Zwischenspiel 2

5. November 1996

Wissen Sie, manchmal bin ich es leid, über all das zu schreiben. Ich wache morgens auf. Ich liege eine Weile im Bett und versuche, mein Herz zum Schlagen zu zwingen, eins zwei drei vier, eins zwei drei vier. Die Katze liegt auf meinem Bauch und schaut mich wütend an. Julian hat die Kissen in Beschlag genommen. Alles ist an seinem Platz: Die Bilder hängen noch an den Wänden, keiner ist nachts hereingekommen und hat meine Sachen geklaut, niemand hat mich verlassen, nichts fehlt, nichts ist anders. Ich ziehe drei Blusen und zwei Hosen an und wieder aus, bevor ich mich entscheide, was ich heute trage. Ich rauche und schminke mich. Ich betrachte mein Gesicht von allen Seiten. Irgend etwas stimmt nicht mit ihm. Es stimmt nie. Ich sehe auf und betrachte meinen Hintern, meine Hüften, meine Schenkel, überprüfe, wie mein Oberarm aussieht, wenn ich ihn dicht an meinen Körper presse. Dicker? Ist die linke Seite meines Hinterns dicker als vor zwei Wochen? Julian kommt mit Kaffee ins Zimmer. Sehe ich aus, als ob ich zugenommen hätte? frage ich. Er sagt: Nein. Ein immer wiederkehrendes, ermüdendes Spielchen. Ich frage, er sagt nein. Ich sage, du lügst, er sagt, nein, tue ich nicht. Ich betrachte die rechte Seite meines Hinterteils im Spiegel. Er setzt sich in meinen Sessel. Ich sage, das sagst du immer. Er sagt: Ich weiß nicht, was ich dir sonst noch sagen soll, Schatz.
Ich frage: Also im Ernst: Sehe ich aus, als ob ich zugenommen hätte? Er sagt: Nein. Ich sage: Aber sehe ich aus, als ob ich abgenommen hätte? Er sagt: Nein. Das erscheint mir unmöglich. Es kommt mir biologisch unmöglich vor, dieselbe Größe zu halten, obwohl ich es muß. Ich habe das Gefühl, immer dicker oder dünner zu sein als die Norm. Möglicherweise liegt es an meinem Höschen. Es sitzt knapper als sonst. Als wann? Keine Ahnung. Aber man ist absolut sicher, daß es stimmt. Und es verdirbt einem den Tag. An diesem Abend geht man mit seinem Ehemann, seinem Geliebten, seinem Freund, seinem Boß, wem auch immer ins Bett, dann dreht man sich zur anderen Seite, blickt zur Tür, rollt sich wie ein Fötus zusammen. Eine Hand schlängelt sich zu einem hinüber. Man sagt: Ich bin müde, laß mich. Ich habe Kopfschmerzen, mir ist schlecht. Hör auf, geh weg / laß mich in Ruhe. Denn im Laufe des Tages ist man auf die Größe eines kleinen Nilpferdes angewachsen. Man ist sich dessen sicher, die Haut spannt, man würde sie am liebsten abziehen, man schwitzt.
Dies ist der langweilige Teil von Eßstörungen, die Spätfolgen. Man ißt und haßt das Essen. Aber natürlich muß man essen. Eigentlich ist einem die Vorstellung, zurückzukehren, nicht besonders angenehm. Mit erstaunlicher Klarheit erkennt man, daß es viel schlimmer wäre zurückzukehren, als diejenige zu bleiben, die man ist. Für jeden Menschen ohne Eßstörung ist das überhaupt keine Frage. Aber nicht für einen selbst. Es ist vorbei, und dieses Stadium hat ebenfalls etwas Unheimliches. Wenn jemand darum bäte, könnte man jeden Quadratzentimeter der eigenen Haut malen, jeder Makel nimmt riesige Ausmaße an, jeder Leberfleck, jede Rundung, jede Falte, jeder Knochen, Haare, Pickel, außer dem Rücken, der einem immer schon Sorgen bereitet hat, weil man sich nicht von hinten sehen kann. Er könnte einem sozusagen »in den Rücken fallen«. Man gilt nicht mehr als eßgestörte Person. Und man fühlt sich schlecht dabei. Man hat das Gefühl, daß man eigentlich ein Recht darauf hat, wichtig zu sein. Man verdient die Sorge der anderen, man sollte immer noch die Macht haben, ein paar hektisch umherlaufende Schwestern zu aktivieren, die sich um einen kümmern, wenn sie auch ihre Verachtung schlecht verbergen, sollte immer noch das triumphierende Grinsen des Skeletts aufsetzen dürfen. Aber man lebt jetzt in der Gegenwart. Der Ehemann nippt an seinem Kaffee, sagt: Aber Liebes, es ist mir egal, wenn du zugenommen hast. Und triumphierend und logisch wie die Schwarze Schachkönigin aus Alice hinter den Spiegeln kreischt man: Siehst du? Ich habe zugenommen! Ich wußte es! Und er seufzt. Man fragt noch einmal: Sehe ich dick aus? Nein. Plump? Nein. Habe ich Rundungen? Naja, du bist eine Frau. Was meinst du damit? Ich meine - ich meine -
Ich stelle mir vor, wie Ehemänner auf der ganzen Welt im Türrahmen stehen und in ein schreckliches Dickicht aus Worten verstrickt werden, die Füße und Hände sind ihnen durch die heiklen Worte gebunden, die ebenso schillernd und bedeutungslos sind wie die Seiten einer Illustrierten.