Warten auf Godot

Minneanapolis, 1991 bis 1992

WLADIMIR: WIR WARTEN AUF GODOT.
ESTRAGON: (VERZWEIFELT) ACH JA! (PAUSE) BIST DU SICHER DASS ES HIER IST?
WLADIMIR: WAS?
ESTRAGON: WO WIR WARTEN SOLLEN.
WLADIMIR: ER SAGTE, VOR DEM BAUM.
(...)
ESTRAGON: UND WENN ER NICHT KOMMT?
WLADIMIR: KOMMEN WIR MORGEN WIEDER.
ESTRAGON: UND DANN ÜBERMORGEN.
WLADIMIR: VIELLEICHT.
ESTRAGON: UND SO WEITER.
WLADIMIR: DAS HEISST ...
ESTRAGON: BIS ER KOMMT.
WLADIMIR: DU BIST UNBARMHERZIG.
SAMUEL BECKETT, »WARTEN AUF GODOT«[21]

Winter 1991. Ich liebte das Leben. Es war eine seltsame Zeit, und ich liebte mein Leben. Am Morgen wachte ich im Haus meiner Eltern auf, zog den Bademantel an, ging auf die Terrasse hinaus, um zu rauchen. Es war noch dunkel, in der Ferne ein violetter Schimmer, der Atem bildete dicke, kalte Wolken. Die Stille des nördlichen Morgengrauens nur durchbrochen vom Gezwitscher eines Kardinalsvogels, das Knirschen meiner Füße im Schnee, das Kratzen der Fuchspfoten, die über den gefrorenen See huschten. Ich zog mich an, ging hinauf, frühstückte, packte mein Lunchpaket zusammen, ging den Hügel hinauf zur Valley View Road, nahm den Bus Nr. 6 nach Minneapolis, beobachtete, wie die Ausläufer der Stadt der Skyline wichen. Ich las die Zeitung, lernte für die Seminare. Ich liebte das College sehr. Ich belegte Politikwissenschaften, ein Fach, in dem Dozenten und Studenten sich die Köpfe heiß diskutierten, schrieb Aufsätze, verbrachte unzählige Stunden in der Bibliothek. Ich bekam einen Job bei der Universitätszeitung, im Umweltressort, wo es glücklicherweise in jenem Jahr unglaublich viel zu tun gab. Abends, in der einsetzenden Dämmerung, nahm ich den Bus nach Hause, aß mit meinen Eltern zu Abend und ging nach unten, um zu lernen und zu arbeiten. Und Lernen und Arbeiten. Und noch mehr Lernen und Arbeiten. Diesmal gab es keinen plötzlichen Umschwung. Es ging langsam und unmerklich voran, schleichend, so daß ich es selbst nicht kommen sah. Allmählich wurden die Abende länger. Allmählich schien es immer mehr Dinge zu geben, die ich erledigen mußte. Allmählich schrumpfte das Frühstück. Und das Mittagessen. Und das Abendessen. Diesmal gab es keinen dramatischen Augenblick, zumindest eine ganze Weile nicht. In gewisser Weise fing ich von vorne an. Aber der Weg nach unten war leicht. Um etwa 11 Uhr abends ging ich nach oben, um mir meinen abendlichen Snack zu holen: eine Schüssel mit fettfreiem Müsli, bedeckt mit Magerjoghurt, Honig, Rosinen. Eine große Schüssel mit gut durchmischtem Brei. Ich schaltete das Licht in der Küche aus, trug die Schüssel nach unten, setzte mich mit meinem Buch an den Schreibtisch und hielt es mit der linken Hand auf. Mit der rechten vollführte ich mein kompliziertes, nächtliches Eßritual: Zuerst pickte ich die Rosinen heraus und aß sie, eine nach der anderen. Dann aß ich den Joghurt, wobei ich jedes Weizenkörnchen sorgfältig mied - ich benetzte den Löffel immer nur mit einem zarten Film, den ich dann ableckte. Das dauerte natürlich seine Zeit. Wenn ich soviel Joghurt wie möglich aus der Schüssel aufgeleckt hatte, aß ich das Müsli, das zu diesem Zeitpunkt schon vollkommen matschig war, in winzigen Häppchen. Die ganze Prozedur dauerte etwa zweieinhalb bis drei Stunden. Wenn ich fertig war, rauchte ich meine letzte Zigarette und ging schlafen. Ein paar Stunden später fuhr ich wieder zur Uni. Ich hörte nicht richtig mit dem Essen auf. Ich fing einfach nur an, seltsame Dinge zu essen. Tatsächlich gibt es nicht allzu viele Anorektikerinnen, die wirklich gar nichts essen. Dieses System kann man nicht aufrecht erhalten, und das wissen selbst wir. Man muß durchaus etwas essen, um existieren zu können. Diesmal glaubte ich wirklich, daß ich genug aß. Ich glaubte sogar, genügend Spielraum zu haben, meine Nahrungsmenge zurückzuschrauben. Und das tat ich. Das Frühstück schrumpfte von Cornflakes, Obst und Saft zu nur Cornflakes, Punkt. Dann hörte ich auch damit auf, schnappte mir auf dem Weg nach draußen einen Apfel, rief meinem Vater zu, daß ich spät dran wäre und keine Zeit zum Frühstücken hätte. Ich würde mir etwas in der Schule kaufen. An der Bushaltestelle landete der Apfel mit einem hohlen Plong in der Mülltonne. Das Mittagessen, das am Anfang aus einem normalen Sandwich und Obst bestanden hatte, verwandelte sich bald in kalorienarmes Brot - es schmeckte wie Luft und ist auch genauso sättigend mit fettarmer Mayo und Senf, einem Stück Tomate und einer Scheibe Halbfettkäse. Ich aß weiterhin mit meinen Eltern zu Abend, weil ich mich davor nicht drücken konnte. Natürlich begann ich, abzunehmen. Nicht schnell. Gerade genug, daß meine Periode wieder aussetzte, gerade genug, daß mir wieder kalt wurde. Und gerade genug, daß meine Gedanken wieder mehr und mehr um mein Gewicht kreisten. Samstags blieb ich zu Hause, saß am Küchentisch, starrte auf die großen Schüsseln aus Tiefkühlmais und Tiefkühlerbsen aus der Mikrowelle, die vor Salz und Butter troffen. Zuerst aß ich die Erbsen, dann den Mais. Immer eine auf einmal. Mit der Gabel. Manchmal aß ich ein Stück geschmolzenen Halbfettkäse auf einer Scheibe kalorienarmem Brot. Aber ich aß. Meine Eltern waren besorgt, versuchten aber, sich nichts anmerken zu lassen. He, aber ich esse doch! Versicherte ich ihnen, und sie nickten und rangen sich ein Lächeln ab. Ich sah auf meinen Teller mit Mais und Erbsen herunter, jagte die Erbsen, erstach sie mit den Zinken meiner Gabel, eine nach der anderen. Ich aß, aber sicher, sogar richtig »gewissenhaft«. Tatsächlich glaubte ich halbwegs daran, daß ich versuchte, gesund zu bleiben. Ich wollte einfach nur sehen, ob ich meine Anstrengungen vielleicht ein bißchen reduzieren konnte. In bezug auf das Essen, auf meine Gesundheit. Der Essensplan, den man mir im Lowe House mitgegeben hatte, veränderte sich: vor allem Fett wurde völlig vom Speisezettel gestrichen. Ich war vollkommen bereit zu essen. Nur eben kein Fett. Gar keins. Nicht die geringste Spur. Das geschieht bei Eßstörungen häufig: Wenn man erwischt worden ist, dann ändert man seine Taktik, man ändert sein Tempo oder die Art der Obsession. Ich ging langsamer vor und konzentrierte mich nicht mehr auf Kalorien, sondern war vom Gedanken an Fett besessen. Als ich das Lowe House verließ, war ich dünn, und jetzt bemerkte ich nicht, daß ich dünner wurde. Bei meinem allwöchentlichen Termin im TAMS war ich überrascht, als ich feststellte, daß ich wieder ein oder zwei Pfund leichter geworden war. Kathi machte sich Sorgen, aber nicht allzu große, noch nicht. In meiner Therapie kam ich durchaus voran, meine Tränen waren echt, ich lachte häufiger, die Begeisterung, die ich für das Leben empfand, war wirklicher und dauerhafter als früher. Ich schmiedete Zukunftspläne, die mich jetzt, wo es mir besser ging, nicht mehr so ängstigten wie früher. Gegen Ende des Winters bewarb ich mich bei ein paar Colleges, von denen keines in Minnesota lag. Wir glaubten alle, daß ich im kommenden Winter bereit sein würde, mein Elternhaus wieder zu verlassen. Ich traf mich - nichts Ernstes - mit ein paar recht netten Typen, die ich in Seminaren oder in Cafés außerhalb des Campus kennenlernte. Ich fing langsam an, wieder körperliche Empfindungen zu haben. Ich erfuhr mich hauptsächlich auf visuellem Wege - wie sehe ich aus, bin ich attraktiv, welche Macht hat mein Körper auf andere - aber hin und wieder hatte ich auch richtige Empfindungen: ein winziger Hauch von Freude hier und da. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich mit dem Mann, mit dem ich mich zu dieser Zeit regelmäßig traf, an der Bushaltestelle stand. Er zog mich an sich. Ich erinnere mich an das Gefühl seines Wollpullovers an meiner Wange, an das Geräusch seines Herzschlages viele Schichten darunter. Ich erinnere mich, wie seine Wärme mich durchströmte, und an die kalten Finger des Windes, die mir durchs Haar fuhren. Im Rückblick verstehe ich nicht, warum ich wieder rückfällig wurde. Ich hätte es besser wissen müssen, ich hätte die Lügen erkennen müssen, die ich mir selbst erzählte - ich esse genug, es geht mir gut, ich bin gesund. Ich war glücklich. Ich hatte gelernt - zumindest glaubte ich das - daß ich ein wertvoller Mensch war. Ich verstand, daß ich essen mußte, um zu leben, und ich wollte leben. Ich sagte zu mir: Das alles braucht seine Zeit, so leicht ist es eben auch wieder nicht, du kannst nicht erwarten, daß du so bald schon perfekt bist. Es kann immer wieder vorkommen, daß du kleine Rückschläge erlebst. Viel zu häufig hatte ich gehört, daß es nur ein »Ausrutscher« sei, wenn ich mich ein einziges Mal doch wieder übergab oder wenn ich für kurze Zeit wieder mit dem Essen aufhörte. Das hieß noch lange nicht, daß man rückfällig wurde. Wie lange dauert eine kurze Zeit? Sie dehnt sich aus, eine Woche, zwei Wochen, drei, und schon ist man wieder da, wo man angefangen hat.
Psychologen glauben viel zu oft, daß das Gehirn von Frauen, die an Anorexie oder Bulimie erkrankt sind, in Ordnung ist: Sei geduldig mit dir selbst, sagen sie, du mußt für dich sorgen und nett zu dir sein. Wenn ich also wieder einen halben Tag ohne Essen verbracht hatte, wenn ich mit knirschenden Schritten über die verschneite Brücke ging, die über den Mississippi führte, wenn ich meine in Fäustlingen steckenden Hände an mein erfrorenes Gesicht hielt, dann sagte ich mir: Ich muß geduldig sein, ich muß für mich sorgen und darf nicht zuviel von mir erwarten: Ich werde mich heute nicht zu sehr selbst unter Druck setzen, deshalb werde ich mittags nur einen Kaffee trinken. Ich saß an den langen Tischen in der Mensa, rauchte, beugte mich über meinen Kaffee und meine Bücher und beobachtete, wie die Menschen um mich herum lachten und aßen und ich dachte: Ist schon gut, ich gönne mir ja nur eine kleine Pause. So läuft es immer. Ich habe nie einen eßgestörten Menschen getroffen, der nicht mit einer erstaunlichen Menge vernünftiger und intellektuell nachvollziehbarer Gründe daherkommt, warum er nicht essen kann. Ich lausche meiner Freundin Connie, die mir voller Entrüstung am Telefon erzählt: »Aber ich KANN einfach nicht soviel essen, wie sie vorschreiben. Das ist doch lächerlich, daß man zu drei Mahlzeiten am Tag gezwungen wird« schnaubt sie. Ich frage sie: »Wieviel kannst du denn essen?« Und sie sagt bestimmt: »Eine Mahlzeit.« Im Krankenhaus schreien und schimpfen die Frauen, weil sie so viel essen müssen: »Aber KEINER ißt so viel!«
Unglücklicherweise ist da etwas Wahres dran. Es gibt ziemlich wenige Frauen, die normal essen. Man kommt aus dem Krankenhaus, schaut sich um und erkennt, daß der hübsche, kleine Speiseplan, den man einhalten muß weil man ihn braucht, um gesund zu bleiben nicht der Norm entspricht. Man beginnt also, die Kalorienzufuhr zu reduzieren. Weiter und immer weiter. Man vergißt, daß man die Gewohnheit hat, zu reduzieren, bis nichts mehr übrig ist. Zu meiner Familie und meinen Therapeuten und Freunden sagte ich: Ich esse ja; mir geht es wirklich besser; natürlich habe ich immer noch ein etwas merkwürdiges Verhältnis zum Essen. Aber ich arbeite dran, verdammt.
Und manchmal dachte ich an den Tag im Lowe House, als ich am Fenster saß und mir klar wurde, daß ich all das aufgeben mußte. Ich wußte sehr genau, daß ich es nicht aufgeben würde. Wie so viele von uns klammerte ich mich weiter an meine Eßstörung, wenn auch nur an einen Teil, der so winzig war, daß er mir wie ein Talisman vorkam, nichts Gefährliches, bloß ein Talisman aus Krankheit, den man in der Tasche mit sich herumträgt und zwischen Daumen und Zeigefinger reibt wie eine Hasenpfote. Ich sagte mir, daß alles gut sein würde, daß ich mich nur von diesem winzigen Teil nicht trennen würde. Und tief im Innern wußte ich, daß nichts gut werden würde.
Das Jahr rollte sich auf den Rücken und starb. Mitte des Winters hörte ich auf zu schlafen. Nach dem Abendessen fuhr ich wieder auf das Universitätsgelände, saß in einem heruntergekommenen Café, das die ganze Nacht geöffnet hatte und dessen Name sich häufig änderte. Es war dämmrig und laut, die Tische wackelten, die Stühle waren mit zerfetztem Vinyl überzogen, in das Holz der Tische waren jede Menge Worte, Gedichte, Bilder und Namen eingeritzt worden, die Wände der Toilettenräume waren vom Boden bis zur Decke mit Graffiti beschmiert, der Spiegel war von Farbe verdunkelt. Die Gäste, die dort ein- und ausgingen, waren ein gemischter Haufen: Studenten und Vagabunden, Dealer und Flüchtlinge, richtige Zuhälter und vollkommen Verrückte. Kaffee kostete fünfundsiebzig Cents und Nachschub fünfundzwanzig. Ich brachte einen Stapel Bücher und ein Notizheft mit sowie eine Packung Zigaretten, rollte mich auf einem Stuhl in der Ecke zusammen, rieb mir die Augen, die rot vom fast greifbaren Nebel aus Zigarettenrauch waren, trank Kaffee, der so stark war, daß ein Teil des Kaffeesatzes auf dem Boden der Tasse übrig blieb. Las Bertrand Russell und John Stuart Mill und Marx. Ich warf den Glasschränken mit Muffins und Keksen begehrliche Blicke zu. Wurde immer hungriger, je weiter die Nacht voranschritt. Die Musik, kratzender, hämmernder, pulsierender Lärm, zog sich während des Lesens in den hintersten Winkel meines Gehirns zurück. Gelegentlich blickte ich von den Seiten meines Buches auf, beobachtete, wie ein paar Leute sich über die Kakophonie der Geräusche hinweg etwas zuschrien oder aufmerksam auf ihre Schachbretter und Karten hinabblickten, sich hinter vorgehaltener Hand Zigaretten anzündeten, wie in der dicht gedrängten Menge die Körper gegeneinander stießen. Wenn jemand mich um Zigaretten bat, gab ich ihm welche, steckte die mir angebotenen Fünfundzwanzigcentstücke in die Tasche und bestellte mir eine weitere Tasse Kaffee, sprach kurz mit den verschiedenen Gestalten, die an meinem Tisch anhielten, Was liest du da? Wie heißt du? Du hast hübsche Augen, blätterte die Seite um und schlang meinen Fuß in den Riemen meiner Handtasche unter dem Tisch. Wenn ich zu hungrig wurde, um mich aufs Lesen konzentrieren zu können, kreisten die Gedanken wieder ums Essen. - Ob ich mir einen Muffin kaufen soll? Nur ein Muffin, ist doch keine große Sache. Soll ich? Soll ich? Blaubeere oder Himbeere? Wieviel Fett so ein Muffin wohl hat? Das sind aber große Muffins, wie viele Kalorien? - Ich schlug mein Buch zu und ging: Zur Tür hinaus, zur Straßenecke, wo eine kleine Gruppe stand, die jeden nächtlichen Passanten beobachtete. Es war ein heruntergekommener Haufen, Menschen in zerrissenen Kleidern, die lose an den dünnen Gestalten herunterhingen, Männer mittleren Alters und Mädchen unter zwanzig, junge Männer, die noch keine Dreißig waren, und sehr junge Frauen mit Babys und Kleinkindern, die sich an die kalten Metallstäbe der Straßenschilder lehnten: PARKEN VERBOTEN, EINFAHRT FREIHALTEN. Mein Atem schimmerte weiß im Dunkeln, und ich ging mit kleinen Schritten über den vereisten Bürgersteig zurück zu meinem Auto. Ich fuhr den Riverside Drive hinunter, dann den Cedar Drive, dann bog ich auf die Autobahn ab, die in die Vororte führte, 35 South nach 62 West, nahm die Kurven zu schnell, die Autobahnlichter rannen über die Windschutzscheibe, über meine Hände. Die Autobahn fast leer, die Häuser kauerten schlafend an den Abfahrten. Ich fuhr den roten Wagen meines Vaters, schnell schalten, Becher mit Kaffee in der linken Hand, Zigarette im Mund. Müde. Etwas schwummrig, sechs, sieben Stunden seit meiner letzten Minimahlzeit. Die Straßen in Minnesota im Winter sind sehr glatt. Und in diesem Winter gab es schwarzes Eis. Schwarzes Eis entsteht, wenn es heftig schneit und dann nachmittags wieder taut. Bei Sonnenuntergang fällt die Temperatur erneut, und der geschmolzene Schnee auf den Autobahnen gefriert zu einer dicken Eisdecke. Man kann nicht erkennen, daß es sich um Eis handelt, weil es ganz glatt ist und genauso aussieht wie Asphalt. Schwarz. Nach Mitternacht, sie hatten Schnee angesagt. Dichte Wolken. Kein Mond, keine Sterne, wenig Licht. Zittrig wegen des Koffeins. Ich beugte mich nach vorn über das Steuer, versuchte, etwas zu erkennen. Ich hatte meine Zigarette aus dem Fenster geworfen, hielt das Steuer mit beiden Händen fest umklammert. Zitterte.
Mein Kopf wollte nicht klar werden. Ich schüttelte ihn, als ob ich Wasser aus meinen Ohren herausbekommen wollte. Ich schaltete herunter. Ich war auf der rechten Spur. Dann die Ausfahrt, plötzlich sah ich von hinten Scheinwerfer auf mich zukommen. Ich schlingerte auf die linke Spur hinüber. Und verlor das Bewußtsein. Dann gab es ein unangenehmes, knirschendes Geräusch, einen ohrenbetäubenden Lärm, und ich wurde gegen das Lenkrad geschleudert, immer und immer und immer wieder, und dann traf mich etwas heftig am Kopf, alles drehte sich, und immer wieder kam die Leitplanke auf mich zu. Schließlich hörte es auf. Ich saß da. Ein paar Autos rasten vorüber. Dann die Lichter des Polizeiwagens, ein Beamter zog mich am Arm aus dem Auto, stellte mir Fragen, die ich nicht verstand. Ich saß in seinem Wagen, betrachtete das Wrack.
Das Auto meines Vaters hatte einen Totalschaden: Die Knautschzone war verschwunden. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Sah aus, als ob ich mit der einen Seite gegen die Leitplanke gefahren war, dann zurückgeprallt war, mich gedreht hatte, wieder dagegengedonnert war, drehen, donnern, drehen, donnern. Ich saß da und dachte über den Muffin nach. Ich hätte einen Muffin essen sollen, dachte ich. Der Nacken tat mir weh. Rauch stieg aus der zusammengefalteten Kühlerhaube des Autos auf, sehr weiß in der Dunkelheit. Der Polizist schüttelte den Kopf. »Da haben Sie aber Glück gehabt«, sagte er. Ich sagte: »Mein Vater wird mich umbringen.« Ein Abschleppwagen fuhr mich und das Auto nach Hause. Die Scheinwerfer mußten meinen Vater aufgeweckt haben, denn er stand im Pyjama auf der vorderen Veranda und sah grimmig aus.
Über das Gespräch, das folgte, bekamen wir später Lachkrämpfe, aber in jener Nacht war die Situation alles andere als komisch. Ich sprang aus dem LKW und blieb stehen. Er schrie: »WAS ZUM TEUFEL HAST DU MIT MEINEM AUTO GEMACHT?« Ich schrie zurück: »MIR GEHT ES GUT, danke! « Er brüllte: »DAS sehe ich, schließlich stehst du ja vor mir, nicht wahr? Also WAS zum TEUFEL hast du mit meinem AUTO gemacht?« Er kaufte ein neues Auto. Später erzählte er mir, daß er das ungute Gefühl nicht losgeworden sei, ich hätte diesen Unfall nur deshalb gebaut, weil ich nicht genug gegessen hatte, vielleicht, weil mir schwindlig gewesen oder ich ohnmächtig geworden war. Doch darüber sprachen wir jetzt nicht. Ich wandte mich ab und sagte: »Laß mich bloß in Ruhe.« Kurz darauf brach alles zusammen. Schon wieder. Bis zu diesem Punkt war es mir gelungen, so zu tun, als ob alles in Ordnung wäre, oder zumindest, als ob ich keine ernsthaften Probleme hätte. Doch das ging jetzt nicht mehr. Es war Januar. Eine Kältewälle überrollte das Land. Einer meiner Stiefbrüder kam mit seiner Freundin zu Besuch. Meine Eltern fuhren übers Wochenende mit ihnen nach Norden. Ich blieb zu Hause, weil ich lernen und mich auf die Seminare vorbereiten wollte, die bald wieder beginnen würden. Es war, als ob es nie eine Pause gegeben hätte: Nachdem ich den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht hatte, schloß ich die Haustür auf, öffnete sie, ging in die Küche, stellte meine Taschen auf den Boden, ging an den Schrank - den gefährlichen Schrank, den neben der Tür, wo die schlechten Nahrungsmittel, die Cornflakes, die Cracker aufbewahrt wurden - öffnete ihn, nahm die Cornflakes heraus, füllte einen Teller damit, begann zu essen. Und aß.
Ich aß, bis nichts mehr reinpaßte, ging ins Badezimmer, kotzte mir die Eingeweide aus dem Leib, wusch mir Gesicht und Hände, kehrte in die Küche zurück. Es mußte wohl einige Zeit vergangen sein, denn draußen war es jetzt dämmrig, dann dunkel. Ich schaltete das Licht ein, das strahlend und hell den gelben Raum durchflutete; der Rest des Hauses war immer noch dunkel, die Hunde im Keller bettelten immer noch darum, herausgelassen zu werden, und ich stand am Arbeitstisch und schaufelte mir Cornflakes in den Mund wie ein Automat. Dann waren keine Cornflakes mehr da, und ich ging zu Brot über, dann war das Brot alle, und ich aß Eier, Reste, Eiscreme, Kekse, hörte zwischendurch immer mal wieder auf, um im dunklen Bad zu kotzen, taumelte wieder in die Küche zurück, stieß gegen die Türrahmen und die Wände, die plötzlich merkwürdige Beulen zu haben schienen, machte weiter mit der Suppe, die mein Vater für mich gekocht hatte, damit ich am Wochenende versorgt war. Ich aß die ganze Suppe auf und erbrach sie, Nudeln und Karotten und Erbsen ergossen sich in die Toilettenschüssel, spritzten gegen die Wände, wirbelten davon, wenn ich abzog. Es war etwa Mitternacht, als ich alles, was meine EItern im Haus hatten, aufgegessen hatte, bis auf die Zitronenmarmelade, die schon so lange im hinteren Teil des Kühlschrankes stand, wie ich mich erinnern konnte. Auch das Hundefutter hatte ich nicht angerührt. Aber ich hatte es immerhin in Erwägung gezogen. Mir fiel ein, daß ich die Hunde hinauslassen mußte, also tat ich es, dann fütterte ich sie, nahm meine Schlüssel, stieg ins Auto und fuhr zum Supermarkt.
Ich wollte alle Lebensmittel wieder einkaufen, die ich aufgegessen hatte, damit niemand es merken würde. Kein Mantel, keine Mütze, keine Handschuhe. Eisig kalt und kurzatmig, schwindelig stieg ich aus dem Wagen und ging in den Laden. Die Lichter blendeten mich. Ich blinzelte und ging mit meinem Korb durch die Gänge, versuchte verzweifelt, mich daran zu erinnern, was ich gegessen hatte. Ich wußte nur noch, daß ich den Kühlschrank unzählige Male geöffnet hatte und beim millionsten Mal entsetzt feststellen mußte, daß er leer war. Aber ich hatte keine Ahnung, was meine Eltern im Hause gehabt hatten. Weg. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, ob ich sie jemals hatte essen sehen. Ich ging die Gänge auf und ab. Plötzlich stehe ich an der Kasse mit einem Korb voller Lebensmittel. Ich bezahle. Ich lade die Taschen ins Auto. Ich fahre vom Parkplatz hinunter.
Weniger als eine Meile weg von zu Hause, weiß ich nicht mehr, wie ich dorthin kommen soll. Ich gerate in Panik. Ich kann nur daran denken, daß ich etwas essen muß. Jetzt. In dieser Minute. Ich muß etwas essen, schnell, ich muß ganz viel ganz schnell essen. Mein Mund muß voll sein, ich muß etwas kauen, etwas Salziges. Ich fahre an den Straßenrand, krieche auf den Rücksitz, beginne, mich durch die Tüten hindurchzuwühlen, ziehe Dinge heraus, von denen ich gar nicht mehr weiß, daß ich sie gekauft habe, bis ich schließlich eine Tüte Kartoffelchips in der Hand halte. Ich kehre auf den Fahrersitz zurück, reiße die Tüte auf, stopfe mir eine Handvoll in den Mund, kehre auf die Straße zurück, fahre ziellos umher, bis ich eine Straße wiedererkenne und ihr nach Hause folge. Im Haus werfe ich die Taschen auf den Küchentisch, den Boden, die Arbeitsplatte und schaffe etwas Platz für mich selbst. Ich esse weiter. Ich backe mir ein paar Blaubeermuffins aus der Backmischung, während ich alles in mich hineinstopfe, das ich in die Finger bekomme, dann renne ich ins Bad - in dem verzweifelten Wunsch, mich von dem Völlegefühl zu befreien, übergebe mich, renne zurück, wünsche mir nichts sehnlicher, als die Fülle wiederzuerlangen. Ich esse, bis alles weg ist. Alles. Weg. Ich hebe den Kopf von der leeren Schüssel vor mir und erhasche einen Blick auf mein aufgedunsenes, entstelltes Gesicht, das sich im dunklen Fenster über dem Spülbecken spiegelt. Ich beuge mich runter und übergebe mich. Dann spüle ich das Becken aus, drehe das Küchenlicht aus, taste in der Dunkelheit nach dem Treppengeländer. Ich schaffe fast den ganzen Weg nach unten, bevor ich spüre, wie sich die Schwerelosigkeit durch meinen Körper schleicht, wie die Dunkelheit dunkler wird, bevor ich spüre, wie ich vornüberstürze und die Flucht ergreife, hinein in das schwarze Loch. Erst am Morgen wachte ich wieder auf, ranzig riechend, am Fuße der Treppe, in zerknitterten Kleidern. Ich setzte mich auf, mein Kopf pochte, ich führte die Hände an die Schläfen, ich ging nach oben und betrachtete das Werk der Verwüstung. Überall leere Schachteln, Packpapier und Kartons und Teller und braune Papiertüten. Der Morgen danach tat seine Wirkung. Ich hatte das Gefühl, den schlimmsten Kater der Welt zu haben, und konnte mich beim besten Willen nicht mehr an den Abend davor erinnern.
Die Amnesie gab mir die Absolution. Also tat ich es wieder. Die nächsten drei Tage. Es gibt zwei mögliche Antworten auf die Frage, warum ich nach einem Jahr ohne Bulimie sofort einen Rückfall hatte, als meine Eltern weg waren. Vielleicht, weil ich sie in meiner Nähe haben wollte, weil ich noch nicht bereit war, allein zu bleiben. Weil ich mich verlassen fühlte. Doch das bezweifle ich. Ich glaube, es war etwas anderes, etwas, das so tief verwurzelt in mir war, daß mir gar nicht der Gedanke kam, mich nicht wieder in die Bulimie zu stürzen. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht in der Küche meiner Eltern stehen, ohne an all die Lebensmittel zu denken, die ich essen könnte. In meinem eigenen Haus oder dem anderer Menschen passiert mir das nicht. Nur im Haus meiner Eltern. Ich glaube, an diesem Punkt meines Lebens war die Eßstörung nur einfach zur Gewohnheit geworden, eine Gewohnheit, die mir viel tiefer in Fleisch und Blut übergegangen war, als ich oder sonst irgend jemand es gedacht hätte. Allein die Küche meiner Eltern betätigte einen Schalter in meinem Kopf, und ein grelles Neonschild begann zu leuchten: FRISS. Ich hatte keine Angst bis zu dem Montag, dem ersten Trimestertag, als ich ins Bad ging, um zu scheißen. Als ich aufstand, war in der Toilette nichts als Blut. Meine Periode war es nicht. Ich hatte seit Jahren keine Periode mehr gehabt, abgesehen von den wenigen, kurzen Monaten im Lowe House. Ich versuchte, das Blut zu ignorieren. Aber es ging den ganzen Tag so weiter. Am Abend rief ich voller Angst den ärztlichen Informationsdienst an. Aber es gelang mir nicht, die wahrscheinliche Ursache für die Blutung zu nennen. Man riet mir, sofort einen Arzt aufzusuchen. Ich tat es nicht. Ich beschloß, daß es sicherer war, ganz mit dem Essen aufzuhören. Essen war zu gefährlich.
Offensichtlich konnte ich mit Essen nicht umgehen. Offensichtlich war ich zu schwach, hatte nicht genug Rückgrat, um normal essen zu können. Ich saß den Kopf in die Hände gestützt auf der Toilette und versuchte, meine Organe durch reine Willenskraft dazu zu bewegen, mit dem Bluten aufzuhören. Dann verließ ich die Toilette, klatschte mir Wasser ins Gesicht, ohne es genau anzusehen, betrachtete die Größe meines Hinterns im Spiegel. Fett. Ich war sicher, daß ich am Wochenende zugenommen hatte. Tonnenweise. Ich ging erneut zur Telefonzelle, rief meinen Vater an, um ihm zu sagen, daß ich später nach Hause käme. Ich mußte viel lernen. Er sagte mir, daß der Abfluß verstopft wäre. Wieder. »Im ganzen Keller ist er verstopft, Marya, kannst du mir das erklären?« Ich sagte: »Ich hatte die Grippe. Das ganze Wochenende. Eine schreckliche Grippe. Muß gehen. Tschüs.«
Selten war mir etwas in meinem Leben dermaßen peinlich. Wenn mein Stiefbruder und seine Freundin nicht dagewesen wären, wäre es vielleicht nicht ganz so schlimm gewesen. Es war mir sehr wichtig, was sie von mir dachten. Und was hatte ich getan: den Abfluß verstopft, das Bad und den Keller mit meinem Erbrochenen überflutet. Meine zukünftige Schwägerin ekelte sich so sehr, daß sie meine Mutter sehr höflich um neue Handtücher bat, falls ihre versehentlich mit Erbrochenem besudelt worden waren. Aber wir sprachen erst darüber, als sie gegangen waren. Meine Eltern unterzogen mich einer Inquisition. »Komm schon, Liebes, sag die Wahrheit.« (Ich sage die Wahrheit. Ich schwöre bei GOTT, daß ich die GRIPPE hatte!) »Ich will ja nichts sagen, Schatz, aber das ist ganz schön viel Kotze für jemanden, der nur die Grippe hat. Schatz, ich habe auch Nudeln und Erbsen aus der Suppe entdeckt, die ich dir gekocht habe.« (Ja, aber NATÜRLICH waren die dabei! Ich dachte, daß die Suppe vielleicht drin bleiben würde, aber das ist sie nicht. Es tut mir leid, warum VERTRAUT mir verdammt noch mal eigentlich keiner?) »Na ja, wenn du ganz sicher bist...«
In meiner Therapieakte steht für diese Woche:

1/16: Sagt, daß sie übers Wochenende die Grippe hatte. Abfluß verstopft.
Erscheint dünner.

Um innerhalb einer Woche dünner zu erscheinen, muß man schon ziemlich viel abgenommen haben. In meinen Augen sah ich aus wie das Schwein, für das ich mich hielt. Die Bulimie ängstigte mich zu Tode. Die Anorexie ist so entkörperlicht und so lange gar nicht wahrnehmbar, so sozial sanktioniert, daß man sich eine ganze Zeitlang an den Glauben klammern kann, daß doch eigentlich alles in Ordnung ist. Doch kaum steckt man den Finger in den Hals, weiß man verdammt gut, daß etwas nicht stimmt. Man hat die Kontrolle verloren. Schon beim ersten Mal, wenn man ißt, ohne aufzuhören, wenn man spürt, daß die Welle dieses dringenden Verlangens über einem zusammenschlägt, wenn man spürt, wie das Gesicht sich zu einer verzweifelten Grimasse verzieht, weil man sich nach Nahrung verzehrt, nach irgendwelcher Nahrung, sofort weiß man, daß etwas mit einem nicht stimmt. Und eines kann ich Ihnen versichern: Das erste, was einem während eines solchen Freßgelages durch den Kopf geht, ist nicht: »Du meine Güte, da hat mich aber irgend etwas richtig aus dem Gleichgewicht gebracht. Dann will ich mich mal hinsetzen und darüber nachdenken.« Man denkt nur eins: noch mehr Essen. Und dann die entsetzliche, übelkeiterregende Erkenntnis, daß man tatsächlich ebenso unkontrollierbar, bedürftig, gierig ist, wie man schon immer vermutet hat. Danach gibt es keinen Grund mehr, warum man aufhören sollte. Leck mich am Arsch. Ich bin eine fette Kuh, eine häßliche Sau, ein schwaches, faules Mastschwein, dann kann ich auch genausogut weiterfressen. Aber wie ich schon sagte, die Bulimie hat mich immer schon zu Tode geängstigt - und zwar genau wegen des unvermeidlichen Schreckens, der einen mitten in einem solchen Gelage packt. Schließlich tue ich doch alles, um Schmerz zu vermeiden. Und der Schmerz, den man empfindet, wenn man sich wahrnimmt, wie man ist, ein schmutziges, reizbares, gieriges Ekel, ist unerträglich.
Als ich ernsthaft an Magersucht erkrankte, hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben keine Angst mehr vor mir selbst. Seither habe ich meine Fähigkeit, mein wildes Verlangen und meine Wünsche zu kontrollieren, mit der Fähigkeit zu hungern gleichgesetzt. Am folgenden Wochenende waren meine Eltern wieder verreist. Ich hatte die ganze Woche gearbeitet, hatte versucht, mich selbst zu beschwichtigen, mich davon zu überzeugen, daß alles gut werden würde. Ich würde nicht fressen, ich würde einfach überhaupt nicht essen, wenn es nötig war. Und es schien nötig zu sein. Am Freitag nach den Seminaren fuhr ich nach Hause, ließ die Hunde hinaus, saß steif auf einem Küchenstuhl, las die Zeitung, versuchte, nicht ans Essen zu denken.
Es gibt gute Gründe, warum Menschen fressen. Einer davon ist Unterernährung. Genau das war bei mir die Ursache, und das war mir auch klar. Ich wußte sehr genau, daß ich in den vergangenen paar Monaten viel zuwenig gegessen hatte und jetzt den Preis dafür bezahlte. Es kam mir nicht in den Sinn, daß ein sicherer Weg, meinen zwanghaften Gedanken ans Essen Einhalt zu gebieten, der gewesen wäre, vernünftig zu essen. Die einzige Gegenmaßnahme, die ich mir vorstellen konnte, bestand darin, mich ganz von Nahrung fernzuhalten. Ich lief eine Weile mit den Hunden herum, dann stieg ich wieder ins Auto und fuhr mit einem riesigen Stapel Bücher in mein kleines Café. Ich hatte die Absicht, die ganze Nacht dort zu bleiben. Und das tat ich auch. Jedenfalls fast bis zum Morgengrauen. Es war 1 Uhr nachts, als er hinter einer Säule hervortrat, sein langes Haar hing bis auf meinen Tisch herunter, baumelte gefährlich dicht über meinem Kaffee. Ich schob meine Tasse weg. Der Lärm war ohrenbetäubend. An Wochenenden war es immer brechend voll. In Minneapolis sind die Handelszentren nur so aus dem Boden geschossen, weshalb die hiesigen Coffee Shops und Cafés meist genauso überfüllt sind wie die Bars von San Francisco. Nach 22 Uhr bekommt man nur noch Stehplätze; der Baß dröhnte so heftig, daß der Tisch vibrierte und die Bücher zitterten. Ich las Bertrand Russells Unpopular Essays. Sein Haar war blond, und über den Lärm hinweg hörte ich ihn brüllen: »Hi!«
Ich sah auf und sagte: »HI.« Er fragte: »KANN ICH MICH DAZUSETZEN?« Ich antwortete: »NEIN.« Er sagte: »ICH HEISSE DAVE.« Ich sagte: »GUT.« Er setzte sich. Er lehnte sich über den kleinen Tisch zu mir hinüber, streckte mir die Hand entgegen und fragte: Wie heißt du? Während der nächsten paar Stunden redete er. Und redete und redete. Ich beschloß, mit ihm ins Bett zu gehen. Ich verführte Männer wegen des Kicks, den es mir gab. Es ging mir nie um Sex. Den hatte ich niemals besonders genossen, und das sollte auch noch ein paar weitere Jahre so bleiben. Der Reiz der Verführung lag nicht einfach nur darin, jemanden ins Bett zu bekommen. Das wäre viel zu einfach gewesen. Ich wollte sie vielmehr dazu bringen, sich in mich zu verlieben oder zumindest zu glauben, sie hätten sich in mich verliebt. Es war ein Spiel. Man hatte gewonnen, wenn die Männer einen für die erstaunlichste Frau hielten, die sie in ihrem ganzen Leben getroffen hatten. Wenn alles nach Plan lief, schickte man sie hinterher für immer in die Wüste. Um etwa 4 Uhr hatte er entschieden, daß er sich in mich verliebt hatte. Das war zwar etwas merkwürdig, weil ich kaum ein Wort gesprochen hatte, trotzdem fand ich es o. k. War doch immer wieder nett, wenn sich jemand in einen verliebte. Gab einem Auftrieb. Ich nahm ihn mit nach Hause. Wir machten ein Feuer, legten uns auf den Boden, schmiedeten irgendwelche abstrakten Pläne, logen uns gegenseitig aus keinem besonderen Grund an. Wir gingen miteinander ins Bett und blieben das ganze Wochenende über drin.
Ich weiß nicht, was genau geschah, aber irgend etwas war anders als sonst, und plötzlich ertappte ich mich dabei, wie ich mich mit einem Mann, den ich nur als Dave kannte, im Bett wälzte und das kann ich wohl mit Fug und Recht behaupten - den besten Sex meines Lebens hatte. Den rauhesten, lautesten Sex, der mich in den Augenblicken, in denen ich mich von außen betrachtete, schockierte: Ich erkannte mich nicht wieder, nackt und lachend und schreiend: Wer zur Hölle war diese Frau, die danach immer wieder in tiefen, tiefen Schlaf fiel, zufrieden und köstlich wund? Am Sonntag setzte ich ihn wieder im Café ab, bat ihn, mich nicht wieder anzurufen. Es hat Spaß gemacht, sagte ich, aber du weißt, wie es ist. Alles Gute, bis dann. Ich fuhr zur Arbeit. Ich erinnere mich, daß es mir wie ein Film vorkam, wie die Erinnerung eines Voyeurs, der von der Tür aus alles mit angesehen hat. Ich erinnere mich daran wie an die blaue Kurve eines weiblichen Rückens, der von dem durch das Fenster hereinfallenden Mondlicht beleuchtet wird, während die Schachtel mit den Kondomen halb geöffnet neben dem Bett liegt und das stille Haus vom Klang einer wortlosen Stimme widerhallt. Es war zuviel für mich. Es war zu intensiv. Ich war viel zu hungrig hinterher, ich fühlte mich zu leicht in meinem Körper, zu sorglos, als ich mich auf den Boden setzte und Äpfel und Käse aß. Ich wollte mehr, und das war nicht recht. Sex und Frauen mit Eßstörungen sind seltsame Bettgenossen. Wir nähern uns dem Sex auf verschiedenste Weise. Einige Frauen meiden ihn wie die Pest, viel mehr, als ich es tat.
Einige Frauen sind regelrecht besessen davon, betrachten ihn als Quelle einer oberflächlichen Form der Intimität, als Oase in einer Wüste der Isolation. Andere wiederum, wie ich, benutzen Sex als Mittel, um ihre Macht zu demonstrieren. Doch dieses Machtspiel findet auf rein geistiger Ebene statt, der Sex selbst ist fast unwichtig. Wenn er aber Besitz vom Körper ergreift und dazu führt, daß man die Kontrolle verliert, hat man das Spiel verloren. Manche Frauen wiederum benutzen Sex tatsächlich, um - wie wir im Krankenhaus witzelten - Kalorien zu verbrennen. Doch auch dieser Ansatz hat einen Haken: Man muß sich ausziehen und zulassen, daß ein anderer Mensch einen nackt sieht. Für wieder andere ist das begrenzte Vergnügen, das der Beischlaf mit sich bringt, eine flüchtige Erinnerung daran, daß der Körper noch immer in der Lage ist, etwas anderes zu empfinden als Hunger. Aber auch dieser Schuß geht nach hinten los, denn sexuelle Begierde ist auch eine Art von Hunger. Einige, und zu denen gehörte ich ebenfalls, benutzen Sex als alternative Form der Selbstzerstörung, werfen den Körper wie einen alten Mantel aufs Bett, und zwar für jeden, der gerade vorbeikommt. Als ich mit Dave schlief, verstand ich kaum, was mit mir geschah. Das war doch kein Sex! Sex bedeutete, an die Decke zu starren und ständig »Oh baby« zu sagen und ansonsten über das Ausmaß seiner Schenkel nachzudenken. Aber was an diesem Wochenende geschah, war vollkommen anders. Ich wußte nicht, warum ich so empfand. Ich kam auch nicht auf die Idee, einfach nur zu grinsen und zu sagen, Warum nicht? Wenn ich mit Männern geschlafen hatte, die mir egal waren, mit denen ich den Sex nicht genossen hatte, hatte ich mich nicht ein einziges Mal schuldig gefühlt. Diesmal jedoch kam ich mir vor wie eine Nutte. Stöhnen, nackt im Bett liegen, Essen! Du lieber Gott! Mein Vater fand die Kondome. Natürlich muß man sich die Frage stellen, was zum Teufel mein Vater in meinen Schubladen herumzuschnüffeln hatte. Außerdem muß man sich fragen, warum er dermaßen sauer darüber war, daß ich mit jemandem geschlafen hatte, statt wenigstens ein bißchen erleichtert darüber zu sein, daß wir Verstand genug gehabt hatten, Kondome zu benutzen. Wir bekamen einen heftigen Streit. Ich schrie ihn an, daß er meine Privatsphäre verletzt hätte, er schrie, daß ich die Regeln gebrochen und sein Vertrauen mißbraucht hätte, weil ich es in seinem Haus mit einem Mann getrieben hatte, weil ich überhaupt mit jemandem geschlafen hatte. Ich schrie ihn an: Er sei so ein blinder Idiot, daß er überhaupt nicht mitbekommen hätte, wie ich erwachsen geworden wäre, und daß er eine verdammte, vollkommen übertriebene Beschützerhaltung an den Tag legte. Er schrie, daß ich viel zu jung für Sex sei. Dieses Argument fand ich damals alles andere als nachvollziehbar.
Im Rückblick kann ich nicht sagen, was »zu jung« für Sex überhaupt bedeuten soll. Ich war siebzehn. Ich hatte schon seit einiger Zeit mit Männern geschlafen, weshalb es mir nicht ungewöhnlich vorkam. Vielleicht hatte er recht. Zunächst bekam ich Hausarrest. Aber schon bald kam das sogar ihm selbst etwas lächerlich vor, denn ich war eine Vollzeitstudentin, und noch dazu eine mit Vollzeitjob. Viel bemerkenswerter war die Bösartigkeit, mit der er meine Entscheidungen attackierte, und das Ausmaß, mit dem plötzlich auf schmerzhafte Weise deutlich wurde, daß ich nicht zu jung für Sex war, sondern daß er Angst vor meinem Erwachsenwerden hatte und daß er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um es zu verhindern. Das Problem war nur: Ich war schon längst erwachsen. Und wie es seine Art war, flippte mein Vater deswegen aus. Wir beide haben über dieses Thema niemals richtig gesprochen - weil es so heikel ist und weil ich nicht glaube, daß er es besser versteht als ich - deshalb sind die Überlegungen, die ich hier anstelle, spekulativ und subjektiv. Der leichtere Teil besteht darin, die Angst zu verstehen, die er angesichts der Tatsache verspürte, daß ich ihn allein ließ, so daß ihm niemand mehr blieb, um den er sich kümmern konnte. Der schwierige Teil besteht darin, sich vorzustellen, warum er so unglaublich wütend über meine Beziehung zu Männern und meine Sexualität war. Vielleicht wollte er, daß ich nicht zu schnell erwachsen würde. Das ist nachvollziehbar. Er wäre nicht der erste Vater, der das Gefühl hat, daß keiner gut genug für sein kleines Mädchen ist. Vielleicht wollte er ja auch, daß ich sein kleines Mädchen blieb, vielleicht hatte er ein paar Probleme mit Frauen, vielleicht fühlte er sich bedroht, war wütend auf sie, vielleicht hatte er ein Problem damit, daß sie unabhängig von ihm waren und trotzdem Kontrolle über ihn ausübten. Vielleicht wollte er verhindern, daß ich eine von ihnen wurde. Vielleicht war es notwendig für ihn, daß ich ihn brauchte. Vielleicht wollte er der wichtigste Mann in meinem Leben sein und bleiben.
Er wäre nicht der erste Vater gewesen, der sich vom Auftauchen anderer Männer in der Welt der Tochter bedroht fühlte. Und er wäre nicht der erste gewesen, der sich durch die erwachende Sexualität seiner Tochter bedroht fühlte. Sein Kind entwickelte eine Seite seiner selbst, zu der er keinen Zugang, über die er keine Kontrolle hatte. Ich habe schon vorher von der in hohem Maße idealisierten Beziehung zwischen einigen eßgestörten Frauen und ihren Vätern gesprochen. Die ständig gefährdete Balance der Beziehung gründet darauf, daß die Tochter eine Doppelrolle spielt: die des unschuldigen Kindes und die der Gefährtin. Wenn das unschuldige Kind verschwindet, wenn ein rebellischer, vorlauter Teenager aus ihm wird, der mit Fremden im Keller herumvögelt, dann löst die Beziehung sich auf. Das Kind, das man geliebt hat und von dem man geliebt wurde, ist verschwunden. Idealerweise findet sich ein Vater damit ab, daß aus seinem Kind eine Frau wird, kann den anderen Mann in ihrem Leben akzeptieren. Letztendlich hat mein Vater das getan. Es hat nur eine Weile gedauert. Während meines kurzen Aufenthaltes in meinem Elternhaus war ich vollkommen verwirrt angesichts seiner zunehmenden Hysterie über den Verlust seines Kindes und seiner Versuche, den Lauf der Natur umzukehren. Also geriet ich in eine gleichermaßen hysterische Defensive. Außerdem wurde meine Mutter bei dem, was wie ein schlimmes Zerwürfnis aussah, in die gräßliche Position der Vermittlerin gedrängt. Wie es in meiner Familie schon immer der Fall gewesen war, stritten mein Vater und ich lautstark im Wohnzimmer, während meine Mutter und mein Vater es hinter verschlossenen Türen taten. Ich hatte beim besten Willen keine Ahnung, was mit uns geschah. Und ich glaube, sie ebensowenig. Ich machte die Schotten dicht. Mein Vater brauchte es, von mir gebraucht zu werden, und das konnte ich ihm nicht geben. Ich war erwachsen geworden (normal) und hatte beschlossen, gar nichts mehr zu brauchen (nicht normal). Und das letzte, was ich zu brauchen glaubte, war irgendein Bastard, der versuchte, mich zurückzuhalten. Ich haßte mein jüngeres Selbst mit einer Intensität, die mir noch heute einen Schrecken einjagt. Natürlich grollte ich allem, das meine Chancen, dem zu entkommen, was ich einst gewesen war, minderte und fürchtete mich davor. Mein Vater wurde zu meiner Nemesis, zum symbolischen Zentrum meiner Wut auf alles, das ich je gewesen war und niemals hatte sein wollen. Nach der Kondom-Krise gab es, glaube ich, keinen Tag, an dem wir nicht wegen meiner Unabhängigkeit aneinandergerieten. Wir beide wurden zu unglaublich verzweifelten Menschen. Er versuchte verzweifelt, mich zu halten. Ich versuchte verzweifelt, ihm ein für allemal zu entkommen.
Es herrscht die Ansicht vor, daß die eßgestörte Person die Zeit anhalten will. Indem sie der körperlichen Entwicklung in einem präpubertären Stadium Einhalt gebietet, erlangt sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Sie kehrt auf symbolische Weise in ihre Kindheit und in den Schoß der Familie zurück. Sie vollzieht den sicheren Rückzug vor dem großen, bösen Monster der sexuellen Reifung und ihrer Implikation von Erwachsensein und Verantwortung. Ich glaube nicht, daß diese Einschätzung in jedem Fall zutrifft. Ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, habe versucht, mein Leben, meine Persönlichkeit, meine Erfahrungen mit der Eßstörung in den Rahmen dieses Denkschemas hineinzupressen. Mein Leben und ich quollen jedoch immer wieder heraus. Wir passen nicht hinein. Wenn wir den Rahmen ein bißchen ausdehnen, dann vielleicht. Dann könnten wir sagen, daß meine Eßstörung in dem Jahr, bevor ich mein Elternhaus (ein zweites Mal) verlassen würde, wieder auftrat, weil ich unbewußt bei meinem Vater zu Hause bleiben wollte (der mich verrückt machte) und bei meiner Mutter (die kaum mit mir sprach), in dem warmen und gemütlichen Schoß der Kindheit (die beschissen war), weil ich die sexuelle Reifung umgehen wollte (die ich nicht besonders mochte, vor der ich aber auch keine Angst hatte), ebenso wie die Verantwortung (nach der ich mich sehnte). Aber diese Interpretation kommt mir nach wie vor ziemlich weit hergeholt vor.
Es wäre auch denkbar, daß mein anorektischer Körper sich gewissermaßen bei meinem Vater dafür entschuldigte, daß ich eine Frau wurde. Aber auch das klingt nicht allzu überzeugend. Viel plausibler scheint mir, daß meine Magersucht eine verwirrte Grundsatzerklärung war, die sich eher an die Welt im allgemeinen als an meinen Vater richtete, eine Proklamation, mit der ich mich nicht nur dafür entschuldigen wollte, daß ich eine Frau war, sondern mit der ich auch beweisen wollte, daß eine Frau genauso gut wie ein Mann sein kann. Es gibt viele Frauen, die Eßstörungen hauptsächlich deshalb entwickeln, weil sie Angst vor dem Erwachsenwerden haben, eine solche Angst, daß sie alles dafür geben würden, es zu verhindern. Aber ich fürchtete mich so sehr, wieder in die Kindheit zurückgezogen zu werden, daß ich niemals etwas unternommen hätte, um das Erwachsenwerden zu umgehen. Die Deutung von Eßstörungen muß auf erheblich komplexere Weise erfolgen, als die Freudsche Analyse es versucht, die im anorektischen Körper eine symbolische Regression sieht. Genauso ist es nämlich möglich, daß die Magersüchtige - wenn auch auf schlechte, ineffektive, narzißtische Weise - versucht, ihre vollkommene Unabhängigkeit vom hilflosen Zustand der Kindheit zu demonstrieren, von den unendlichen Bedürfnissen, die sie an sich wahrnimmt und die sie auf jede ihr mögliche Weise zu vernichten sucht. Selbst heute noch erinnere ich meine Kindheit als eine peinliche Zeit, eine Zeit der Schwäche und Bedürftigkeit. Und meine Einweisung ins Lowe House - so sehr mir die dortigen Erfahrungen auch dabei halfen, einige grundlegende menschliche Bedürfnisse zu akzeptieren stellte einen Rückschritt bei der Verwirklichung meiner großen Pläne dar.
Die Tatsache, daß ich danach wieder im Haus meiner Eltern leben mußte, war sogar noch schlimmer. Das Bedürfnis meines Vaters war greifbar, schmerzhaft und erstickend, und ich bin sicher, daß mein Teufelsritt in Richtung Erwachsenenleben für ihn gleichermaßen schmerzhaft war. Aber er war zu jener Zeit in keiner allzu guten Verfassung, und es fiel ihm schwer, sich selbst und seine Bedürfnisse von seinen Erwartungen an mich zu trennen. Meine Mutter wiederum neigte dazu, sich innerlich zu distanzieren, abzuwinken, wann immer mein Vater und ich miteinander stritten. Ich weiß, daß meine Eltern ebenfalls darüber diskutieren. Ich weiß, daß meine Mutter versuchte, meinen Vater zurückzuhalten, damit ich in Ruhe erwachsen werden konnte, und ich weiß auch, daß mein Vater das Gefühl hatte, daß wir uns gegen ihn verschworen hatten, wie er es immer glaubte und noch heute glaubt, und zwar trotz der Tatsache, daß meine Mutter sich kein einziges Mal mit mir darüber unterhalten hat. Einmal erzählte meine Mutter einem Therapeuten, daß sie manchmal glaubte, mit zwei Verrückten zusammenzuleben. Mein Vater und ich waren sehr verletzt darüber. Im Rückblick jedoch kann ich ihr daraus keinen Vorwurf machen.
Und selbst während ich dies hier schreibe, weiß ich, daß mein Vater, sobald er diese Zeilen liest, glauben wird, daß ich mich schon wieder auf ihre Seite schlage. Das war einfach immer so. Meine Mutter dagegen hatte immer das Gefühl, daß ich auf seiner Seite stand. Ich fühlte mich natürlich in der Mitte gefangen, aber darüber hinaus taten mir beide leid. Beide leckten ihre zwanzig Jahre alten Wunden, griffen nach mir, zerrten mich zwischen einander hin und her, deuteten auf ihre ausgezehrte, manische Tochter und riefen anklagend: »Siehst du?« Als ob ich irgend etwas bewiesen hätte. Beide hatten die recht egozentrische Vorstellung, daß die Welt sich um sie drehte und daß sie die Schuld an meinen Problemen hatten. Ich war es ziemlich leid, über ihre Rolle in meinem Leben nachzudenken. Ich war ihre endlosen, kleinkarierten Streitereien satt, war die Bedürftigkeit meines Vaters satt, die oberflächlichen Vermittlungsversuche meiner Mutter und wollte endlich mein eigenes Leben leben. Wir waren also an einem weiteren Wendepunkt angelangt. Ich hatte meine Eßstörung nun seit neun Jahren.
Die Ursachen waren vielfältig und miteinander verwoben, und sie verwiesen auf andere Ursachen. Die Hauptursache lag zu diesem Zeitpunkt in meiner Persönlichkeit und in der einfachen, unausweichlichen Eßstörung selbst. Sie war zur Gewohnheit geworden. Meine Eltern hätten die nettesten, verständnisvollsten Menschen sein können, meine Kultur hätte die feministischste und demokratischste aller Kulturen sein können, und trotzdem wäre meine Eßstörung schlimmer geworden, denn sie war mit mir verwachsen, sie war ein Teil von mir geworden, eine Methode, wie ich mit meinem eigenen Gehirn zurechtkam, mit meinen Gefühlen, mit der Welt, in der ich lebte, mit meinem Alltag. Alles wurde durch die Linse der Anorexie und Bulimie gefiltert. Ob meine Familie den erneuten Ausbruch auslöste? Die Bedürftigkeit meines Vaters und meine Angst davor? Die Distanz meiner Mutter? Ein Artikel, den ich zufällig las? Eine Frau, die ich sah? Wohl kaum. Viel wahrscheinlicher ist folgendes: Als ich mit ein paar Dingen in meinem Leben konfrontiert wurde, die mir nicht gefielen, wandte ich mich wieder meiner Eßstörung zu, weil ich niemals herausgefunden hatte, wie man mit Problemen fertig wird. Genauso schwer kann man beurteilen, ob mein Zähnefletschen, mein Zischen, meine Forderung, zum Teufel noch mal in Ruhe gelassen zu werden - (»VERGISS es einfach. Mir geht es GUT, laß mich in FRIEDEN, ich will einfach nur WEITERLEBEN.«) einfach zur normalen Entwicklung einer ehrgeizigen Siebzehnjährigen gehörten. Vielleicht wünschte ich mir nach der minutiösen Überwachung im Krankenhaus und in der Klapsmühle ja nur etwas Luft zum Atmen. Möglicherweise war meine Verzweiflung aber auch etwas komplexer. Mein Wunsch, Minneapolis und meine Familie zu verlassen, war vielleicht in Wirklichkeit der Wunsch, mich selbst zurückzulassen und jemand anders zu werden. Ich nehme an, das war es. Zu jenem Zeitpunkt hatte sich immerhin bereits ein entsprechendes Muster ausgebildet: Während der letzten Jahre war ich auf der Flucht gewesen, und zwar vor meiner eigenen Persönlichkeit (und nicht, wie man hätte annehmen können, vor einem Ort). Selbst bei meiner ersten Einweisung im TAMS, als man mich fragte, was ich an meinem Leben ändern würde, hatte ich geantwortet: »Ich würde umziehen.« Keineswegs die übliche Antwort - nicht etwas wie: neue Freundschaften schließen, ein bestimmtes Hobby verfolgen, besser mit den Eltern klarkommen, meine Noten verbessern nur »umziehen«. Erst als ich neunzehn war, verstand ich, daß die alte Weisheit durchaus stimmt: Wohin du auch gehst, du bist immer schon da! Und selbst da hörte ich nicht auf umzuziehen. Mit siebzehn glaubte ich, daß man an neuen Orten auch ein nagelneues Ich fände, so wie man zufällig einen Freund im Café trifft. An jedem neuen Ort glaubte ich, mich in einen Menschen zu verwandeln, den ich lieber mochte als mein altes Ich. Jemand ohne eine Vergangenheit, die ihr folgte wie Toilettenpapier, das versehentlich am Absatz des Schuhs kleben geblieben ist. Jemand, der weniger oft sprach und weniger schnell, der lächelte, ohne dabei die Zähne zu zeigen und dauernd schräg zu grinsen, jemand, der Sonnenbrillen und coole Schuhe trug. Den man weder als Dieses-dumme-Kind noch als Die-unheilbar-kranke-verrückte-Person kannte: eine Frau, die überhaupt niemand kannte. In dem Jahr, als ich nach Hause zog, wurde ein Schalter betätigt, durch den die Lichter des rationalen Teils meines Geistes gelöscht wurden und die Selbsterkenntnis ausgeschaltet wurde, die ich im Lowe House erlangt hatte. Ich blieb zurück mit dem blinden, verzweifelten Wunsch, der jetzt gewaltsamer war denn je, dieses Selbst, das ich haßte, loszuwerden und mich neu zu erschaffen. Erfolg, daran glaubte ich ganz fest, war der Schlüssel zu meiner Rettung. Er würde mir die Absolution von den Sünden des Fleisches und der Seele spenden, würde mich aus dem Leben, das ich haßte, erretten. »Erfolg«, das bedeutete eine vollkommene, berufliche Karriere, vollkommene Beziehungen, die vollkommene Kontrolle über mein Leben und über mich selbst - was alles von einem vollkommenen Ich abhing, das letztlich nur in einem vollkommenen Körper existieren konnte. Ich machte mir nicht die Mühe, über die Fallstricke nachzudenken: darüber, daß ich meine Jugend und meine Gesundheit diesem Erfolg opfern mußte. Die Tatsache, daß ich die Verbindung zwischen Erfolg und Selbstzerstörung nicht näher betrachtete, sollte mich im darauffolgenden Jahr fast umbringen.

Ich verbrachte immer weniger Zeit mit meinen Eltern. Ich hörte mit dem Fressen fast genauso plötzlich auf, wie ich wieder damit angefangen hatte, und wechselte wieder über zum Hungern. Ab Februar lebte ich praktisch in der Zeitungsredaktion, riß mich um mehr Aufträge, schrieb so viele Artikel, wie ich nur konnte. Normalerweise hätte ich nur dreißig Stunden pro Woche in der Redaktion arbeiten müssen, aber ich begann, die meiste Zeit dort zu verbringen, tippte an Stories herum, die Kopfhörer auf der Schulter festgesteckt, eilte davon, um eine neue Geschichte zu recherchieren, kaufte mir ein gefrorenes Joghurt auf dem Rückweg zu meinem Schreibtisch, ließ es schmelzen, während ich arbeitete. Ich liebte meinen Job. Ich arbeitete an einigen größeren staatenübergreifenden Themen, lernte die Gesetzgeber und U.S. Senatoren kennen, die damit zu tun hatten, schuf mir »Verbindungen«, aß mit Soundso zu Mittag, füllte Notizbuch um Notizbuch mit meinen Kritzeleien, schlug den größeren Tageszeitungen ein Schnippchen und brüllte am frühen Morgen mit dem Rest der Belegschaft vor Vergnügen, weil wir den Großen Jungs einen Knüller vor der Nase weggeschnappt hatten. Ich ging zur Therapie, wo ich ganz bewußt ein Bild von mir selbst konstruierte, das das TAMS davon überzeugte, daß es mir immer besser ging. Wir begannen, meine Antidepressiva langsam abzusetzen. Die therapeutischen Sitzungen wurden ebenfalls reduziert. Man glaubte mir, wenn ich versicherte, daß ich auf dem richtigen Weg wäre.

2/5/92 Fast geheilt. Marya deutet den Wunsch an, die regelmäßige Gewichtsüberwachung einzustellen.

In einem meiner Briefe an das TAMS steht: »Ich habe keine Schwierigkeiten mehr, einen gesunden Lebensstil aufrechtzuerhalten und mein Gewicht zu halten.«
Ich saß auf der Treppe zum Redaktionsbüro und aß die Tomate von meinem Sandwich herunter. Den Rest warf ich fort, dann rauchte ich und schlürfte Kaffee, während ich die zahlreichen Seiten meiner morgendlichen Notizen durchging. Kritzelte Fragen an den Rand, schwatzte mit anderen Redakteuren, lachte viel. Ich war high vom Leben. Ich war gerade in Reed aufgenommen worden, der einzigen Schule, bei der ich mich um eine frühzeitige Aufnahme beworben hatte, und der Rest der Zulassungen begann ebenfalls so langsam einzutrudeln. Ich hatte sie in einem Stapel auf meinem Schreibtisch liegen sehen, als ich spät in der Nacht nach Hause kam. Ich hatte sie gelesen, hatte gegrinst: Es funktioniert. Ich werde es schaffen. Wie schön das Leben ist!
Frühmorgens saß ich in einem Café, las die Zeitung, trank Kaffee. An einen Tag erinnere ich mich besonders lebhaft. Ich trug einen kurzen Rock und eine grüne Bluse, und draußen wurde es langsam Frühling. Ich warf mir die Jacke über die Schulter und schlenderte die sonnige Straße hinab. In der Redaktion arbeitete ein Fotograf, ein Aufreißertyp, der manchmal an meinem Schreibtisch auftauchte und Negative für einen meiner Artikel darauf ausbreitete. Dann beugten wir uns darüber, steckten die Köpfe dicht zusammen und gestikulierten wild, bis er wieder in seine Dunkelkammer zurückstürmte. Er hieß Mark. Auch an jenem Morgen blieb er vor meinem Schreibtisch stehen und schrie (er schrie immer): »HI!« Ich lachte, und er starrte mich eine volle Minute lang wie benebelt an. Ich sagte: »Ja?« Und er sagte: »Hübsch siehst du heute aus.« Ich stotterte irgend eine Antwort. Wir sahen einander eine weitere Minute lang in die Augen, betäubt. Dann löste sich der Zauber, und Mark war wieder in Bewegung. Ich mußte am nächsten Tag eine größere Story abliefern, und er fragte, was er für mich fotografieren sollte? Er kauerte neben meinem Stuhl, und wir schwatzten wild gestikulierend vor uns hin. Als er ging, berührte er mich leicht an der Schulter, und ich starrte auf meinen leeren Computerbildschirm und dachte nur: »O nein.« Es war kein guter Zeitpunkt zum Verlieben. Die Nächte wurden immer länger. Ich schlich mich leise zur Hintertür hinein, um meine Eltern nicht auf zuwecken, dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch und arbeitete weiter. Mein Vater und ich hatten eine letzte Auseinandersetzung, und ich zog zu einer Freundin, bis ich eine eigene Wohnung gefunden haben würde. Ich ging jetzt nur noch selten zur Therapie. Mark und ich trafen uns immer häufiger, lehnten am Schreibtisch des anderen, redeten wie die Weltmeister, beide arbeitswütig und wahnsinnig, gingen zusammen einen Kaffee trinken, entweder nur wir beide oder zusammen mit anderen Redakteuren, eilten dann zurück in die Redaktion, in die Dunkelheit, die täglich wärmer wurde. Eines Abends aßen wir zusammen zu Abend, allein. Wir tranken viel Wein. Wir lagen auf dem Wohnzimmerboden in seinem Haus. Ich las ihm ein paar Arbeiten von mir vor. Als ich fertig war, nahm er meine Hand, drehte die Handfläche nach oben, fuhr sorgfältig den Linien meiner Hand nach. Schlang seine Finger in meine.

3/4 Marya weigert sich, sich wiegen zu lassen. Blutdruck extrem niedrig, sehr niedrige Körpertemperatur. Körperfett bei 14,5% (im Lowe House Körperfettanteil 19%). Sieht knochig aus! Erneuter Ausbruch der Eßstörung ist zu vermuten.

Mark und ich verliebten uns ganz schrecklich ineinander. Ich pendelte zwischen dem Haus der Freundin und dem meiner Eltern hin und her. Mein Vater schrie mich wegen Marks Motorrad an, wegen Mark im allgemeinen, sagte, daß er zu alt für mich sei (er war fünfundzwanzig). Er fand, daß er zu wild war und daß ich zu schnell erwachsen wurde. Ich verbrachte meine Tage in Seminarräumen, in der Redaktion und in der ganzen Stadt. Mark und ich fuhren überall hin, redeten über Politik und die Welt und den Journalismus und Fakten und Gedanken und einfach alles, fielen dann ins Motel 6 ein und lachten und rollten uns bis zum Morgengrauen im Bett herum, dann fuhren wir wieder zur Arbeit. Bäuchlings auf dem Bett liegend aß ich einen Becher Joghurt, während wir in den Zeitungen stöberten und ständig Hör zu! Hör zu! riefen. Erhitzt lasen wir einander vor, die ganze Nacht lang, bis die Zeitungen ans Fußende des Betts getreten wurden, in unserem Drang nach Bewegung und Hitze. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nach Reed zu gehen. Diese Universität war meine erste Wahl. In unseren Briefen hatten Julian und ich verabredet, uns gemeinsam dort einzuschreiben. Sie hatten ein hervorragendes Angebot in Politikwissenschaften. Aber dann bekam ich einen Brief von der American University, die mir ein geradezu unmoralisches Angebot machte: ein Stipendium, das höher dotiert war als alles, was mir bis zu diesem Zeitpunkt geboten worden war. Meine Eltern sagten, Denk darüber nach. Wäge die Vor- und Nachteile ab. Ich wog ab und sagte, daß ich nach Reed gehen wollte. Sie versprachen, mir eine Reise nach Washington, D.C. zu bezahlen, damit ich mir alles in Ruhe ansehen konnte. Einfach um zu schauen, ob es mir dort gefiel. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich bei ihnen schlafen sollte. Ich lackierte mir die Nägel. Ich sehe meine roten Nägel noch vor mir, als mein Vater fragte, Hast du darüber nachgedacht? Das hatte ich. Washington, D.C. Das stand ganz oben auf der Liste, dort war die Post, unendlich viele Verbindungen. Ich kannte ein paar Politiker. Es war verlockend. Ich sagte, ich würde hinfahren. Nur, um es mir anzusehen.
Diese Reise veränderte alles.
Irgend etwas stimmt nicht mit Washington, D.C. Doch trotz der langen Zeit, die ich dort verbracht habe, bin ich nicht in der Lage, den Finger darauf zu legen. Natürlich sind ein paar Dinge offensichtlich: die förmlich greifbare Gier der Menschen, das Pulsieren der Macht, der unglaubliche Rassismus, die Stadt selbst ein politischer und sozialer Scherbenhaufen. Aber darüber hinaus stimmt etwas nicht mit Washington, D.C. Die Menschen sehen angespannt und ernst aus, getrieben und gehetzt, wenn sie die Straßen entlanghasten, sich in der U-Bahn aneinander vorbeischieben und sich ihre Aktentaschen gegenseitig in die Kniekehlen rammen, während sie sich drängelnd und stoßend ihren Weg zu den Aufzügen bahnen, oder zu den Taxen, zu den Restaurants. Seitdem frage ich mich, ob diese Stadt etwas an sich hat, auf das Leute wie ich anspringen, vielleicht nährt sie den Hunger nach Macht und Erfolg so sehr, daß die Menschen selbst hohl werden, trocken wie eine Wüste, ohne jede Menschlichkeit. Aber vielleicht bilde ich mir das ja auch nur ein. Es überraschte mich, wie natürlich die Boshaftigkeit mich überkam, aber es bekümmerte mich nicht. Vor dem Flughafen winkte ich ein Taxi heran, das Gesicht unbewegt, die Stimme forsch. Ich beobachtete, wie die Hauptstadt sich vor mir erhob, als der Wagen auf mein Hotel zufuhr. Frühling 1992, es wird dunkel, und die Lichter werden eingeschaltet, spiegeln sich im Regen auf dem Asphalt und an den Gebäuden. Ich meldete mich an der Rezeption des Hotels an, ging auf mein Zimmer, kaufte mir pappigen, vielfarbigen Mäusespeck und eine Cola eine richtige, keine Diätcola. Ich war von mir selbst beeindruckt, sagte mir, daß ich den Blutzucker brauchte. Es war 23 Uhr, und ich hatte seit meinem Minimalfrühstück in Minnesota noch nichts gegessen. Ich sah mich im Zimmer um: das übliche Fernsehgerät, ein Bett, ein Stuhl, ein kleiner Tisch, Aschenbecher, großer Spiegel über dem Ankleidetisch. Ich schaltete CNN ein, kleidete mich vor dem Spiegel aus, bewunderte mich von allen Seiten, stellte mich aufs Bett, um einen Blick auf meine Beine zu werfen. Dünn. Sehr dünn. Ich zog meinen Bademantel an und setzte mich aufs Bett, rauchte, trank meine Cola. Dann ordnete ich meinen Mäusespeck nach Farben und aß einen nach dem anderen auf, das rote Stück zuletzt. Ich betrachtete mich noch einmal im Spiegel, von Freude und Zucker ganz berauscht, und dachte: Allein auf einem Hotelzimmer in Washington D.C. So begann meine Liebesbeziehung zu Hotels, die nach wie vor anhält. Die Anonymität, das Gefühl, einfach irgendeine Frau in Washington zu sein, die Einsamkeit, das Rauchen im Bett, den Fernseher so lange laufen lassen zu können, wie ich wollte, Geschwindigkeit und Macht in greifbarer Nähe, in Spuckweite zur wirklichen Welt. Ich konnte fast die Hand ausstrecken und es berühren, jenes namenlose Ding, das ich mir so verzweifelt wünschte. Ich stand am Fenster, blickte auf ein implodiertes Gebäude auf der anderen Straßenseite, dann auf das Capitol, das sich weiß und ätherisch in der Ferne erhob. Ich beschloß zu bleiben. Am nächsten Tag ging ich, durch mein Kostüm unsichtbar geworden, zum Frühstück hinunter ins Hotelrestaurant. Krise. Ein Frühstücksbüffet. Es gibt nur wenige Dinge, die eine Bulimikerin schöner findet als ein Buffet. »All you can eat« bekommt eine ganz neue Bedeutung, wenn man weiß, daß man das ganze Buffet gleich ein paar Mal hintereinander verspeisen könnte. Ich setzte mich an einen Tisch, schlug die Post auf, die vor mir auf dem Tisch lag, sah auf die Uhr und gab mir zehn Minuten, um mich zu beruhigen. Wenn ich mich dann noch nicht beruhigt hätte, würde ich gehen. Rühreier tanzten in meinem Kopf, während ich den Leitartikel las. Ich sah zum Fernsehen hinüber. Larry Kings erstes Interview mit Ross Perot. Ich beruhigte mich. Ich stand auf, nahm mir ein Hörnchen, vier Döschen Marmelade, zwei Erdbeeren, ein Stückchen Melone. Peinlich lange stand ich vor der Platte mit den Minimuffins, dachte über die Kalorien in einem Muffin von der Größe eines Pfennigs nach. Zu kompliziert. Ich strich sie von meinem Speiseplan. Zuerst die Melone, gefolgt von den Erdbeeren, die Kruste des Hörnchens mit Marmela de, dann die Mitte. Dafür brauchte ich eine Stunde, ich habe es gestoppt. Und den Rest des Tages überstand ich mit 160 Kalorien. Die U-Bahn zum Campus der American University. Ich liebte die U-Bahn, das Klickklick meiner Fahrkarte im Fahrkartenentwerter, das Drängeln der Menge, die auf die gähnenden Tore zueilte. Ich liebte den Weg zum Campus und den Campus selbst. Gespräche mit Dozenten und eine Wanderung über das Gelände. Abends an der Hotelbar aß ich eine Möhre und ein paar Selleriestücke, trank einen »Screwdriver«, sah CNN, kritzelte wie eine Wilde in meinem Notizbuch. Das Seltsame ist, daß die Gedichte, die ich während meines Aufenthalts dort schrieb, alle von der Traurigkeit der Städte handeln. Von der Verzweiflung, die ich dort spürte. Der unglaublichen, schrecklichen Geschwindigkeit. Die Gedichte schienen irgendwie keine Verbindung zu mir zu haben. Ich nahm ein Taxi, fuhr ins Kino, ging hinterher in ein überfülltes Café, beobachtete, lauschte, schrieb und schrieb. Es war großartig. Am nächsten Tag wanderte ich durch die Straßen der Stadt, wanderte, wanderte, hielt nur einmal an, um mir ein Paar Turnschuhe zu kaufen, weil meine alten Schuhe auseinanderzufallen drohten. Ich war vollkommen high, versuchte mir vorzustellen, daß ich in dieser Stadt leben würde. Ich ging durch die Gänge der Union Station mit ihren gewölbten Decken, tauchte im ohrenbetäubenden Lärm unter, während die Leiber an mir vorbeieilten. Ich ging ins Restaurant im Basement, las mir jedes Gericht auf der Speisekarte genau durch und kaufte mir schließlich eine Tüte zuckerfreier Bonbons mit Orangengeschmack in einem Süßwarenladen. Ich setzte mich auf eine Bank, warf mir die Bonbons in den Mund, blickte von der Zeitung - Namentliche Abstimmung - auf und zu den Menschen hinüber, die über Verbindungen und Jobs nachdachten. Ich beschloß, daß ich hier sehr gut würde leben können. Keiner bemerkte mich. Ich war unsichtbar. Ich war vollkommen. Seitdem habe ich mich gefragt, ob ein Teil meines Gehirns vielleicht entschieden hatte, daß dies der ideale Ort war, um vollständig zu verschwinden. Den Abgang zu machen, so daß nichts in meinem Kielwasser zurückblieb. Wieder in Minneapolis sagte ich, daß ich auf die American University gehen würde. Ich besitze die bemerkenswerte Fähigkeit, alles bessere Wissen aus meinem Gehirn zu verbannen, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe. Dann setze ich alles aufs Spiel. Ich habe kein Gefühl für Maß oder Vorsicht. Man könnte auch sagen, daß ich überhaupt kein Gefühl habe. Menschen mit Eßstörungen neigen zu sehr extremen Denkmustern - alles bedeutet gleich das Ende der Welt, alles hängt nur von einer Sache ab, und jeder sagt einem, wie dramatisch, wie außerordentlich intensiv man ist, und alle halten einen für exaltiert und affektiert, aber man denkt tatsächlich so. Man hat wirklich das Gefühl, daß der Himmel auf einen herabfällt, wenn man ihn nicht persönlich festhält. Auf der einen Seite ist es reine Arroganz, auf der anderen eine sehr reale Furcht. Und es ist auch keineswegs so, daß man die möglichen Konsequenzen der eigenen Handlungen ignoriert. Man glaubt nicht, daß es überhaupt welche geben wird. Weil man doch schließlich noch nicht einmal da ist. Wenn man volljährig wird, können weder die Eltern noch das Ärzteteam über Behandlungsmaßnahmen entscheiden, ohne daß man ihnen die Erlaubnis dazu erteilt. Mit anderen Worten, man muß sich freiwillig in ärztliche Behandlung begeben, sonst müssen sie die therapeutische Hilfe, die sie einem angedeihen lassen per Gerichtsbeschluß erzwingen. Drei Tage vor meinem achtzehnten Geburtstag ging ich - mit erhobenem Kopf, selbstbewußt, extrem dünn - ins TAMS und beendete meine Behandlung. Nachdem das erledigt war, packte ich meine Koffer und zog mit meiner Freundin Sybil, die ich bei der Zeitung kennengelernt hatte, in eine Wohnung in Minneapolis. Voller Begeisterung über meine Unabhängigkeit ging ich in einen Supermarkt und kaufte ein.
Magersüchtige haben merkwürdige Einkaufslisten:

  • Fettfreie Muffins (1 Dutzend)
  • Zuckerfreies Gelee (Erdbeere)
  • Kalorienarmes Brot (Weizen)
  • fett- und zuckerfreier Joghurt (12 Becher)
  • fettfreies Müsli,
  • Möhren
  • Senf
  • Sellerie
  • Salat
  • fettfreies French Dressing

Und genau das aß ich während der folgenden drei Wochen.
Außer an den Abenden, an denen ich spät nach Hause kam und Sibyl, die lesend auf dem Sofa lag, mir beiläufig berichtete: »Hey, Mar, wir haben uns Pizza bestellt. Du kannst den Rest essen, wenn du willst.« Ich aß die Pizza. Und kotzte. Und wog mich auf der quietschenden, alten Badezimmerwaage. Sibyl, die zu den gesunden Menschen dieser Erde gehört, nimmt kein Blatt vor den Mund. Sagt mir, daß ich mich lächerlich mache, wenn ich, wie jeden Tag, vor dem Ganzkörperspiegel stehe und mir über die Größe meines Hinterns Sorgen mache. Schlägt vor, daß ich meine Scheiße überwinde, bevor ich die Stadt verlasse.

  • Mai: Mark und Arbeit und ein paar Kurzausflüge. 98 Pfund. Der LAPC,[22] der Rodney King zusammengeschlagen hat, wird freigesprochen. An dem Tag, an dem der Freispruch verkündet wird, kauert die gesamte Zeitungsredaktion vor dem Fernseher; in dem normalerweise lärmerfüllten Redaktionsraum herrscht ein unheimliches Schweigen. Jemand keucht, »Mein Gott«. Dann kippt er seinen Stuhl nach hinten und schreit, »Verdammt noch mal, mein Gott«, und stürmt türeknallend aus dem Zimmer. Der Redaktionsraum explodiert, Chaos bricht aus, immer wieder wiederholen alle: »Wie zum Teufel sollen wir darüber schreiben?« Dann starren sie auf ihren Computerbildschirm, und einer nach dem anderen dreht sich um und schreit: »ÜBER SO ETWAS KANN ICH EINFACH KEINEN ARTIKEL SCHREIBEN!«, und rennt hinaus. Die Reporter schreiben krampfartig, ihre Hände zittern über der Tastatur, plötzlich halten sie wieder inne, nehmen den Kopf in beide Hände. Drei Leute verlassen in schneller Folge den Raum. Der Chefredakteur schreit ihnen zu, daß sie sich zusammenreißen sollen. Ich gehe hinaus und setze mich auf den Boden, lehne mich gegen die Mauer und starre hinauf in den unglaublich blauen Himmel. Ich zittere, mir ist schlecht, und ich denke über Gottes perversen Sinn für Humor nach, wenn er an einem Tag, an dem die Moral zur Farce verkommen ist, einen solch herrlich blauen Himmel zuläßt. Mark und ich können in dieser Nacht nicht schlafen. Wir stehen auf, gehen zum Spielplatz im Park, setzen uns auf die Schaukeln, reden miteinander, wenige Worte, unterbrochen von langen Pausen, in denen man nur unseren bebenden Atem hört. Ich frage mich laut, ob ich überhaupt den Mut habe, als Journalistin zu arbeiten. Mark springt von seiner Schaukel und sagt, Das mußt du. Ob du ihn nun wirklich haßt oder nicht, ist egal. Du mußt einfach so tun, als ob. Ich nicke und blicke zum Himmel hinauf.
  • Juni: Mark und sommerliches Wetter und ein paar Kurztrips und 92 Pfund. Mark und ich liegen im Bett, sprechen über Politik. Ich verlasse die Zeitung, um mich jetzt den ganzen Tag über meiner eigenen Schreiberei widmen zu können. Meine Tage sehen so aus: Aufwachen, sich an den Schreibtisch setzen, schreiben. Ich will lernen, diszipliniert zu leben. Ich esse nur noch Yoghurt. Wir machen einen Ausflug mit meiner Familie zu unserem Haus an einem See im Norden Minnesotas, gehen mit meinem Stiefbruder Tim, meinen Cousinen und Cousins in eine Bar, spielen Pool Billard und betrinken uns. Völlig blau - und also befreit von den üblichen Hemmungen - schlinge ich, als wir wieder zu Hause sind, den Nudelsalat herunter. Ich esse ihn direkt aus der Tupperdose, obwohl ich weiß, daß ich es am nächsten Morgen bereuen werde. Mark trinkt zuviel. Ich trinke zuviel. Als ich wieder in Minneapolis bin, treffe ich mich gelegentlich mit meinen Eltern, in der Regel immer nur mit einem Elternteil. Meine Mutter und ich trinken einen Kaffee miteinander. Sie liest meine Gedichte, und ich platze fast vor Stolz, als sie mich ansieht, lächelt und sagt, »Die sind gut«. Mein Vater und ich frühstücken einmal die Woche miteinander. Ich bestelle einen fettfreien Muffin und verbringe eine Stunde damit, ihn zu sezieren, drehe dann die unendlich kleinen Stücke (Boden, Seiten, Spitze, Mitte) mit den Fingern zu kleinen Klumpen zusammen, stippe sie in meinen Kaffee, rauche zwischen den Bissen. Er sagt: Du wirst zu dünn. Ich sage: Das kommt, weil ich täglich mit dem Rad fahre. Wirklich, es geht mir gut.
  • Juli: Mark leidet an einer schweren Depression. Jeden Morgen stehe ich auf, dusche, ziehe mich an, lese die Zeitung. Stecke den Kopf ins Schlafzimmer. Mark liegt noch immer im Bett, das Gesicht in den Kissen vergraben. Mark, steh auf. MARK. Laß mich in Ruhe, sagt er. Ich lasse ihn in Ruhe. Ich mache mir Sorgen. Als er sich schließlich aus dem Bett hievt, sprechen wir nicht über die Tatsache, daß es schon 15 Uhr ist. Wir reden nicht über seine Depressionen, wir reden nicht über meine knochige Gestalt. Wahrscheinlich meiden wir diese Themen, weil wir nicht glauben wollen, daß sie ein Problem darstellen. Vielleicht wollen wir ja auch nicht darüber reden, weil Mark meine Figur mag. Wir sprechen auch nicht darüber, daß sich Stille zwischen uns drängt. Keiner von uns beiden weiß, ob es seine oder meine Stille ist. Wir entgleiten einander. Er macht Fotos von mir, wie ich schlafend im Gras liege, wie ich nackt am Fenster stehe, wie ich den Wagen lenke. Ich schreibe ununterbrochen, versuche, dem dumpfen Schmerz des allmählichen Verlustes auszuweichen, versuche, nicht über die Tatsache nachzudenken, daß ich bald weggehen werde.
  • August: Ich nehme an einem zweiwöchigen Journalistikseminar an der American University teil. Die Hitze ist drückend, und die Fliegen sind lästig, die Sonne ist blendend weiß. Ich trage ein Kostüm und flache, bequeme Schuhe. Ich lerne viele Leute kennen, mache Interviews, rufe meinen Vater eines Nachmittags von einem Senatsgebäude aus an, und wir kichern über die Tatsache, daß ich auf dem Capitol Hill bin. In einem Workshop zum Thema Frauenquote in den Medien gerate ich mit einem großspurigen, kleinen Bastard in einen heftigen Streit: Mein Gesicht ist gerötet, wir beide stehen auf, stützen uns mit den Händen auf dem Schreibtisch ab, schleudern uns wahnsinnig aussagekräftige Beinamen an den Kopf. »Feministin«, spuckt er. Der Raum explodiert vor Gelächter. Er wird puterrot und stürmt aus dem Zimmer. Ich sinke auf meinen Stuhl zurück und starre meine Notizen an, versuche, meine zitternden Hände zu beruhigen, meine ungezügelte Wut ist mir peinlich. Abends in den Schlafräumen, in denen die Teilnehmer untergebracht sind, besuchen mich drei Junge Frauen auf meinem Zimmer, um mit mir über das Seminar zu diskutieren. Auf vergeistigte und theoretische Weise kommen wir irgendwann auch auf Eßstörungen zu sprechen. Eine von ihnen fragt mich geradeheraus, ob ich magersüchtig sei. »Ach du liebe Güte, nein«, sage ich. Wir lachen und wechseln das Thema, sprechen über die Präsidentschaftskandidaten. Als sie wieder fort sind, stelle ich mich nackt vor den Ganzkörperspiegel, bin sicher, daß ich zugenommen habe, seit ich hier bin, halte einen kleinen Handspiegel in die Höhe, um mich von hinten sehen zu können. Reiterhosen, ich kann sie sehen. Ich setze mich auf den Boden und weine. Dann schalte ich sämtliche Lichter aus, setze mich an den Schreibtisch, spiele an meinem Laptop Solitaire, die Geräusche der Menschen, die kommen und gehen und schreien und lachen, dringen durch das geöffnete Fenster zu mir herein, im Licht des Computerbildschirms sehen meine Hände ganz blau aus.

Mark holt mich vom Flughafen ab. Im Auto habe ich plötzlich den Verdacht, daß er in meiner Abwesenheit mit einer anderen geschlafen hat. Ich frage ihn, er streitet es ab. Ich sehe, daß er lügt. Wir sind einander fern. Als wir an diesem Abend im Bett liegen, beschließen wir, Schluß zu machen. Ich gehe ins Bad, stelle mich auf den Badewannenrand, um mich sehen zu können. Ich steige wieder herunter und stelle mich auf die Waage. 87 Pfund. Meine Hände zählen meine Knochen, ich starre mein Gesicht an, denke: Ich brauche ihn nicht. Ich bin dünn. Ich bin dünn. Wofür sollte ich ihn denn überhaupt brauchen.  Ich gehe.
Am Ende des Monats fahre ich mit meinen Eltern und ein paar Verwandten meiner Mutter mit meinen drei jüngeren Cousins und Cousinen, mit Tante und Onkel und meiner Großmutter, die an Alzheimer erkrankt ist (was zu diesem Zeitpunkt noch niemand weiß, weil sie zu höflich ist, jemandem zu sagen, daß sie nicht weiß, wer wir sind und wo wir hingehen), nach Oregon. Im Flugzeug trage ich ein langes, rosafarbenes Kleid, das früher meiner Mutter gehört hat. Ich denke, daß ich in diesem Kleid genauso aussehe wie sie. Dann kommt mir der Gedanke, daß ich dünner als meine Mutter bin. Ich freue mich diebisch. Als wir vom Flughafen zur Küste fahren, sagt mir mein Vater, daß ich zu dünn bin. Er hält den Blick auf die Straße gerichtet. Ich ignoriere ihn und lese mein Buch. Im Cottage an der Küste ist es wie in alten Zeiten: Die Mädchen und ich spielen miteinander, oder wir machen lange Spaziergänge. Irgendwann sitzen wir im Wohnzimmer auf dem Boden. Meine Cousine Johanna greift nach einem Cracker und schmiert Käse darauf. Meine Großmutter, die auf der Couch sitzt und mit leerem Blick vor sich hin summt, greift plötzlich nach Johannas Handgelenk und sagt mit ihrer hohen, flötenden Stimme: »O nein, Schatz, das darfst du nicht essen! Du ißt sowieso schon viel zuviel, du wirst zu dick!« Sie kneift in Johannas Oberarm und sagt: »Siehst du Schatz? Zu dick!« Plötzlich steht die Zeit still. Keiner bewegt sich. Die zwölfjährige Johanna, die ziemlich dünn für ihr Alter ist, fängt an zu weinen. Ich stehe auf und verlasse das Zimmer. Ich gehe in mein Schlafzimmer hinauf, wo ich ebenfalls in Tränen ausbreche. Meine Mutter folgt mir und sagt mir, daß meine Großmutter es eben nicht besser weiß und ich sage, daß es mir scheißegal ist, ob sie es besser weiß oder nicht, aber daß diese ganze Familie völlig verkorkst ist, was ihre Einstellung zum Essen angeht. Später gehen die Mädchen und ich spazieren. Ich spreche mit ihnen über Magersucht, daß sie sich davon fernhalten müssen, daß sie ihr Leben ruinieren kann. Sie sind taktvoll genug, nicht darauf hinzuweisen, daß ich fast schon auf groteske Weise dünn und obendrein noch eine Heuchlerin bin. Sie nicken und versprechen mir, auf ihre Gesundheit zu achten. Wir essen ein paar Sahnebonbons. Das ist alles, was ich während des gesamten Urlaubs esse. Meine älteste Cousine ißt ausschließlich Salat mit fettfreiem Dressing. Keiner spricht darüber. Auf einem Foto, das in diesen Tagen aufgenommen wurde, liege ich an einem sonnigen Tag bäuchlings im Sand, die ausgemergelten Gliedmaßen ausgestreckt und weiß wie Knochen. Ich sehe aus wie ein Leichnam. In der Woche bevor ich nach Washington, D.C. abreise, schaue ich noch einmal beim TAMS vorbei und spreche bei Kathi vor. Sie haben jetzt keine Möglichkeit mehr, mich dazubehalten oder meine Abreise zu verhindern. Ich habe nichts zu verlieren.
Extrem dünn. Sagt: »Jetzt geht es mir gut.«
Als ich Minneapolis verlasse, wiege ich 85 Pfund, lande in Dulles und verliere auch noch den Rest meines Verstandes.