Zwischenspiel

22. September 1996

Wahrscheinlich würden Sie es Amnesie nennen. Ich lese meine Krankenakte. Ich lehne mich in einem Hinterzimmer des TAMS auf meinem Stuhl zurück und lese meine Akte. Die medizinischen und die Therapieberichte. Die Krankenakte (blau) einer Person (sechzehn, weiblich, weiß) namens Marya (chronisch, vollkommene Verweigerung), die offensichtlich sehr krank ist. Die Krankenakte kommt mir gar nicht vor, als sei es meine, ich habe keine Krankenakte. Ich bin ein ganz normaler Mensch. Warum sollte es über mich eine Krankenakte geben? All das ist mir nie passiert. Es ist Teil meiner Recherchen über die Magersucht. Ich mache mir Notizen wie immer, blättere die Seiten um, mache Fußnoten, betrachte den dort geschilderten Fall. Ich sitze in meinem Sessel, Kostüm, roter Lippenstift, professionelles outfit, und schenke dem Arzt ein strahlendes Lächeln - meinem alten Arzt, dem, der zugesehen hat, wie ich krank wurde und wieder gesund, krank und wieder gesund, jahrelang. Er ist hereingekommen und fragt jetzt, Wie geht es Ihnen? Sehr gut, danke. Er sieht, daß ich die Aufzeichnungen lese. Er sagt: Muß ganz schön schwer sein. Ich antworte, ziemlich seltsam, ja. Regen stürzt auf das Pflaster hinab. Am Fenster heult ein Martinshorn vorbei. Der Arzt lächelt mich an. Ich bin jetzt eine erwachsene Frau. Ich bin verheiratet. Ich habe einen Job. Ich bin gesund. Hier sitze ich also in meinem Kostüm, über den Schreibtisch gebeugt, rot lächelnd. Sie sind stolz auf mich. Es war ein langer Weg, aber ich habe es geschafft.
Und ich lese die Krankenakte. Sie macht mich traurig. Wegen des Mädchens und wegen ihrer Familie. Eine Familie, die sich nach Kräften bemüht zu verstehen, ein Mädchen, das sich nach Kräften bemüht zu sterben. Ich schüttele ungläubig den Kopf darüber, daß die Familie so begriffsstutzig war, daß das Mädchen so unsensibel war, so vollkommen gefangen in ihrer eigenen kleinen Welt, daß sie den Auswüchsen ihres eigenen Verhaltens so absolut blind gegenüberstand. »Maryas Verhalten zeichnet sich insbesondere durch ihr vollkommenes Abstreiten eines Risikos oder einer Gefahr, die von ihrer Eßstörung ... ausgehen könnte, aus. Sagt, daß dieses Verhalten vielleicht für andere Menschen gefährlich wäre, nicht aber für sie.« Dieses Mädchen bin ich - immer noch.
Die Auswüchse der Krankheit besetzen jede Zelle meines Körpers, jedes geschädigte Organ, jeden Nerv, jede Erinnerung, die durch die Besessenheit, die mein Leben war und ist, besudelt ist, jeden Zukunftsplan, dessen Verwirklichung mehr als unsicher ist. Wird es für mich überhaupt eine Zukunft geben? Wie lang wird sie dauern? Ich blättere um, lese, wie das Gewicht steigt und fällt, horche durch den Lärm der Jahre hindurch auf die bittende, schmeichelnde, betrügerische, lügnerische Stimme dieses Mädchens. Denn angesichts dieser Akten sehe sogar ich, daß das Mädchen lügt. Und daß sie wieder fallen wird.
Und wieder.