denkt gemeinhin, daß Menschen, die unter einer Eßstörung leiden, nichts essen. Falsch. Sie entwickeln Regeln, die festlegen, was sie essen dürfen: »sichere Nahrungsmittel«, wie wir sie ein paar Monate später im Krankenhaus nennen. Zucker gehört natürlich dazu: Nicht nur, daß er kein Fett hat, er gibt einem auch jede Menge Energie, und denk doch nur, wieviel Arbeit du geschafft bekommst, wenn du randvoll mit Kokain, Koffein und Zucker bist! Meine Schreibmaschine spuckte einen stetigen Strom seltsamster Kurzgeschichten aus, merkwürdig und immer merkwürdiger, atemlos und noch atemloser - und abstrakt. Wenn ich sie heute, Jahre später, lese, kann ich fast vor mir sehen, wie ich mich von meinem Stuhl erhebe, dann mitten in der Bewegung verharre, ins Leere starre, mich wieder hinsetze, weiterschreibe. Die Worte, die ich ausspucke, sind reiner Geist, haben keinen Bezug zur körperlichen Realität, magischer Realismus, halluzinatorische Bilder, eine klare, bizarre Folge von Geschichten über Frauen, die immer stiller, blasser, dünner und dünner wurden, Geschichten, die sich zu einem bemitleidenswerten literarischen Dokument dieses Jahres verdichten. Ich schrieb über eine Frau, die sich in Luft auflöst. Dann über eine, die während eines Spaziergangs zu Porzellanstaub zerfällt. Beunruhigend und aufwühlend, schrieb einer der Lehrer. Unheimlich, ohne Grundlage. Und auf der letzten: Marya, komm wieder auf den Boden. Mit dieser Geschichte bist Du nun wirklich zu weit gegangen.
Mit ihrem lila Füllfederhalter schrieb auch Lora wie eine Verrückte und steigerte sich in unglaubliche Zustände hinein, wenn sie versuchte, die Worte ihrer Gedichte genau richtig hinzubekommen. Ich surrte förmlich vor übernatürlicher Energie. Wenn man nichts ißt, ist es einfach, sich in eine Manie hineinzusteigern, denn natürlich muß man die Gedanken soweit wie möglich vom Essen fernhalten. Nahrung behindert den eigenen Fortschritt, und man muß sich wachhalten, denn wenn man einschläft, verbrennt man keine Kalorien mehr und bekommt auch nichts geschafft.
Bei einer Manie ist die Zeit von grundlegender Bedeutung. Man muß alles schaffen, alles, alles, und man muß es bald schaffen, der weiße Hase, der wie verrückt durch die Gegend rast, auf seine Taschenuhr schaut, Ich komme zu spät! Ich komme zu spät! Die Welt bleibt für mich nicht stehen, und ich muß sie einholen, bevor sie vorbeigeflogen ist und ich meine Chance, unglaublich zu werden, verpaßt habe. Für Unglaublichkeit gibt es eine eindeutige Deadline, und die Zeit vergeht unaufhaltsam. Meine Tage und Nächte waren in Viertelstundenabschnitte unterteilt. Ständig sah ich in meine Notizbücher, um festzustellen, was ich als nächstes tun mußte.
Lora und ich stritten uns aus keinem besonderen Grund. Nun, eigentlich war es nicht wirklich nichts. Ich zog mein Hemd aus, hatte ihr den Rücken zugedreht. »Max, ich will deinen Rücken sehen.« Ihre Stimme klang scharf. Ich hatte mich nicht mehr in ihrer Gegenwart umgezogen. Jetzt war mir ein Fehler unterlaufen. »Was? Nein.« Ich zog mein Pyjama-Oberteil an und ging ins Bad, verschloß die Tür hinter mir. »Max!« Sie pochte an die Tür. »Was ist zum Teufel noch mal los mit deinem Rücken?«
»Wovon sprichst du überhaupt?« Meine Hände fuhren panisch über die Knochen meines Rückens, über die Schlüsselbeine, ertasteten die Handgelenke, die Knie. »Max, du ißt nichts mehr! Komm sofort raus!«
Ich kam heraus und stellte mich vor den Spiegel, bürstete mir das Haar. Es fiel in dünnen, dunklen Wolken herab. Sie stand an ihrem Schreibtisch, knallte mit der Faust darauf. »Weißt du, Max, das ist irgendwie Scheiße.« Ich antwortete nicht. Ich betrachtete mein Profil im Spiegel. Ich war dünner, aber noch lange nicht dünn genug. »Ich meine, du könntest doch irgendwie mit jemandem darüber reden oder so.« Ich stieg ins Bett und öffnete entschlossen ein Buch. »MAX«, schrie sie.
Ich sah auf, wartete. »Leck mich am Arsch«, sagte sie. »Und das meine ich ernst. Leck mich einfach am Arsch.«
Türknallend rannte sie aus dem Zimmer.
Ich wurde zur Kettenraucherin. Ich stand auf den Toilettendeckeln in den Schlafhäusern, dicht gegen ein anderes Mädchen gepreßt, unsere Gesichter nach oben gewandt, wie die Köpfe von jungen Vögeln, unsere Zigarette, mit der wir den Rauswurf aus der Schule riskierten, am Dunstabzug. Ich meldete mich für lange Spaziergänge bei der Hausmutter ab, ging, manchmal allein, manchmal in Begleitung, die alte Straße hinunter und in die Wälder. Dies war das erste Mal in meinem Leben, daß ich es genoß, allein zu sein. Ich hatte die Einsamkeit immer sehr gefürchtet, aber jetzt waren diese Spaziergänge notwendig. Ich wollte mich bewegen. Wir hatten uns gefragt, wie lang der Weg vom Campus zur Geschäftsstraße am Rande Interlochens wohl sein mochte. Wir schätzten ihn auf eine Länge von etwa zwei Meilen, und wir debattierten lang und breit darüber, ob man die auf dem Weg verbrannten Kalorien über die Länge des Weges oder über die Zeit, die man dafür brauchte, berechnen sollte. Ich plädierte für die Länge, weil ich dies mit mehr Kalorien gleichsetzte. Ich wünschte mir Einsamkeit. Ich ging, mein Schritt paßte sich dem Rhythmus der Worte in meinem Kopf an. Worte, ein plötzlicher, immerwährender Begleiter. Links abbiegen am Schultor, atmen, eine Weile gehen, und dann kamen die Worte, schwangen in meinem Kopf wie ein Metronom. Ich gehe, und mit jeder Zeile atme ich ein, atme aus, Schritt um Schritt. An den Wochenenden machten sich alle 350 Kinder schick, um an den abendlichen Vorführungen teilzunehmen, Auftritte, wie ich sie seitdem nicht mehr gesehen habe. Still wie Schnee saßen wir auf der Zuschauertribüne, hielten allesamt den Atem an, lauschten der Musik in der Dunkelheit. Unsere Finger umklammerten die Programmhefte in unserem Schoß, unsere Muskeln folgten, unwillkürlich, verlangend, den tanzenden Gestalten auf der Bühne. Dienstagabends bewegten wir unsere Köpfe im Takt zu der barfüßigen und ziegenbärtigen Jazz Combo, deren schwielige und verführerische Hände das Saxophon und den Baß so lange streichelten, bis ein Lied entstand, dessen Vibrato jeder in dem wogenden, schwitzenden Raum bis in die Bauchhöhle hinein spüren konnte.
Der Winter schob sich immer weiter in unsere kleine Welt hinein, schlich durch die schmalen Ritzen unserer Wände, der Wind lehnte seine Schulter an die Häuser, ließ sie stöhnen und seufzen, der Hof war hoch und weiß, die Straßen knirschten unter unseren Füßen. Der Schnee fiel in leisen Wellen, weiße Steppdecken, die über unseren Köpfen schwebten. In Wolle und Schals gehüllt, wurden wir von Kurs zu Kurs geweht, der Atem entrang sich unseren Mündern in kleinen weißen Explosionen. Atemlos drinnen angekommen, klebten uns dicke Flocken im Haar, deren perfekte Geometrie zu kristallförmigen Tropfen zerschmolz. In der Cafeteria goß ich mir Kaffee ein und tröpfelte ein Drittel Teelöffel Sahne hinein. Ein kleiner Teller: Möhren, Sellerie, Senf. Mittlerweile pflegte ich mir einen geradezu lächerlichen Senfberg auf den Teller zu häufen, wobei ich die Möhren eher als Löffel denn als Nahrungsgrundlage benutzte. Damals kam mir das gar nicht so merkwürdig vor, egal, wie häufig mich meine Umwelt auf mein seltsames Verhalten aufmerksam machte oder Witze darüber riß. An erster Stelle stand für mich nach wie vor der Gewichtsverlust, und zum Teufel, wenn Senf und Möhren kein Fett und keine Kalorien hatten und mich zudem auch noch satt machten, was kümmerte mich verdammt noch mal das Gerede der anderen? Sonst ernährte sich ja schließlich auch keiner normal, also was erlaubten sie sich? Die meiste Zeit über standen wir in großen Gruppen zusammen und schwadronierten über Diäten und darüber, wieviel wir abgenommen hatten. Manchmal sah es so aus, als ob die ein oder andere uns um ein paar Nasenlängen voraus war: Soundso steckt sich den Finger in den Hals, sagt eines der Mädchen, und wir alle regen uns ganz fürchterlich auf. O nein! rufen wir, als ob wir es nicht alle auch täten. Das ist schrecklich! Oder die berühmte Magersüchtige auf dem Campus, eine Tänzerin, die (flüsterten wir) einmal sogar im Krankenhaus war (keuch) und (wir rückten näher zusammen) nur noch 4 Prozent Körperfett hatte. Wir sagten, UNMÖGLICH. Meinst du das ERNST? (Bei einer gesunden Frau bewegt sich der Körperfettanteil zwischen 18 und 25 Prozent. Ob uns der Gedanke kam, daß 4 Prozent möglicherweise lebensgefährlich waren? Nein. Wir waren eifersüchtig.)
Natürlich wurde bei den Tänzerinnen regelmäßig der Körperfettanteil gemessen, ein Termin, von dem sie alle weinend wiederkamen. Wenn aber eine von uns, die normalerweise mehr aß als der Rest, eines Abends auf die Idee kam, Sellerie zu essen, stürzten wir uns auf sie wie ein Rudel Wölfe, kläfften und knurrten Kommentare wie: Das ist ganz gefährlich, dann bekommst du ja gar keine Energie. Hör sofort damit auf! Sie brach dann in Tränen aus und sagte, daß ihr Freund von ihr verlangt habe, daß sie abnahm. So ein Arsch! Gar nichts mußt du! schrien wir und nahmen sie in den Arm. Wenn ich ganz furchtbar hungrig war, aß ich ein paar Brezeln, etwas Mais oder etwas Reis mit jeder Menge Salz. Eigentlich eher mit einer abscheulichen Menge Salz. Dehydration, verursacht durch unaufhörliches Erbrechen und Nährstoffmangel, führt dazu, daß man sich nach Salz förmlich verzehrt. Senf wird zur Delikatesse. Man möchte Salz lecken. Die Leute starren einen an und versuchen, den Blick abzuwenden, wenn man mehr und mehr und noch mehr Salz auf sein Essen streut. Man blickt auf und sagt: »Was?« Wenn man ins Krankenhaus kommt, schreit man die Krankenschwester, den Ernährungsphysiologen, den Arzt, den Wäschejungen an, weil man nur diese winzig kleinen Salztütchen zu seiner Mahlzeit bekommt. Man will das Salz kiloweise herunterschlingen. Sonntags fraßen wir, was das Zeug hielt. In der Cafeteria gab es einen großen Brunch, ein Buffet mit zuckerhaltigen Anstaltsbrötchen, Muffins, dänischen Butterkeksen, Kaffee, Kuchen, riesige Tabletts aus rostfreiem Stahl mit knusprigen Bratkartoffeln, Eiern, Würstchen, Schwarzbrot. Wir aßen, aßen und aßen. Aber wir nahmen seltsame Lebensmittelkombinationen zu uns: sieben Blaubeermuffins, eine ganze Platte mit salzigem Kartoffelpürree, vierzehn Chocolate Chip Cookies. Am Sonntagnachmittag fand man uns dann mit verkniffenen Gesichtern im Fitneßraum: Wir hüpften im Takt der Musik auf und ab, strampelten wie wild auf den alten Heimtrainern herum. Eines Sonntags stand ich zusammen mit Lora in der Cafeteria und aß gefrorenen Joghurt, da sagte eine ihrer Freundinnen zu mir: »Mein Gott, tust du eigentlich auch mal etwas anderes als essen und rennen?« »So viel esse ich doch gar nicht«, verteidigte ich mich. Das Schlimmste war die Angeberei. Ich höre und sehe sie in den Schulen des ganzen Landes, in Cafés, in Restaurants, in Bars, im Internet, in Bussen, auf Bürgersteigen. Frauen, die herumposaunen, wie wenig sie essen. Oh, ich hungere, ich habe den ganzen Tag nichts gegessen, ich glaube, ich werde mir ein großes Salatblatt gönnen, ich bin nicht hungrig, ich esse morgens nicht gern (nachmittags, abends, dienstags, wenn meine Nägel nicht lackiert sind, wenn mein Schienbein weh tut, wenn es regnet, wenn die Sonne scheint, an Feiertagen, vor oder nach 14 Uhr). Ich hörte diese Worte im Krankenhaus, dieses schreckliche, ironische Klagen von den rissigen Lippen verhungernder Frauen. Aber ich bin nicht hungrig. Wenn man uns Frauen glauben will, dann sind wir niemals hungrig. Wir leben von kleinen Ms.-Pac-Man-Energietabletten. Wir ekeln uns vor dem Essen, es verursacht uns Juckreiz, Essen ist schmutzig, ich mag eigentlich nur Sellerie. Wenn man uns Frauen glauben will, dann sind wir ätherische Wesen, die nur mit größter Abscheu essen, die vor Ekel die Lippen verziehen, während sie einen Kleinstbissen zwischen den Zähnen haben. Essen, nur weil es Spaß macht? Wohl kaum!
Hungern ist heutzutage Ausdruck von Weiblichkeit, so wie es die Ohnmacht im vorigen Jahrhundert war. In den zwanziger Jahren rauchten Frauen mit langen Zigarettenspitzen und zeigten ihre zahnstocherdünnen Beine. In den fünfziger Jahren erröteten Frauen und gaben vornehme, kleine Schnalzlaute von sich. In den sechziger Jahren wiegten die Frauen sich nur ständig hin und her, mit geschlossenen Augen und einem blöden Lächeln auf den Lippen. Meine Generation und die davor behaupten, kein Interesse am Essen zu haben. Wir sind »zu beschäftigt« zum Essen, »zu gestreßt«. Wer nichts ißt, hat ein erfülltes Leben, ist so beschäftigt und wichtig, daß die Nahrungsaufnahme nur Zeitverschwendung für ihn ist. Wir behaupten, keinen Appetit zu haben, pflegen die heilige Körperlosigkeit; wir sind die Superfrau, die die weibliche Domäne des Körperlichen hinter sich gelassen und endlich Zugang zur männlichen Domäne des Geistes gefunden hat. Und doch, diese Maxime ist nicht allzu neu: Eine Dame ißt wie, ein Vögelchen. Eine Dame sieht aus wie ein Vögelchen, mit zerbrechlichen Knochen, doch machtvoll im Flug, wenn sie sich schwerelos in die Lüfte erhebt. Wir geben vor, kein Interesse zu haben, und lachen. Nachts schleichen wir uns zuweilen in die Küche, das Dreieck des Lichts, das der Kühlschrank auf den Boden wirft, wir schaufeln uns kalten Braten, Eiscreme, Früchtegelee, Käse in den Mund, schlucken ohne zu kauen, lauschen auf das stetige Ticktack der Uhr, das in der Küche widerhallt. Ich habe es getan. Millionen andere ebenfalls. Viele von uns spüren eine Leere, die an unseren Rippen zehrt und nicht durch Nahrung gefüllt werden kann, und sei es auch noch so viel. Wir wissen nur das eine: daß dieses Gefühl eine Art von Hunger ist, also essen wir. Man kann die körperliche Reaktion auf das Verhungern nicht verleugnen, was teilweise der Grund dafür war, daß ich mich in manchen Nächten im Badezimmer verschanzte und mich im Spiegel dabei beobachtete, wie ich mir Schokoriegel, Chips, alles, was der Automat sonst noch bot, wahllos in den Mund stopfte und mich dann übergab. Außerdem verspürt man diesen größeren, geheimnisvolleren Hunger, und ich war und bin nicht die einzige, die ihn verspürt. Er windet sich wie eine Schlange unter dem Brustbein, drückt einem die Kehle zu. In der Schule waren wir hungrig, verloren, verängstigt und jung, und wir brauchten Religion, Rettung, etwas, das die Höhle der Furcht in unserer Brust füllte. Viele von uns suchten ihr Heil im Essen und in der Schlankheit. Wir fühlten uns von der Suche nach der eigenen Identität überfordert und hungerten nach Wissen und Sicherheit. Viele von uns kamen aus Familien, die vor guten Vorsätzen und Ehrgeiz nur so strotzten. Wir lebten in einem Schnellkochtopf, standen ständig unter Druck; die Konkurrenz war groß, die Maßstäbe sehr hoch, die Zukunft alles andere als sicher, das Wissen, daß man ein schwieriges Leben wählt, klar und das Bewußtsein, daß die Chancen, es »zu schaffen«, nur gering waren, durchaus vorhanden. Das schuf ganz einfach einen Hunger nach Sicherheit. Wir lebten in einer Welt, die durch Hunger und Mangel geradezu gekennzeichnet war. Wir bezeichnen dieses Gefühl als Religionsverlust, als Verlust der Kernfamilie, als Verlust des Gemeinschaftsgefühls. Aber was immer es ist, es löst heftigen und unstillbaren Hunger in unserem kollektiven Unbewußten aus. Unsere beständige Suche nach etwas, das groß genug ist, um uns zu füllen, führt uns zur Götzenverehrung - und seltsamerweise sind diese Götzen gleichzeitig Konsum und Hunger. Wir »schwanken zwischen Selbstverehrung und Selbstdegradierung«[25] hin und her, das Pendel schwingt vor und zurück und verpaßt jedesmal den Punkt des Gleichgewichts. Wir wissen, daß wir etwas brauchen, weshalb wir immer mehr lernen und erwerben und vor allem immer mehr essen, weit über den Punkt der körperlichen Sättigung hinaus. Dies ist nichts als der Versuch, ein größeres, übergeordnetes Bedürfnis zu stillen. Dann befällt uns die Scham, und wir verwandeln Skelette in Göttinnen und blicken zu ihnen auf, als ob sie uns lehren könnten, nichts zu brauchen.
Nicht alle meine Mitschüler waren vom Gedanken an Essen besessen. Es gab auch andere. Merkwürdigerweise hatten gerade meine engsten Freunde (viele von ihnen natürlich männlich) eine einigermaßen gesunde Einstellung zu Diäten. Und weil sie alle jung waren, wußten die meisten meiner Freunde über Eßstörungen nicht mehr, als daß es sie gab. So sehr dieses Problem auch auf Interlochen verbreitet war, man schenkte ihm erheblich weniger Aufmerksamkeit als Drogen oder Alkohol. Mitten im Winter begannen meine Freunde dann doch, sich Sorgen um mich zu machen. Ich hatte sehr merkwürdige Eßgewohnheiten. Bei den Mahlzeiten sagten sie, etwas zu beiläufig, Mar, willst du nicht auch was? Dann schoben sie mir einen Teller hin. Du brauchst Eiweiß, sagte Anna. Hier, iß etwas Hüttenkäse und ein paar Bohnen, iß was, du mußt doch Hunger haben. Im Dezember hatte ich beschlossen, nur noch 100 Kalorien pro Tag zu mir zu nehmen. Das war eine gute Zahl, eine ordentliche Zahl, eine »Diät«, keine Störung, ein Plan. Möhren, Senf, zwei Brezeln, die Sahne in meinem Kaffee. Meine Freunde setzten sich zu mir an den Frühstückstisch und sagten laut: »Ach, ich liebe Haferbrei. Heute schmeckt er wirklich köstlich, Mar.« - »Haferbrei hat wenig Fett«, sagten sie mit schmeichelnder Stimme und schwenkten ihre Schüsseln vor meinem Gesicht hin und her. Ich runzelte die Stirn und wich zurück wie ein Baby mit Schmollmündchen. Mar, du mußt doch Hunger haben, sagten sie. Ich wechselte das Thema.
Dann kamen die Weihnachtsferien. Ich flog nach Hause. Wir saßen auf dem Traverse City Airport zusammen, nervös, traurig, geistesabwesend und lachten zu laut. Wenige von uns hatten Lust, dorthin zurückzukehren, wo sie hergekommen waren. Auf dem Flughafen in Detroit betrank ich mich, noch mehr trank ich im Flugzeug. Das Kalorienzählen wurde vom Vergessen verdrängt. Meine Mutter holte mich ab. Ihr Gesicht war streng, ihr Mund zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. Ich sah aus wie dreißig. Meine Haut war gespenstisch weiß, mein roter Lippenstift grell, die schwarzen Kleider waren zu weit und zu alt. Sie umarmte mich steif. Wir gingen zum Gepäckband und sprachen kaum ein Wort miteinander. Sicher war sie damals nur besorgt. Aber ich war erst fünfzehn und meine Mutter für mich nur schwer zu durchschauen. Ihr Gesicht war verkniffen vor - Abscheu? Verärgerung? Was hatte ich jetzt schon wieder falsch gemacht? In sarkastischem Ton sagte ich: »Wie schön, daß du dich so sehr freust, mich zu sehen.« Sie gab ein tsss von sich und sagte: »O Marya.« Ich sagte: »Was?« Sie machte noch einmal tsss und wandte das Gesicht ab, dann schritt sie schnell, professionell, energisch davon. Wir flogen durch den Flughafen wie Hexen auf einem Zwillingsbesen.
Der Januar war kalt, der Februar noch kälter. In meinen Ferien hatte ich die Bewunderung erhalten, die ich mir gewünscht hatte: Ich hatte Komplimente bekommen, weil ich abgenommen hatte, was mir ein seltsam hohles, flüchtiges Gefühl des Erfolges gab. Wenn ich »für mich kein Weihnachtsessen, danke« sagte, verursachte das sofort einen mittleren Aufruhr, und als ich zur Schule zurückkehrte, beschloß ich, nur noch einmal die Woche zu essen als Strafe für die Minimalportionen, die ich zu Hause zu mir genommen hatte. Ich aß sonntags. Reis. So fuhr ich fort, bis ich fast wie von selbst begann, zu fressen und zu kotzen. Für Menschen, die niemals unterernährt waren - und vielleicht sogar auch für solche, die diesen Zustand kennen - klingt das wahrscheinlich sehr merkwürdig; aber der Körper überfährt irgendwann das Gehirn und zwingt einen zum Essen. Plötzlich ertappt man sich dabei, daß man gerade Pizza bestellt hat. Es gibt keine Möglichkeit, die Pizza oder den Hunger, den sie hervorruft, zu verstecken. Man schließt sich also im Schlafzimmer ein, ißt sie auf und erbricht sie wieder. Oder man findet sich plötzlich allein in der Cafeteria wieder und füllt Teller um Teller. Man ist so verdammt hungrig, daß allein schon der Geruch des Essens, die bloße Existenz von üppigen Buffets, das grelle Licht und das Gelächter unzähliger Münder, die sich weit öffnen, um Essen aufzunehmen, überwältigend wirken, und man ißt und ißt und ißt, und dann hastet man ins Bad und kotzt. Oder man ertappt sich dabei, wie man bei einem Spaziergang an einem Restaurant haltmacht, sich ein riesiges Abendessen bestellt und hinterher im Wald kotzt. Vielleicht erinnert sich der Körper an die Zeit, zu der man normal gegessen hat. Wenn man Hunger hatte, hielt man an einem Restaurant an und aß. Ständig hat man dieses Summen im Kopf, und zumindest für den Zeitraum, in dem man mit Essen beschäftigt ist, vergißt man, daß man sich doch eigentlich gewissenhaft darum bemüht, eine gute Magersüchtige zu sein. Wenn es einem wieder einfällt, ist es zu spät. Außerdem ist man ohnehin noch lange nicht satt: Man hat sogar noch Hunger, nachdem alles aufgegessen ist, aber dann fühlt man sich unglaublich schuldig und abscheulich, so daß man sich einfach übergeben muß - es geht nicht anders - und man tut es, und alles ist wieder besser. Das ist das Schlimmste daran. Das quält mich am meisten, wenn ich Frauen höre, die mitten drin stecken und mir erzählen, um wie vieles besser sie sich fühlen, wenn sie kotzen, wenn sie von dem Gefühl der Erleichterung berichten, vom Trost und von dem Gefühl der Macht, weil man die Natur besiegt hat, wie trügerisch und kurzlebig dieses Gefühl auch sein mag. Von der Fähigkeit, einer materialistisch orientierten Welt ins Gesicht zu spucken, oder besser: ihr auf die Schuhe zu kotzen. Auch ich erinnere mich an die Erleichterung, an die Macht. Ich vermisse beides. Es tut verdammt weh. Es ist abstoßend! aber all diese Jahre war es mein Schutz, meine Absicherung, mein Leben. Es war etwas, das ich mit Sicherheit wußte, etwas, worin ich ohne jeden Zweifel gut war. Ich wußte, daß es für mich dasein würde, wenn ich es brauchte. Und das ist es: Es ist immer noch da. Nach dem Abendessen umschmeichelt es mich. Komm schon, Du bist gestreßt. Würdest Du Dich nicht gleich besser fühlen? Nicht gar so voll. Komm schon, nur dies eine Mal! Es ist immer da, jeden Tag. Das Badezimmer ist am anderen Ende des Flurs, genau zehn Schritte von meinem Schreibtisch entfernt - ich habe die Schritte gezählt, bin an manchen Nachmittagen immer wieder auf und ab gelaufen, zehn winzig kleine Schritte. Und wenn der Drang groß genug wäre, könnte ich den Weg in drei langen Schritten zurücklegen. Am anderen Ende des Flurs liegt die Sicherheit, der Trost, aber diesen Trost kann ich mir nicht mehr leisten.
Jeden gottverdammten Tag muß ich mir ins Gedächtnis rufen, daß am anderen Ende des Flures, kurz hinter dem Trost, ein grotesker Tod wartet. Ich stelle mir vor, daß mein Mann mich so findet - auf dem Boden in einem Teich aus Blut und Erbrochenem, Tod durch Perforation der Magenwand oder durch einen Herzanfall oder durch beides - und ich falle wieder auf meinen Schreibtischstuhl zurück. Das ist Kontrolle für mich, so traurig es auch klingen mag. Aber Tatsache ist nun einmal, daß ich vor ein paar Jahren gar nicht in der Lage gewesen wäre, diese tägliche Wahl zu treffen. Damals glaubte ich noch, daß das Erbrechen, vielleicht sogar der Tod selbst, Kontrolle bedeutete. Wie sehr ich mich doch täuschte.
Der Februar hatte etwas Klaustrophobisches, und alles wurde noch merkwürdiger. Eine plötzliche Woge des Zorns überflutete den Campus, eine Woge aus verzweifeltem Sex, aus Kokain und Schnaps, eine Menge Leute, die hinausgeworfen wurden, wenn sie erwischt wurden. Eine einsame Cellistin, die im Schnee saß und eine Sonate spielte. Leute, die im Pyjama zum Unterricht kamen, Augen und Haare wild und zerzaust. Und eines Nachts meine eigene Manie - ich wollte nur noch eins: daß es aufhörte, sich in meinem Kopf zu bewegen und vor sich hin zu plappern, wahrscheinlich hatte ich doch zu viele Aufputschmittel genommen - die ins Bad führte: Ich öffnete den Badezimmerschrank und schluckte sämtliche Tabletten, die wir hatten, Diurapid, Vitamin C, Codein, Aspirin. Ich erinnere mich an das seltsame Gefühl, als der Boden sich auf mich zubewegte. Im Dunkel des Morgengrauens kroch ich auf die Krankenstation und bat, vom Unterricht freigestellt zu werden. Ich fühlte mich nicht wohl. Sie sagten nein. Die folgende Woche besteht aus einem Nebel von Kursen, die mal scharf, mal unscharf waren, mal nah, mal fern, verrückte Schnappschüsse, die einander vor meinen Augen jagen. Ich begann, Nahrungsmittel auf meinem Zimmer zu horten. Ich besaß eine kleine Bleistiftdose, in der ich Kekse aufbewahrte, ebenso wie harte Bonbons, alte Brezeln, gelegentlich auch eine gummiartige Möhre. Lora brachte mir etwas von den Mahlzeiten mit, an denen ich kaum mehr teilnahm. Sie warf paketeweise Kekse auf das Buch, über das ich mich beugte. Ich stopfte sie in meine Kiste. Ich behielt sie, nur für alle Fälle. Dies ist eine häufige Angewohnheit von Magersüchtigen. Und für dieses Verhalten scheint es eine biologische Basis zu geben. Bei einer Versuchsreihe mit einer Gruppe junger, gesunder Männer, deren tägliche Kalorienzahl auf unter tausend reduziert wurde, machte man folgende Beobachtungen: Sie horteten heimlich Nahrungsmittel, sprachen unaufhörlich über das Essen, kauten ständig Kaugummi und Pfefferminzbonbons, lasen Rezepte für Gerichte, die sie nicht kochen durften. Nach einiger Zeit ertappte man sie häufig dabei, wie sie in Mülltonnen herumwühlten und sich in die Krankenhausküche stahlen, um dort alles mögliche in sich hineinzustopfen. Sie begannen, sich zu übergeben, und machten sich interessanterweise plötzlich heftige Sorgen über ihr Gewicht, über ihren Körper. Sie begannen, Diät zu halten. Sie machten sich Sorgen darüber, sich zu beschmutzen, fühlten sich von ihren biologischen Körperfunktionen abgestoßen und wollten keine Nahrung mehr anrühren. Hmm.
Ich weiß nicht, wo der Körper beginnt und der Geist endet. Vielleicht besteht einer der Irrtümer, denen sowohl Spezialisten für Eßstörungen als auch unsere Kultur in ihrer Gesamtheit verfallen, darin, anzunehmen, es gebe entweder eine biologische oder eine emotionale Ursache für Eßstörungen. Aber beide sind miteinander verwoben. Man verstrickt sich in beidem und weiß nicht, wie man wieder hinausfinden soll. Ob es nun an meiner Unterernährung, der Neurose oder der unsäglichen Kombination aus beidem lag - was sich in jenem Jahr jedenfalls ganz plötzlich veränderte, war die Art und Weise, wie mein Geist funktionierte. Solange ich Bulimikerin war - es waren mittlerweile sieben Jahre - hatte ich niemals zuvor ein solches Stadium vollkommener und ständiger Besessenheit erreicht, wie es in diesem Jahr auf der Schule begann und die folgenden Jahre charakterisieren sollte. Eine Freundin, die ich erst viel später kennenlernte und die selbst nie eine Eßstörung hatte, erzählte mir, daß sie sich einmal über die Toilette gebeugt hatte, um sich zu übergeben. Aber auf einmal wurde sie, wie sie sagte, von der plötzlichen Erkenntnis erfaßt, daß das, was sie da tat, falsch war. Nicht falsch im Sinne von sündig, sondern falsch in einem grundlegenden, menschlichen Sinn - ein Vergehen gegen die Natur, den Körper, die Seele, das Selbst. Sie hörte auf. Ich glaube, vor meinem sechzehnten Lebensjahr hatte ich im Hinterkopf immer gewußt, daß diese Einschätzung stimmte. Immer wieder wurde ich von der Gewißheit heimgesucht, daß meine Eßstörung eine gegen mich selbst gerichtete Grausamkeit war. Wir neigen dazu, dies zu vergessen. Wir halten Bulimie und Anorexie entweder für bizarre Psychosen oder für eine Schrulle, eine Phase, etwas, das Frauen einfach tun. Wir vergessen, daß es sich um einen Akt der Gewalt handelt, der von einem guten Maß an Zorn gegen und Furcht vor dem Selbst zeugt. In diesem Jahr jedoch verstummte die fragende, flüsternde Stimme in meinem Kopf. Als die Stimme des Zweifels verschwunden war, veränderten sich meine Augen und demzufolge auch meine Welt. Ich ging durch den Spiegel, und dahinter stand alles Kopf. Die Bedeutung der Worte verkehrte sich in ihr Gegenteil. Hinter dem Spiegel wird man selbst zum Zentrum des Universums. Alle Dinge reduzieren sich auf die Beziehung, die sie zu einem selbst haben. Du klopfst gegen das Glas - die Menschen drehen sich um, sehen dich, lächeln und winken. Dein Mund bewegt sich, ohne einen Laut von sich zu geben. Du verlierst die Dreidimensionalität, verwandelst dich in eine Papierpuppe, deren Augen nur aufgemalt sind.
Man verliert seine Angst. Man ist rücksichtslos, sorglos, eine Comicfigur, die vor Freude mit den Beinen zappelt, wenn sie von der Klippe in die Tiefe stürzt, heftig unten aufklatscht und wieder nach oben springt. Man niest, und aus der vom Kokain zerfressenen Nase fließt Blut. Das freut einen, genau wie die kleinen, messerscharfen Stiche, die man bei jedem Schritt spürt, genau wie die besorgten, leisen Worte der Freunde, genau wie die eigene Stimme, wenn man ihnen antwortet: Ich kann einfach nicht aufhören. Man hat eine Entscheidung getroffen: Man wird nicht aufhören. Der Schmerz ist notwendig, insbesondere der Schmerz des Hungers. Er versichert einem, daß man stark ist, daß man allem widerstehen kann, daß man nicht der Sklave seines Körper ist, daß man seinem Flehen nicht nachgeben muß. Tatsächlich mag man den Schmerz sogar. Man mag ihn, weil man glaubt, ihn verdient zu haben, und die Tatsache, daß man sich dem Schmerz selbst unterwirft, bedeutet, daß man tut, was man von Rechts wegen tun muß. Man tut etwas Richtiges. Es ist schwer zu beschreiben, wie diese beiden Dinge in einem Kopf stattfinden können: der arrogante, selbstversunkene Stolz auf sich selbst wegen der eigenen unglaublichen Heldentat, und die Überzeugung, daß man so böse ist, daß man es nicht besser verdient hat als zu verhungern oder sich auf andere Weise selbst zu verstümmeln. Sie existieren gleichberechtigt nebeneinander, weil man sich in zwei Persönlichkeiten aufgespalten hat. Der eine Teil ist der, der zu töten versucht - das schwache Selbst, der Körper. Der andere Teil ist der, in den man sich zu verwandeln versucht - das mächtige Selbst, der reine Geist. Diese Spaltung ist keine Psychose, sondern vielmehr eine Manifestation der westlichen Lebensphilosophie. Die eigene Fähigkeit, dem Schmerz zu widerstehen, begründet den Anspruch auf Ruhm. Sie ist Askese, heilig. Sie ist Selbstkontrolle. Sie ist Masochismus. Und der Masochismus ist vielen eine Lust, aber darüber möchten wir nicht nachdenken. Wir lassen den Gedanken nicht zu, daß ein Mensch ein verschlungenes, autoerotisches Leben führen kann, gleichzeitig an der Spitze und am Tiefpunkt sein und gleichzeitig beides erfahren kann: die Freude, einen Körper, der an den Händen gefesselt ist, immer und immer wieder zu schlagen, und die Freude, dieser Körper zu sein und zu wissen, daß er jeden Schlag verdient hat.
Das Jahr nahm psychedelische Ausmaße an. Der Winter ging in den März über, das Licht der Sonne verwandelte sich von weiß in blaßgelb, das Tageslicht schlich sich früher heran, der zusammengestampfte Schnee begann zu schmelzen. Ich litt unter schwerer Unterernährung und bewegte mich immer schneller, mit dem Mut, der nur dem Narr eigen ist, auf die Krankheit zu, ich suchte sie förmlich - bedingungslos, leidenschaftlich. Nicht, daß ich mir explizit vorgenommen hätte, krank zu sein. Ich tat einfach nur alles in meiner Macht Stehende, um es zu werden. In gewisser Weise wünschte ich mir sehnlichst, erwischt zu werden. Nicht um gerettet zu werden, sondern um wahrgenommen zu werden, um offiziell Anspruch auf Größe erheben zu können, um jene kranke Bewunderung zu erhaschen, die den Menschen zuteil wird, die sich besonders gut zu zerstören verstehen. Du meine Güte, sagen die Leute, wieviel Selbstdisziplin du hast!
Und später: Mein Gott. Wie krank du bist! Wenn die Leute das sagen, wenn sie sich nach einem umdrehen, dann hat man sein kleines Spiel gewonnen. Man hat die eigene Hypothese verifiziert: Keiner-liebt-mich-keiner-haßt-mich-ich-könnte genauso gut-Würmer-essen. Man sinkt zurück in die Kissen des Krankenhausbettes und schreit in selbstgerechter Entrüstung: Seht Ihr? Ich wußte, ihr würdet mich aufgeben. Ich wußte, ihr würdet mich verlassen. Aber was tut man dann? Was ist man noch wert, wenn keiner mehr hinsieht? Woher weiß man, daß man überhaupt noch da ist? Dies ist der Zeitpunkt, an dem man zum Spiegel zurückkehrt und nach etwas anderem als seinen Knochen Ausschau hält, nach etwas anderem als dem Schatten des Todes, der einem über die Schulter blickt. Man braucht lange, um sehen zu lernen. Der Tod ist etwas Faszinierendes. Der menschliche Geist kreist um dieses Thema, dreht und wendet sich um Tod, Sterblichkeit, Unsterblichkeit, Verdammung, Rettung. Einige fürchten den Tod, andere suchen, ihn, aber es liegt in unserer Natur, uns über die Grenzen des menschlichen Lebens zumindest Gedanken zu machen. Doch wenn man so krank ist, beschäftigt man sich ausschließlich damit.
Der Tod ist immer da, er ist dein Schatten, dein Geruch, dein Begleiter, bei Tag und bei Nacht. Wenn der Schlaf die Augen schließt, denkst du unwillkürlich: Was wenn? Was wenn? Und in dieser Frage liegt eine Sehnsucht, die viel zu sehr der Sehnsucht eines jungen Mädchens nach dem Geliebten gleicht. Die Krankheit absorbiert jeden Gedanken, ihr Atem ist wie der des Geliebten, immer dicht an deinem Ohr; die Krankheit steht neben dir vor dem Spiegel, ist von deinem Körper fasziniert, von jedem Zentimeter Haut und Fleisch, und du läßt zu, daß sie die Herrschaft übernimmt, daß sie dich mit ihrer rauhen Hand berührt und erregt. Nichts wird dir jemals wieder so nahe sein. Niemals wirst du einen Geliebten finden, der so fürsorglich, so aufmerksam, so bedingungslos allgegenwärtig und nur für dich da ist. Manche von uns benutzen den Körper, um Dinge zum Ausdruck zu bringen, die sie nicht in Worte fassen können. Sie entscheiden sich für die Abkürzung, beschließen, daß die Welt zuviel oder zuwenig für sie ist. Der Tod ist so leicht, er lächelt einem zu, so einfach; und er ist dramatisch, das letzte »Leck mich am Arsch« an die Welt.
- Lieber Vater, ich werde nicht zulassen, daß meine Seele Frieden mit meinem Körper schließt, und ich habe auch nicht die Absicht, mich zu verstellen. Deshalb erlaubt mir, meinen Körper zu zähmen, indem ich meine Ernährungsweise nicht verändere; ich werde für den Rest meines Lebens nicht mehr damit aufhören, bis kein Leben mehr in mir ist. Mein Fleisch ist keineswegs so schwach, wie es den Anschein hat; es verhält sich nur deshalb so, damit ich nicht Buße von ihm fordere für die Schuld, die es auf sich lud, als es weltliche Freuden suchte ... Oh, mein Körper, warum hilfst du mir nicht, meinem Schöpfer und Heiland zu dienen? Warum bist du jetzt nicht ebenso gehorsam, wie du vorher ungehorsam warst. Seine Gebote? Klage nicht, weine nicht; gib nicht vor, halbtot zu sein. Du wirst das Gewicht tragen, das ich auf deine Schultern lege, alles ... Nicht nur der Nahrung wollte ich mich in diesem meinem sterblichen Leben enthalten, sondern jeden Tag tausend Tode sterben, wenn dies möglich wäre.
Die Heilige Margret von Cortona in einem Brief an ihren Beichtvater, der ihr befohlen hatte zu essen. Tod am 22. Februar 1297 durch Verhungern.
März. Mit zwei Freundinnen lag ich auf dem Bett in einem Zimmer. Wir redeten über Sex, überboten einander mit Erzählungen über das, was wir getan haben wollten. Wir lagen auf dem Rücken und prahlten mit dem achtlosen Gebrauch unserer Körper, mit der allgemeinen Verachtung, die wir für Jungs oder Männer empfanden. Ich habe absolut gar nichts empfunden, sagten wir voller Stolz. Wir sprachen über Essen und Gewicht, über Diät und Verlust. Die Luft wurde wärmer, und an den Bäumen wuchsen kleine, grüne Knospen. Es war ein lauer, sonniger Frühling. Am Spätnachmittag spazierte ich über die Straßen, über den leeren Schulhof, hinaus, durch die Wälder an einen Bach, mit zwei anderen Mädchen oder allein, ich zog die Schuhe aus, krempelte die Hose hoch, tauchte meine Füße in den Bach, in das Eiswasser aus geschmolzenem Schnee. Die Sonne spielte auf den Wellen und den nassen Felsen, sie schien durch das klare Wasser auf den steinigen Grund des Bachs. An mutigen Tagen zogen wir uns aus und schwammen, atemlos und lachend im Schock der Kälte, dem Schock der Wasserbewegung nach Monaten eisiger Stille. Mein Freund Jeremy erinnert sich an diese Zeit, an das Brausen des Frühlings und das Dahinstürmen der Pollen, an die Art, wie die Menschen sich schneller bewegten, wie die Körper auftauten, wie das Blut wie ein kalter Strom durch die Adern floß. Er erinnert sich, eines Abends an mein Fenster geklopft zu haben. Lora sagte ihm, daß ich auf dem Kresge Auditorium sei, einem riesigen kolosseumsähnlichen Bau mit Steinböden und Stahlstreben, einem Gewebe aus Metall und Draht, das das gewölbte Dach stützte. »Oben?« fragte er. »Ja«, antwortete sie. Sie klettert in die Dachsparren, um zu rauchen. Ich stelle mir vor, wie ich dort sitze - ich war sicher nicht die erste - ein kleines Mädchen, ein Bündel Sweatshirts, gekauert auf einen Metallbalken in der Nähe der Decke, Rauch kräuselt sich über meinem Kopf. Ich erinnere mich daran, wie ich hinuntergeschaut habe, an das schwindelige, berauschende Gefühl, als das Gewicht meines Kopfes mich nach vorn zieht, hinunter auf den Steinboden dreihundert Meter unter mir.
Vom See her ist Wind aufgekommen; er rauscht über den Campus: zerzaustes Haar, und der Wahnsinn zieht weiter. Ständig sprachen wir vor Wettbewerben, vom Vorsprechen, von Noten. Wir arbeiteten bis spät in die Nacht, nahmen an endlosen Workshops teil. Lora und ich gewannen in jenem Frühling beide ein paar nationale Preise in kreativem Schreiben. Wir entfernten uns immer mehr voneinander, und ich verbrachte immer mehr Zeit allein oder in Gesellschaft anderer Mädchen, die ebenfalls Diäten machten und keine Fragen stellten. Lora sah zuviel und war zu wütend, und ich war viel zu entschlossen, nichts zu essen. Es war ihr unmöglich, das zu ignorieren, und es machte sie sauer. Wir stritten immer häufiger. Sie wußte, was mit mir los war. Gelegentlich zerrte sie mich regelrecht in die Cafeteria und warf mir dann wütende Blicke zu, wenn ich nur Götterspeise aß. Sie erzählte es der Vertrauenslehrerin, die jedoch nur kurz mit mir darüber sprach. Beim Frühstück sagte ein anderes Mädchen bewundernd zu mir: »O mein Gott, wie sehr du abgenommen hast! Du siehst großartig aus! Ich bin richtig neidisch.« Und Lora fuhr wütend dazwischen: »Du meine Güte, nun ermutige sie doch nicht auch noch!« Sie schob ihren Stuhl zurück und raffte wütend ihre Siebensachen zusammen. Das Mädchen legte ihre Hand um meinen Arm, der Zeigefinger berührte den Daumen. »Wow«, seufzte sie. Lora schob ihren Stuhl wieder unter den Tisch, sagte: »Erwarte nicht, daß ich zu deiner Beerdigung komme«, und ging davon. »Was ist der denn über die Leber gelaufen?« Ich schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte ich. Ein Teil von mir konnte zu jenem Zeitpunkt nicht verstehen, warum sie so wütend auf mich war. Es ging sie nichts an, es war nicht ihr Problem. Diese Denkweise war zumindest ungewöhnlich für mich, denn normalerweise pflegten die Sorgen, die Umarmungen und die Ratschläge anderer Menschen meine Sucht nur noch zu nähren. Durch sie wollte ich nur noch kranker werden. Loras Zorn jedoch verängstigte mich. Wahrscheinlich erinnerte er mich daran, daß ich kein Recht hatte, zu tun, was ich tat. Und damals wie auch später wurde ich wütend auf die Menschen, die mich am meisten liebten und deshalb kein Blatt vor den Mund nahmen. Ich wollte verhätschelt werden. Ich wollte, daß jemand sagte: Oh, arm-es Mädchen, alles wird gut, dafür werden wir schon sorgen. Ich wollte nicht, daß mir jemand sagte: Das ist doch Scheiße. Niemand hört gern die Wahrheit über sich selbst. Lora sagte die Wahrheit, und ich zog aus.
Es geschah nach den Osterferien.
Ein paar Wochen nachdem wir ins Internat zurückgekehrt waren, ging ich zum Frühstück hinunter. Meine Lust aufs Verhungern war durch Wochen der Bulimie aufs neue entfacht. Ich trug eine rosafarbene Baumwollhose und ein weißes Sweatshirt. Ich erinnere mich, daß es kühl war, aber hell, unglaublich hell. Es tat mir in den Augen weh. Das sich zerstreuende weiße Licht zwischen den Blättern, die sich im Wind bewegten, traf mich zu plötzlich. Ich muß den Blick nach oben gerichtet haben, denn ich erinnere mich an die Bäume und an das Licht, an den Schmerz in meiner Stirn, an mein Zwinkern. Ich erinnere mich an die drei Gläser Wasser, die ich zum Frühstück getrunken hatte, an den Schmerz in meiner Brust, an die übelkeiterregende Fülle, die ich immer verspürte, nachdem ich Wasser getrunken habe. Bis zum heutigen Tag hasse ich Wasser. Es schmeckt nach Leere, Hunger, Krankheit. Ich trank Kaffee, zwei Tassen. Ich trank ihn jetzt nicht mehr mit Sahne. Ich trank ihn schwarz. Als wir zu Ende gefrühstückt hatten, blieb ich am Büfett stehen, nahm mir zwölf Chocolate-Chip-Cookies, schob sie in meine Tasche. Ich erinnere mich sehr genau an die Kekse, weich, mürbe. Ich hatte sie seit Monaten nicht gegessen, aber ich liebte das Gefühl, sie bei mir zu haben. Ich ging zur Vordertür der Cafeteria hinaus, bog nach rechts ab, überquerte den Haupthof des Campus. Ich betrat das Unterrichtsgebäude, schritt den Flur hinab, ging in meine Klasse, sagte Hallo und verlor das Bewußtsein. Es war nicht das erste Mal, daß ich das Bewußtsein verloren hatte und umgefallen war, nicht das erste Mal, daß mir schwarz vor Augen wurde. Aber bis jetzt hatte es immer ein paar Symptome gegeben, die mich gewarnt hatten: die Knie gaben nach, das Zentrum der Schwerkraft hatte sich aufgelöst und die Arme fühlten sich an, als ob sie im Meer trieben, es rauschte in den Ohren, die Lider flatterten. Genau wie im Kino. Ich konnte mich immer selbst fallen sehen. Ich hatte es immer gewußt. Doch diesmal wurde mir einfach nur schwarz vor Augen. Ich weiß nicht, was dann geschah. Als nächstes erinnere ich mich daran, daß jemand mir die Treppenstufen zum Schlafgebäude hinaufhalf. Eine Freundin stand zufällig am Tisch und sah mich - nicht einmal in der Lage, den Blick zu fokussieren. Sie fing mich auf und rief um Hilfe. Jemand kam herbeigerannt und schaffte mich von dort auf die Krankenstation. Ich erinnere mich, daß ich laufen wollte und nicht konnte. Ich erinnere mich daran, wie die Schwerkraft uns zurückzog. Ich entschuldigte mich, daß ich so schwer war. Man legte mich auf ein Bett. Jemand maß meine Temperatur, ein anderer zog mich in Sitzposition und kam meinem Gesicht mit einem Becher Orangensaft gefährlich nahe. Eine Hand lag auf meinem Hinterkopf, mit der anderen hielt die Person den Becher, zwang meinen Mund, sich zu öffnen, neigte meinen Kopf nach hinten, schüttete mir den Saft in die Kehle. Daran erinnere ich mich. Als sie dort standen und immer noch meinen Kopf hielten, erbrach ich den Saft, absichtlich, in den Becher zurück. Dann fiel ich auf das Bett zurück und sagte: »Ich habe die Grippe.«
Eßstörungen besitzen die Zentripetalkraft schwarzer Löcher. Ich erinnere mich daran, wie ich mich in mich selbst zurückzog und mich nicht weiter darum scherte, wen ich mit mir zog - die Freunde an meinem Bett, die Krankenschwestern. Ich erinnere mich, wie ich mich unter der dünnen, weißen Decke zusammenrollte, wie ich im Schlaf versank und wieder wach wurde, an die Panik, die ich bei dem schwachen Geschmack des Orangensafts auf meiner Zunge verspürt hatte, die aber durch das Wissen gemildert wurde, daß ich ihn erbrochen hatte, es war alles gut, der Saft war nicht drin geblieben. Daran erinnere ich mich besonders deutlich: an das bedauernswerte kleine Mantra in meinem Kopf, das verlogene Wiegenlied, Alles ist gut, alles ist gut, alles ist gut. Ich erinnere mich an den Sonnenschein, der durch das Fenster fiel, an die Baumwipfel, die gegen das Fenster schlugen. Und ich erinnere mich, daß ich tief zufrieden mit mir war.
Warum?
Weil ich dabei war zu verschwinden. Der Akt des Verschwindens, der Akt des Unsichtbar-Werdens ist in Wirklichkeit äußerst sichtbar und geht nur selten unbemerkt vonstatten. Darin liegt eine seltsame Logik: Menschliche Präsenz manifestiert sich für uns durch Gewicht und Kraft - deshalb sind wir fasziniert von jeder menschlichen Rebellion gegen äußere Grenzen. Sie wird als kleiner Schritt hin zum Übernatürlichen oder dem, was wir für übernatürlich halten, gewertet. Ich sage damit nicht, daß die Vernichtung des Körpers wirklich ein Zauber ist, aber sie fühlt sich an wie ein Zauber. Houdini läuft barfuß über glühende Kohlen, und die versammelte Menge hält den Atem an. Houdini verschwindet in der Luft: die versammelte Menge murmelt und wirft -verwirrte Blicke in die Runde. Und der Appell an den anorektischen Körper ist sogar noch drängender: Wir wissen Bescheid, wir haben durch das Gebrabbel unserer Kultur erfahren, daß auch wir uns des Fleisches entledigen können, daß auch wir wie durch »Magie« Pfunde verlieren, Pfunde »wegschmelzen«, sie zum »Verschwinden« bringen können. Je höher das Durchschnittsgewicht der Bevölkerung ist, um so größer ist die Faszination, die von einem magersüchtigen Körper ausgeht - er wird zum Fetisch. Frauen stürzen sich kopfüber in den Kaninchenbau - alle anderen tun es ja schließlich auch, dann kann es ja nicht so gefährlich sein. Und manche, die dieses Buch hier lesen, denken vielleicht bei sich: Was, wenn ich es einfach versuchte? Was, wenn ich noch ein paar Pfund verlöre? immerhin lebt sie ja auch noch! Nicht ganz!
Ein paar Tage lang blieb ich auf der Krankenstation. Meine Freundinnen und der Junge, mit dem ich zu dieser Zeit ging, besuchten mich. Wir fanden eine alte Schachtel mit Mürbekeksen in einer Schublade. Ich aß alle auf und erbrach sie wieder. Selbst damals war ich erstaunt, daß die Krankenschwestern nicht ausflippten. Von Zeit zu Zeit maßen sie meinen Blutdruck und meine Körpertemperatur, gratulierten mir zu meinem (gefährlich niedrigen, das sollte ich bald erfahren) Blutdruck - ich wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß mein Blutdruck in Verbindung zu meiner Gesundheit steht - und steckten mich wieder ins Bett. Ich wußte ebensowenig, daß die einzigen Mediziner, denen die Symptome einer Eßstörung vertraut sind, diejenigen sind, die sich darauf spezialisiert haben. Meine Freundinnen besuchten mich immer am späten Abend, wenn sich das gelbe Licht der billigen Lampe über das Bett ergoß, auf dem wir alle zusammenkauerten. Ich war gut gelaunt, ein Muster an Zerknirschung, und schwor, in Zukunft mehr auf meine Gesundheit zu achten. Und dann tat ich etwas Merkwürdiges: Ich versprach einer Freundin, einer Selbsthilfegruppe für Drogensüchtige beizutreten. Ich hatte ja tatsächlich ein Drogenproblem: Ich benutzte Drogen als Ersatz für Nahrung, und das schon seit Jahren. In Wirklichkeit jedoch wollte ich eine Gruppe von Leuten um mich scharen, die mich nicht verurteilen würden, die nicht beunruhigt von ihren Stühlen aufspringen würden, wenn ich sagte: Mir ist schlecht. In der Schule gab es eine kleine Gruppe minderjähriger Anonymer Alkoholiker und Drogensüchtiger. Sie hatten die besondere Erlaubnis, jeden Sonntag morgen mit dem Bus in die Stadt zu fahren und sich dort in den Räumlichkeiten der Anonymen Alkoholiker zu treffen, wo sie nach Herzenslust rauchten. An diesem Tag rief ich meine Eltern an und sagte ihnen, daß ich mich einer Selbsthilfegruppe anschließen wollte. Mein Vater fragte nur: Warum? Am Sonntag morgen verließen wir den Campus, und der Himmel erschien mir plötzlich größer. Das Gelächter im Bus war, wie ich später bemerkte, dem Lachen der Mädchen im Krankenhaus ziemlich ähnlich, wenn wir einen viertelstündigen Spaziergang machen durften oder wenn die Halbverrückten aus der Klapse einen kleinen Ausflug zum Pool unternahmen. Es war ein rücksichtsloses Lachen, als ob der plötzliche Sauerstoffschub dem Gehirn geschadet hätte. Wir saßen in dem Raum, der Rauch war so dicht, daß man kaum etwas erkennen konnte. Nach ein paar Treffen setzte ich mich aufrecht hin und verkündete: »Hi, ich heiße Marya.« (»Hl. Marya«.) »Ich bin mehrfach abhängig.« Ich hielt inne. Ich sagte: »Und ich glaube, ich habe Bulimie.« Als ich die Worte aussprach, hatte ich das Gefühl zu lügen. Ich fühlte mich, Gott helfe mir, als ob ich damit prahlen wollte. Ich liebte die Gruppe. Ich liebte das Gefühl, daß alles gut werden würde, daß ich nur zu den Treffen gehen mußte und mich an das Programm halten mußte, dann würde alles gut werden. Und ganz besonders liebte ich die Formel, die wir von den Anonymen Alkoholikern übernommen hatten, und die lautete: Ich habe keine Macht über meine Krankheit. Es gibt nichts Gefährlicheres, als einer Magersüchtigen zu raten, ihre Machtlosigkeit zu akzeptieren. Ein solcher Rat ist ein Freibrief, ein Freispruch. Wie sehr ich es doch genoß, mich in meinem Sessel zurückzulehnen und nichts zu tun als zu rauchen. Dann seufzte ich vor Erleichterung und dachte: Das alles liegt außerhalb meiner Kontrolle. Der Verstand läßt das Steuer los und sagt: Ich überantworte mich einer Höheren Macht. Gott, laß mich keinen Unfall bauen.
Menschen, die in der Hölle waren und den Weg zurückgefunden haben, entwickeln eine bestimmte Form der Selbstgerechtigkeit. Sie sagen gern: Ich habe eine suchtgefährdete Persönlichkeit, ich bin schrecklich sensibel. Ich bin durchs Feuer gegangen, ich habe Narben. Es gibt einen sich selbst aufrechterhaltenden Glauben, daß man nichts daran ändern kann, der sehr gefährlich ist. Er wird zur eigentlichen Identität. Zur persönlichen Religion: Man wartet auf die Erlösung, wartet, wartet, wartet und versäumt es währenddessen, sich selbst zu retten. Wenn man sich selbst retten würde und nicht auf die Erlösung warten würde, wäre man selbstgenügsam. Wie langweilig.
Eines Tages sollten wir gemeinsam eine Tanzveranstaltung besuchen. Ich hatte ein paar Lehrer davon überzeugt, daß es mir gut genug ginge, um daran teilzunehmen. Ich mußte schwören, daß ich die Wahrheit sagte, und wußte, daß ich ganz schön in der Scheiße sitzen würde, falls irgend etwas schief ging. Ich erinnere mich an eine kleine, drahtige Frau, die mir streng ins Gesicht sah und sagte: Wenn du lügst, bist du draußen. Aus gutem Grund hing diese Drohung wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der meisten Schüler. Der Ausschluß lauerte im Hintergrund und wartete darauf, daß man beim Sex erwischt wurde oder beim Rauchen, beim Trinken, bei der Einnahme von Drogen und jetzt bei der Krankheit. Ich schmeichelte, ich weinte. In beidem war ich ganz gut. Also ging ich hin. Die Kostüme waren phantastisch. Ein paar von uns zogen sich auf unserem Zimmer an. Wir hatten lange darüber diskutiert, ob wir uns die Achselhöhlen rasieren sollten, und schließlich entschieden wir uns dafür und waren hinterher traurig. Wir nahmen den Bus in ein Restaurant am Strand und aßen dort zu Abend. Ich aß eine Kartoffel, entschuldigte mich und erbrach mich lautlos, während meine Freundinnen neuen Lippenstift auftrugen. Mein Freund und ich gingen am Strand spazieren, berauscht vom Geruch des Salzes und vom Sonnenuntergang. Ich zog die Schuhe aus. (Verliebte Teenager schwelgen nun einmal gern in Klischees.) Mir wurde schwindelig, nur ganz leicht. Wir fuhren mit dem Bus in den Club. Die Tanzfläche bebte, die Haut glänzend feucht und rot unter den farbigen Lichtern, die Augen glasig. Meine Freunde und ich wechselten von den Billardtischen zur Tanzfläche und wieder zurück. Ich lehnte mich gegen die Wand, versuchte, zu atmen. Lächelte strahlend. Mein schwarzes Satinkleid klebte kalt und feucht an meiner Haut. Während des Tanzens stolperte ich. Durch die Leiber auf der Tanzfläche hindurch bahnte ich mir den Weg zur Toilette, setzte mich in einer Kabine hin, lehnte das Gesicht an das kühle Metall der Wand. Dann raffte ich mich wieder auf. Als ich wieder auf der Tanzfläche war, blitzten die Stroboskopleuchten und ich konnte das Gleichgewicht nicht halten. Alles wirbelte vor meinen Augen, Blitze, grelle Gesichter, abwesende, lächelnde Blicke, die vor mir aufflackerten, Glieder, die sich zu schnell bewegten, zu nah. Ich fuhr zurück, hielt die Hände vor das Gesicht, versuchte, den Blick auf die Tanzfläche zu konzentrieren, dann stolperte ich erneut davon, um in die Toilettenräume zurückzukehren, meine Freunde auf den Fersen. Ich beugte mich vornüber und spuckte Blut auf den weißen Kachelboden, wobei ich immer wieder krächzte: »Es geht mir gut, es geht mir gut«, während meine Freundinnen schrien. Mit dem Rücken an der Wand glitt ich auf den Boden: ein deutlicher Höhenunterschied, das Gefühl, unter die Wasseroberfläche zu sinken, die Temperatur fiel, die Schwerkraft wurde aus den Angeln gehoben. Mit wütendem Türenknallen stürmte eine Freundin aus den Toilettenräumen und holte eine unserer Aufsichtspersonen. Sie stand über mir, lauschte den chaotischen Berichten meiner Freundinnen, die ihr mit schriller Stimme erzählten, was geschehen war, während ich immer wieder beharrlich wiederholte, daß es mir gut ginge. Schließlich schnitt sie uns allen das Wort ab: »Alle den Mund halten. Marya, du verhältst dich ganz schön beschissen. Wir gehen.« Sie zog mich an einem Arm in die Höhe und zerrte mich hinaus, während ich schrie und mich loszureißen versuchte. Es fiel mir schwer, nicht loszulachen. Das alles kam mir vor wie ein großer Witz. Im Auto verlor ich das Bewußtsein. Wieder auf die Krankenstation. Man rief meine Eltern an. Man sagte ihnen, daß ich offensichtlich ein Problem hätte. Ich war keineswegs zu dünn und hatte wahrscheinlich Appetitzügler eingenommen, die ich nicht vertragen hatte. Es war Mai. Das Schuljahr war fast vorüber, und offensichtlich wurde entschieden, daß ich das Jahr bis zum Ende würde durchstehen können. Wahrscheinlich gelang es mir, meine Eltern davon zu überzeugen, daß hier viel Lärm um nichts gemacht wurde. Trotzdem wurde ich außerhalb des Campus zu einer Psychologin geschickt. Ich glaube nicht, daß meine Therapeutin sich auf Eßstörungen spezialisiert hatte. Ich war stocksauer. Ich erinnere mich, mit dem Taxi hingefahren zu sein. Ich glaube, sie fragte mich, ob ich eine Eßstörung hätte. Ich antwortete: »Nein.« - »Was ist dann los?« Ich zuckte die Achseln. An mehr erinnere ich mich nicht. Das Schuljahr neigte sich dem Ende zu. Der Frühling ging in den Frühsommer über, die Vorbereitungen für die letzte Woche, in der die Abschlußprüfungen stattfinden sollten, wurden getroffen. Alle arbeiteten wie verrückt für Aufführungen, Lesungen und Ausstellungen. Wir lachten häufig. Der Himmel war tief blau, die Luft war warm und duftete sehr süß. jetzt, da die Katze aus dem Sack war, mußte ich meine Strategie etwas ändern. Ich überzeugte meine Freundinnen, daß das »wahre« Problem meine Bulimie sei, und da ich mich jetzt nicht mehr ständig übergäbe, ginge es doch aufwärts. »Außerdem geht es meinem Magen nicht besonders gut, und mir wird schlecht, wenn ich etwas essen muß, deshalb kann ich nicht viel essen, deshalb kann ich gar nichts essen, heute. Ich strenge mich an. Ich schwöre bei Gott, daß ich mich wirklich anstrenge.« Mit diesen Worten beiße ich etwas von der Scheibe Toast ab, fange an zu weinen und lege den Rest auf den Teller zurück. »Ich kann einfach nicht«, sage ich und weine und weine, und alle sagen mir, wie gut ich meine Sache mache, weil ich nicht mehr erbreche usw. Ich nicke, wische mir die Krokodilstränen ab und esse immer noch nichts. Ich wurde erneut bewußtlos, nachdem ich mit einer Freundin in der Aula geraucht hatte. Es war noch früh am Morgen, immer noch kühl. Wir kamen den Hügel hinauf, gingen auf die Cafeteria zu. Ich schwankte und fiel um. Da empfand ich zum ersten Mal Angst. Wenn auch nur für kurze Zeit. Ich sagte: »Ich bin nur müde. Vielleicht war eine der Zigaretten nicht in Ordnung.« Sie sagte: »Komm, iß doch etwas«, und ich sagte: »O nein, dann müßte ich mich übergeben, ich fühle mich nicht gut«, und sie half mir, in die Cafeteria zu gehen. Ich trank meinen Kaffee und hielt mir den Kopf. Die letzten Wochen des Schuljahres versinken im Nebel. Meine Freundinnen gingen zur Schulleitung und redeten auf die Verantwortlichen ein, doch bitte etwas zu unternehmen! Deren Reaktion war völlig verständlich: Was sollen wir denn Eurer Meinung nach unternehmen? Ich saß zusammengekauert in meinem Sessel, die Arme über der Brust gekreuzt und sagte ihnen, was ich fast selbst schon glaubte, nämlich, daß dies alles gar nicht so schlimm war, wie es aussah. Es gab Menschen, die viel dünner waren als ich, und das war schließlich das Wichtige. Ich meine, wir alle kennen die Gefahren des Verhungerns, aber Bulimie? Das kann doch nicht so schlimm sein. Es ist erst dann schlimm, wenn man richtig dünn wird. Wer macht sich schon über Bulimiker Sorgen? Ihr Verhalten ist einfach nur eklig.
Wir packten unsere Siebensachen, brachten die Abschlußprüfungen hinter uns, gewannen ein paar Preise. Lora und ich hatten uns nur wenig zu sagen, also sprachen wir auch nicht miteinander. Die Schlafhäuser summten wie Bienenstöcke. Wir sprachen darüber, wohin uns das Leben nun verschlagen würde: Julliard, NYU, Oxford, Harvard, Oberlin, RISD, Yale, L. A. Wir spekulierten, wer wiederkommen würde, wer sich in Behandlung begeben würde, wer eine Europareise machen würde, wer die Schule verlassen würde, wer die Prüfungen bestanden hatte, wer nicht. Ich hatte durchaus vor, zurückzukehren, ich wollte im nächsten Jahr alle Preise für kreatives Schreiben absahnen. Ein Teil von mir, der Teil, der immer noch Bodenhaftung hatte, suchte irgendwann meinen Literaturlehrer auf und sagte ihm, daß ich mich in Behandlung begeben würde. Das Seltsame daran war, daß ich das zu dieser Zeit noch gar nicht wußte. Der Lehrer, mit dem ich das ganze Jahr über eng zusammengearbeitet hatte, der mich zeitweise so unnachgiebig angetrieben hatte, daß ich schon befürchtete, zusammenzubrechen, der immer an mein Schreiben geglaubt hatte, lehnte sich in seinem Sessel zurück - die Baseballkappe saß schief auf seinem Kopf und rieb sich den Bart. Dann sagte er: »Tut mir leid.« Er beugte sich vor: »Ich will, daß du im nächsten Jahr wiederkommst. Kapiert?« Ich nickte, wandte den Blick ab, versuchte, nicht zu weinen. Er sagte: »Okay, du Flasche. Hör bloß nicht mit dem Schreiben auf.« Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Bis dann.«
Ich konnte nicht wissen, daß ich niemals mehr nach Interlochen zurückkehren würde. Ich hatte einfach nur das seltsame Gefühl, daß ich nirgends mehr hin zurückkommen würde. In meinem Gehirn gab es zwei entgegengesetzte Kräfte: Die erste war mein Überlebenstrieb, das Verlangen, das jedes Tier hat und das über Sprache und Verstand hinausgeht. Dieser angeborene, biologische Überlebenstrieb ist der Feind, mit dem Magersüchtige im Krieg liegen. Der Überlebenstrieb macht Anorektiker und Bulimiker gleichermaßen verrückt, und zwar mehr, als ich mit Worten beschreiben kann. Während die meisten anderen Menschen essen, wenn sie Hunger haben und sich ins Bett legen, wenn sie krank sind, wurde ich durch blinde Freßgelage getrieben, bis ich dann plötzlich zusammenbrach. Jeder Zusammenbruch jedoch war ein Indiz für die Bedürfnisse meines Körpers, für seine Schwäche und seinen letztendlichen Sieg über mich, was mich zur Raserei trieb. Mein Körper weigerte sich zu verhungern und aß; er weigerte sich zu stehen und fiel geschwächt zu Boden. Ein schreckliches Paradox: mein emotionales Überleben, meine persönliche Integrität war scheinbar davon abhängig, daß ich mein körperliches Selbst völlig unterwarf, wenn nicht sogar vollkommen auslöschte. Die zweite Kraft meines Geistes war der Wunsch, schon in jungen Jahren das Handtuch zu werfen. Man dreht den Überlebensinstinkt um, sieht seinen feuchten, weißen Bauch, die Kehrseite. Ich empfand weder Zorn noch Furcht vor diesem Todestrieb, also machte ich ihn in meinem kleinen Krieg zum Verbündeten.
Eßgestörte Menschen sind sich in gewissem Ausmaß bewußt, daß ihr Verhalten gefährlich ist. Vielleicht sind wir auf vielerlei Weise verblendet, aber das geht keineswegs so weit, daß wir nicht erkennen können, daß unser Kreuzzug - emotionales Überleben, physischer Tod - sich selbst auslöscht. Und entsetzt stellen viele von uns fest, daß der Körper immer gewinnt. Entweder überlebt er trotz all unserer Anstrengungen und bringt damit unseren egoistischen Traum von Kontrolle zum Platzen, oder er stirbt, wodurch das emotionale Überleben zur grauen Theorie wird. Menschen mit Eßstörungen sind sehr unterschiedlich. Ich bin sicher, daß es manche gibt, die einfach nur an einer Eßstörung erkranken und nicht unbedingt versuchen, sich zu Tode zu hungern. Zu dieser Art von Menschen gehörte ich nicht. Ich versuchte tatsächlich zu sterben, auf seltsam beiläufige Weise. Einige Frauen, mit denen ich gesprochen habe, sagen, daß sie lediglich die Grenzen des menschlichen Körpers ausloten wollten - diese Idee haben insbesondere Sportlerinnen mit Eßstörungen - aber sie sprechen in bizarrem, fast schon herausforderndem Ton davon, als ob sie immer die Absicht gehabt hätten, aufzuhören. Die Eßstörung ist ihnen einfach nur aus der Hand geglitten. Ich hatte nicht die Absicht, aufzuhören. Mein Hauptinteresse bestand nicht darin, die Grenzen des menschlichen Körpers auszuloten - was ja einen gewissen Respekt vor diesen Grenzen impliziert. Es interessierte mich nicht sehr, wieviel Aufwand ich treiben mußte, um die Grenzen zu überschreiten. Aber um so mehr interessierte es mich, was auf der anderen Seite war. Im Rückblick erkenne ich, daß meiner manischen Jagd nach Erfolg die Überzeugung? das Wissen? zugrundelag, daß es nur ein Gebiet gab, auf dem ich zum Erfolg gelangen konnte, und daß ich nur eine Chance hätte, dies unter Beweis zu stellen. Eines Nachts, es war schon einige Wochen her, hatte Lora mich gefragt, wie alt ich glaubte, einmal zu werden. Ich lag im Bett und dachte eine Minute über die Frage nach. Dann antwortete ich: »Vielleicht zwanzig.« So lange würde ich wohl brauchen, um mich zu Tode zu hungern. Ich kam der Wahrheit ziemlich nahe. Drei Jahre später, zwei Monate vor meinem neunzehnten Geburtstag gaben mir die Ärzte nur noch eine Woche. Ich wollte auch gar nicht länger leben. Das Leben erschreckte mich. Und das tut es heute noch. Damals kam es mir wie eine endlos lange Folge von Jahren vor, die ich aushalten mußte, in denen ich meine Mätzchen machen, lächeln und hervorragend sein mußte! Und glücklich! Und erstaunlich! Und toll! Im Alter von sechzehn hatte ich das Leben satt. Ich war es leid, zuviel, zu intensiv, zu manisch zu sein. Ich war nicht nur die Menschen, sondern vor allem mich selbst leid. Ich wollte alles tun, was an Erstaunlichem von mir verlangt wurde an dieser Stelle weise ich nochmals darauf hin, daß es sich einzig und allein um meine eigenen Erwartungen an mich selbst handelte - und es dann hinter mir haben. Schlafen. In den Himmel kommen, wo es nur Badewannen und Bücher gab. Der normale Verlauf einer Eßstörung ist der Versuch, wieder zum Kind zu werden, eine Regression. Doch ich halte Eßstörungen nicht ausschließlich für eine Folge des infantilen Wunsches, zur Ex-utero-Symbiose mit der Mutter zurückzukehren. Es handelt sich auch um ein kulturelles und generationsbedingtes Phänomen, um ein simples, altmodisches Burnout-Syndrom. Meine Generation hat die »Botschaften« der Medien quasi mit der Muttermilch eingesogen: Werbung, die das Unbewußte zu beeinflussen sucht, dumme Fernsehsendungen, brutale Kinofilme, fade Supermarktliteratur, MTV, Videorecorder, Fast Food, Infomercials, Hochglanzanzeigen, Diätwerbung, Schönheitschirurgen. Wir sind in einer Popkultur aufgewachsen, in der das megacoole Supermodel mit dem leeren Blick zur Heldin stilisiert wurde. Diese Dinge sind das intellektuelle und emotionale Äquivalent zu einer ausschließlichen Ernährung durch Schokoriegel - man bekommt Mangelerscheinungen und wird müde. Wir sind in einer Welt aufgewachsen, in der die Oberfläche der Dinge erheblich wichtiger ist als ihre Substanz - und in der die Oberfläche »perfekt« zu sein hat, weltgewandt, kultiviert, blasiert, erwachsen. Ich gehe sogar davon aus, daß jemand, der in seiner Jugend ständig versucht, ein erfolgreicher Erwachsener zu werden, ab einem gewissen Alter die Nase davon voll hat und aussteigt. Mir ging es nicht anders. Ich konnte mir nicht vorstellen, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich denn endlich »Erfolg« hatte, aber ich konnte das panikartige Bedürfnis, erfolgreich zu sein, trotzdem nicht aufgeben. Deshalb nahm meine Vorstellung von Erfolg bald eine ziemlich perverse Wendung. Menschen mit Eßstörungen sind in der Regel sowohl konkurrenzbewußt als auch intelligent. Wir sind Perfektionisten. Häufig bringen wir hervorragende Leistungen in der Schule, im Sport, in der Kunst. Und dann steigen wir ohne jede Vorwarnung aus. Plötzlich weigern wir uns, zur Schule zu gehen, brechen das Studium ab, kündigen, verlassen unsere Partner, ziehen um, verlieren all unser Geld. Wir sind es leid zu beeindrucken. Oder besser, wir sind es leid, ewig beeindruckend erscheinen zu müssen. Zunächst einmal glauben die meisten von uns niemals wirklich daran, daß wir zu irgend etwas gut sind. Ich war das Gefühl leid, ständig auf der Bühne zu stehen, die Kleider einer anderen Person zu tragen, Dinge zu sagen, die zur Rolle eines anderen Menschen gehörten. Ich verließ die Leistungsschau und suchte mir einen Weg, von dem ich glaubte, daß er mir wahren Respekt einbringen würde: eine Eßstörung.
Ich bemerkte nicht, daß ich die unrealistischen Erwartungen, von denen ich mich doch eigentlich lösen wollte, auf meine Krankheit übertrug. Ich wußte vorher nicht, daß ich mich nie gut genug fühlen würde. Erst wenn ich vor der Tür des Todes stünde, würde ich eine erfolgreiche »eßgestörte« Person sein. Und tatsächlich war es noch nicht einmal dann der Fall. Meine Mutter kam in der letzten Schulwoche und brachte ihre Mutter mit. Ich trug irgendein durchsichtiges, weißes Kleidchen. Sie umarmte mich... Als wir lächelnd durch die Menge der Schüler und Studenten schritten, sagte sie zu mir: »Du siehst verdammt schlecht aus.« »Was?« sagte ich und winkte meinen Freundinnen zu. Sie sagte: »Du hast Flaum im Gesicht.« Meine Hand flog nach oben, ertastete die feinen, seidigen Härchen. Ich sagte: »Sieh doch, wieviel ich abgenommen habe.« Sie sagte sarkastisch: »Ja, Liebes, das sehe ich.« Ich fragte stolz: »Sehe ich nicht gut aus?« Sie antwortete: »Du siehst aus wie ein Geist. Deine Haut ist ganz grau.« Wir gingen ins Theater, sahen uns Becketts Warten auf Godot an, gingen ins Konzert, zu einer Lesung. Ich stellte sie meinen Mitschülern vor. Sie sah mich immer so merkwürdig an. Sie war ungewöhnlich liebenswürdig zu mir - nicht daß meine Mutter sonst kein netter Mensch gewesen wäre, nur liebenswürdig ist nicht gerade das erste Wort, das einem in den Sinn kommt, um sie zu beschreiben. Sie wußte nicht, was vor sich ging, aber sie war offensichtlich krank vor Sorge, obwohl ich glaube, daß sie versuchte, mich nicht aufzuregen. Bei den Abschlußfeierlichkeiten sang ich im Chor. Ich nahm die Straße, auf der wenige Leute reisen, und das hat den Unterschied gemacht, den ganzen Unterschied.
Nachdem sich alle umarmt, einander zugewunken und sich Abschiedsgrüße zugerufen hatten, kletterte ich ins Auto, und wir fuhren nach Chicago. An den ersten Tag kann ich mich nicht erinnern, mal abgesehen davon, daß ich meine Mutter ständig damit nervte, mich fahren zu lassen. High vor Drogen und Aushungerung hatte ich in diesem Winter den Führerschein gemacht, hatte auf den vereisten, schneebedeckten Straßen Michigans das Fahren gelernt. Vielleicht sollte man bei Fünfzehnjährigen einen obligatorischen Drogen- und Blutzuckertest einführen. Am späten Abend kamen wir in Chicago an, meine Großmutter vor sich hin meckernd, meine Mutter schmallippig und kurz angebunden, ich schwindelig und überdreht. In der Stadt fand ein großer Kongreß oder ein Fest statt, jedenfalls waren die Straßen verstopft und die Hotels belegt. Wir landeten schließlich im Hilton oder Hyatt in einer lächerlichen Suite mit einem separaten Zimmer für die Badewanne. Sofort ließ ich mich ins Wasser sinken und betrachtete mich an den spiegelbedeckten Wänden von allen Seiten. Mir wurde bewußt, wie hungrig ich war, und ohne groß nachzudenken ging ich die Treppe hinab in das 5-Sterne-Restaurant. Ich aß Wachteln. Bis zum heutigen Tag weiß ich nicht, was mich an diesem Tag getrieben hatte, aber ich erinnere mich an diese Mahlzeit, als ob sie die Erfüllung meiner letzten Bitte vor der Hinrichtung gewesen wäre, an die sorgsam auf dem Teller arrangierte Mals-Dingsbums-Vorspeise, an die kalte Suppe, an die Wachteln, an den starken, schwarzen Kaffee und den Pfefferminzlikör zum Schluß. Während des Essens las ich. Ich bezahlte die Rechnung, ging die Treppe hinauf in mein Zimmer, beugte mich über die Toilettenschüssel und hatte gerade angefangen, mich zu übergeben, als mir der Gedanke kam, daß diese Mahlzeit zu teuer gewesen war, um sie einfach wegzuspülen. Also hörte ich mit dem Kotzen auf. Die ganze Sache war völlig untypisch für mich. Ich legte mich ins Bett, las eine Weile, dann zog ich an der kleinen, herunterbaumelnden Schnur der Nachttischlampe und schlief ein, endlich satt. Am nächsten Morgen fühlte ich mich schuldig und rund und aß gar nichts. Wir saßen in einem Café an der Oak Street, meine Großmutter stocherte wie immer in ihrem Essen herum und ermahnte mich, meinen Kaffee zu trinken, während meine Mutter mir wütende Blicke zuwarf. Als wir wieder auf der Autobahn waren, kam ein bizarrer Sandsturm auf, und es begann, in Strömen zu regnen. Ich erinnere mich an die Windschutzscheibe, ein Gewebe aus herabrinnendem Wasser, an das dunkle Grün des Himmels, das die Tornados im Mittelwesten ankündigt. Ich quengelte und meckerte die ganze Zeit, bestand darauf, daß meine Mutter mich fahren ließ. Ich konnte mir nicht vorstellen, was so schwer daran sein sollte, durch einen Tornado zu fahren. Ich fing einen Streit mit meiner Mutter an, die verdammt kurz davor war, mir eine zu kleben. Ich ergriff die Gelegenheit, um ihr zu sagen, daß sie meine Selbständigkeit hemmte, daß sie mich immer behandelt hatte wie ein kleines Kind und daß sie mich nie ernst genommen hatte. Schweigend beugte sie sich über das Lenkrad. Ich plapperte weiter, erinnerte sie an das letzte Mal, als wir in einem Auto im Sturm festgesessen hatten, im Sommer 1987 - Ich sagte: »Du hast mich GESCHLAGEN!« Sie sagte: »Ich habe dich nicht geschlagen.« Ich sagte: »HAST DU WOHL! Wir sind gefahren, und du warst sauer, weil du diesen Job nicht bekommen hattest, und du hattest schlechte Laune, und du hast mich GESCHLAGEN! Jawohl, das hast du! « (Können Sie ihr das verdenken?) Schließlich zischte sie: »Marya, halt den Mund! Ich kann mich jetzt nicht mit dir auseinandersetzen!« Als wir in Edina ankamen, war sie wahrscheinlich davon überzeugt, daß ich nun endgültig den Verstand verloren hatte. Ich hingegen schmiedete Pläne, welchen Job ich im Sommer annehmen und welche Bücher ich lesen würde. Wir hielten vor dem Haus, und mein Vater umarmte mich. Im Kühlschrank stand eine große Schüssel mit Trauben und einem Zettel, auf dem WILLKOMMEN ZU HAUSE, KLEINE REBLAUS! zu lesen war. Als ich noch zu Hause wohnte, hatte ich immer alle Trauben aufgegessen, bevor jemand anders sie in die Finger bekam. Trauben haben - hmm - abführende Wirkung. Ich hatte zumindest Anstand genug, mir ein Lachen abzuringen und meinem Vater zu danken. Er werkelte in der Küche herum, hyperkinetisch, besorgt, er umarmte mich häufig, klopfte mir auf den Rücken. Später wurde mir klar, daß diese ständigen, neuen Berührungen eine Art Test waren. Ich lernte den Unterschied kennen zwischen einer Umarmung und einem Abtasten der Knochen, bei dem die Hände mit einem Klopf-Klopf-Klopf über die Wirbelsäule wandern und die Handfläche über das Schulterblatt gleitet.
Beim Abendessen teilten sie mir mit, daß ich am Dienstag einen Termin hätte. Wir wollen einfach nur sichergehen, daß du gesund bist, sagten sie. Ich war dabei! Ich hätte nie gedacht, daß wirklich einmal jemand besorgt um mich sein würde. Wir fuhren ins Zentrum von Minneapolis, setzten uns ins Wartezimmer der Teen-Age Medical Services clinic (TAMS), eines Krankenhauses, das sich auf die Probleme von Teenagern spezialisiert hatte. Ich wurde von beiden Elternteilen begleitet, was mir merkwürdig vorkam. Früher war es meist mein Vater gewesen, der mich zum Arzt gebracht hatte. Hinterher waren wir immer zu McDonalds gegangen. Es war immer so etwas wie ein besonderes Ereignis gewesen. Ich dachte daran, daß ich nicht mehr zu McDonald's würde gehen können. Ich blätterte die Zeitschriften durch, sah mir die Aushänge an der Wand an: Geburtenkontrolle, Drogenprobleme? Rauchst Du? Hast Du Ärger mit den Eltern? Kleine Zeichnungen von lächelnden Jungen und Mädchen. Mein Vater legte den Arm und mich und tastete meine Schulterknochen dabei ab. Er kniff mich leicht in den Arm, dann sah er mit unschuldigem Gesicht zur Seite: Wer - ich? Es war ein altes Spiel zwischen uns. Ich kniff zurück. Hinter mir erklang eine Stimme: »Marya?« Irgend etwas stimmte hier nicht. Sie hatte meinen Namen richtig ausgesprochen. Jemand mußte ihr von mir erzählt haben. Sie war klein, hatte dunkles Haar, war hübsch, und ihre Lippen umspielte ein einnehmendes, wenn auch besorgtes Lächeln. Ich legte die Illustrierte auf den Tisch, stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und hörte mißtrauisch zu, wie sie meine Eltern begrüßte: »Hi Jay. Judy.« Jay und Judy? Wieso duzten sie sich? Sie legte mir die Hand auf die Schulter. Ich zuckte zusammen. Sie ließ die Hand sinken und sagte: »Komm mit nach hinten. Übrigens, ich heiße Kathi.« Mmmm-hmm. Wir gingen den Flur hinab. Sie fragte: »Okay, weißt du, warum du hier bist?« Ich antwortete mit lauter Stimme: »NEIN.« ich beobachtete, wie sie eine dicke Akte hervorzog, auf der mein Name stand. Ich war noch nie hiergewesen. Was zum Teufel stand in dieser Akte? Sie sagte: »Wir sind auf Eßstörungen spezialisiert und werden dich jetzt daraufhin untersuchen. Du...« Ich unterbrach sie: »Ich habe keine Eßstörung.« »Okay«, sagte sie. »Dann dauert es nicht lang. In der Zwischenzeit wirst du zunächst von einem Arzt untersucht werden, dann kommst du zurück, und wir unterhalten uns miteinander. Klingt das gut?« »Nein.« Sie lachte. »Du hast Recht«, sagte sie. »Ich werde also aufhören, die Polyanna zu spielen.« Ich lächelte. Im Untersuchungszimmer hatte ich eiskalte Füße. Meine Hände waren ebenfalls kalt. Ich war überzeugt, daß es maximal siebzehn Grad warm war. Selbst meine Knie wurden kalt. Der Arzt kam herein. Er war jung, forsch und gutaussehend. Er legte die Hände um meine Kehle, tastete die Schwellung unter meinem Kiefer ab. »Wie lang ist es her, seit du dich übergeben hast?« fragte er. »Sie nehmen an, daß ich mich übergeben habe«, sagte ich. »Ja.« »Gestern.« »Wie oft gestern?« »Einmal.« »Wie oft gestern?« »Einmal.« »Dieser Schwellung nach zu urteilen, würde ich sagen, mindestens dreimal.« Ich wäre fast vom Tisch gefallen. Er hatte Recht. Er stellte sich vor mich hin und leuchtete mir mit einem kleinen Strahler in die Augen. »Wußtest du, daß du nicht mehr fokussieren kannst?« »Hmm, nein.« »Du kannst es nicht.« Er schrieb etwas in meine Akte. Er schlang eine Manschette um meinen Arm. Sie war zu groß. Er zog eine Manschette heraus, auf der in großen, herrlichen Lettern KINDERMANSCHETTE stand. »Das freut dich?« »Was?« »Daß eine Manschette für Erwachsene zu groß ist?« »Nein.« »Du siehst aber erfreut aus. Steh auf Er maß meinen Blutdruck. So langsam verstand ich, daß der Blutdruck etwas mit meiner Eßstörung zu tun hatte. Ich fragte: »Ist er normal?« Er sagte: »Weiß ich noch nicht. Leg dich hin.« Er maß erneut.
»Nein«, sagte er. »Nicht normal. Na gut, geh gerade von der Tür aus zu mir, wobei du zuerst die Ferse auf setzt und dann den Fuß abrollst.« Ich ging zur Tür. Dann ging ich auf ihn zu. »Nicht auf den Boden sehen«, sagte er. Ich hob den Kopf, machte einen Schritt, stolperte, hielt mich am Tisch fest, lachte nervös. Ich fragte: »Wie viele Versuche habe ich?« Er lachte nicht. Er sagte: »Schließ die Augen, laß die Arme seitlich herabhängen, und dann versuchst du, die Nasenspitze mit den Zeigefingern zu berühren.« Ich sagte: »Das soll doch wohl ein Witz sein.« Er schüttelte den Kopf. Ich konnte es nicht. Er sagte, ich solle mich auf den Tisch setzen, und überprüfte mit dem Holzhämmerchen meine Reflexe. Keine Reaktion, gar keine. Meine Beine hingen herab, schlaff. Er benutzte sein Hämmerchen noch einmal. Nichts. Er nahm eine meiner Hände, betrachtete die Nägel, schabte den Nagellack von einem herunter. Die Nägel waren blau. Er schrieb es auf. Er legte mich auf den Tisch, drückte eine Weile auf meinem Bauch herum. »Du hast Flaumbehaarung am Bauch.« »Danke.« Er wog mich, nahm Blut ab, nahm eine Urinprobe. Während er die letzten Notizen auf seiner Karteikarte machte, fragte ich fröhlich: »Und? Bin ich durchgefallen?«
Er hob den Kopf, sah mich an und sagte: »Eindeutig.« Oben in Kathis Büro rollte ich mich auf der Couch zusammen und machte Test um Test: Index für Eßstörungen. Körperwahrnehmung, dies und das. Ich war relativ ehrlich. »Glaubst du, daß du abnehmen mußt?« - »Ja.« - »Was ist dein Idealgewicht?« - »42 Kilo.« - »Würdest du sagen, daß du alles geben würdest, um dünn zu sein?« - »Ja.« Stellen Sie diese Fragen irgendeiner Frau in Ihrer Umgebung, und Sie werden wahrscheinlich ganz ähnliche Antworten erhalten. Das ist an sich nicht besonders schockierend. Statistisch gesehen lag ich mit diesen Antworten gar nicht so weit außerhalb der Norm. ich konnte mir nicht vorstellen, daß ich mir hätte Sorgen machen müssen. Als ich fertig war, unterhielt ich mich mit Kathi, die ich durchaus sympathisch fand. Sie war witzig und klug. Nachdem sie meine Tests und die Laborergebnisse durchgesehen hatte, unterhielten wir uns etwa eine Stunde lang. Wir sprachen über das Leben, über Essen, Gewicht, Drogen. Sie sagte: »Du hast also keine Eßstörung.« »Nein.« »Dein Körper sagt etwas anderes.« »Wie bitte?« »Du leidest unter Anämie. Du hast Ketonkörper[11] im Urin, dein Blutdruck ist vollkommen instabil, dein Puls ist bemitleidenswert langsam.« »Aber ich bin nicht mager.« »Nicht so mager wie einige andere, nein.« »Dann ist das doch keine große Sache.« »Es ist eine sehr große Sache.« Ich begann zu lachen. Sie lächelte mir zu. »Ich weise dich ins Methodist Hospital ein.« »WAS?« »Tut mir leid. Du mußt ins Krankenhaus.« Da war es vorbei. Ich begann zu schreien. Sie blieb ganz ruhig sitzen. Und dann saß ich mit meinem Vater im Auto. Ich sagte, wahrscheinlich brauche ich jetzt nur noch ein Nachthemd, wenn ich ab sofort einen Monat lang nur herumliegen soll. Er lachte. Er versuchte, einen Witz zu machen: Worüber denkt der schlaflose Legastheniker die ganze Nacht lang nach? (Über die Existenz des Hundes),[12] aber heraus kam: Worüber denkt der schlaflose Anorektiker - warte - O Scheiße - und wir lachten uns halb tot.
Das war an einem Dienstag. Am folgenden Montag hatte ich zunächst einen Termin in der Ambulanz des Methodist Hospital, um mich einer letzten Untersuchung zu unterziehen. Ich saß auf dem Tisch, in dem dünnen Papierhemd war mir bitterkalt, ich rieb die Füße mit einem lauten Scharren zusammen. Neben mir lag eine Decke - sie waren an uns gewöhnt - die ich mir um die Schultern legte. Ich zog meine Jacke an. ich legte mich hin. Der Arzt kam herein. Er sagte schlicht: »Kalt oder müde oder beides?« Ich setzte mich auf. Er stellte mich auf die Waage. Er war ruppig, sah mir nicht in die Augen, ging das ganze Arsenal der Tests mit mir durch. Meine Lebensfunktionen hatten sich seit vergangenem Dienstag erheblich verschlechtert. Er ließ mich nicht im unklaren darüber. Er wies mich ein. Ich sah zu, wie mein Vater die Formulare unterzeichnete.
- MARYA JUSTINE HORNBACHER. W.
Geb. 04-04-74.
I. Achse I:
A. Bulimia nervosa, 307,51 (w/anorektische Schübe)
B. Drogenmißbrauch, 305,00
C. Stärkere Depressionen, 296,22