Methodist Hospital, Klappe, die erste

Sommer 1990

SOSO, HERR DOKTOR
SO, HERR FEIND.
ICH BIN IHR BESTES STÜCK
DAS BABY AUS REINEM GOLD
DAS SCHMILZT ZU EINEM SCHREI.
ICH DREH MICH AM SPIESS UND ICH BRENN
DENKEN SIE NICHT DASS ICH IHRE GROSSE
ANTEILNAHME VERKENNE.
ASCHE, ASCHE -
SIE RÜHREN UND SCHÜREN,
FLEISCH, KNOCHEN, DA IST NICHTS AUFZUSPÜREN -
SYLVIA PLATH, »MADAME LAZARUS«, 1966[13]

Meine Erinnerung an die einzelnen Krankenhausaufenthalte im Methodist Hospital sind verschwommen und undeutlich, sie gehen ineinander über, denn ich war in weniger als einem Jahr dreimal dort. Außerdem ähneln sich Krankenhausaufenthalte sowieso wie ein Ei dem anderen. Der Tagesablauf ist immer der gleiche. Nichts verändert sich. Das Leben schmilzt zu einer Folge von Mahlzeiten zusammen. Diese Mahlzeiten gestalten das Leben, werden zum Lebensinhalt. Früher war man ein normales Mädchen mit normalem Leben. Jetzt ist man eine Patientin, ein Fall, eine Akte voller Formulare. Vielleicht ist einem diese Veränderung willkommen. Vielleicht hält man sie für unumgänglich. Man wird von der Welt abgeschnitten. Die anderen haben erkannt, wie fehlerhaft und unzulänglich man ist. Das hätte man ihnen schon vor Jahren sagen können. Es ist schon okay, denn nichts gibt einem so viel Sicherheit und Geborgenheit wie die Routine. Nichts ist einem Mädchen, das an Anorexie oder Bulimie erkrankt ist, lieber als eine Welt, in der sich alles nur ums Essen dreht, egal, wie sehr sie protestiert und heult.
Und nichts ist einer Eßstörung förderlicher als eine Behandlung. Bestimmte Dinge geben einem Sicherheit: Man bekommt Pantoffeln - kleine Socken mit Gumminoppen an den Sohlen und ein Papierhemd. Von der Tür aus gesehen liegt das Badezimmer auf der linken Seite. Wenn man am Türknauf dreht, stellt man fest, daß sie abgeschlossen ist. Auf der rechten Seite steht ein kleiner Wandschrank. Drei Schubladen unter einem Spiegel, der zu hoch hängt, so daß man seinen Hintern oder auch die Taille nicht sehen kann. Man ist gezwungen, sich statt dessen auf die Arme, auf die Schulterknochen, auf das Fleisch an den Wangen und am Hals zu konzentrieren. Geradeaus, auf der linken Seite des Zimmers, stehen zwei Betten, die durch einen Vorhang abgetrennt werden können. Doch jetzt ist er bis zur Wand zurückgezogen. Scheinbar wird man das Zimmer mit einer anderen Patientin teilen. Vielleicht wird man sich ja mit ihr verbünden. Auf der rechten Seite des Zimmers, an der Wand, stehen zwei Krankenhausstühle: graue Metallgestelle mit Vinylüberzug. Das Bett ist hart, aber man ist erschöpft. Im Krankenhaus schläft man tiefer als je zuvor und als jemals wieder in der Zukunft. Neben dem Bett steht ein kleiner Tisch mit Knöpfen. Man kann das Radio einschalten, die Krankenschwester rufen, das Licht ein- und ausschalten. Niemand wird je die Krankenschwester rufen, auch nicht, wenn er einen Herzanfall hat, denn schließlich ist man ja gar nicht richtig krank. Wenn man jemanden um Hilfe riefe, würde man signalisieren, daß man die Sorge der anderen für berechtigt hält. Man würde die Schwäche zeigen, gesund werden zu wollen. Vom Fenster aus hat man einen Ausblick über die Dächer und die gewundenen Straßen der Stadt. Je nach Jahreszeit sind die Bäume entweder grün oder kahl. Es gibt einen Aufenthaltsraum mit Fernsehgerät. Von der breiten Fensterfront aus kann man die ganze Stadt sehen. Der Rest der Wände besteht aus Plexiglas: Man steht unter ständiger Beobachtung. Außerdem ein oder zwei Sofas, ein paar Couchtische, Krankenhausteppichboden auf dem Beton. Ständig trägt man sein Kissen mit sich herum, in seinem rauhen, weißen Überzug. Man setzt sich darauf, weil der Boden an den Knochen weh tut, die am Hintern hervorstehen. Oder man legt sich bäuchlings auf den Boden und schiebt das Kissen unter die Rippen, unter die Ellbogen, unter die Beckenknochen. Es gibt Unmengen von alten Kartenspielen, Brettspielen, neuen Illustrierten. Keine Frauenzeitschriften. Freunden und Familienangehörigen wird dringend davon abgeraten, sie mitzubringen, weil sie schlecht für einen sind. Sie dürfen auch keine Lebensmittel oder Getränke mitbringen. Wenn man Glück hat, ist man in einem Krankenhaus, wo der Genuß von koffeinfreiem Kaffee gestattet ist. Koffein ist tabu. Schließlich könnte man damit den Stoffwechsel künstlich ankurbeln oder wenn man eine erfahrene Kranke ist - die Herzfrequenz beschleunigen. Im Methodist Hospital ist noch nicht einmal koffeinfreier Kaffee erlaubt, denn auch damit läßt sich das Gewicht in die Höhe treiben: Kaffee führt zu Wassereinlagerungen im Gewebe.
Es sind ständig Krankenschwestern um einen herum, zahlreiche, in wechselnden Schichten. Manche sind nett, manche nicht. Toilettenzeit ist normalerweise in jeder vollen zweiten Stunde. Dann öffnen ein paar Krankenschwestern mit schweren, herabbaumelnden Schlüsselbunden die Tür und lehnen sich an den Schrank. Alles hängt jetzt von der Krankenschwester ab. Die nettesten lassen einen allein und erlauben einem, die Tür nur einen Spalt weit aufzulassen, was ein richtiges Geschenk ist, und reden dann unaufhörlich mit einem, damit der Mund während des Pinkelns beschäftigt ist und man sich nicht vornüberbeugt und zwischen die Beine kotzt. Die meisten jedoch lassen die Tür weit offen und bleiben stehen. Immerhin wenden sie den Blick ab und verwickeln ihre Patientinnen in ein Gespräch. Jedesmal kreuzen sie die Arme über der Brust. Sie versuchen, charmant zu sein. Einige von ihnen sind nicht viel älter als wir. Man hofft, daß sie sich ganz schrecklich fühlen. Manche Krankenschwestern lassen es zu, daß man das Wasser andreht, um das donnernde Geräusch des Urins, der in den Plastikbehälter fließt - mit ihm wird die Flüssigkeitsmenge gemessen - zu übertönen. Aber es gibt auch ein paar wirklich schreckliche Krankenschwestern, die die Tür weit aufreißen und zusehen. Das sind diejenigen, die selbst Diäten machen. Man hört sie im Schwesternzimmer darüber reden. Sie glauben wohl, daß keiner zuhört - Idioten, man hört immer zu - wenn sie über ihre fetten Schenkel reden. Diese Schwestern machen schreckliche, grausame Dinge mit ihrem Haar, sie legen es in Dauerwellen, bis nur noch dünne Strähnen gelockten Strohs übrig sind, und verpassen ihm Farbtöne, die man in der Natur nirgends findet. Und sie starren einen an, das Höschen, das auf die Knie heruntergeschoben ist, die Arme, die man über dem Bauch verschränkt hat, um soviel wie möglich zu verstecken. Und wenn man sie fragt: »Kann ich bitte das Wasser andrehen?« sagen sie nicht einfach nur Nein, sondern fragen »Warum?« Und man antwortet, »Weil mir das hier etwas peinlich ist.« Und sie fragen »Warum?« Und dann gibt man auf, sitzt da, versucht, seinen Körper zur Stille zu zwingen. Scheißen wird zur Zwangsvorstellung, zum Dauerthema, über das die Patientinnen unaufhörlich reden, mit außergewöhnlichem, unflätigem Vergnügen, während sie sich auf den Sofas fläzen oder nach dem Essen auf dem Boden wälzen, die Hand auf dem Bauch, stöhnend, auf gebläht, mit nicht unerheblichen Schmerzen. Schließlich wird es den Krankenschwestern peinlich, und sie bringen uns zum Schweigen: Wechseln wir das Thema, sagen sie, und Stille legt sich über das Zimmer. Wir können beim besten Willen nicht scheißen. Keine von uns. Einige bitten die Krankenschwestern um Abführmittel, aber sie können ihnen keine geben, weil die Hälfte der Gruppe sowieso davon abhängig ist und weil sie uns umbringen könnten. Man selbst ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abhängig von Abführmitteln, und allein schon der Gedanke, sie zur Gewichtsreduktion einzunehmen, kommt einem ziemlich dumm vor, weil man schließlich kein wirkliches Gewicht verliert, wenn man den ganzen Tag auf dem Pott sitzt. Man verliert nur Wasser, und das ist keineswegs genauso gut. Natürlich weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß man sich in weniger als sechs Monaten mit seinem hochmütigen Arsch selbst ebenfalls tagelang im Badezimmer verschanzen wird, weil - jawohl! - man dreimal am Tag Abführtabletten schluckt. Unsere Körper erleben einen Schock.
Die Eingeweide sind nicht mehr an Nahrung gewöhnt. Sie umklammern die sechs täglichen Mahlzeiten wie ein Schraubstock und weigern sich, sie zu verdauen. Nachts liegt man im Bett, stellt sich jeden einzelnen Bissen vor, den man gegessen hat: im Dickdarm die Mahlzeiten vom Dienstag, kompakter zwar, aber immer noch unverdaut; im Dünndarm die Mahlzeiten von Mittwoch und Donnerstag und ein Teil vom Freitag; im Magen Samstag und Sonntag; das, was man am Montag gegessen hat, steckt in der Speiseröhre fest und drängt sich die Kehle hinauf. Wenn man zu lange nicht scheißen kann etwa sechs bis zehn Tage, bringen sie einen in einen anderen Teil des Krankenhauses und geben einem einen Barium-Einlauf. Ein Alptraum. Barium wirkt wie Dynamit. Die Tage gehen vorüber. Im ersten Morgengrauen wacht man von dem Traum auf, daß sich eine Boa constrictor um den eigenen Arm wickelt. Doch dann bemerkt man, daß es nur die Blutdruckmanschette ist. Mit verschleierter Stimme fragt man die Krankenschwester, wie die Blutdruck- und Pulswerte sind. Manche erzählen es einem, manche nicht. Das hängt davon ab, ob die Betreffende eine ausgebildete Schwester ist (sagt nichts) oder eine Hilfsschwester (sagt es). Man sinkt wieder in den Schlaf. Patientinnen wie ich wachen morgens sehr früh auf. Sie mutmaßen, daß dahinter die Absicht steckt, eine Zeitlang ohne Aufsicht zu sein, um Sport treiben zu können. Aber man ist einfach nur daran gewöhnt, früh aufzuwachen, trotzdem findet man die Idee gar nicht so schlecht und verbringt die frühen Morgenstunden damit, dem raschelnden Geräusch der Bettdecke zu lauschen, während sich die Beine darunter auf und ab bewegen. Wenn das Licht sich von dunklem Blau in blasses Grau verwandelt, kommt eine Krankenschwester herein und weckt einen. Guten Morgen, sagt sie. Morgen, murmelt man. Dann steht man zu schnell auf, weil man es niemals, niemals in seinen Dickschädel bekommen wird, daß der Körper dazu zu schwach ist. Man schwankt, manchmal fällt man um, weshalb man für den Rest des verdammten Tages auf die Beobachtungsstation kommt. Man zieht das Papierhemd an, zittert, und kriecht wieder unter die Bettdecke. Dort wartet man, bis man an der Reihe ist. Irgendwann kommt eine Krankenschwester zur Tür herein und hilft einem, den Flur hinunterzugehen, indem sie einen am Ellbogen stützt. Man stellt sich auf die High-Tech-Waage, die wahrscheinlich speziell für Krankenhäuser entwickelt wurde, die sich auf Eßstörungen spezialisiert haben, denn das Display ist dem Betrachter abgewandt. Und es nützt auch nichts, sich den Hals zu verrenken. Man ist wütend. Man hat das Gefühl, sich aufzulösen. So empfinden alle Magersüchtigen. Die meisten von uns kannten ihr Gewicht bislang in jeder Minute des Tages. Es ist zum Zentrum unseres Lebens geworden, und das jetzige Nichtwissen ist einfach beängstigend. Man bittet darum, sein Gewicht zu erfahren, schließlich ist man doch neu hier. Wenn man schon etwas länger da ist, hört man, wie andere frisch eingelieferte Frauen mit der gleichen Verzweiflung bitten, und man tauscht flüchtige, wissende Blicke mit den anderen aus. Sie sagen es einem nie. Das Leben platzt aus den Nähten.
Alle hier leben in einem Zustand permanenter, verrückter Angst. Man weiß, daß man zunehmen wird. Man kommt nicht drum herum. Auch die kleinen Tricks, die man anwendet, ändern nichts daran. Die winzigen Implosionen in der Brust, die man bei dem Gedanken daran verspürt, sind unerträglich. Und der Gedanke kommt immer wieder, oft, tagein, tagaus. Man duscht in einer Duschzelle ohne Vorhang. Man muß sich in der Dusche auf einen kleinen Hocker setzen. Man streitet sich mit der Krankenschwester. »Warum?« fragt man. Die meisten Krankenschwestern wenden sich ab, wenn sie einen bewachen, aber nicht alle. Man lernt recht schnell, welche man haßt und welche nicht. Diejenigen, die zusehen, haßt man. Und, kleines Biest, das man ist, fragt man die, die man am meisten haßt, »Na, sind Sie eifersüchtig?« Sie versucht, verächtlich den Kopf zu schütteln. Aber sie ist eifersüchtig. Die meisten von ihnen sind es nicht. Den meisten tut man einfach nur leid. Aber ein paar haben, sagen wir, ihre eigene kleine Eßstörung.[14] Jetzt hat man einen Trumpf in der Hand. Verbotene Gegenstände werden in einer Plastikschachtel im Schwesternzimmer aufbewahrt. Rasierklingen, Streichhölzer, Zigaretten. Wenn man darum bittet, erlauben sie einem, sich die Beine zu rasieren. Die meisten von uns rasieren sie sich täglich. Außerdem quält man sich täglich mit dem Gedanken herum, was man anziehen wird, und man ist immer perfekt geschminkt. Man stylt sich das Haar, als ob man ausgehen wollte, als ob man diesen Tag und den nächsten und den darauffolgenden nicht im achten Stock eines Krankenhauses verbringen würde, wo niemand einen sieht außer den Krankenschwestern und all den anderen Versagern, die ebenfalls in diesem Käfig festsitzen. Fast alle sind es seit ihrer Pubertät gewohnt, sich mindestens eine Stunde am Tag mit ihrem Äußeren zu beschäftigen. Es gehört zur täglichen Routine, und die Routine muß aufrechterhalten werden, und sei es nur nominell. Man sitzt im Aufenthaltsraum und spielt auf dem Boden Solitaire. Man mag den Morgen, denn man fühlt sich von einer Art innerem Frieden durchdrungen. Man freut sich auf den Tag. Der Tagesablauf sieht so aus: Frühstück, Morgencheck, Physiotherapie, Zwischenmahlzeit, Gesprächsgruppe, Mittagessen, Beschäftigungstherapie, Zwischenmahlzeit, Freistunde, Abendessen, Besuchsstunden, Zwischenmahlzeit, Abendcheck, Bett.
Es ist wie im Feriencamp. Erst wenn man in Behandlung ist, erkennt man, wie tief und dauerhaft die zwanghafte Liebe zum Essen wirklich ist. Man liebt es nicht auf die gleiche Weise wie andere Menschen, die das Gefühl der Sättigung oder das gemeinsame Essen mit Freunden und der Familie genießen. Nahrung ist für uns eher wie ein Geliebter. Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich Jane kennenlernte. Sie saß auf einer Couch und bearbeitete ihren Apfel mit ihrem Mund auf eine Weise, die man eindeutig als erotisch bezeichnen konnte. Sie war noch immer sehr krank. Ich fragte sie: »Was tust du denn da mit dem Apfel?« Erschrocken blickte sie zu mir auf, ihre Zunge berührte das feuchte, weiße Fleisch. Sie lachte und sagte: »Ich habe Sex mit ihm.« Diese Bemerkung war lustig, aber wahr. Sowohl bei Anorexie als auch bei Bulimie ist Nahrung das Objekt der Begierde. Man bevorzugt entweder den verzweifelten Hunger unerfüllter Leidenschaft oder den zerstörerischen Zyklus der Nahrung, die sich in den Körper hinein und wieder hinaus bewegt, hinein und hinaus, in einem Rhythmus, von dem man sich wünscht, daß er niemals endet. Beim ersten Mal war die Behandlung einfach göttlich. Ich hatte es leicht. Ich wurde als Bulimikerin klassifiziert, also mußte ich nicht allzuviel zunehmen. Also konnte ich die schreckliche Agonie, die einige der anderen Frauen durchlebten, umgehen, obwohl auch ich später, bei meinen häufigen Wiederholungen dieses Krankenhausaufenthalts, die rasende Panik kennenlernen sollte, die die Gewichtszunahme in einem auslöst. Die Behandlung bestand zunächst aus einem riesigen Buffet. Sie verabreichten einem normales Essen, und davon jede Menge. Früher vertrat man in den Kliniken für Eßstörungen die Überzeugung, daß die Zuführung von kalorienreichem Essen am zweckmäßigsten war. Aber schon bald fand man heraus, daß dies in vielen Fällen einem sofortigen Rückfall Vorschub leistete. Heute wird man durch einen Ernährungsphysiologen beraten, der einen davon zu überzeugen versucht, daß Nahrung weder Christ noch Antichrist, sondern einfach nur etwas Notwendiges ist. Nach der ersten Woche, in der ich mich schlicht und ergreifend geweigert hatte, überhaupt irgend etwas zu essen - was eher als programmatische Aussage denn als tatsächliche Angst vor dem Essen zu werten ist - durchlief ich sämtliche normale Stadien einer Hospitalisierung. Ich meckerte und stöhnte, wie schrecklich es doch war, essen zu müssen, scheute vor dem kleinsten Tropfen Fett auf unserem pochierten Fisch zurück, brauchte so lang wie nur irgend möglich, um meine Mahlzeit zu beenden. Tatsächlich aber war ich im Siebenten Himmel. Mein Leben drehte sich nur noch um Mahlzeiten. Glauben Sie niemals einer eßgestörten Person, die behauptet, Nahrung zu hassen. Das ist eine Lüge. Wenn dem Körper das Essen verweigert wird, dann beginnen die Gedanken, sich zwanghaft und ausschließlich nur um dieses Thema zu drehen. Sie sind Ausdruck des Überlebensinstinkts, der einen ständig ans Essen erinnert. Man bemüht sich immer intensiver, sie zu ignorieren, aber man schafft es nie. Der Gedanke ans Essen ersetzt das Essen selbst. Im Krankenhaus jedoch muß man essen, und so beängstigend das auch sein mag, man heißt es willkommen. Nahrung ist die Sonne, der Mond und die Sterne, das Zentrum der Schwerkraft, die Liebe des Lebens - alles zugleich. Zum Essen gezwungen zu werden ist die Art von Bestrafung, die man sich am meisten wünscht. Der kleine Speisesaal ist durch die Übelkeit erregenden ästhetischen Vorlieben der achtziger Jahre geprägt. Ziemlich malvenfarben. An der Wand hängt eine Uhr, wie sie sonst in Klassenzimmern üblich ist, das gerundete Glas spiegelt das häßliche Licht der langen, summenden Neonröhren wider. Man steht eine Minute lang im Eingang, sucht nach seinem Tablett. Daneben liegt der Speiseplan. Man entdeckt es, wie man das Gesicht des Geliebten in der Menge entdeckt, man bewegt sich darauf zu, gespielte Abscheu auf dem Gesicht, zieht den Stuhl zurück, setzt sich. Zuerst fühlt man sich zu Tode gedemütigt und ist wirklich nicht hungrig. Der Magen ist geschrumpft, man hat einfach nur Angst vor dem Essen, und man weint vor Verzweiflung. Aber langsam erwacht der Körper wieder zum Leben, und man bekommt Hunger, quälenden, nagenden Hunger. Und wieder ist man den Tränen verdammt nah: diesmal vor Freude.
Der Speiseplan: Man bekommt eine Karte, auf der steht, wie viele Kalorien man pro Tag zu sich nehmen darf. Diese Zahl wird in verschiedene Kategorien auf geteilt: Eiweiß, Brot, Milch, Gemüse, Obst, Süßigkeiten, Fette. Diese Zahlen tanzen einem wie Bonbons im Kopf herum. Das Zwangsverhalten,[15] das sich bislang in Hyperaktivität, in minutiösen Zeit-und Arbeitsplänen manifestiert hat, wird nun auf ein Gebiet gelenkt, wo es etwas wirklich Gutes bewirken kann. Das Gesicht zuckt wie bei einem Tick, wenn man sich hinsetzt, jeden Tag, mit seiner Karte und dem Speiseplan. Stundenlang brütet man darüber, probiert jede mögliche Kombination aus, mit der man seine Quote erreichen kann. Man liebt das ordentliche Kreuz im Kästchen, den ordentlichen Kreis, mit dem die Lebensmittel, die frei gewählt werden können, gekennzeichnet sind, mehr Butter, Marmelade, Fleisch etc. Man freut sich auf jede Mahlzeit, jede Zwischenmahlzeit, empfindet ein geradezu lächerliches Maß an Erregung. Alle geben vor, das Essen zu fürchten. Was für ein Schwachsinn! Diesmal ist es Sommer. Bei den Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten dreht jemand das Radio an, das auf einem Regalbrett an der Wand steht, unter den Schränken, wo sie die Nährflüssigkeit aufbewahren. Man denkt an die Nährflüssigkeit, die man bekommt, wenn man sein Essen nicht innerhalb der vorgegebenen Zeit beendet: Eine halbe Stunde für die Mahlzeiten, eine Viertelstunde für die Zwischenmahlzeiten. Sobald man ins Zimmer kommt, blickt eine Krankenschwester auf die Uhr und notiert die Zeit auf der weißen Tafel. an der Wand. Eine weitere Krankenschwester sitzt mit am Tisch und beobachtet die Gruppe. Sie ißt nichts. Sie liest auch keine Illustrierte. Sie beobachtet nur. Wenn sie jung ist, beteiligt sie sich am Gespräch, falls eines stattfindet. Normalerweise jedoch unterhält sich niemand, denn alle sind damit beschäftigt, dem Essen mißtrauische Blicke zuzuwerfen. Wenn sie älter ist, sagt sie gar nichts. Wenn die Unterhaltung sich unweigerlich dem Essen zuwendet, dem Gewicht, dem Sport, greift sie ein. Dieses Thema ist verboten, sagt sie. Eine Äußerung wie diese empfindet man als unglaubliche Ironie. Sie unterzieht die Eßgewohnheiten der Patientinnen einer genauen Prüfung. Wenn man mit den Zinken der Gabel an den Zähnen kratzt, und sei es auch nur ganz leise, wenn man die Lippe in unwillkürlichem Abscheu vor dem Essen hochzieht, wenn man das Essen auf dem Teller hin und her schiebt oder die Nahrungsmittel immer in einer bestimmten Reihenfolge zu sich nimmt, wie ich es tat - zuerst die flüssigen Lebensmittel, dann das Gemüse, Kohlehydrate, Früchte, Hauptspeise und Nachspeise - wenn man also irgend etwas davon tut, dann legt die Krankenschwester los: Marya, dies ist ein angelerntes Verhalten. Wenn man noch neu ist, dann fragt man: Ein angelerntes Verhalten? Man sitzt da, versucht die Lippen so weit wie möglich vom Essen fernzuhalten, ohne daß es auffällt, und denkt an alle Konnotationen, die das Wort Verhalten trägt. Oder wenn man eine Todsünde begeht - das Essen dezent in die Serviette spuckt, diese sorgfältig unter dem Teller zusammenfaltet, beiläufig das vorgeschriebene Butterstück in die Tasche gleiten läßt, die letzten Bissen des Essens unter der Zunge versteckt (sie in den Wangen zu verstecken funktioniert nicht, denn diese sind eingesunken und die Haut spannt sich über den Knochen) dann sitzt man ernsthaft in der Klemme. Wenn man seine Mahlzeit nicht rechtzeitig beendet, muß man nachsitzen. Man sitzt mit einem oder zwei anderen Mädchen am Tisch, während die Krankenschwester die Anzahl der Kalorien zusammenzählt, die noch auf dem Teller übrig sind. Wie wollen Sie das denn ausrechnen? schreit man. Woher wollen Sie wissen, wieviel Nährflüssigkeit Sie mir geben müssen? Das ist viel zuviel! Das ist doch alles Scheiße! Paß auf, was Du sagst, Marya, warnt sie mich, während sie die weiße Flüssigkeit in einen kleinen Plastikbecher mit Markierungslinien an der Seite schüttet. Man bekommt zehn Minuten, um die Nährflüssigkeit zu trinken. An deiner Stelle würde ich mich beeilen, sagt sie warnend und beobachtet, wie man so langsam wie möglich daran herumnuckelt. Die Entscheidung liegt bei dir, sagt sie. Das soll einem das Gefühl verleihen, Macht über das eigene Schicksal zu haben. Wenn man nicht austrinkt, kommt man an den Tropf. Man erinnert sich an die Stille, an das Klingen der Metallgabel gegen den Porzellanteller. Man erinnert sich an das Radio, an die Hitparade. Irgendwann kennt man sämtliche Titel der Charts in- und auswendig. Man erinnert sich an den Tisch mit Frauen, die konzentriert auf ihr Essen starren, mißtrauische Blicke auf die Teller der anderen werfen, langsam kauen und zwischendurch unbewußt mit den Lippen die Worte der Lieder formen. Als ich zum ersten Mal ins Krankenhaus kam, gehörte ich keineswegs zu den Ausgezehrten. Ich war eindeutig schlank, viel dünner, als normal oder attraktiv gewesen wäre, aber weil ich nicht sichtbar krank war, also nicht die Verkörperung der Krankheit, weil ich nicht den begehrten Titel der Anorektikerin trug, schämte ich mich. Man ignorierte die Tatsache, daß mein diastolischer Blutdruck die Gewohnheit hatte, jedesmal in den Keller zu fallen, wenn ich aufstand, weshalb ich dann wegen der Gefahr eines Herzstillstands auf die Beobachtungsstation kam, oder die Tatsache, daß mein Herz vor sich hin stolperte wie ein alter Mann, der einen einsamen Spaziergang durch den Park machte. Man kümmerte sich nicht um die Tatsache, daß ich eine perforierte Luftröhre hatte und die häßliche kleine Angewohnheit, meine ganze Bluse mit Blut voll zu husten. Die Bulimie gilt immer weniger als die Anorexie: In der Therapie schenkt man ihr weniger Aufmerksamkeit, und in der Gesellschaft genießt sie einen schlechten Ruf. Sie wird weder für genauso ernst noch für besonders bewunderungswürdig gehalten. Die Bulimie gibt der Versuchung des Fleisches nach, während die Askese der Magersucht die Patientin zur Heiligen erhöht und sie dem Zugriff der materialistischen Welt entzieht. Die Bulimie ist eine Rückbesinnung auf die hedonistischen Gelage der alten Römer, die Anorexie hingegen erinnert an das Mittelalter, an Selbstgeißelungen und freiwilliges Fasten. Bulimikerinnen tragen nicht das umjubelte Stigma des bis zum Skelett ausgemergelten Körpers. Ihre Selbstgeißelung findet im geheimen statt und ist mit erheblich mehr Schuld belastet als die sichtbare, programmatische Aussage der Anorektikerinnen, deren geschwächter Körper als Sinnbild weiblicher Schönheit bewundert wird. Aber den Finger in die Kehle zu stecken und zu kotzen ist weder weiblich noch besonders vornehm, noch wird es mit Beifall bedacht. Im Gegensatz dazu stellt die Verleugnung des Fleisches durch die Magersucht nicht nur den offensichtlichen Kulminationspunkt jahrhundertelanger, bizarrer Ideen über die Zierlichkeit und Schwäche des weiblichen Geschlechts dar, sondern sie ist auch die aktive Verwirklichung religiöser und kultureller Ideale. Mit fliegenden Haaren und weit aufgerissenen Augen wippen die Bulimikerinnen zwischen der fixen Idee ständigen Konsums und dessen Austreibung auf und nieder: Unstillbarer Hunger ist ebenso allgegenwärtig wie der fanatische Glaube an die moralische Überlegenheit der Selbstverleugnung und Selbstkontrolle. So können wir auch unsere Kultur getrost als bulimisch - nicht jedoch als anorektisch - bezeichnen, denn sie schwankt täglich zwischen zwei Extremen hin und her: der Völlerei und dem Erbrechen. Die fanatische Bewunderung des magersüchtigen Körpers und der wilde Haß auf das Fett an uns und an anderen läßt nicht unbedingt darauf schließen, daß Anorexie als schön gilt und genausowenig darauf, daß Fett besonders verachtenswert ist. Vielmehr sind diese Reaktionen ein Indiz dafür, daß wir selbst unter einer unerträglichen Zerrissenheit leiden und daß wir unseren Standpunkt erst noch finden müssen.

Sie, Doktor Martin, wandern
Vom Frühstück zum Irrsinn. Ende August
Eile ich durch den antiseptischen Tunnel,
wo die sich regenden Toten immer noch davon sprechen
ihre Knochen dem Druck der Heilung entgegenzustemmen.
Und ich bin die Königin dieses Sommerhotels
oder die lachende Biene auf der Jagd
nach dem Tod.

Anne Sexton, »Sie, Doktor Martin«, 1960

Vor seiner Tätigkeit als Oberhaupt einer Familie von geschrumpften Pygmäenkindern am Institut für Eßstörungen war der Arzt Dr. J. Militärarzt gewesen. Wir fragten uns laut, was ihn wohl veranlaßt haben mochte, diesen seltsamen Karrierewechsel zu vollziehen, dessentwegen er jetzt in weißem Kittel und mit ernstem Gesicht durch unsere Mitte schritt, in der Hand seine Fragebögen und Pillenfläschchen.
Die Erinnerungen meiner Eltern an ihn unterscheiden sich von den meinen beträchtlich. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß ich auf der Station lebte und sie nicht. Meine Eltern hatten, wie die meisten Menschen, (für kurze Zeit) den Eindruck, daß ich mich nach der Behandlung stabilisieren würde. Dr. J. wurde, wie unbewußt auch immer, als mein potentieller Retter betrachtet. Dr. J. ist mittlerweile in die Versicherungsbranche gewechselt, und ich bin sicher, daß er darin wirklich gut ist. Als Messias allerdings war er, wie vorhersehbar, gänzlich ungeeignet. Soweit wir wußten, waren wir die lästigsten Kreaturen, mit denen Dr. J. es jemals zu tun gehabt hatte. Er lachte nicht, er lächelte nicht, und keiner von uns hatte je den Eindruck, daß wir ihm irgendwie am Herzen lagen. Zu seiner Ehrenrettung sei erwähnt, daß er meine Eltern durchaus darauf hinwies, daß der einzige Mensch, der mich retten konnte, ich selbst war. Zu diesem Zeitpunkt jedoch glaubten sie ihm nicht. Dr. J. fand mich nicht allzu sympathisch: Ich war schwierig, vorlaut, ein Störenfried, »Sprach nicht auf die Behandlung an«, war unfreundlich und unverschämt. Ich fand ihn auch nicht besonders nett. Wir sahen ihn einmal am Tag, wenn er seine Runde machte. Er fragte dann, wie wir uns fühlten, und stellte uns einen Urlaubsschein für eine Stunde oder einen Tag aus - oder eben nicht. Er fragte einen, ob man Backpflaumen und Kleie zum Frühstück und ein paar Glückspillen haben wollte. Er entschied, ob man nachmittags mit den Krankenschwestern einen Spaziergang machen durfte. Wenn seine Runde beendet war, saßen die Mädchen trübsinnig, leise weinend oder schreiend auf ihrem Zimmer. Manchmal hatte das Weinen und Schreien eine durchaus nachvollziehbare Ursache: Dr. J. hatte der einen den Tagesurlaub verweigert, der nächsten ihr Gewicht gesagt oder eine weitere von uns darüber informiert, daß sie in Zukunft mehr Kalorien zu sich nehmen mußte. Aber abgesehen davon gab es noch einen weiteren guten Grund für unser Verhalten: Dr. J. war ein vollendetes Arschloch.
Physiotherapie: Langsam gingen wir in den Therapieraum im Keller hinunter. Dort legten wir uns auf den Boden (wobei wir unter strengster Aufsicht standen) und absolvierten unsere Übungen. Mit stumpfen Nadeln, die eine breite Spitze hatten, nähten wir jede Menge Mokassins zusammen. Und wir häkelten und webten kleine Pudeldeckchen, stickten und strickten und stellten Collagen von Bildern aus Illustrierten her, mit denen wir unser innerstes Selbst zum Ausdruck bringen sollten. Die Beschäftigungstherapie soll einem ein Erfolgserlebnis verschaffen, das Gefühl geben, auch etwas anderes leisten zu können als zu verhungern. In den verhaltenstherapeutischen Gruppen übten wir, um das zu bitten, was wir brauchten. In den ernährungsphysiologischen Stunden, an denen wir voller Verzückung teilnahmen, lernten wir, wieviel Eiweiß und Broteinheiten ein Stück Pizza hatte. Wir nahmen an Rollenspielen teil, wo wir übten, einem Familienmitglied etwas zu sagen, das wir ihm schon immer hatten sagen wollen, und zwar in Form von Ich-Botschaften. Bei unserem Morgencheck formulierten wir unser Tagesziel (mein Tagesziel besteht darin, Tagebuch zu schreiben, Dr. J. um einen Tagesurlaub zu bitten und meine Milch auszutrinken), setzten uns dann mit unseren Kissen auf den Boden, die Beine gespreizt, wobei sich die Sehnen unter der Haut auf groteske Weise nach außen wölben. Wir malten Bilder und kleine Schilder, die wir in unseren Zimmern aufhängten: Symptome sind keine Alternative; Ich habe das Recht, für mich selbst zu sorgen; Ich werde geliebt; Heute erlaube ich mir, zu essen. Ich saß in der Gruppe, ohne daran teilzunehmen, zum Teil, weil ich trotzig war, zum Teil, weil die Themen so wenig mit mir zu tun hatten. Es war wohl kaum Passivität, die mich nachts wachhielt. Meine Fähigkeit, Gefühle zum Ausdruck zu bringen, schien mir durchaus ausreichend entwickelt, wenn man bedachte, wieviel Zeit ich auf der Station damit zubrachte, mich über Verwarnungen aufzuregen, daß mein Temperament, meine Sprache, meine Einstellung die Heilung für die anderen ebenfalls erschwerte.
Meine Eltern kamen immer am Abend zu Besuch. Mein Vater und ich spielten Rommé, Canasta oder Patience miteinander. Wir sprachen nicht viel. Und ganz bestimmt unterhielten wir uns nicht über das, was mit mir geschah. Manchmal stritten wir miteinander, dann gingen sie wieder. Jeder auf der Station fand meine Eltern außerordentlich nett und hatte den Eindruck, daß wir gut miteinander klarkamen. Ich nickte nur dazu. Eines Abends kam meine Mutter allein zu Besuch. Das bedeutete Gefahr. Mein Vater war ein Puffer zwischen uns, ich war ein Puffer zwischen ihnen, und meine Mutter stand zwischen meinem Vater und mir. Die klassische Dreieckskonstellation. Ein Kartenhaus hängt von jeder einzelnen Karte ab; wenn man eine herauszieht - Asche, Asche, Asche - und wir alle fallen herunter. Meine Mutter saß auf einem Stuhl neben meinem Bett, während ich auf meinem Nachttisch Patience legte. Trotz meines starrköpfigen Beharrens darauf, daß meine Mutter unsterblich war und auf dem Olymp wohnte, war mir in der Therapie bewußt geworden, daß meine Beziehung zu ihr vielleicht doch nicht ganz so vollkommen war. Dort hatte man mich darauf hingewiesen, daß ich vielleicht ein paar meiner nahrungsbezogenen Neurosen von meiner Mutter übernommen hatte. Beiläufig brachte ich dieses Thema bei ihrem Besuch also zur Sprache. Ich erwähnte, daß sie sich vielleicht ebenfalls etwas zu intensive Gedanken um ihren eigenen Körper, ihr Gewicht und über die Menge dessen, was sie aß, machte. Sie saß auf ihrem metallenen Krankenhausstuhl, die Arme über der Brust verschränkt, die Finger zuckend, auf dem Gesicht ein herablassendes Lächeln. Ich bedrängte sie, mir zu antworten. Ihr Lächeln wurde gemein, und sie verkündete, daß es wohl kaum meine Aufgabe wäre, ihr die Schuld für meine Probleme zuzuweisen. Ich sagte: »Ich weise dir doch keine Schuld zu! Ich sage nur, daß ich vielleicht einige Gewohnheiten von dir übernommen habe! « Sie sagte: »Liebes, du hast nichts übernommen. Du bist so auf die Welt gekommen.« Sie stand auf, nahm ihre Handtasche und ging hinaus. Ich lag auf dem Bett, betrachtete mein Spiegelbild in dem von der Nacht geschwärzten Fenster. Ich drehte mein Gesicht in mein Kissen, dann zog ich das Kissen über den Kopf. Ich war einfach so auf die Welt gekommen, mit einer seltsamen Neigung zur Selbstzerstörung.
Dienstag ging ich zur Einzeltherapie. Donnerstag mußte ich mit meinen Eltern zur Familientherapie. Meine Mutter war kalt, saß aufrecht in ihrem Sessel, die Beine über Kreuz, ein Arm auf der Taille, der andere vor sich hin zuckend, gestikulierend. Gelegentlich berührte sie den hochgeschlagenen Kragen ihrer Bluse, die scharfe Kante ihres Kostüms. Sie mied meinen Blick. Wenn der Therapeut sie bedrängte, wurde ihre Stimme scharf, ihre Augen blitzten, ein schnelles Messer, das sich in die Rippen bohrte. Mein Vater war warmherzig, besorgt, beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf den Knien. Wenn er unter Druck gesetzt wurde, antwortete er mit scharfer, lauter Stimme, um sein Kinn herum arbeitete es, eine stumpfe Faust schlug stetig auf sein Knie. Ich schnürte mich zu einem festen Knoten in der Ecke meines Sessels zusammen. Ging ihnen an die Kehle, fluchte. Zischte meine Mutter an, schnellte vor wie eine Schlange, um meinen Vater anzuschreien, ihm Aug in Aug gegenüberzusitzen und ihm ins Gesicht zu spucken. Zuerst gingen wir alle drei lächelnd in die Therapie. Ich war ihr kleines Mädchen, und ich war krank. Sie waren sehr erpicht darauf, daß es mir bald wieder besser ging. Wir lieferten eine gute Vorstellung ab, sie legten mir die Arme um die Schultern. Ich riß ein paar intelligente Witzchen. Das war bald vorbei. Sechzehn Jahre einer schlechten Ehe und sechzehn Jahre eines völlig verkorksten Kindes lagen geschwollen und pulsierend unter der Haut, warteten nur darauf, herauszubrechen. Meine Eltern hatten Angst, außerdem war die Situation ziemlich neu für sie. Damals glaubten sie, daß es damit getan wäre, mich einfach wieder zum Essen zu bringen. Dann würde alles wieder gut werden. Sie ist halt ein bißchen neben der Spur, was ihre Diät angeht.
Diese Einstellung hält das wirkliche Problem - daß man mit einer tödlichen Krankheit liebäugelt, und zwar absichtlich - in Schach und erstickt jeden bedeutsamen Fortschritt im Keim. Man weiß noch nicht, daß man Monster bezwingen muß, die viel größer sind als eine Diät oder das Gewicht. Die Familie muß einen in einem neuen Licht sehen: nicht nur als ihr kleines Mädchen - selbst Eltern und Partner älterer eßgestörter Frauen legen diese Haltung häufig an den Tag - sondern als Menschen mit einer persönlichen Geschichte, mit einer Bandbreite von Gefühlen, als jemand, der vielleicht erheblich komplexer ist, als sie es wahrnehmen. Und man selbst muß sie ebenfalls als Menschen sehen, die fehlbar sind, die einen lieben, und nicht mehr als Feind oder als Erlöser. Alle Beteiligten müssen erwachsen werden. Doch weder meine Familie noch ich selbst waren dazu zu diesem Zeitpunkt reif genug. Es war viel leichter, nicht erwachsen zu werden. Sie betrachteten meine Eßstörung nur wieder als seltsamen Trieb, als Ausdruck meiner streitsüchtigen, verrückten Natur, und ich sah sie und ihre Versuche, mich zu unterstützen, als weiteren Beweis dafür, wie schrecklich sie waren. Wir irrten uns alle drei. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte keiner von uns die Möglichkeit, die Dinge auf andere Weise zu betrachten. Wir verbrachten die Familientherapie mit Streiten. Wie vorherzusehen war, behauptete meine Mutter, daß alles nur die Schuld meines Vaters sei, während er meine Mutter verantwortlich machte. Dann wechselten sie die Richtung, gingen überraschend eine eheliche Allianz ein und kamen überein, daß eigentlich doch alles meine Schuld war. Seltsamerweise stimmte ich dem Therapeuten zu, daß niemand die Schuld hätte und daß wir mit unseren endlosen Schuldzuweisungen nur unsere Zeit verschwendeten. Offensichtlich genoß ich es, meinen EItern unzensiert sagen zu können, was für ldioten sie waren. Auch sie genossen die geschützte Oase, diese eine Stunde in der Woche, in der sie einander in Stücke reißen konnten, Glied um Glied. Die Sitzungen waren weit mehr als nur vergiftet. All die Jahre, in denen sie sich bemüht hatten, ihre Ehe um meinetwillen aufrechtzuerhalten, all die Jahre der Furcht, daß auch nur ein Wort zuviel den Damm zum Brechen würde bringen können, all die Jahre umsonst. Wie Kamikazeflieger rasten wir mit tödlicher Geschwindigkeit aufeinander zu. Danach würde nichts mehr sein wie vorher. Man kann nicht vergessen, daß man gesehen hat, wie das eigene Kind die Tür zum Tod eintrat. Man kann die Familienwunden nicht aufreißen und hoffen, daß sie ohne Narben wieder verheilen werden.
Alles verändert sich. In guten wie in schlechten Tagen, die Familie bricht auseinander. Ein paar Freunde aus Edina besuchten mich im Krankenhaus. Ich saß auf dem Bett, die Decke über den Knien, und versuchte, mit ihnen zu lachen. Es war der Geburtstag meiner besten Freundin, und sie hatten Luftballons mitgebracht. Sie wollten nach dem Besuch bei mir zusammen ausgehen. Sie brachten mir Blumen mit, erzählten mir den neuesten Klatsch. Wir sprachen nicht darüber, wo ich war. Wir schwebten in leerem Raum und verstummten plötzlich, als die Krankenschwester hereinkam, um mir den Blutdruck, die Temperatur, den Puls zu messen. Sie kehrte mit einem Becher Nährflüssigkeit zurück. Ich biß mir auf die Unterlippe. Ich konnte in diesem Augenblick nicht fragen, warum man mir zusätzliche Kalorien verabreichte. Ich mußte so normal wie möglich erscheinen. Ich konnte weder schreien noch weinen. Ich lächelte schwach und führte den Becher mit zitternden Fingern an die Lippen, während meine Freunde versuchten, nicht hinzusehen. Sie umarmten mich steif, einer nach dem anderen, und gingen. Schon an diesem Abend wußte ich, daß sie nicht zurückkommen würden. Und ich wollte es auch gar nicht. Es war mir peinlich, ich fühlte mich gedemütigt, und ich wollte mit niemandem mehr etwas zu tun haben, der mich daran erinnerte, wie sehr ich heruntergekommen war. Meine jahrelange Abwesenheit hatte eine unüberbrückbare Kluft zwischen uns geschaffen. Meine Krankheit verschlimmerte diesen Zustand nur noch. Das Band zu einer Vergangenheit, mit der ich nichts mehr zu schaffen haben wollte, zerriß mit einem Ruck. Ich war frei.
August: Die Lebenszeichen hatten sich stabilisiert, der Kopf war klarer, ich fühlte mich stark und ruhelos. Ich aß, wenn man es mir sagte, und ich nahm normale Bissen zu mir. In der Therapie gestand ich mit weit aufgerissenen Augen meinen Wunsch, gesund zu werden. Das Leben ist so verlockend, sagte ich. Ich fühle mich wohl in meiner Haut, sagte ich. In meiner Akte ist zu lesen, daß ich eine plötzliche und vollständige Wandlung vollzog. Die Behandlung schlug an. Im Krankenhaus wurde ich nicht gesund. Ich wurde kränker. Ich wäre sowieso kränker geworden, ich war so weit weg. Aber das Krankenhaus war ein Zufluchtsort für mich, wie es das für viele von uns ist. Es wurde zum Garten Eden, nach dem ich mich sehnte, wenn ich draußen war. Ich war dem Tode - diesem stillen, schweigsamen, sehr sicheren Ort - so nah, wie ich glaubte, ihm nahekommen zu können. Das Leben hält an. Die Zeit hält an. Man wird zu einem Fall, einer Untersuchung, einer Kuriosität, einem Problem, einer Krankheit, einem Kind. Man löst den ganzen Tag nur Kreuzworträtsel. Man liest unzählige Bücher - ungestört. Und wenn sie einen schließlich entlassen, hat man erheblich mehr Angst als zu dem Zeitpunkt, als man eingeliefert wurde. Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hurte ich herum. Ein Typ aus meiner Selbsthilfegruppe fand mich hübsch, also schlief ich mit ihm auf dem Rücksitz eines Autos. Kühle Nacht, der Herbst kam früh, der Nebel auf dem Glas, ich dachte, wie lustig der Abdruck meiner Zehen auf dem Fensterglas aussah. Ich saß in einem Schnellimbiß, der den ganzen Tag geöffnet hatte, stocherte einen fettfreien Muffin auseinander und rauchte eine Camel nach der anderen.
Später dachte ich mit morbidem Stolz darüber nach, was für eine unglaubliche Leistung es war, eine solch ausgefeilte Lüge zu erschaffen. Ich dachte über die glatte, ebene Oberfläche nach, die ich ihnen präsentiert haben mußte: Der Zauberer zieht einen endlos langen Schal aus dem Ärmel, die schlüpfrige Seide schlängelt sich immer weiter hinaus, hinaus und hinaus. Irgendwie gelang es mir, meine Eltern davon zu überzeugen, daß ein Umzug nach Kalifornien jetzt das beste für mich war. Die Meeresluft wird mir guttun, sagte ich. Wir machten Pläne. Ich mietete ein Zimmer im Haus der Exfrau meines Vaters. Ich würde die High School besuchen, in der sie unterrichtete, in der ihr Sohn studierte. Einmal die Woche sollte ich zur Therapie gehen, zweimal im Monat einen Psychiater, einen Ernährungsphysiologen, einen Mediziner aufsuchen. Ich mußte mein Gewicht halten. Ich würde regelmäßig gewogen. Nichts würde dem aufmerksamen Beobachter entgehen. Zumindest glaubten das alle. Ende August verabschiedete ich mich und bestieg ein Flugzeug, das mich nach San Francisco bringen sollte. Zur Linken sehen Sie, so der Pilot über den Lautsprecher, die Rockies. Ich bin betrunken - zu viele Bloody Marys. In der warmen, spätsommerlichen Nachtluft nehme ich einen Bus nach Norden, sitze neben einem Mann, der mir von seiner Tochter, seinem Geld, seinem Job erzählt. Die Hand auf meinem Knie, die Hand auf meiner Hand, meine Hand, die er auf seinen kurzen, dicken Schwanz legt. Gefangen im hinteren Teil eines Busses, ohne Fluchtmöglichkeit und ohne etwas sagen zu können, das nicht grob gewesen wäre, habe ich leisen Sex mit einem verheirateten Mann auf dessen breitem, gemütlichen Sitz, mein Knie eingeklemmt zwischen seiner Armlehne und seinem harten, angespannten Schenkel. Hinterher liest er im Licht des Vollmondes eine Illustrierte. Ich beobachte die schimmernden Hügel, die weiten, bestellten Felder, über denen der Nebel hängt, blau und ätherisch, die wilden Apfelbäume, die wie Geier über der Straße lauern. Ich atme tief, drücke den Kopf in meinen Sitz, während der Highway 101 vorbeifliegt. Ich lächele. Betrügen ist eine Kunst. Ich habe ein neues Spiel.