Gefängnis

Minneapolis, 1991

OH, ES HAT KEINEN SINN, DIE STERBENDEN ZU LIEBEN.
ICH HABE ES VERSUCHT. ICH HABE ES VERSUCHT,
ABER ES IST UNMÖGLICH, ES IST UNMÖGLICH,
DIE TOTEN ZU BEWACHEN. DU BIST IHR WÄCHTER
UND ES IST DIR UNMÖGLICH,
DAS TOR VERSCHLOSSEN ZU HALTEN.
Anne Sexton, »Briefe an Dr. Y«, 1964

Januar 1991. Als meine Eltern neben mir im Krankenhaus saßen und mich im Arm hielten, schluchzte ich. Ich wollte wieder raus. Ich wollte zurück nach Kallfornien. Im Fernsehen berichteten sie über den Golfkrieg. Ich wollte bei Julian sein, wollte seine Augen sehen und sein lustiges Lachen hören. Die durchdringenden Krankenhauslichter schmerzten in meinem Kopf. Ich wollte wieder zurück in meine Traumwelt. Nachts, in der Dunkelheit, die mir die vertraute Auflösung der Objekte, die Loslösung von Perspektive und Raum brachte, formulierte ich inständige Bitten, schrieb wilde, manische Gedichte, quer über die Seite gekritzelt, vollkommenen Unsinn, eine Reihe von Zufallsgedichten, 100 Strophen wahnhaften Wanderns. Ich wollte sterben, genau jetzt. Ich hatte die Vorstellung in meinem Kopf, daß das Sterben wunderschön wäre, ein einfaches Lockern der Fußangeln, die mich am Boden hielten. Ich würde abheben, hinauffliegen zum Himmel, über den vereisten, weißen Straßen dahintreiben, ja, das war der Tod, und ich war eine Prinzessin, die in einem Käfig gefangeri saß und an gebrochenem Herzen starb. Das war der Tod.
Ich verstand noch nicht, daß das Keuchen und Schnaufen meines Herzens der Tod war. Das nervöse Flackern in meinen Augen, meine Hände, die sich ineinander verschränkten, um warm zu werden, daß dies ebenfalls der Tod war. Die Unfähigkeit zu verstehen, daß mein Körper von mir abfiel wie ein Paar alter Hosen, daß dies auch der Tod war. Ich verstand es nicht. Ich kam nicht auf die Idee, daß ich verrückt geworden war. Ich kam nicht auf die Idee, daß ich entweder bald sterben oder ein für allemal eingesperrt werden würde. Ich weiß, daß ich während meines Krankenhausaufenthaltes um eine Schere bat und mein taillenlanges Haar auf Kinnlänge abschnitt. Der Freund einer Mitpatientin meinte, daß ich wie ein Model aussähe. Ich war natürlich begeistert, und die offensichtliche und kranke Bedeutung dessen, was er meinte, entging mir. Wenn ich Freizeit hatte und nicht unter Aufsicht stand, kotzte ich in nielnen Koffer oder zum Fenster hinaus. Ich weiß, daß ich eines Tages auf meinem Bett saß und ein Gespräch unter vier Augen mit einer Krankenschwester hatte. Sie erklärte mir ganz langsam, daß ich nicht mehr klar sprach und daß das, was ich sagte, keinen Sinn. ergab. sie trug ein rotweiß gestreiftes Hemd. Ich trug nur eine Decke. Ich begann zu weinen. Ich sagte, Sie verstehen mich nur nicht. Aber eine schreckliche Angst hatte von mir Besitz ergriffen. Mir kam der Gedanke, daß ich mein Leben vielleicht vollkommen zerstört hatte. Diesmal würden sie mich nicht mehr rauslassen. Und das eine, was bleibt - in guten wie in schlechten Tagen - mein Geist, schwand dahin. Oder war bereits zerstört.
In der letzten Februarwoche stabilisierten sich meine Lebenszeichen wieder, und meine Versicherung stieg aus. Ich wurde wegen Nichteinhaltung der Regeln und unbezahlter Rechnungen entlassen. Eßstörungen werden von den Versicherungen als vorübergehend betrachtet. Man definiert die Patienten als geheilt, sobald die Herzfrequenz sich wieder etwas normalisiert hat. Ich kehrte ins Haus meiner Eltern zurück, bekloppter und kränker als am Tag meiner Einlieferung. Das winzige bißchen an Gewicht, daß ich im Krankenhaus zugelegt hatte, ängstigte mich, und kaum war ich entlassen, hörte ich ganz mit dem Essen auf. Ich meldete mich in der High School an, an der meine Mutter mittlerweile stellvertretende Rektorin war, wurde schon am zweiten Tag dort ohnmächtig, ging zur Schulkrankenschwester. Ich versuchte, im Büro meiner Mutter zu Mittag zu essen, konnte es nicht, aß nichts. Die Leute starrten mich auf den Fluren nur an. Ich brauchte ein paar Tage, um mitzubekommen, daß sie mich anstarrten, weil ich so dünn war. Bei diesem Gedanken fühlte ich mich besser, denn das bedeutete, daß wenigstens etwas in diesem totalen Chaos gut gelaufen war. An den Abenden saß ich mit meinen Eltern am Eßtisch und starrte auf meinen Teller. Ich erinnere mich an den Abend, an dem ich buchstäblich, bei Gott, nicht wußte, was ich mit der Gabel anfangen sollte. Ich nahm sie zur Hand. Ich hielt sie fest. Ich fing an zu weinen. Ich kann nichts essen, sagte ich. Ich fühlte mich schrecklich. Tatsächlich wollte ich sogar etwas essen, und sei es nur, um den entsetzlichen Schrecken aus den Gesichtern meiner Eltern zu vertreiben, und sei es nur, damit sie ein- oder zweimal lachten oder mich anschrien oder wenigstens etwas weniger sanft mit mir sprachen und nicht ständig einen Ton anschlugen, als ob ich jeden Augenblick zusammenbrechen würde. An diese Sanftheit war ich nicht gewöhnt. Sie hüllte den Abendbrottisch in ein Leichentuch, lag wie ein Nebel über den Tellern. Es gab keinen Streit, überhaupt keinen, meine Eltern starrten mich nur an (ausnahmsweise einig: Unser Kind hat den Verstand verloren), traurig, und ich starrte voller Panik auf meinen Teller. Rechts neben dem Eßtisch hing ein Spiegel. Darin sah mein Gesicht wie ein Gemälde von Picasso aus: Wangen und Kinn ohne jede Proportionen, die Augen am Rand aufgeklebt. Vollkommen allein.
Mein Vater sagt über jene Zeit: »Du warst sehr lieb. Es war fast, als ob du dich von uns verabschieden wolltest.« Ich denke, meine Liebenswürdigkeit, mein bedauerndes Lächeln kam ihnen ebenso seltsam und beängstigend vor wie mir das ihre. Es war fast, als ob auch sie sich von mir verabschieden wollten.
Mein Vater saß die ganze Nacht im Zimmer meiner Kindheit an meinem Bett, die Luft war schwer von dem Geruch, der auch in Krankenhausfluren hängt. Kein Puls an Schläfe oder Handgelenk. Die weiße Decke über meinem Körper hob und senkte sich nicht. Und so zog er einen losen Faden aus der Decke und hielt ihn über meinen Mund. Da saß er nun, wartete darauf, daß der Faden sich bewegte, und sei es auch nur ein bißchen, die ganze Nacht, jede Nacht in diesem endlosen Monat. In manchen Nächten wurde ich durch das Meer des Schlafes hochgezogen, hörte die undeutliche, blubbernde Stimme eines Mannes: Marya, wach auf. Bitte, wach auf, Liebes, komm schon. Mein Körper klapperte wie der einer Marionette, jemand schüttelte mich, mein Kopf war zu schwer, als daß ich ihn hätte aufrichten können. Marya, sag etwas. (Erschöpft: Was?) Nichts. Schlaf weiter. Seine Stimme undeutlich und wie aus weiter Ferne, mein Schlafzimmer dunkel. Ich sank in die Kissen zurück, spürte, wie der Schlaf mich überspülte, eine Welle schwerer als Gott.
Schwindlig gehe ich aus dem Klassenzimmer hinaus, zurück auf die Krankenstation, jeden Tag. Werde irn TAMS gewogen. Innerhalb einer Woche nach meiner Entlassung als Notfall wieder eingeliefert. Ich wog sechs Kilo weniger als einen Monat zuvor. Sie vermuteten Abführmittel. Ich versuchte, ihnen zu erklären, daß ich noch nicht einmal mehr die Geistesgegenwart hatte, ein Buch zur Hand zu nehmen, geschweige denn, mich in den Drugstore zu schleppen und dort Abführmittel zu klauen. Ich aß nur einfach nichts mehr, mein Körper hatte aufgegeben. Ich erinnere mich, wie ich in Kathis Büro saß und mein Vater meine Schultern so fest hielt, daß ich blaue Flecken davon bekam. Er rief meine Mutter im Büro an, um ihr zu sagen, daß ich wieder eingeliefert worden war. Ich erinnere mich daran, wie seine Stimme plötzlich ganz ruhig wurde: »Judy, wein doch nicht. Komm schon, reiß dich zusammen.«
Ich erinnere mich, wie ich dachte: Sie hat heute Geburtstag. Eigentlich sollten wir heute abend essen gehen.
Ich erinnere mich, wie ich dachte: Ich habe meine Mutter noch nie weinen sehen. Noch nie in meinem Leben, weder vorher noch danach, fühlte ich mich dermaßen schuldig.
Methodist Hospital, Klappe, die dritte. Ich ging zum Abendessen, saß vor meinem halben Brötchen mit Erdnußbutter, sah wieder weg, kroch in meinen Mantel. Natürlich starrten mich alle anderen Patientinnen an. Schließlich war ich doch gerade erst entlassen worden. Ein Mädchen, mit dem ich mich gut verstanden hatte, beugte sich zu mir herüber und sagte: »Marya, iß etwas. Du hast letzte Woche doch ganz gut gegessen.« Ich sagte: »Ja, stimmt.«
Es ist nicht besonders höflich, beim Abendessen zu sagen, daß man nur gegessen hat, um wieder herauszukommen und mit dem Essen ganz aufzuhören. Es hat keinen Zweck, seine Tricks preiszugeben. Auf den Krankenstationen, die sich auf Eßstörungen spezialisiert haben, unterstützt man einander bekanntlich beim Heilungsprozeß. Dann hat man weniger Konkurrenz.
Das nächste, an das ich mich erinnere, ist das Ende des dortigen Aufenthaltes. Der Rest ist weg. Wir - ich, Dr. J., die betreuende Schwester, Kathi meine Eltern - im Konferenzraum. Sie diskutierten darüber, was nun mit mir geschehen sollte, weil ich an diesem Punkt außerhalb jeglicher Kontrolle war. Ich starrte zum Fenster hinaus, klopfte mit dem Fuß so fest ich konnte auf den Boden und dachte: Butter, Butter, Butter, Butter, versuchte, mir die Butter abzutrainieren, die ich zum Frühstück gegessen hatte, indem ich auf meinem Stuhl hin und her zappelte und ständig in Bewegung blieb. Grauer, nebliger Tag, schmutziger Schnee draußen auf den Straßen, acht Stockwerke unter uns. Ich erinnere mich, daß sie darüber sprachen, wie unwahrscheinlich es war, daß andere Kliniken für Eßstörungen mich angesichts meiner Krankengeschichte und der Tatsache, daß die Therapie bei mir so gar nicht anschlug, aufnehmen würden. Stimmen und Stimmen. Dr. J. warf die Arme in die Luft, meine Eltern schüttelten die Köpfe, meine Mutter verbarg das Gesicht in den Händen. Kathis ruhige, leise Stimme, die Stimme der Vernunft. Butter, Butter, Butter, Butter, Butter, Marya? (MARYA.) Ich kam schlagartig zu Bewußtsein. Hmm? (Willst du gesund werden?) Ich bin nicht krank. Summen in meinem Kopf. Gewohnheit, meinen Puls zu messen, kalte Finger die ich unter die Manschette meines Mantelärmels schiebe, auf die dünne Haut an meinem Handgelenk. Er schlägt noch. Verliere den Faden, während ich zähle, fang noch einmal an. Ein kleines, ganz heimliches Kichern. Ich kann nicht mehr zählen. Häßliches Ende des Winters, grauer Schnee und Ruß auf den Straßen, kahle Bäume. (Marya.) Hmm? (Sehen Sie, was ich meine? sagt jemand, nicht zu mir.)
Willmar.
Das Wort schießt durch den Raum, kracht durch den Nebel wie eine Gewehrkugel. Ich setze mich in meinem Sessel auf. Hat jemand Willmar gesagt?
Schweigen. Alle starren mich an.
Ich fange an zu schreien.
Willmar. Staatliches Irrenhaus von Minnesota. Für die Verrückten. Wo man zurückgelassen wird, um in der freundlichen, stillen Fürsorge dieser netten Männer in den weißen Kitteln zu sterben. »Never promised you a rose garden!« schreit das kleine Mädchen, das nur noch aus Augen und ausgebeulten Klamotten zu bestehen scheint. »Leckt mich doch alle am Arsch!« schreit sie. »Ich gehe nicht, ich gehe nicht, ich gehe nicht!« Verzweifelt wendet sie sich an ihre Mutter. »Hast du den Verstand verloren? Du würdest es zulassen, daß man mich dort hinbringt? Leck mich am Arsch!« Sie rennt aus dem Zimmer, wirft sich auf ihr Bett, wartet auf das Schluchzen. Aber sie ist völlig empfindungslos, wie taub. Merkt, daß sie nicht mehr weiß, wie man weint. Faszinierend. Keine Aufsicht. Schnell zur Seite des Bettes. Sie hebt den Deckel des ranzig riechenden Koffers. Erbricht die Butter.
Schnell zurück. Es wäre wahrscheinlich sogar ganz interessant. Die staatliche Klapsmühle! Was soll's. Jetzt kann ich sowieso nichts mehr dagegen tun.
Aus dem Krankenhaus hinausgeworfen, ein paar Tage Fahrt, halb schlafend oder halb tot, auf dem Rücksitz eines Autos, während meine Eltern an die Türen von Behandlungszentren klopfen und bei Versicherungsgesellschaften vorsprechen. Ein paar Unterhaltungen mit Ärzten. An ihre Gesichter erinnere ich mich nur schemenhaft. Ich weiß noch, wie das Licht durch die Fenster schien. Ich weiß nicht mehr, was man mich fragte oder was ich antwortete. Nur, daß wir jedes Mal wieder gehen mußten, abgelehnt worden waren.

Wie durch ein Wunder erreicht Kathi, daß ich nicht in Willmar lande. Wir schreiben den 19. März 1991: Ich stehe vor der Tür des Lowe House, einer psychiatrischen Klinik für Kinder. Das Gebäude sieht aus, als ob es in den fünfziger Jahren erbaut worden wäre, viereckig, aus Ziegelsteinen mit seltsamen babyblauen Läden vor den Fenstern, auf der Südseite ein Hochsicherheitstrakt mit einem kahlen Park in der Mitte.[16]  
Es graupelt. Ich zittere vor Kälte. Meine Mutter weint und trägt einen grünen Mantel. Ich habe, wie immer, nicht die leiseste Ahnung, was überhaupt los ist. Also wieder ein Krankenhaus, denke ich. Ich werde schon herausfinden, wie ich da wieder herauskomme. Eine Frau kommt an die Tür. Ich hasse sie auf den ersten Blick. Sie stellt sich mir vor. Eine einschmeichelnde Stimme. Ich sage nichts. Ich betrachte die kahlen Büsche in der Umgebung des Gebäudes, Bündel aus schwarzen Stöcken. Ich sage: »Tschüs Mom Dad. Bis dann.« Sie weinen und halten mich lange fest, sagen mir, daß sie mich bald besuchen werden. Ich mache mich steif, verschließe mein Herz wie ein Fenster. Ich kann es nicht ertragen, sie so zu sehen. Ich kann es nicht ertragen, daß ich ihnen das antue. Ich kann nichts von all dem ertragen und mache zu. Klick. Ich folge dieser Frau drei Stockwerke nach oben zur Station B.

MARYA JUSTINE HORNBACHER. W.
Geb. 04-04-74

1. Lebensbedrohlicher Gewichtsverlust. Orthostatische Albuminurie, gefährlich niedriger Blutdruck. Herzarrythmien. Schwere und rapide Verschlechterung der Lebensfunktionen.
2. Sehr enges Vater-Tochter-Verhältnis. Distanzierte Mutter. Belastete eheliche Beziehung. Tochter in der Dreieckskonstellation der Familie gefangen.
3. Furcht vor Verlassenwerden. Furcht vor Intimität. Distanziert ihr Selbst durch übermäßige Selbstkontrolle und Eßprobleme. Fühlt sich in der Gesellschaft von Männern unbehaglich.

LANGFRISTIGE STATIONÄRE BEHANDLUNG VORGESEHEN: VORSICHT.- WURDE WEGEN IHRER EßSTÖRUNG SCHON VIERMAL HOSPITALISIERT. BIS AUF WEITERES HAUSARREST. RUND UM DIE UHR BEAUFSICHTIGEN.

Drei schalldichte, dreifach gesicherte Türen schlossen sich wie Gewehrfeuer hinter mir, Salutschüsse zur Feier meiner Ankunft im Wunderland. Ich stand da und sah mit leerem Blick den Gang hinab. Ein kahler Flur, brauner Teppich, Zimmer an beiden Seiten, alle Türen geöffnet. Am Ende eine weitere Tür, auf der EXIT stand. Ich bin erleichtert: Tröstlich zu wissen, daß es einen Ausgang gibt.
Plötzlich krachte etwas durch die Stille: Aus einem der Zimmer schoß ein Derwisch heraus, ein kleiner Wirbelwind, ein junge, der mit Warpgeschwindigkeit den Flur hinuntersauste. Ich konnte einen Blick auf sein Gesicht erhaschen: Flaschendicke Brillengläser, der Mund zu einem animalischen Grinsen verzogen, die kleinen Arme und Beine pumpend wie Kolbenmotoren. Er warf sich gegen die Wand, fiel hin, stand auf, warf sich dagegen, fiel, stand auf, warf sich dagegen. Durch eine andere Tür kamen Männer, große Männer mit einer grauen Matte. Sie packten das kleine Geschöpf, rollten es in die Matte und schafften es an mir vorbei und zur Tür hinaus. Aus dem Inneren der Matte drang ein ersticktes Schreien. Die Tür fiel mit einem Klick ins Schloß. Wieder Stille.
Ich wandte mich der Frau zu.
»Wer war das?« fragte ich.
»Duane.«
»Wo bringen sie ihn hin?«
Eine Hand auf meinem Rücken, schob sie mich nicht allzu sanft den Flur hinunter.
»In die Einzelzelle.«
Die Einzelzelle? Heilige Maria Mutter Gottes. Was zur Hölle hatte ich hier zu suchen? Das war kein Krankenhaus oder eine Station für Eßstörungen. »Behandlungszentrum« hatten sie gesagt. Das Lowe House war ein Irrenhaus. Letzte Station vor Willmar. Der Ort der Gescheiterten, für die das Spiel vorbei war. Ich ging in meinem Zimmer auf und ab, während sie sich durch meine Koffer hindurchwühlte, zwei kleine Stapel.
»Bitte setz dich hin, Mara.« »Marya.«
»Bitte setz dich hin.« »Warum?«
»Willst du eine Auszeit?«
»EINE WAS?«
»Ich muß dich bitten, nicht ausfallend zu werden.«
»WIE BITTE?«
Sie sah zu mir hinüber. Sie hatte ungepflegte Haare. Richtig ungepflegte Haare. »Mara, die Wahl liegt bei dir.«
»Um WAS zu tun?«
»Okay, also fünf Minuten nach dem Mittagessen.«
Mittagessen? Keiner hatte mir etwas von Mittagessen gesagt. Ich ging zum Fenster, versuchte, es zu öffnen.
»Die Fenster sind zur Sicherheit der Patienten fest verschlossen«, sagte Miss Knigge.
Ich rüttelte am Fenster. Unzerbrechlich. Plexiglas, an den Kanten versiegelt. Eindeutig verschlossen. Ich sah auf die Straße hinunter, betrachtete den Park auf der anderen Straßenseite, in dem Hunde ohne Leine herumtollten. Ich sah, wie sie bellten. Mir wurde klar, daß das Lowe House schalldicht war. Ich lehnte den Kopf ans Fenster.
Auf dem einen Stapel auf meinem Bett - Krankenhausdecken, flaches Krankenhauskissen lagen Kleider, Bücher, Schuhe. Sie hielt die Schuhe mit den hohen Absätzen in die Höhe. Sie kamen auf den anderen Stapel, zusammen mit Ohrringen, Bildern in Glasrahmen, einigen Pillendosen, Streichhölzern, Feuerzeugen, Zigaretten, dem Schnappmesser, Schweizer Offiziersmesser, Kampfgas an einer Schlüsselkette, alle Schlüssel, Gegenstände aus hartem Plastik, alles Scharfe, alles mit rauhen Kanten. Sie nahm die Bleistifte und Kugelschreiber. Ich stritt mit ihr um jedes einzelne Teil. Ich sagte: »Aber ich schneide mich nicht, ich bin nicht selbstmordgefährdet, ich schwöre es, ich brauche die Bleistifte und die Kugelschreiber, nehmen Sie die Schlüssel, das ist mir egal, aber um Himmelswillen lassen Sie mir meine Ohrringe, meinen Eyeliner, GEBEN SIE MIR DAS BILD VON JULIAN ZURÜCK, o bitte, nicht Julian wegnehmen.« Ich begann zu weinen. »Mein Gott, wo bin ich hier nur gelandet?«
Sie sagte nichts, das ungepflegte Haar fiel ihr über das flache Gesicht. Dann kam sie zu mir, durchsuchte meine Taschen, bat mich, den Mantel auszuziehen. Ich weigerte mich. »Mara, das ist doch nur zu deiner eigenen Sicherheit.« (LECK MICH AM ARSCH.) »Du hast nicht das Recht, mich zu beschimpfen.« (EINEN DRECK HABE ICH.) »Das sind zehn Minuten.« (In denen ich WAS tue?) »Du mußt nach dem Mittagessen auf dem Bett sitzen.« (ALS OB SIE MICH HIER NOCH IRGEND ETWAS ANDERES TUN LIESSEN, SIE SCHLAMPE.) Sie filzte mich, durchsuchte meine Taschen, während ich dastand und kurz davor war zu explodieren.
Meine Schuhe überprüfte sie nicht.
Ich stand da und grinste innerlich. In meinen Schuhen hatte ich Abführtabletten. Kleine rosa Pillen, sie waren schon den ganzen Tag dort gewesen. Ich hatte sie während der Aufnahmeprozedur unter meiner Fußsohle hin und her gerollt. Ich hatte sie mit den Zehen umklammert, während mich meine Eltern zum Abschied umarmten. Ich war die Treppe mit ihnen hinaufgegangen, hatte die Krankenschwestern mit ihnen beschimpft, hatte den Stationsarzt mit ihnen verhöhnt, stand jetzt da, zitterte in meinen Schuhen, hielt die Abführtabletten mit meinen Zehen fest, Mein Gott, mein Gefährte, mein Selbstmordversuch, nur für alle Fälle.
Sie kam mir zu nah, und plötzlich brannte bei mir eine Sicherung durch. Ich schoß zur Tür, dann nach links den Gang hinab, ein verzweifeltes Rütteln an der Tür. Sie ließ sich nicht öffnen. Ich wandte mich um, in die andere Richtung, rannte auf das gesegnete, rote EXIT-Schild zu, flog förmlich durch die Luft, gegen die Tür, gewichtslos und nackt wie ein gerupfter Vogel, warf mich dagegen, doch sie hielt stand, ich zerrte am Griff. Ich schrie, warf mich mit aller Kraft dagegen, rammte die Schulter an die Tür, die weiterhin regungslos und solide dastand wie ein Baum. Ich sank zu Boden, rollte mich zusammen, saß da und starrte die Wand an. Miss Knigge kam zu mir und brachte mich wieder auf mein Zimmer. Sie sagte: »Ich verstehe.« Ich sagte: »Einen Teufel tun Sie.« Sie sagte: »Fünfzehn.«
»Und jetzt das Mittagessen«, sagte sie. »Wirst du zu Mittag essen?» Ich schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Wenn du es nicht tust, triffst Du eine Entscheidung, das weißt du.«
Ich drehte mich mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und wartete auf das Mittagessen.
Ich dachte: Kein Ausgang. Ich dachte: So muß es in der Hölle sein. Häßliche, alte Möbel und nirgends ein Spiegel, blöde lächelnde Frauen, die ständig sagen, ich verstehe. Mit anderen Leuten für alle Ewigkeit in ein Zimmer gesperrt zu sein. Verdammt zu einem Inferno aus verblödeter Konversation, Ich Fühle Dies und Ich Fühle Jenes, und niemand weiß, wie man deinen Namen ausspricht, und die Tage werden von einer Eieruhr gemessen, die fünfzehnfünfzehn Minuten als Strafe für deine Sünden bemißt.

Während der ersten Wochen im Lowe House ließ ich mich wie betäubt dahintreiben. Auf der Station wachte man morgens auf, machte das Bett, wartete in einer Schlange darauf, duschen zu dürfen. Die Badezimmertür war natürlich verschlossen, wenn auch aus anderen Gründen als im Krankenhaus. Im Lowe House waren die Patienten einem erheblich höheren Selbstverletzungsrisiko ausgesetzt als die durchschnittliche eßgestörte Person (nein, ich stellte zwischen der Tatsache, daß ich eine durchschnittliche eßgestörte Person und eine Patientin war, keine gedankliche Verbindung her). Das Betreuungspersonal behielt einen ständig im Auge, aus Furcht davor, daß man versuchte, sich in der Dusche zu ertränken. Ich durfte die Toilettenräume nicht allein betreten, aber wenigstens ließ man mich die Klotür schließen. Und hörte zu.
Wir saßen im Aufenthaltsraum wie Bakterienkulturen in einer Petrischale und wurden vom Dienstraum des Betreuungspersonals aus beobachtet, während wir auf das Frühstück warteten. Das Fernsehen lief, Zeichentrickfilme. Ich saß auf der Couch, hatte die Füße unter mich gezogen und las die Zeitung. Es gab ein paar Sofas, einen Tisch, Schränke mit Legosteinen, Buntstiften, Papier, Spielsachen. Man erwartete von uns, daß wir pünktlich aufstanden, duschten, uns anzogen und unser Bett machten. Es beunruhigte mich, daß jede dieser scheinbar einfachen Tätigkeiten einigen meiner Mitbewohner Probleme verursachte. Wenn John und Peter aufwachten, neigten sie dazu, in hypoglykämischer Wut auf das Betreuungspersonal einzudreschen. Über die Hälfte aller Patienten weigerte sich schlichtweg, aufzustehen, und begann den Tag damit, mit den Pflegern darüber zu streiten, welchen Zweck das alles überhaupt haben sollte. Das Duschen stellte ein Problem dar, denn. in unserer Gruppe gab es durchaus einige, die nicht von sich aus duschten. Auch das Anziehen kam einigen wohl nutzlos vor, zumal man den lieben langen Tag nichts anderes tat, als über sein versautes Leben nachzudenken, und dafür reichte auch der Py)ama. Das Bettenmachen verwandelte die Klinik an so manchem Morgen in ein Schlachtfeld; der Flur hallte von Wutschrelen wider, und man hörte unendlich viele, philosophisch ausgefeilte Begründungen, warum man sein Bett nicht machen wollte. Sie wurden vom Betreuungspersonal allesamt widerlegt, und zwar mit einer Geduld und Freundlichkeit, wie sie ansonsten nur Heilige haben.
Im Gegensatz dazu bekam ich sehr bald Schwierigkeiten, weil ich mein Zimmer zu sauber hielt, mein Bett zu ordentlich machte, immer mit perfektem Make-up herumlief, sogar darin schlief - »trägt Lippenstift im Bett. Schläft oft vollständig angezogen, sogar mit Schuhen.« Häufig saß ich vor dem Frühstück wartend auf dem Sofa und versuchte angestrengt, David zu ignorieren, der in seinen Unterhosen und einem Anglerhut im Türrahmen stand, eine imaginäre Angel auswarf, um einen imaginären Fisch zu fangen, schrecklich lachte und brüllte und von Zeit zu Zeit »Schlampe!« rief.
Wenn das Chaos sich dann einigermaßen gelegt hatte, stellten wir uns an der Tür auf, gingen gemeinsam die Treppenstufen hinunter, wanderten durch die von unseren Schritten widerhallenden Gänge im Erdgeschoß in die Cafeteria, wo wir uns an einen Tisch setzten. Das Betreuungspersonal setzte sich zu uns und plauderte gutgelaunt. Es gab zwei Tische. Am anderen Tisch, an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, saß Station A, die ein Stockwerk unter uns lebte und, soweit ich erkennen konnte, etwas weniger verkorkst war als Station B. In einer Ecke des Raumes waren die Kühlschränke der Anstalt und ein kleiner Arbeitsbereich für die Köchin untergebracht. Diese wiederum, eine kleine Frau mit heiserer Stimme und einem nicht unerheblichen Bauch, häufte Unmengen von Essen auf die Teller.
An meinem ersten Morgen saß ich auf meinem Stuhl und sah mich am Tisch um. Dort standen zwölf leere Tabletts. Eines davon gehörte offensichtlich mir. Die Köchin kam herüber, stellte eine Schüssel mit Rührei, einen Teller mit Englischen Muffins und eine Platte mit gebratenem Speck auf den Tisch. Um mich herum sprachen die anderen Kinder durcheinander und gossen sich so viel Orangensaft ein, als ob er das Wichtigste auf der Welt wäre, dabei wußte doch jeder, daß Orangensaft nichts anderes war als flüssige Kalorien. Chris, ein kleiner und temperamentvoller Junge mit scharfer Zunge, blickte grimmig vor sich hin und schleuderte David einen sarkastischen Kommentar entgegen. Der Betreuer sagte, keineswegs grob: »Chris, warum setzt du dich nicht für eine Minute etwas abseits, bis du bereit bist, mit uns zu frühstücken.« Übertrieben energisch schob Chris seinen Stuhl zurück und kippte dabei nach hinten. Alles fing an zu lachen. Chris schrie, wurde in den Flur geschickt, stürmte hinaus in einer Wolke von Obszönitäten. Ein Betreuer sprang auf und rannte hinter ihm her, die anderen Kinder flüsterten, daß er jetzt wahrscheinlich eine längere Auszeit haben würde.
Das Essen stank. Es roch einfach schrecklich. Ich schob die Schüssel mit Eiern nach rechts, als sie an mir vorbeikam, dann saß ich da und rieb meine Hände unter dem Tisch. Sie waren kalt. Ich starrte den Schinken an. Ben wurde getadelt, weil er den Schinken für sich beanspruchte. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie es kommen konnte, daß jemand freiwillig Schinken zu sich nahm, ganz zu schweigen von solchen Mengen. Mein Teller blieb leer. Am Tag zuvor war mir erklärt worden, daß wir unsere Mahlzeiten »wie eine große Familie« zu uns nähmen, und ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Eine Betreuerin schlug vor, daß ich etwas essen sollte. Ich schüttelte den Kopf. Ich hing noch immer in der Luft. Noch immer hatte ich keinen Behandlungsplan erhalten, und ich war verblüfft darüber, daß ich mich beim Essen selbst bedienen sollte. Ich war damit beschäftigt, herauszufinden, wieviel Fett in Eiern war - Schinken stand natürlich vollkommen außer Frage - und wieviel Butter in den Englischen Muffins war. Ich fragte die Köchin: »Ist das Magermilch?« Sie schüttelte den Kopf, nein. Also kam auch Milch nicht in Frage. ich hatte alle Bestandteile der Mahlzeit gestrichen. Ich würde also dasitzen und nichts essen. Ich wollte Tee. Ich bat einen Betreuer, nach oben gehen zu dürfen, um mir eine Tasse Tee zu holen. Mit fröhlicher Stimme lehnte er mein Ansinnen ab. Ich mochte ihn. Er hatte ein rötliches Gesicht, war groß, hatte langes, rotes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, und besaß Sinn für Humor. Er brachte die anderen Patienten zum Lachen. Mir kam der Gedanke, daß ich mit einem solchen Typen einen Kaffee trinken gegangen wäre, daß ich mit ihm über Bücher und Musik gesprochen hätte, wenn ich draußen gewesen wäre. Ich fragte mich, wie er es wohl schaffte, hier zu sitzen und auch noch fröhlich zu sein, wo er doch nur von Irren umgeben war.
Plötzlich wurde mir auf schmerzhafte Weise bewußt, daß auch ich zu den Irren gehörte.
Ich beobachtete, wie die Jungs ihr Essen hinunterschlangen. Ich hörte zu, wie das Betreuungspersonal sie neckte, weil sie mit vollem Mund sprachen. Ich sah zu, wie die Mädchen aßen und sich miteinander unterhielten. Meine Zimmergenossin, ein hochgewachsenes Mädchen namens Joan, versuchte, sich mit mir zu unterhalten, erzählte mir, wie der Tag normalerweise verlief. Ich versuchte zu lächeln, zu antworten. Ich beobachtete, wie die andere Magersüchtige, die mir gegenubersaß, sich bediente; sie aß langsam, aber sie aß. Sie sah mich an und schaute gleichermaßen eifersüchtig wie zornig drein. Schließlich sagte sie mit leiser Stimme zu mir: »Irgendwann bringen Sie dich zum Essen, weißt du.« Ich sagte nichts. Der Betreuer sagte zu ihr: »Sarah, du bist die einzige, die hier die Verantwortung für dich trägt«, und er lächelte sie an. Sie sah auf ihren Teller hinunter. Die Krankenschwester kam mit einem Tablett voller kleiner Pappbecher herein, die wie diese kleinen Probierbecher für Joghurt aussahen, nur daß sie mit Tabletten gefüllt waren. Alle riefen: »Hl Shawn«, und Shawn, eine Frau um die Fünfzig mit freundlichem Gesicht, sagte allen guten Morgen und verteilte die Medikamente. Als sie zu mir kam, stellte sie einen Becher mit einem Antidepressivum und Multivitamintabletten auf meinen leeren Teller. Ich schluckte die Tabletten mit dem kleinstmöglichen Schluck Milch. Ich versuchte, mir die Größe des Schlucks vorzustellen: ein Teelöffel? Vielleicht zwanzig Kalorien? Vielleicht auch nur zehn? Ein achtel Gramm Fett? Mehr?
Es gefiel mir, die Freiheit zu haben, mich selbst zu bedienen. Das war genau das Richtige für mich. Es sollte mich in die Lage versetzen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, und voller Überheblichkeit dachte ich bei mir: Und ich entscheide mich, gar nichts zu essen. Im Rückblick glaube ich, daß nur eine sehr gestörte Person eine geschlossene Anstalt als befreiend empfinden kann, wie ich es tat, wenn auch nur einen einzigen Tag lang. Sie zwangen mich nicht zum Essen. Sie warteten ab, wie ich mich verhalten würde, aber das wußte ich nicht. Ich fand es erst nach dem Frühstück heraus, als Shawn mich die Treppe hinauf in ihr Zimmer führte, mich auf die Waage stellte und feststellte, daß ich nur noch vierzig Kilo wog. Dann bekam ich einen Behandlungsplan.
Er enthielt folgende Bestimmungen: Entweder du ißt und bleibst hier im Lowe House, oder du ißt nicht und kehrst ins Krankenhaus zurück, wo du zum Essen gezwungen wirst, und kommst anschließend ins Lowe House zurück.
Es gab kein Entrinnen.
»Kann ich nicht einfach ins Krankenhaus und dann wieder nach Hause gehen?« - »Nein.« »Aber das Essen, das Sie hier servieren, macht fett! « - »Das ist keine sonderlich genaue Beobachtung.« - »Ist sie wohl!« - »Nun, das Essen, das wir hier servieren, ist das Essen, das wir servieren.« - »Ich werde es nicht essen!« - »Dann kommst du eben ins Krankenhaus.« - »Na gut, wenigstens TRIEFT DAS ESSEN DORT NICHT VOR FETT!« »Das stimmt, aber dann kommst du wieder ins Lowe House zurück.« - »Wollen Sie mir sagen, daß ich hier FESTSITZE?« - »Ja.«
Festsitze, ja. Aber ich hatte ja immer noch meine Abführtabletten, deshalb hatte ich auch immer noch meine Eßstörung, und deshalb hatte ich auch immer noch mich selbst. In einem kleinen Schmucksäckchen aus Satin ganz hinten in meinem Kleiderschrank bewahrte ich das Abführmittel zwischen zwei ordentlich zusammengefalteten Sweatshirts auf. Niemals während des ganzen Aufenthaltes nahm ich Abführmittel ein. Aber ich behielt sie im hintersten Winkel meines Gedächtnisses, so wie sie auch im hintersten Winkel meines Schrankes verstaut waren, stellte mir vor, wie sie dort lagen, stellte mir vor, wie ich zwischen die Sweatshirts griff, sie herausnahm, meinen Kopf zurückneigte, sie alle hinunterschluckte, wenn es notwendig wurde. Ich hielt mich an diesem kleinen Trost fest, eine pharmazeutische Sicherheitsweste, die mich durch ihre bloße Anwesenheit beruhigte, mein kleines bißchen Kontrolle über mich selbst.
Denken wir daran, daß Kinder sich in ihren ersten Lebensjahren selbst beibringen, wie sie mit ihren Stimmungen fertig werden, wie sie den schlingernden Zug der Angst dazu bringen können, langsamer durch ihr Gehirn zu fahren. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Menschen sich das Falsche beibringen. So wie ich.
Als ich ins Lowe House kam, wurde mein Leben von einem schrecklichen Paradox bestimmt, und in gewisser Weise ist das immer noch so. Mein einziges Mittel zur Selbstregulierung war die Selbstzerstörung. Um eine seit langer Zeit bestehende Eßstörung aufzugeben, die sich in genau dem gleichen Tempo entwickelt hat wie die eigene Persönlichkeit, der Intellekt, der Körper, die Identität selbst, muß man sämtliche Überbleibsel ebenfalls ausmerzen; das bedeutet, daß man Verhaltensweisen aufgibt, die so alt sind, daß sie fast schon zu den Urinstinkten zählen.[17] [17]  Ich mußte meine einzige kampferprobte Methode, mit der Welt klarzukommen, aufgeben und statt dessen Wege gehen, die ich nicht kannte, die unbewiesen, unsicher waren. Ich bin von Natur aus ein mißtrauischer Mensch. Ich konnte es nicht einfach akzeptieren, daß ich »eines Tages« schon lernen würde, wie man ohne Eßstörung lebte. Ich war keineswegs sicher, daß ich es schaffen würde. Ich hatte kein »normales« Leben, zu dem ich zurückkehren konnte, keine Urerlebnisse, wie man »normal« ißt und »gesund« lebt. Also behielt ich meine Eßstörung kleine Erinnerungsstücke, das Abführmittel, das ich nicht anrührte, die Reihenfolge, in der ich Möhren und Erbsen aß, die kleinen Gedanken, die mir beim Einschlafen halfen (Ich kann immer zurückkehren, ich kann es wieder tun, wenn ich rauskomme) - als Krücke, für den Notfall. Das war mein Fehler.
Das Betreuungspersonal brauchte ein paar Tage, um festzustellen, daß ich nicht von selbst essen würde. Sie polierten meinen Behandlungsplan etwas auf. Am nächsten Tag beim Frühstück standen elf leere Teller auf dem Tisch. Der zwölfte war bereits gefüllt und mit Zellophan abgedeckt. Das Essen war lauwarm, die Plastikfolie troff, wie ich glaubte, vor reinem Fett. Ein randvolles Glas mit Milch stand daneben. Man sagte mir, daß man mir nach dem Frühstück eine Flasche mit Nährlösung geben würde, wenn ich beschließen würde, nichts zu essen. (»Eine ganze Flasche?« - »ja.« - »Aber das sind viel mehr Kalorien, als dieses Essen hier hat! « - »Dann iß auf, Marya.«) Und dann doch noch eine Flasche als nachmittäglicher Snack. Das probierten sie eine Weile aus, aber ich nahm trotzdem weiter ab. Also mußte ich in jedem Fall Nährflüssigkeit trinken, ob ich nun aufgegessen hatte oder nicht. Das war nicht fair! Alles brach zusammen. Es gab keinen Ort, zu dem ich mich hätte flüchten können.
Und so blieb mir wirklich nichts anderes übrig, als zu versuchen, wieder gesund zu werden.
Mal abgesehen davon, daß ich gar nicht wußte, was mit mir eigentlich nicht stimmte. Im Lowe House konzentrierte man sich nicht auf Nahrung oder Körperbewußtsein oder etwas in der Art. Sie behandelten einen wie einen Menschen, dessen Leben und Gefühle ihn irgendwie sehr traurig gemacht hatten, und mit diesem Ansatz konnte ich absolut nicht umgehen. Für den Rest der Patienten, die - auch objektiv betrachtet - erheblich ernstere Probleme hatten als ich, kam mir diese Herangehensweise durchaus vernünftig vor; einige waren Opfer unsäglicher Grausamkeiten in ihren eigenen Familien, von den Eltern verlassen, jahrelang von Pflegeheim zu Pflegeheim gereist, wie meine Zimmergenossin und Duane. Einige waren Vergewaltigungsopfer oder in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden. Wieder andere hatten Persönlichkeits- oder psychische Störungen, angefangen von derart schweren Depressionen, daß man sie nur durch Unmengen hochwirksamer Antidepressiva in den Griff bekommen konnte, bis hin zu multiplen Persönlichkeitsstörungen oder Schizophrenie im Anfangsstadium. Einige hatten emotionale Störungen, die möglicherweise organisch bedingt waren und die völlig außer Kontrolle geraten waren. Die Folge waren zahlreiche Selbstmordversuche, übermäßige sexuelle Promiskultät und Drogenmißbrauch. Ein paar waren, soweit ich es beurteilen konnte, nur Kriminelle, denen es irgendwie gelungen war, das Gefängnis zugunsten der
Anstalt zu umgehen, und die irgendwann vermutlich doch im Gefängnis landen würden.[18]
Ich selbst jedoch war ein großes Fragezeichen. Ein Opfer, in erster Linie meiner selbst, was den Opferstatus nicht nur fragwürdig, sondern letztlich auch lächerlich machte. Meine Familie war chaotisch, aber wohl kaum psychotisch zu nennen. Die Spezifika meiner diagnostizierbaren Störung, über die offensichtliche Eßstörung hinaus, waren unklar. Ich schien an einer Art Depression zu leiden, wenngleich diese Einschätzung sich als ungenau erwies (ich bin manisch depressiv). In seinen Aufzeichnungen zu unseren Sitzungen notierte mein Psychiater, daß ich keine Anzeichen für eine Persönlichkeitsoder mentale Störung aufwies. Ich schien relativ gut angepaßt zu sein, war allerdings emotional unterentwickelt und litt an einer schweren Eßstörung. Ferner entsprachen, seinen Notizen zufolge, meine »Vorstellungen und Verhaltensweisen eher einem Menschen, der zehn Jahre älter ist. Sie ist freundlich, aber herablassend und einschüchternd. Sie gibt ihrem Therapeuten das Gefühl, dumme Fragen zu stellen, deren Antwort er doch schließlich am besten kennen müsse.«
Ich verhielt mich herablassend, weil ich mir wie ein kompletter Idiot vorkam, ein königliches Arschloch und sowieso ein hoffnungsloser Fall. Sehr schnell wurde klar, daß ich Lichtjahre vom Erkennen meiner Probleme entfernt war. Ich verstand zwar, daß das, was ich tat, nach objektiven Maßstäben nicht gesund war, und ich verstand, daß es Gründe für mein Verhalten gab. Aber ich war nicht der Meinung, daß man diese Gründe besonders ernst nehmen müßte und noch nicht einmal, daß sie besonders komplex wären. Ich nahm an, daß von Geburt an etwas mit mir nicht stimmte, daß ich a priori mit einem Makel behaftet war. Ich war nicht traurig, ich hatte keine Angst, ich litt nicht unter Depressionen, ich hatte weder eine bipolare Störung noch war ich schizophren, ich hatte keine Persönlichkeitsstörung, es gab keine Ereignisse in meinem Leben, die übermäßig traumatisch gewesen waren. Es hatte keine massiven äußeren Einflüsse gegeben, die für meine Entwicklung verantwortlich waren. Was mit mir nicht stimmte, konnte also auch die längste Therapie nicht heilen.
Wir alle haben bestimmte Theorien über die Welt und über uns selbst. Wir nehmen eine Menge Schwierigkeiten in Kauf, um zu beweisen, daß wir im Recht sind, weil dadurch die Welt in unserem Kopf klar und verständlich bleibt. Ich hatte eine ganz einfache Theorie: Ich war verkorkst. Und an dieser Stelle kommt einem der Begriff »self-fullfilling prophecy«, sich selbst erfüllende Prophezeiung, in den Sinn.
Eßstörungen unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht von Depressionen oder anderen »geistigen Krankheiten«. Es ist durchaus von Bedeutung, daß viele Menschen, die an einer Eßstörung erkranken, vorher eine organiscli bedingte Depression oder andere biologische Prädispositionen haben, die zu eßgestörtem Verhalten führen, aber genausogut bekommen auch viele Menschen ohne diese Prädtsposition eine Eßstörung. Ich gehörte nach Meinung der Ex erten zu jener zweiten Gruppe.
Bei mir hatte das chemische Ungleichgewicht, das durch die Unterernährung verursacht wurde, Depressionen zur Folge, mit denen ich wiederum durch meine Eßstörung fertig zu werden versuchte. Und aus diesem Teufelskreis gab es kaum ein Entrinnen.
Die Frage, ob eine Depression die Eßstörung auslöst oder ihr »nur« folgt, ist schwer zu beantworten. Soll man die Depression als Ursache, als das, was das Leben der Patientin zerstört und ihr Verhalten verändert, behandeln oder als die Wirkung? Oder geht es um ein verkorkstes Leben und Verhaltensstörungen, die einfach deprimierend sind? Soll man die Depressionen medikamentös behandeln, oder hat eine solche Maßnahme langfristig auch keine größere Wirkung als ein Pflaster? Welche Rolle spielen Erziehung und Familie? Sind Gesellschaft und Kultur für die Entwicklung verantwortlich? Ist die Persönlichkeit betroffener Frauen von Natur aus problematisch, oder handelt es sich um eine chemikalische Fehlfunktion im Gehirn? Und wenn ja, war diese schon da, bevor sie versuchten, sich auszuhungern, oder ist sie eine Folge des Hungerns?
Von allem etwas?
In dem Monat vor meinem siebzehnten Geburtstag jedoch beschäftigte ich mich mit keiner dieser Fragen. Ich saß an dem kleinen Tisch im Aufenthaltsraum und las Schulbücher. Wir hatten täglich Schule vom Frühstück bis zum Mittagessen. Wir saßen in drei winzigen Klassenzimmern, eine Aufteilung nach Klassen gab es nicht mehr. Wir lösten die Aufgaben, die die drei überlasteten Lehrer für unser Alter für angemessen hielten, und benutzten die alten Schulbücher, die die Public Schools in Minneapolis uns gespendet hatten. Zuerst ließen sie es zu, daß ich die Bücher förmlich verschlang. Ich arbeitete einen Lernplan für mich selbst aus, um die manische Angst zu mindern, die ich verspürte, weil ich nicht mehr zur Schule ging, was für meine zukünftige Entwicklung ein großes Hindernis darstellte. Ich hatte ein Trigonometrie-Buch, ein Geschichtsbuch und verschiedene Bücher über amerikanische Literatur. Ich las gierig, so viel Whitman, Emerson und Thoreau, wie ich in die Finger bekam, stürzte mich auf die Trigonometrie (und vergaß das Gelernte prompt wieder), las alles über die Antike, über die Griechen, die Römer, die Chinesen, arbeitete mich vor bis zum Mittelalter, dann begann ich, die Amerikanische Kurzgeschichte zu studieren, verfaßte Aufsatz um Aufsatz für einen Lehrer, der jedesmal einfach immer nur »Hervorragend!« darunterschrieb. Das Haar in einer Bananenspange zusammengefaßt, Brille auf der Nase, ohne Schuhe, behaglich wie eine Made im Speck, las ich. Niemand, der mich störte: »No deeds to do, no promises to keep« »Nichts zu tun, keine Versprechen einzuhalten.« Ich begann geradezu zwanghaft, meine Lieblingszitate aufzuschreiben. Ich habe vier dicke Ringbücher voller Zitate. Whitman hielt ich für ein bißchen rührselig, weil er eher einem modernistischen Denken anhing. Und das war mein Lieblingszitat: »What's madness but nobility Of soullat odds with circumstance?« (»Was ist Irrsinn anderes als der Adel der Seele/uneins mit den Umständen?«)

Was ist Irrsinn anderes als der Adel der Seele
Uneins mit den Umständen? Der Tag brennt!
Ich kenne die Reinheit reiner Verzweiflung
mein Schatten gepreßt gegen die schweißnasse Wand.
Dieser Ort in den Bergen - ist er Käfig
Oder gewundener Pfad? Alles was ich habe, ist die Klippe.
Theodore Roethke, »In dunkler Zeit«, 1964

Seien Sie nachsichtig mit mir, ich war sechzehn. Mit sechzehn in einer geschlossenen Anstalt, wer würde da nicht an den Adel der Seele glauben wollen? Bei Gott, dachte ich, ich kannte die Reinheit reiner Verzweiflung. Ich glaubte fest daran, daß ich die reine Verzweiflung lebte, daß ich vom Schicksal gebeutelt und uneins mit den Umständen war, der Unschuldige, der fälschlich angeklagt und lebenslänglich eingekerkert wird, der Märtyrer unter den Mißverstandenen. Und ich fühlte mich schrecklich mißverstanden. Diese grausame Strafe war einfach nichtfair. Ich war nicht verrückt! Ganz bestimmt nicht so wie der ganze Rest! Nein, nein! Ich war ganz gut in der Lage, meine obligatorischen Therapiegespräche so zu steuern, daß ich mit den Betreuern nicht mehr über meine eigenen Probleme, sondern über neutrale Themen wie über das Theater, über Politik usw. sprach. Problemlos kam ich irgendwann auf den Krieg in Bosnien, den Putschversuch in Moskau, den Mangel an musikalischer Abwechslung in Andrew Lloyd Webbers Musicals zu sprechen. Fröhlich tanzte ich durch die Tage, schrieb lange, esoterische Briefe an Julian, die mit Zitaten und Betrachtungen angefüllt waren, in denen ich jedoch niemals auch nur mit einem Wort erzählte, daß ich sie ihm von einer geschlossenen Anstalt aus schickte. Soweit er wußte, schrieb ich ihm vom Mars. Ich las und las, saß auch während der Gruppentherapie geduldig in der alternativen Welt in meinem Kopf, knibbelte an meinem Nagellack, weigerte mich zu schlafen, setzte mich an den Abendbrottisch, stand auf und schrie die Köchin aus vollem Halse an: »Sie Schwein! Sie haben mir zuviel MILCH gegeben, was zum Teufel führen Sie eigentlich im Schilde, wollen Sie mich etwa MÄSTEN? Das ist MINDESTENS EIN GANZER ZENTIMETER zuviel Milch, ich soll nur EINEN VIER TELLITER trinken, und das hier sind MINDESTENS 300 MILLILITER«, warf den Tisch um, wurde auf mein Zimmer gebracht, wobei ich den ganzen Weg lang um mich trat und vor mich hin schrie. Später am Abend, als ich den Vorgang eigentlich hätte verarbeiten sollen, wurde ich von einem Gedanken in Walden abgelenkt, über den ich dann endlos vor mich hin plapperte. Meine Eltern kamen zu Besuch. Wir führten geschraubte Unterhaltungen im Aufenthaltsraum, während das Betreuungspersonal unauffällig im selben Raum sitzen blieb und uns beobachtete. Wir sprachen über Bücher. Sie brachten mir Bücher mit. Ich saß am Tisch, hinter einer Unmenge von Büchern, spähte über ihren Rand hinweg, halb lesend, halb mit ihnen redend. Ich erzählte ihnen von meinen Büchern.
Dann nahm das Betreuungspersonal mir die Bücher weg. Eines Tages ging ich an meinen Schrank, drückte den Griff hinunter. Er ließ sich nicht öffnen. Ich rannte in den Aufenthaltsraum, hielt nach meinem Bücherstapel auf dem Tisch Ausschau und nach den Büchern, die ich auf dem Fensterbrett liegengelassen hatte. Meine Bücher waren weg. Sie hatten mir meine Bücher weggenommen. Ich rannte ins Büro - ein Schreibtisch, ein langer Arbeitstisch, Schränke, ein Kühlschrank, ein paar Stühle. Plexiglasfenster als Wände, Augen auf unsere kleine Welt und sagte, wobei ich versuchte, ruhig zu bleiben: »Warum ist mein Schrank verschlossen? Wo sind meine Bücher?«
Meine Hauptbetreuerin, Janet, begann: »Unser Behandlungsplan«
»WO SIND MEINE BÜCHER?«
»Marya, würdest du bitte deine Stimme senken?«
»WAS ZUM TEUFEL HABT IHR MIT MEINEN BÜCHERN GEMACHT? HABT IHR ES ETWA GEWAGT, SIE WEGZUWERFEN?« Ich hatte schon vorher den Verdacht gehabt und auch geäußert, daß sie mich dumm halten wollten. Deshalb hielt ich es für vollkonimen plausibel, daß sie, die die absolute Notwendigkeit von Büchern nicht verstanden, sie vielleicht weggeworfen hätten.
»Nein, wir haben deine Bücher nicht weggeworfen. Wir glauben, daß es eine positive Erfahrung für dich ist, wenn du mit deinen Gefühlen eine Weile umgehen mußt, statt dich hinter deinen Büchern zu verschanzen und dich durch sie von uns zu entfernen.«
»Wann bekomme ich sie wieder?« fragte ich und zerrte an der Manschette meines Ärmels.
»Sobald du dich entschließt, dich mit deinen Problemen auseinanderzusetzen.«
»WANN?« Ich ballte die Fäuste. »Das liegt bei dir.«
Da war es vorbei. Ich fing an, Stühle umzuwerfen, schrie aus vollem Halse, brüllte, daß ich meine Bücher wiederhaben wollte, wie sollte ich denn überhaupt noch IRGEND ETWAS GESCHAFFT BEKOMMEN ohne meine Bücher, ich warf Kaffeetassen gegen die Wand, ich schrie, daß ich all diese DUMMEN, VERRÜCKTEN, VERKORKSTEN LEUTE nicht aushalten könnte, wenn ich nicht ETWAS ZU TUN bekäme. Ich würde hier noch VERRÜCKT, und es wäre schon SCHLIMM GENUG, auch ohne daß man mir meine BÜCHER WEGNÄHME, und ich wurde durch den Flur geführt, während ich kreischte und gegen die Wände trat. Ich trat meinen Schrank, trat gegen den Heizlüfter und schlug auf alle festen Gegenstände ein, dann warf ich mich auf mein Bett, schrie noch einmal in meine Kissen, holte tief Luft, und dann begann ich zu heulen.
Ich weinte drei Wochen lang, mehr oder weniger ohne Unterbrechung. Sie waren sehr beeindruckt. Jetzt setzte ich mich mit meinen Problemen auseinander, zumindest vom psychologischen Standpunkt aus gesehen. Es sah aus, als würde ich für den Rest meines Lebens weinen. Natürlich tat ich das nicht. Schließlich versiegten die Tränen. Und ich begann, mich etwas besser zu fühlen.
Im Lowe House ist irgend etwas mit mir geschehen. Ich habe versucht, herauszubekommen, was es war. In einer Klapsmühle passiert nicht viel. Deshalb hat man verdammt viel Zeit, um dazusitzen und nachzudenken. Aber eins weiß ich: Als ich eingeliefert wurde, hatte ich fast keine Gefühle, keinen Lebenswillen, kein besonderes Interesse an Dingen, die nichts mit Verhungern zu tun hatten. Und als ich herauskam, aß ich wieder. Fast normal.
Von Anfang an bemühte ich mich nach Kräften, die ganze Sache so weit wie möglich von mir fernzuhalten. In eine Anstalt eingewiesen zu werden ist ein ziemlicher Schlag für das Ego, egal wie man es dreht und wendet. Meine gesamte Identität war abhängig (1) von meiner Fähigkeit zu hungern und (2) von meinem Intellekt. Ich hatte eine vollkommene Identitätskrise, als ich bemerkte, daß nichts von all dem andere Menschen beeindruckte. Ich hatte eine Menge in meine Bemühungen investiert, nicht zu den anderen Kindern da drinnen zu gehören. Ich war überheblich, gemein, vorlaut und arrogant wie eine gottverdammte Königin auf ihrem Thron. Ich war ruhelos, ängstlich, wollte mich nicht mit den anderen Patienten verbünden, weil das bedeutet hätte, daß ich auch nicht besser war als sie. Und Gott, wie nötig ich es doch hatte, an meine Überlegenheit zu glauben. Es war ungeheuer wichtig, glauben zu können, daß keine Hoffnung mehr für sie bestand und daß ich einfach nur versehentlich unter sie geraten war. Sie waren Kinder, ich war erwachsen; sie waren bedürftig, aber ich brauchte nichts.
Doch Duane, der nicht viel größer als einszwanzig war, ruinierte dieses Selbstbild ganz und gar.
Das Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab, seine Brillengläser waren so dick, daß seine Augen fünf Zentimeter groß zu sein schienen, seine winzigen Hosen rutschten ständig herunter. Duane war elf. Er war ein Autodieb, ein Schulschwänzer, ein vernachlässigtes Kind, eine Waise. Als ich ankam, war er schon ein Jahr da. Er war derjenige, der an meinem ersten Tag schreiend durch den Flur geschleppt wurde.
Eines Tages, sie hatten mir meine Bücher noch nicht weggenommen, kletterte Duane auf den Stuhl neben mir und unterbrach mich beim Lesen. Er schob seine Brille nach oben.
»Hi«, sagte er und sah mich mit großen Augen an.
Ich blickte zu ihm auf. »Hallo«, sagte ich kühl.
Wie saßen eine Weile nur da. »Willst du Lego spielen?« fragte er.
»Eigentlich nicht«, sagte ich. Er nickte. »Was willst du dann tun?«
»Lesen«, sagte ich. Wieder saßen wir eine Weile da. »Also«, sagte er. »Weshalb bist du hier drin?«
»Wegen nichts«, sagte ich. Er nickte verständig. »Du bist mager«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte ich.
»Bist du deshalb hier?« »So in etwa.«
»Willst du Rommé mit mir spielen?«
Ich schwankte. Ich liebte Kartenspiele.
»Komm schon«, brüllte er und grinste. Und mit bettelnder Stimme: »Wir können vier Spiele nehmen.«
Wir breiteten uns auf dem Boden im Flur aus und spielten den ganzen Nachmittag lang Rommé, wobei wir die Karten im ganzen Flur verteilten. Erst als die Betreuer uns zum Abendessen riefen, räumten wir auf. Sein
winziger Körper kauerte über den Karten, und er sagte, »Hey«. Ich blickte auf. Er schob seine Brille nach oben und fragte, »Wie hast du gesagt, heißt du?«
»Mar-ya.«
Er nickte. »Okay.« Wir trennten die Kartenspiele. Ich saß mit dünnen, gespreizten Beinen auf dem Boden. Sein kleiner Turnschuh berührte meinen Socken fast beiläufig. Ohne aufzublicken, sagte er: »Marya.«
Ich sagte, »ja.«
Er fragte: »Willst du meine Schwester sein, solange du hier bist?«
Ich lächelte. »ja.« Er hob den Kopf und schenkte mir ein absolut blödes und ebenso wunderbares Grinsen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich den Nobelpreis für Normalität verliehen bekommen hätte.
Abends vor dem Zubettgehen lasen die Betreuer uns vor. Wir trugen unsere Kissen in den Aufenthaltsraum. Sie dimmten das Licht, die Kinder legten sich auf den Boden, stritten sich um einen Platz auf dem Sofa. Ich saß stocksteif auf einem Stuhl, immer noch angezogen. Sie lasen Kinderbücher. Ich beklagte mich nicht. Ich strengte mich an, damit mir die Augen nicht zufielen. Ich versuchte, mich nicht einlullen zu lassen. Aber die Stimme, die Ruhe, die Kinder, die tagsüber aufgrund irgendeiner diffusen Angst, die ich nur allzugut nachvollziehen konnte, vor sich hin geschrien hatten und jetzt, am Abend, ganz entspannt dasaßen, dösten, kicherten - das alles verfehlte seine Wirkung nicht. Die Tatsache, daß die Betreuer überhaupt einen Pfifferling um uns gaben, war schmerzhaft für mich. Ich sah zum Fenster hinaus, betrachtete die Baumwipfel, an denen sich die ersten Knospen bildeten, sah Richtung Norden auf die Stadt hinaus und versuchte, nicht zu weinen. Ich hatte keine Ahnung, warum mir dies so weh tat, warum ich zusammenzuckte, wenn ich die Hand eines Betreuers auf meiner Schulter spürte, warum der abendliche, plötzliche Frieden der Vorlesestunde kleine Explosionen der Sehnsucht in meiner Brust auslöste. Ich wußte nicht, wonach ich mich sehnte.
Und nach dem Vorlesen wurde es noch schlimmer: Dann kamen die Umarmungen. Man forderte uns sehr höflich auf, einander und die Betreuer zu umarmen. Die meisten rissen sich förmlich darum, und diejenigen, die nicht an der Prozedur teilnehmen wollten oder gerade mit ihrem potentiellen Umarmer zerstritten waren, mußten einander die Hand reichen. Ich fand das alles ziemlich bizarr. Wenn das Vorlesen vorbei war, schoß ich aus dem Zimmer, als ob mein Stuhl ein Katapult gewesen wäre, raste den Flur hinab und tauchte komplett angekleidet in meinem Bett unter, bevor irgend jemand auch nur die leiseste Gelegenheit hatte, mich zu berühren. Die Betreuer fingen bald an, mich zu necken und mir hinterherzurufen: »UND SCHON IST SIE WEG! GUTE NACHT, MARYA! LASS DICH JA NICHT VON DEN WANZEN KÜSSEN!« Ich schrie zurück: »Nacht!« und begrub meinen Kopf unter dem Kissen.
Aber an dem Abend, nachdem Duane und ich Karten gespielt hatten, hielt er mich auf. Er überholte mich, versperrte mir mit seinem schmächtigen Körper den Weg zur Tür, blickte zu Boden und sagte: »Ich weiß, daß du normalerweise niemanden umarmst, aber ich habe mich gefragt, ob ich vielleicht dich umarmen könnte; du mußt mich auch nicht zurückumarmen oder so was, aber ich dachte, weil du doch schon eine Weile hier bist und noch nie umarmt worden bist in all den Wochen, daß du es vielleicht brauchen könntest.«
Ich beugte mich herunter und umarmte ihn steif. Er hielt sich an meinem Hals fest: Der Körperkontakt war so erschreckend und sein kleiner Körper so warm, daß ich scharf die Luft einsog und zu weinen anfing. Und er klopfte mir auf den Rücken und sagte: »Umarmungen tun dir gut. Morgen umarme ich dich wieder, wenn du willst.«
Und ich hielt ihn einfach fest, als ob es'um mein Leben ginge.
In meiner Kindheit bin ich häufig umarmt worden. Meine Eltern sind ganz groß darin. Mein Vater umarmt einen wie ein Bär, fest und schnell. Meine Mutter legt mir normalerweise die Arme um die Schultern und klopft mir auf den Rücken, als ob sie mich dazu bringen wollte, ein Bäuerchen zu machen. Meine Freunde und ich haben uns immer umarmt. Es ist also keineswegs so, als ob ich an Körperkontakt dieser Art nicht gewöhnt gewesen wäre, wie einige andere Patienten in der Klinik. Aber gleichzeitig habe ich ihn niemals als natürlich empfinden können. Er schien und scheint bis heute mit Bedeutung überladen zu sein, so sehr, daß es manchmal besser ist, ihn ganz zu meiden. Ein paar Jahre lang kann man ihn sogar meiden wie die Pest, man beginnt, den eigenen Körper als absolut alleinigen Besitz anzusehen, so daß auch die leiseste Berührung - auch das zufällige Vorbeistreichen einer Hand, ganz zu schweigen von der erschreckenden Anzahl emotionaler und physischer Empfindungen, die von einer Umarmung ausgelöst werden einem vorkommt wie eine Bedrohung.
Mit Sex war es anders. Zuerst war Sex ein plötzlicher Schock für mich, ein Ruck, der, wenn auch nur kurz, die Verbindung zu meinem Körper wiederherstellte, und anfangs hatte ich das auch begrüßt. Aber die Bulimie wich der Anorexie, und der Sex verwandelte sich in eine Studie der Dissoziation, eine Stillegung des Körpers, das Gehirn spaltete sich und beobachtete die Körper der Kopulierenden von oben. Wie bereits erwähnt, ist die Bulimie die physische Form der Eßstörung, während die Anorexie eher vom Geist ausgeht. Für die Bulimikerin ist Sex der Versuch, die Leere mit etwas wie Leidenschaft zu füllen, obwohl die Nachwirkungen gräßlich sind: Man hat das Gefühl, aus der eigenen Haut herauszuquellen. Aber für die Magersüchtige - zumindest war es bei mir so - verwandeln sich die angenehmen Blitzkriege des Schlafzimmers in einen grauenhaften Kampf, den man immer verliert, in eine schreckliche Schlacht der Synapsen, die markerschütternde Schreie ausstoßen, in das Gefühl, daß das Herz platzen, daß der Körper zerspringen wird wie Glas. Und deshalb läuft das Gehirn zum Feind über: Sex wird nicht mehr erlebt, sondern vielmehr von außen gesehen. Die physische Erfahrung der Sexualität wird zur intellektuellen Übung degradiert, die es wieder erträglich macht, mit einem Mann zu schlafen.
Beim Küssen ist man dem anderen viel näher als beim Sex. Und ähnlich ist es mit Umarmungen. Sie bringen keine sexuelle, sondern eine emotionale Intimität zum Ausdruck. Sie sind eine Geste, mit der eine Person der anderen signallsiert, daß sie ihr am Herzen liegt, und dieses Konzept konnte ich nicht verstehen. Der Kontakt mit einem anderen Menschen erinnert einen daran, daß man ebenfalls ein Mensch ist, und bedeutet, daß man als solcher geliebt wird. Kein Wunder, daß ich mit dieser Vorstellung Probleme hatte. Immerhin war ich der Meinung, daß ich weder Fürsorge noch Kontakt verdient hätte. Die Berührung durch einen anderen Körper erinnert einen daran, daß man selbst ebenfalls einen Körper hat, eine Tatsache, die man mit aller Macht zu vergessen versucht.
Duane war der erste, der sich seinen Weg in mein Gehirn bahnte. Über die simple Tatsache hinaus, daß er mich umarmte und mich zum Lachen brachte, tat er etwas, daß ich im nachhinein für viel wichtiger halte: Er sorgte dafür, daß ich an jemand anderen dachte als nur an mich selbst. Meine überzogenen Versuche, mich selbst zu schützen, wurden in der Folgezeit zu einem großen Teil in den Wunsch verwandelt, ihn zu beschützen. Der ungeheure Schmerz, den ich verspürte, wurde durch seinen Schmerz ins rechte Licht gerückt, denn seiner war viel viel schlimmer als meiner - und mit seinen elf Jahren kam er damit verdammt noch mal erheblich besser zurecht als ich. Bis zu dem Zeitpunkt, als er das Lowe House im darauffolgenden Sommer verließ, waren wir ein seltsames, kleines Paar. ich saß bei ihm, wenn er wieder einmal stundenlang schwieg, und versuchte auf mentalem Wege, etwas Licht in das Dunkel zu bringen, das in jenem kleinen Hirn lauerte. Er saß neben mir auf der Couch und versuchte, mich zum Lachen zu bringen, wenn ich weinte, nach einem Telefonat mit meinen Eltern, in dem wir uns nur angeschrien hatten, oder nach einem Tag Heimurlaub, der schlecht gelaufen war. Ich wußte, und sagte es ihm auch, er würde es schaffen, daß man eine Pflegefamilie für ihn fände. Er glaubte, daß niemand ihn jemals aufnehmen würde. »Ich bin zu wütend«, bellte er, »Ich werde niemals eine Familie finden, weil ich immer so WÜTEND werde.« Und er steigerte sich in einen seiner Anfälle hinein. »Werd nicht wütend. Du findest ganz bestimmt eine Familie, die dich aufnimmt, und sie werden dich lieben, weil du so ein prima Kerl bist«, versicherte ich ihm.
Und er sagte: »Ich bin froh, daß du meine Schwester bist.« Ich antwortete: »Ich auch.« Er sagte: »Ich finde, heute solltest Du besser etwas essen.« Ich wandte den Blick ab.
Meine Probleme wurden in meiner Akte dokumentiert. Das größte bestand in meiner Angst vor Intimität.
Ich lehnte sie vollkommen ab; keine Verbindungen, kein körperlicher Kontakt, keine Zurschaustellung von Gefühlen. Sie wiesen mich darauf hin, daß ich nur zwei Gefühle kannte: wütend und gut. »Aber gut ist kein Gefühl«, sagten sie. Ich saß da, mit ausdruckslosem Gesicht, ungerührt, und versuchte, ein Wort zu findea, mit dem ich beschreiben konnte, was ich fühlte.
Ich fühlte mich flach. Ich fühlte mich zweidimensional, nur vorne und hinten. Aber das stimmte auch nicht. Sie gaben mir eine Liste von Gefühlen mit dazugehörigen Abbildungen von Gesichtern. Ich sah sie mir aufmerksam an. In den Gemeinschaftstreffen (zweimal täglich) krähte ich, erfreut über mich selbst: Ich fühle mich gleichgültig! Sie gaben mir ein detailliertes Beschäftigungsprogramm, mit dem ich nach dem Verlust meiner Bücher die Zeit füllen konnte. Ich sollte täglich spielen. Ich mußte! Ich fand das sehr verwirrend. Die Betreuer erklärten mir, daß ich, wie die meisten Kinder auf der Station (bei dem Vergleich sträubten sich mir alle Haare), niemals ein richtiges Kind gewesen sei und die verlorene Zeit jetzt nachholen müsse. Ich widersprach, starrte auf die Buntstifte vor mir, konnte genausowenig etwas damit anfangen wie mit einem leeren Teller. Aber was bedeutet spielen? fragte ich den verschwindenden Rücken einer Betreuerin. Was soll ich spielen? Sie lächelte mich an. Ich bin sicher, daß dir etwas einfallen wird, sagte sie. Und da saß ich nun und wünschte mir leidenschaftlich, ein Buch in der Hand zu haben.
Schließlich übertrugen sie Duane die Aufgabe, mit mir zu spielen. Langsam wurde es besser. Bald machten wir zusammen Collagen, bauten riesige Lego-Schlösser und Kartenhäuser, obwohl letzteres oft mit unserem Frustrationsproblem kollidierte, so daß Duane einen seiner Wutanfälle bekam und wie eine Furie den Flur hinunterraste, während ich ein paar Stunden lang nur mit ausdruckslosem Gesicht dasaß und vor mich hin starrte: katatonischer Stupor. Zweimal täglich sollte ich ein Gespräch mit einem meiner Betreuer führen. Außerdem sollte ich, sehr zu meiner Freude, Tagebuch schreiben.
Endlich würde ich also wieder jene »intelligenten« Gespräche führen, nach denen ich mich so sehr sehnte. Sie waren eine Gelegenheit, meine Version von zwischenmenschlichem Kontakt zu leben - geistig, abgehoben, ein Monolog aus Klagen oder ein Mittel, um mit den Betreuern Streit anzufangen. Doch schon bald öffneten die Therapiesitzungen Türen, die ich lieber verschlossen gehalten hätte. Die Betreuer waren nicht dumm. Sie ließen den Köder liegen, den ich ihnen hinwarf, und begannen meine Bluffs beim Namen zu nennen, und zwar schneller, als ich erwartet hatte. Sie weigerten sich einfach, mit mir zu streiten. Ich machte eine schneidende, brillante Bemerkung über die unendlichen Fehler des Betreuungsprogramms, die Betreuer, das Essen, die ständige Betatscherei, von der sie so viel hielten, und sie saßen einfach nur da und warteten darauf, daß ich mich mit der Tatsache auseinandersetzte, daß ich mich zutiefst gedemütigt fühlte, weil ich mich in eine Situation wie diese hineinmanövriert hatte. Sie hielten einen Spiegel in die Höhe und zwangen mich, hineinzusehen.
Ich wollte nicht. In diesen ruhigen Stunden, durch die geduldige Anwesenheit von Menschen, die sich seltsamerweise um mich sorgten, konnte ich nicht mehr umhin, mich der Tatsache zu stellen, die ich die ganze Zeit über nicht hatte wahrhaben wollen: Ich haßte mich und glaubte nicht, daß ich es verdient hatte, weiterzuleben.
Auch in meinem Tagebuch, das ich am Anfang noch als vertraut und tröstlich empfand, wurde es bald unmöglich, mich selbst zu meiden. Natürlich beschrieb ich in wildem Gekrakel, wie alle Welt mir Unrecht tat, daß ich Recht und sie Unrecht hatten, bis schließlich selbst mir schmerzhaft bewußt wurde, daß ich log. Mein großtuerisches Gehabe, meine Arroganz, meine Überheblichkeit, meine laute Stimme, mein höhnisches Rührmichnichtan-Gebahren, alles war gelogen. Ich war eine einzige, große Lüge, und jetzt hatte man mich erwischt und als Farce entlarvt.
Ich wußte nicht, was unter meiner Haut lag. ich wollte es auch nicht wissen. Ich vermutete, daß es etwas Schreckliches war, etwas Weiches und Schwaches und Wertloses und Dummes und Kindisches und Weinerliches und Bedürftiges und Fettes.
Ich begann, mir die Haare abzuschneiden. Natürlich, denn was kann man sonst noch tun, wenn das eigene Repertoire an Gefühlsäußerungen auf das Blinde, das Zwecklose und das Bizarre beschränkt ist. Jede Woche wenn meine Eltern zu Besuch kamen, hatte ich weniger Haare. Ich bat um eine Schere, um Begleitung zum Badezimmer, saß auf dem Badewannenrand, zog eine Handvoll Haare von meinem Gesicht weg, schnitt. Und schnitt. Eines Tages warf ich im Spiegel einen Blick auf mein Gesicht: ein böses, höhnisches Grinsen, der Mund verzogen und weiß. Ich schnitt so lange, bis der Betreuer die Finger sanft von der Schere löste, sie an sich nahm und mich in mein Zimmer zurückbrachte. Dann saß er auf meiner Bettkante, während ich mit dem Gesicht nach unten in den Kissen lag und mit den Fingern über die rauhen Stoppeln meines Haares fuhr. Dann eine Seite rasiert, dann die andere, dann den ganzen Kopf. Ich saß beim Abendessen, beobachtete, wie David mit seinen kahlen Erbsen spielte und wie ein Verrückter vor sich hin lachte. An dem Abend, als ich sie vollkommen abrasierte, nahm mich ein Betreuer namens Mark, dessen freiheitliche Grundeinstellung ich besonders respektierte und fürchtete, beiseite. Er sah mir aufmerksam ins Gesicht und sagte: »Marya, dein Haar.« Ich sagte: »ja, und?« und verschränkte die Arme vor der Brust. Er beugte sich zu mir herunter und flüsterte: Egal wie dünn du wirst, egal wie kurz du dir das Haar schneidest, darunter bist und bleibst du du selbst. Und dann ließ er meinen Arm los und ging den Flur hinab.
Ich wollte nicht ich selbst sein. Ich wollte das Selbst, das darunter lag, töten. Dieser Wunsch verfolgte mich jetzt Tag und Nacht. Wenn man erkennt, daß man sich über alle Maßen haßt, wenn man erkennt, daß man den Menschen, der man ist, einfach nicht ertragen kann und daß dieser tiefe Widerwille seit vielen Jahren das zugrundeliegende Handlungsmotiv ist, dann kommt das Gehirn nicht so recht damit klar. Es versucht nach Kräften, diese Erkenntnis zu umgehen; es versucht bis zum letzten  Atemzug, die verbleibenden Teile des Selbst am Leben zu erhalten, den Rest, der übrig geblieben ist, neu zu erschaffen. Ich glaube, dieser Zustand ist deutlich von dem Wunsch zu unterscheiden, sich das Leben zu nehmen, weil die Schmerzen so stark sind, daß der Tod als Erleichterung erscheint. Er unterscheidet sich von dem Suizid, den ich später versuchen werde, der Flucht vor der Qual. Vielmehr ist es der Wunsch, sich selbst zu ermorden; die Konnotation von umbringen ist in diesem Zusammenhang zu schwach. Man glaubt, daß man es verdient hat, langsam, qualvoll und gewaltsam zu sterben. Ohne mir dessen vollkommen bewußt zu sein, hatte ich den Hungertod als Marter gewählt. Wenn Menschen Selbstmord begehen wollen, suchen sie sich normalerweise eine Methode aus, die ihnen am wenigsten Schmerzen bereitet, bei der sie nur ganz kurz leiden müssen. Doch meine Situation war anders.
Auf der Station gab es ein Mädchen, das unglaublich unglücklich war. Sie schnitt sich mit allem, was ihr in die Finger kam. Glasstücke, die sie auf der Straße fand, sparte sie sich für ihre privaten Augenblicke unter der Bettdecke auf. Eine scharfe Kante am Fenster, die zufällig übersehen worden war. Die anderen Patienten aus unserer Gruppe versuchten, sie zu verstehen, versuchten, sie zu fragen: Aber warum? Sie zuckte die Achseln und blickte auf ihre Hände hinab. Ich erzählte meinem Vater von ihr. Ich erinnere mich noch an sein Gesicht, besorgt, gequält; er sagte: mein Gott. Selbstverstümmelung. Und er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht verstehen«, sagte er.
Ich verstand es.
Tatsächlich verstand ich es so gut, daß ich ein paar Jahre später genau das gleiche tat. Nachdem meine Eßstörung »vorbei« war, suchte ich verzweifelt nach etwas anderem, mit dem ich mich zerstören konnte. Ich fand heraus, daß Rasierklingen dazu hervorragend geeignet sind. Was dieses Mädchen im Lowe House tat, fand ich vollkommen nachvollziehbar. Ich hatte das Gefühl, daß wir unterschiedliche Mittel anwandten, daß unsere Ziele jedoch sehr ähnlich waren. Den Körper wegzuschneiden - symbolisch und tatsächlich - die unvollkommene Seele herauszuschneiden.
Ich sprach nicht über die quälenden Erkenntnisse, die ich in den Augenblicken hatte, in denen ich allein war. Ich sprach über die Beziehung zu meinen Eltern, zumindest bis zu einem bestimmten Grad. Damals hatte ich wie heute das Gefühl, daß meine Eltern nur ein Teil eines größeren Problemkomplexes waren. Mit der Zeit sprach ich immer mehr über die Rolle meiner eigenen Persönlichkeit - über das Bedürfnis, mich mächtig zu fühlen, über den Wunsch, unter allen Umständen erfolgreich zu sein, über die üblichen Schuldigen wie Perfektionismus, angeborene Trauer, Wut. Selbst damals im Lowe House war mir klar, daß etwas Größeres dies in mir ausgelöst hatte. Selbst damals schienen mir die einfachen Erklärungen vom niedrigen Selbstwertgefühl, von den Fehlern der Eltern, der Vorbilder in den Medien als Gründe für meine Entwicklung nicht auszureichen. Sie hatten etwas mit meiner Eßstörung zu tun, das ganz sicher. Aber über den Teil, der unausgesprochen in meinem Hinterkopf lauerte, sagte ich nichts. Weil es keine positive Möglichkeit gibt, darüber zu reden.
Dieser Teil war ich. Das Zusammenspiel meiner Erziehung, meiner Familie und der Kultur, in der ich aufgewachsen war, mit meinem eigenen Charakter entzog sich meinem Verständnis und ich wollte es auch nicht verstehen. Ich wollte mich nicht mit der Tatsache auseinandersetzen, daß es etwas in mir gab, das diese Entwicklung überhaupt erst möglich gemacht hatte. Ich wollte mich nicht mit der Tatsache befassen, daß ich zwar vielleicht nicht »so auf die Welt gekommen« war, aber doch Charakterzüge und Neigungen besaß, die mich dorthin gebracht hatten, wo ich jetzt war. Das Problem lag einfach in meinem Gehirn. Trotz der Liebe, die meine Eltern mir geschenkt hatten, trotz der Unterstützung, die ich durch Freunde und viele andere Menschen in meinem Leben erfahren hatte, hatte ich eine unersättliche Neugier, die Grenzen meines Selbst auszuloten. In Kombination mit meinem Selbsthaß war diese Neugier gefährlich. Ich konnte meiner Umwelt niemals ganz erklären, daß ich, neben allen anderen, offensichtlicheren Faktoren, einfach auch sehen wollte, was passieren würde.
Diese Neugier war noch nicht gestillt.
Während meines Aufenthaltes im Lowe House änderte sich einiges.
Ich begann, mein Leben neu zusammenzusetzen, die Erinnerungen zu einer Patchwork-Decke zusammenzunähen, die auf eine chaotische Art Sinn ergab. Als ich ankam, konnte ich mit niemandem über mich selbst reden. Lange Phasen meines Lebens waren ausgelöscht, entweder hatte ich sie völlig vergessen, oder ich konnte sie nicht mehr in einen Zusammenhang einordnen. Wenn man nicht sagen kann, wer man ist oder welche Vergangenheit man hat, wenn man auf sich selbst reduziert ist, nicht mehr als ein Skelett mit ein paar merkwürdigen Auszeichnungen, kann man auch nicht das Gefühl entwickeln, ein vollständiger Mensch zu sein. Ich bat meine Eltern, all ihre alten Photoalben mitzubringen, fragte sie lang und breit über ihre Vergangenheit aus, über ihre Ehe, meine Kindheit, über das, was sie bei bestimmten Ereignissen gedacht hatten, fragte sie, was hier, da und dort geschehen war.
Langsam und widerstrebend begannen sie, mir die Dinge ins Gedächtnis zu rufen. Häufig fragten sie mich ungläubig: Und du kannst dich wirklich nicht mehr daran erinnern? Wenn ich verneinte, sah meine Mutter voller Bitterkeit aus dem Fenster und sagte: Wie schnell unsere Kinder doch vergessen!
Ich begann, mich zu erinnern. Doch dies war ein zweischneidiges Schwert.
In dem sicheren Refugium einer übergroßen, gepolsterten Zelle gaben mir die Erinnerungen ein paar Antworten auf die Frage, wie und warum all das geschehen war. Und ich befand mich an einem Ort, an dem ich mich relativ sicher fühlen konnte, selbst wenn ich einen - wenn auch vorsichtigen - Blick auf mein Problem riskierte. Dies war die positive Seite. Ich entwickelte ein Gefühl dafür, wer dieser Mensch war, von dem sie sprachen, wenn sie meinen Namen nannten. Die Erfahrung war zwar schmerzhaft - ich wurde mit einem tiefen und
übelkeiterregenden Haß auf das Kind, das ich gewesen war, auf die unmenschliche Kreatur, für die ich mich hielt, konfrontiert, und ich verstand, daß ich mich irgendwie mit ihr würde versöhnen müssen, wenn ich ein vollständiger Mensch werden wollte. Trotzdem gab mir diese Erfahrung etwas, das ich dringend brauchte: den Ausgangspunkt einer Ordnung. Das Gehirn sehnt sich nach Ordnung, und ich stürzte mich auf die fehlenden Erinnerungsstücke mit einem Hunger, der nur auf ein Wiedererwachen meines Überlebensinstinkts zurückgeführt werden kann. Ich wollte verstehen, und in gewisser Weise wünschte ich mir, gesund zu werden.
Die Kehrseite der Medaille bestand darin, daß meine Selbsterkenntnis mich zu Tode ängstigte. Die unbekannte Ordnung, der ich mich näherte, schien erheblich gefährlicher zu sein als die Störung, die ich kannte.[19] Und als ich das Lowe House verließ und kränker wurde, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, war dies eine um so traurigere Entwicklung, als ich dies in dem ständigen, schrecklichen Wissen tat, daß ich der Gesundheit so nahe gekommen war und mich dann der Mut verlassen hatte.
Der Schnee schmolz, über Nacht kamen die Blätter heraus, wie jedes Jahr. Mein Hausarrest wurde aufgehoben, und ich konnte zusammen mit der Gruppe an Ausflügen teilnehmen. Wir gingen zum Krankenhaus-Swimmingpool ein paar Straßen weiter - ich schwamm, wie die meisten anderen Mädchen auch, in einem langen T-Shirt, weil ich mich meines Körpers schämte - wir gingen ins Kino oder machten Ausflugsfahrten. Meine Eltern erinnern sich, daß ich in dieser Zeit mehr Gefühle zeigte, daß ich sogar hin und wieder lachte, daß ich wieder begann, Anteil an der Welt zu nehmen - ein Kind auf der Schaukel im Park, eine Frau mit einem lustigen Hut in dem Café, in dem wir jetzt unsere Zeit gemeinsam verbringen durften, ohne daß eine Aufsichtsperson dabei war. Ich bekam sogar Freigang, zuerst durfte ich für ein paar Stunden nach Hause, dann durfte ich über Nacht bleiben, dann ein ganzes Wochenende. Ich erinnere mich nur sehr vage daran. In der Hauptsache erinnere ich Mich, daß ich mich stärker fühlte und beinahe glücklich war.
Meine Zimmergenossin Joan - Selbstmordversuche, von der Mutter mißhandelt, vom Vater verlassen, verschiedene Pflegefamilien - und ich überwanden unser Problem, Nähe zuzulassen, und wurden Freundinnen. In meiner Akte wird - unter »positive Entwicklung« vermerkt, daß wir jede Menge Ärger bekamen, weil wir noch stundenlang redeten, nachdem das Licht schon aus war, weil wir zu laut lachten, weil wir uns eben im großen und ganzen wie Teenager benahmen. Sie lachte mich aus, wenn ich auf dem Bett stand und kreischte, »Mein Hintern!« - »ja, Mar«, sagte sie dann, »du hast tatsächlich einen Hintern! Und du hast ihn, damit du dich darauf setzen kannst!« Zsss, manche Leute! Bevor wir einschliefen, beide vergraben unter einem Berg aus Stofftieren, die wir seit unserer Geburt hatten, sagte sie, Nacht Mar. Ich schob meine Babydecke von der Nase und sagte Nacht Joan. Und dann herrschte Frieden in unserem Zimmer. Der sanfte Schatten der Nachtwache, der sich über unseren Kachelboden ergoß. Ein gelegentlicher Schrei und besänftigende Laute, wenn auf dem Flur wieder ein Alptraum sein Unwesen getrieben hatte.

Ich nahm nicht besonders viel zu. Die meiste Zeit über blieb ich unter meinem Zielgewicht von 51 Kilo. Je näher ich diesem Gewicht kam oder an den Tagen, an denen ich in Shawns Dienstraum auf der Waage stand und tatsächlich 51 Kilo wog, weinte ich. Denn trotz all der »Gefühlsarbeit«, die ich leistete, ein Schritt vor und zwei zurück, trotz all der positiven Auswirkungen, die sie auf meine Beziehungen hatte, ebenso wie auf mein Selbstwertgefühl und so weiter, war ich nicht vollkommen davon überzeugt, daß ich in der Lage sein würde, ohne eine Eßstörung weiterzuleben, weshalb ich mich nicht kopfüber in die Genesung stürzte. Ich glaube, ich hatte die Vorstellung, daß, wenn ich etwas glücklicher wäre, meine Eßstörung einfach nicht mehr so wichtig wäre. Vielleicht könnte ich ja eine kleine Eßstörung haben, wenn ich herauskam, mich aber eben nicht gar so elend fühlen. Einfach nur »ganz normal Diät halten« wie »jeder andere auch«. Du liebe Güte. In der gleichen Situation wäre wohl ein Alkoholiker, der beschließt, nur noch in Gesellschaft zu trinken, oder - wie ich es kürzlich lächerlicherweise versucht habe - ein Kettenraucher, der beschließt, nur noch auf Parties zu rauchen. Natürlich war es ungeheuer beängstigend für mich, ein paar der typischen Verhaltensweisen aufzugeben, die zu einer Eßstörung gehören. Was, wenn ich vergaß, wie es ging? Was, wenn ich, was Gott verhüten möge, alle Kontrolle über mich verlöre und mich entschließen würde, gar keine Eßstörung haben zu wollen? Ich stellte mir vor, wie ich mich wie wir es in unserer gemeinen, kleinkarierten Gesellschaft formulieren - »gehen ließ«, wie ich mit zerzausten Haaren auf dem Sofa herumlag und die ganze Zeit über entspannt war. Erst viele Jahre später erkannte ich, daß »sich gehen lassen« auch andere Konnotationen hat. Sich selbst zu befreien beispielsweise von einer tödlichen Störung und dem Zwang, immer geschminkt zu sein.
Es dauerte eine Welle, bis sie bemerkten, daß ich schon seit einigen Monaten um 5 Uhr morgens aufwachte, so leise wie möglich ans Waschbecken in unserem Zimmer schlich, ganz leicht den Hahn aufdrehte, gerade genug, daß ein feiner Wasserstrahl langsam die Wand einer dieser großen Plastikbecher hinabrann. Ich trank erst ein Glas, dann wieder eines, dann noch eins und noch eins, sah zu Joans schlafender Gestalt hinüber, während ich leise schluckte. Wahrscheinlich trank ich jeden Morgen vier Liter, dann legte ich mich ins Bett und wartete, bis es Zeit zum Aufstehen war. Ich hielt es zurück, bis ich das morgendliche Wiegen hinter mir hatte, dann bat ich, während des Unterrichts zur Toilette gehen zu dürfen. Meine Blase war kurz vorm Platzen.
Eines Tages in der Schule winkte mich ein Betreuer in den Flur hinaus und reichte mir einen Becher, um hineinzupinkeln. Ich widersprach. Aber ich hatte keine Chance. Mein Urin war so verdünnt, daß er fast gar nicht mehr als Urin durchging. Das war das Ende. An diesem Nachmittag fiel mein Gewicht auf magische Weise auf den Wert zurück, den es bei meiner Einweisung gehabt hatte, und ich bekam wieder Hausarrest.
Als ich meine Privilegien dann wiederhatte, bekam ich Urlaub und kam 3 Kilo leichter wieder zurück. Ich habe keine Ahnung, was damals geschah. Ich vermute, daß ich einfach nicht genug aß und zuviel herumlief. Wenn man in einer schlechten körperlichen Verfassung ist, verliert man häufig im Handumdrehen ein paar Pfund, wie mir mein jetziger Arzt immer wieder versichert. Jedenfalls verdächtigten sie mich, Abführmittel genommen zu haben, und ich schrie und brüllte, daß ich keine eingenommen hätte - ehrlich. Ich sagte ihnen: »Machen Sie einen Bluttest, um Himmels willen!« Doch das taten sie nicht. Sie durchsuchten mein Zimmer. Und fanden, natürlich, meinen Vorrat an Abführmitteln.
Es sah nicht allzu gut für mich aus.
Ich weinte. Abführmittel hätten mich umbringen können, deshalb hätte ich genausogut eine geladene Waffe zwischen meinen Sweatshirts im Schrank verstecken können. Das Betreuungspersonal legte mir das Höchstmaß an Einschränkungen auf, schlimmer noch als Hausarrest oder Zimmerarrest oder sonst irgend etwas. Zunächst stand ich wieder rund um die Uhr unter Bewachung. Weinend saß ich auf einem blauen Plastikstuhl im Flur vor dem Dienstraum der Betreuer. Sie brachten mir das Essen auf einem Tablett. Ich erinnere mich, daß ich versuchte, es zu essen, und daß ich so sehr weinte, daß ich es einfach nicht herunterschlucken konnte, mein Bissen Kartoffelpürree war tränendurchtränkt und fiel mit einem salzigen, traurigen Platsch von der Gabel. Keiner durfte mit mir reden. Alle anderen Kinder gingen einfach vorbei, versuchten, mir unmerklich zuzuwinken oder meinen Blick auf sich zu lenken und ein Hi mit den Lippen zu formen. Duane hatte mehrere Anfälle hintereinander. Ich war wütend auf mich selbst. Ich wußte sehr genau, daß ich meinen Aufenthalt hier um einige Monate verlängert hatte.
Im Sommer wurde ich sehr unruhig. Das Wetter war herrlich. Ich war gesünder, begann einigermaßen normal zu essen, teilweise weil ich mit auf die Ausflüge wollte die man auf der Station plante. Wir wanderten in den Taylor's Falls im Süden Minnesotas. Auf ein paar Fotos trage ich den alten Fischerhut meines Vaters, einen Rucksack auf dem Rücken, beinahe ein Lächeln auf den Lippen. David runzelt die Stirn, meine Zimmernachbarin Joan sieht verängstigt aus, Duane grinst wie ein Verrückter, die Betreuer sehen vergnügt aus, ein sonniger Tag, wir stehen auf einem großen Felsen. Dann zelteten wir. Ich tat, als stünde ich über der ganzen Sache Zeltlager, du meine Güte - aber trotzdem tat ich in den Wochen davor kaum etwas anderes als essen, damit ich mitgehen durfte. Wir segelten, wanderten, machten Lagerfeuer und aßen Pfannkuchen zum Frühstück. Damals erinnerte ich mich plötzlich daran, wie sehr ich Pfannkuchen gemocht hatte, und ließ - in einem Anfall absoluter Hemmungslosigkeit - jede Menge Sirup darauftropfen. Ich erinnere mich an die Nachmittage, zwischen Pferderücken und Schwimmengehen, an denen ich lang und breit mit einer verwirrten Betreuerin darüber diskutierte, ob ich richtige Limonade trinken sollte. Ob ich dadurch zunehmen würde? fragte ich mich besorgt. Sie sagte, daß sie es sehr bezweifelte. Und außerdem, sagte sie, öffnete eine Cola und grinste mich an, Warum ist das so wichtig? Ich trank die prickelnde Orangenlimo langsam, Schluck für Schluck, und sagte mir immer und immer wieder, daß es nur Zucker sei. Also nicht so schlimm.
Auch von diesem Ausflug existieren ein paar Fotos; ich sitze am Ruder eines Bootes, das Haar fängt wieder an zu wachsen, fast ein Bürstenschnitt, trage eine Sicherheitsweste und Shorts, aus denen - aus heutiger Sicht betrachtet - bemitleidenswert dünne Beine hervorblicken. Auf diesem Bild lächele ich eindeutig, ein herrliches, breites Ich-stehe-am-Steuer-Grinsen. Wir fuhren in eine Meierei am anderen Ufer des Sees, wo ich einen ganz kurzen Anfall hatte, weil sie kein fettfreies, gefrorenes Joghurt hatten. Dann riß ich mich zusammen, lächelte dem grimmig dreinblickenden Betreuer und Joan, die mir in den Arm kniff, zu und bestellte mit lauter Stimme ein Mr. Freeze Eis. Und dann schleckte ich es auf. Auf einem Bild strecke ich der Kamera die kirschrote Zunge heraus.
Langsam ging es mir besser. Und das jagte mir ungeheure Angst ein. Aber ich fühlte mich sicher. Ich hatte das Gefühl, vielleicht doch mit dem Leben zurechtkommen zu können. Ich hatte mit ein paar Menschen Freundschaft geschlossen, die eigentlich keinen Grund hatten, mich zu mögen. In gewisser Weise hing ich sogar an meinen Betreuern. Ein Foto zeigt Joan und mich, zusammengerollt auf unserem Bett. Wir sehen aus wie die Teenager, die wir tatsächlich waren; über meinen Knien liegt eine Decke, Joan macht mir mit den Fingern Hasenohren, und zwischen uns liegt ein Teddybär.
Ich wollte beides: gehen - mit einer ähnlichen Sehnsucht, wie man sie empfindet, wenn man eine Weile krank im Bett gelegen hat - und bleiben. Weil ich glücklich war. Und weil ich Angst davor hatte, entlassen zu werden. Ich hatte mich vorher nie wohl in meiner Haut gefühlt, niemals wirklich, und jetzt begann ich, es zumindest ansatzweise zu tun. In der Therapie arbeitete ich tatsächlich hart, versuchte, zu begreifen, wer ich war und warum das genug war. Im Spätsommer blätterte ich das Vorlesungsverzeichnis für das Herbsttrimester der University of Minnesota durch.[20]
Ich erinnere mich an einen Tag Anfang September, als ich auf dem Fenstersims saß und auf die Straße hinabblickte. Ich schrieb gerade in mein Tagebuch. Und aus irgendeinem Grund traf es mich wie ein Baseball in die Magengegend: Ich würde das hier aufgeben müssen. Die Eßstörung. Ich mußte es loslassen. Nicht einen Teil, alles. Ich konnte das Lowe House nicht verlassen und einfach nur hier und da etwas »Diät halten«. Kein Zählen von Kalorien, Kohlehydraten oder Fett mehr! Gar nichts. Ich würde draußen genauso essen müssen, wie ich es drinnen tat: normal.
Und ich glaubte nicht, daß ich es schaffen würde.
Und dann tat ich etwas, das ich seitdem immer bereut habe. Eines Tages, in der abendlichen Therapiegruppe, sprach ein Mädchen über ein beängstigendes Erlebnis, das sie an diesem Tag gehabt hatte: Ein Mann hatte sich ihr im Park genähert und sie zu Tode erschreckt. Dadurch kamen all unsere Probleme mit Mißhandlung und Angst und unangemessenem Verhalten etc. hoch, so daß auf der ganzen Station Chaos herrschte. Ich stand auf und ging aus dem Zimmer, setzte mich im Flur auf einen Stuhl und fing an zu heulen. Ein Betreuer kam hinter mir her. Nach ein paar Minuten sagte ich ihm, schluchzend und keuchend, daß ich als Kind von Männern im Theater meines Vaters sexuell mißbraucht worden sei.
Das war eine Lüge.
Keine vorsätzliche. Sie kam mir in den Sinn, und ich spuckte sie aus. Das Unbewußte ist nicht immer ein Verbündeter der guten Anteile des Selbst, es ist nicht immer identisch mit der »Intuition«, die uns auf magische Weise auf die sonnendurchflutete Lichtung mit dem Regenbogen führt, wo die Gesundheit wohnt. Manchmal ist es das reine Es, der reine, ungehemmte, niedere Trieb. In diesem Fall war es das niedere Bedürfnis, um jeden Preis an meiner Eßstörung festzuhalten. Kurz nachdem ich es ausgespuckt hatte, erkannte ich, was für eine Wirkung es haben würde. Meine restliche Zeit im Lowe House verbrachte ich damit, mich mit diesem Nicht-Problem auseinanderzusetzen. Es war ein Alptraum. Meine Eltern waren erschüttert - zumindest für kurze Zeit. Dann überlegten sie sich, daß so etwas gar nicht passiert sein konnte. Alle Therapeuten waren stolz, weil ich mit diesem schwierigen Problem so gut fertig wurde. Alle waren beinahe erleichtert, daß es einen hübschen, faßbaren Grund für meine totale Entkörperlichung gab, für meine selektive Amnesie, meine Schlafstörungen, meine Promiskuität, meine Angst vor Männern, meine Probleme mit Intimität, mein Problem mit Vertrauen, eben für alles. Alles ließ sich auf den Mißbrauch zurückführen, der niemals stattgefunden hatte. Im Grunde warf ich eine Bombe nach rechts, und jeder jagte ihr hinterher, während ich die Bühne auf der linken Seite verließ. Ich schuf mir meine Strohpuppe, und sie nahm alle Schuld auf sich.
Tatsächlich zeigte ich alle Symptome eines sexuellen Mißbrauchs, ein klassischer Fall von posttraumatischem Streßsyndrom. Wahrscheinlich hatten die Therapeuten einen Mißbrauch sogar vermutet und warteten darauf, daß ich ihn »enthüllte«, wenn ich mich »sicher« genug fühlte. Sie hatten viele Gründe, mir zu glauben - ich zeigte die klinischen Symptome - und keinen Grund, mir nicht zu glauben. Aus Gründen, die nur sie selbst kennen, erzählten meine Eltern den Therapeuten nicht, daß sie meine Aussage für eine Lüge hielten. Aber im Lowe House geschah, was sich schon früher immer wieder abgespielt hatte: Meine ach so ehrlichen und offenen Enthüllungen waren bestenfalls Ablenkungsmanöver: Auf Interlochen fungierten meine tränenreichen Versuche, die Bulimie zu beenden, ausschließlich als Vorwand, um ungestört hungern zu können. Mein »aufrichtiges« Interesse an meiner Genesung im Methodist Hospital hatte einzig und allein die Beschleunigung meiner Entlassung zum Ziel. Und meine »von Herzen kommende« Erforschung des Selbst in Kalifornien sollte meine Therapeuten, meine Familie und meine Freunde einlullen, so daß sie sich auf meine »Reise ins Land der Gesundheit« konzentrierten statt auf meinen immer schlechter werdenden Zustand. Diesmal jedoch fand das Ablenkungsmanöver auf einer anderen Ebene statt. Ich wechselte vom Königreich, der unwichtigen Wahrheiten zum Königreich der Trugbilder.
Ich habe mir das selbst nie vergeben, und ich bezweifele, daß ich es je tun werde. Es war ausschließlich egoistisch, unglaublich kurzsichtig, unbestreitbar eine weitere in einer Serie von Manipulationen, die alle nur den einen Zweck hatten: mich und meine Eßstörung von den forschenden Blicken meiner Umwelt fernzuhalten. Und es wirkte.
In der restlichen Zeit meines Aufenthaltes mußte ich mich mit meinen wahren Problemen nicht mehr auseinandersetzen. Ich hatte die Lüge erzählt, um herauszukommen. Ende September schrieb ich mich an der University of Minnesota ein, die ich für das Phantastischste hielt, das mir jemals untergekommen war. Jeden Morgen verließ ich das Lowe House, nahm den Bus zur Uni, absolvierte meine Seminare, fuhr mit dem Bus zurück. Fünf Stunden Freiheit. Ich erinnerte mich daran, wie sehr ich das Denken und Arbeiten genoß. Ich erinnerte mich, daß ich tatsächlich auch noch in einer anderen Disziplin als Hungern und Kotzen gut war. Ich begann zu glauben, daß ich es draußen schaffen würde, daß alles gut werden würde. Ich schwebte förmlich durch meine Seminare, voller Adrenalin, stolz auf meinen Fortschritt, voller Hoffnung auf das Leben.
Ich begann zu glauben, daß ich »gesund« war. Wenigstens gesund genug, um zu gehen. Wenigstens nicht mehr verrückt. Ich mähte meine Ängste vor dem Abschied nieder und fing an, darauf zu drängen, entlassen zu werden. Es wurde gewährt.
Der Abschied war schwer. Ich trennte mich von Menschen, die ich zu mögen und denen ich zu vertrauen gelernt hatte. Am 5. November 1991, nach dem Abendessen, klingelte mein Vater an der Tür, half mir, mein Gepäck hinauszuschaffen. Draußen war es dunkel, der Schnee lag hoch, die Luft war schneidend kalt. Wir stiegen ins Auto. Ich zündete eine Zigarette an, er zog eine Zigarre heraus, und wir saßen da und pafften vor uns hin, grinsten, während der blaue Rauch um unsere Köpfe wirbelte.
Dann fuhren wir nach Hause.
Auf meinem Entlassungsformular lautete der letzte Eintrag:
»Geheilt?«