Persephone selbst ist nur eine Stimme

Kalifornien 1990 bis 1991

  • GIB MIR EINE ENZIANBLUME, GIB MIR EINE FACKEL!
    DASS ICH MIR LEUCHTEN KANN, MIT DER BLAUEN,
    GEZACKTEN FACKEL DIESER BLUME
    DIE DUNKLEN UND IMMER DUNKLEREN STUFEN HINAB,
    WO DAS BLAU FAST ZU SCHWARZ SICH VERDUNKELT
    DORT, WO PERSEPHONE WANDELT, IN DIESEM
    AUGENBLICK VOM EISIGEN SEPTEMBER
    HINEIN IN DAS BLINDE KÖNIGREICH, WO DIE
    DUNKELHEIT ÜBER DEM DUNKEL WACHT
    UND PERSEPHONE SELBST NUR NOCH EINE STIMME IST
    ODER EINE DUNKELHEIT, UNSICHTBAR VERBORGEN
    IN DEN FALTEN DES TIEFEREN DUNKELS
    VON PLUTOS ARMEN, DURCHSTOSSEN VOM DOLCH
    DÜSTERER LEIDENSCHAFT
    UNTER DEM GLANZ DER FACKELN DER DUNKELHEIT,
    DIE MIT IHRER DUNKELHEIT DIE VERLORENE BRAUT
    UND IHREN BRÄUTIGAM BESCHEINEN.
    D.H. LAWRENCE, »BAYERISCHER ENZIAN«, 1932

Das Haus ist sehr dunkel. Es steht ein Stück von der Hauptstraße entfernt. Die steile, staubige Straße hinauffahren, die von einem dichten, grünen Baldachin aus mit Spanischem Moos verwobenen Bäumen bedeckt ist, die Auffahrt hinabgehen, vorbei an dem Hühnerstall mit dem verrückten alten Hahn, der um 2, um 3 und um 4 Uhr morgens kräht. Vor einem das riesige, dunkle Haus, das die Gebirgsausläufer des Bennett Mountain hinabzugleiten scheint. Hinter einem ein Tal, das im violetten Mondlicht schwimmt. Der Himmel weit und kühl. Diese Umgebung, die Hügel, die Bäume, die wilden Geräusche, das Rascheln im trockenen Gras und die wispernden Blätter, das schnelle Trommeln der Hufe. Die Vorderseite des Hauses ist von einer absackenden Terrasse umgeben. Zwei Sessel, ein kleiner Tisch, ein Aschenbecher voller Kippen, Zigaretten, die nur zu zwei Dritteln heruntergeraucht sind. Die Steintreppen hinauf mit dem schmiedeeisernen Geländer, man öffnet die braune Tür. Man steht im Türrahmen: geradeaus eine Treppe, eine Tür zur Rechten, die Küche zur Linken. Dunkel. Hinter der Küche ein Eßzimmer, dann das Wohnzimmer, Schlafzimmer, die man nie betritt. Ein Holzofen, ein großes, schwarzes Rohr. Im Winter wird man in seiner Jacke auf dem Holzofen sitzen, kalt bis auf die Knochen, und wird sich aufzuwärmen versuchen. Man wird seinen Mantel bis zur Hose hindurch schmelzen, ohne es zu merken. Sich mit der Küche vertraut machen. In der Tür stehen. Links: Arbeitsplatte, Mikrowelle die wirst du noch brauchen, paß bloß auf - Spülstein, darüber das Fenster mit Blick durch die großen, wilden Rosensträucher den Hügel hinab, ins Tal. Der Hühnerstall, der alte Schuppen, in dem ein Mann namens Ray lebt, den man selten sieht und der Papiermasken herstellt. Autowracks, die sich in das brachliegende Land graben und von Unkraut überwuchert sind: ein Volvo, ein alter, grüner VW-Bus, einige andere, man zählt nie nach. Vom Spülstein aus kann man die Reparaturwerkstatt sehen, den üppig wuchernden Garten, die Hügel. Auf der Arbeitsplatte: der Toaster, die Marmelade, Honig, Erdnußbutter, Butter, Zucker in einer blauweißen Dose, Salz, Gewürze, Schneidebrett. Schüsseln mit Früchten: Äpfel, Orangen, Bananen, eine Kiwi, die in den letzten Zügen liegt. In den Schränken: Töpfe, Pfannen, Kartoffelchips, Reisplätzchen, Brot, kleine, zusammengeknüllte Plastiktüten mit trockenen Brotresten. Ein Aquarium in der Ecke, darin ein Piranha. Später begeht der Piranha während des Abendessens Selbstmord, springt in die Höhe wie ein Macho, der die Bauchmuskulatur spielen lassen will, dann hinaus aus dem Wasserbecken, und stirbt nach Luft schnappend auf dem Fußboden. Ein Vogelkäfig mit einem schnatternden, grünen Vogel. Eine alte Katze, die im Dachgeschoß über der Küche auf der Waschmaschine schläft. Zwei riesige Hunde: Rhodesian Ridgebacks, Tiska und Moe genannt. Der Kühlschrank. So voll und geheimnisumwittert, daß man den Inhalt jetzt nicht im einzelnen aufführen kann. Es muß genügen, darauf hinzuweisen, daß es dort Butter, Käse, Milch und alle anderen Lebensmittel gibt, die man braucht. Auch Tofu, den man später selbst kaufen, aber nicht essen wird. Und jede Menge Reste, die man essen wird. Die Schränke auf der rechten Seite des Ofens gehören dem Mann, der am Ende des Ganges wohnt, wo auch das eigene Zimmer liegt. Er spielt nachts Blues auf der Gitarre. Ißt Kartoffeln, Haferbrei, direkt aus dem Topf. Warum einen Teller schmutzig machen, sagt er. Gleich zur Rechten - und dies ist der wichtige Teil - stehen die Schränke, in denen Cracker und Zerealien aufbewahrt werden. Cornflakes, Körner, unzählige Schachteln mit gesundem Körnerfutter, das auf der Zunge knirscht und in der Kehle kratzt, wenn es sich seinen rasenden Weg zurück nach oben sucht. Die Kekse sind auf dem obersten Regalbord, als ob man ein kleines Mädchen wäre und nicht hinaufklettern könnte. Als ob man nicht schweben könnte, wenn man wollte. Als ob. Die Treppe hinauf. In den Ecken über dem Kopf bemerkt man Spinnweben. Oben links die Tür zu dem Zimmer, in dem man wohnen soll. Bett gleich links, Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Lange, gelbe Couch unter dem Fenster, Schreibtisch rechts neben der Couch. Die Lampe auf dem Schreibtisch verbreitet ein warmes, blasses Licht. Man stößt die Fensterläden auf, setzt sich auf das Fensterbrett und raucht. Manchmal klettert man auf das breite, flache Dach und beugt sich über die Kante. Auf der Terrasse unter einem sieht man, sehr spät, das rote Ende einer Zigarette im Dunkeln, das sich in hellen Lichtstreifen vor- und zurückbewegt. Man hört ein körperloses Husten. Manchmal klettert man die Leiter zur nächsten Dachschicht hinauf, liegt dort mit einem Jungen auf dem Rücken, schmiedet große, unmögliche Pläne, dicht beieinander, mit der Hand umklammert man die Kante einer Decke. Man zählt die Sterne und das unsichtbare Wild, das vorbeijagt. Wieder im Flur findet man auf der linken Seite die Toilette. Ein langer Waschtisch, drei Waschbecken, drei Spiegel darüber, drei verspiegelte Schränke unter den Spiegeln. Man soll das Waschbecken direkt an der Tür benutzen. Im eigenen Schrank befinden sich Abführmittel, verschiedene Pillen. Im Spiegel sieht man das Gesicht, die Brust, den Bauch, die Hüften, den Hintern. Allerdings muß man sich auf die Zehenspitzen stellen, um den Hintern zu sehen. Wenn man sich auf die Toilette stellt, kann man auch die Schenkel sehen. Neben der Toilette ein Fenster, ein Ventilator, ein Heizlüfter, dessen Surren und Ticken ausreicht, um den Lärm zu übertönen. Eine Dusche. Eine Waage. Die Waage zeigt ein Kilo zuviel an. Als man ankommt, wiegt man 51 Kilo. Man beobachtet, wie die Nadel sich zögerlich auf die Zahl zubewegt, dann wieder zurückfällt, wie in Zeitlupe, zurück, zurück, zurück, jedesmal, wenn man auf die Waage steigt, täglich, zehnmal am Tag. Mal mehr, mal weniger. Nach dem Aufwachen, nach der Schule, nach dem Fressen, nach dem Kotzen, nach dem Abendessen, nach dem Erbrechen des Abendessens, vor dem Pinkeln, nach dem Pinkeln, vor der Einnahme einer Handvoll von Abführpillen und nachdem sie ihre scheußliche Wirkung getan haben. Am hinteren Ende des FIures befinden sich zwei weitere Schlafzimmer. Der Stiefbruder, Sohn der ersten Frau des Vaters, hat ein Zimmer voller Masken und Bongos. Im anderen Raum wohnt der Mann, der direkt aus Töpfen ißt. Ein Blick hinein: zwei Fenster, ein Bett, eine Gitarre in geöffnetem Kasten. Man war schon einmal hier. Man liebt dieses Haus. Es ist verzaubert, es seufzt und knarrt im Wind, riecht nach Holzrauch und Salznebel. Dem Flug der Krähe folgend liegt die Bodega Bay, das Meer, dreißig Meilen weiter westlich. In stillen Nächten auf dem Dach kann man es hören. Und immer kann man es riechen. Man riecht das Salz und den scharfen, durchdringenden Duft des Eukalyptus, der sich durch das Gehirn brennt. Es riecht nach zu Hause. Das Haus gehört der Exfrau des Vaters, die man Stiefmutter nennt, und ihrem Mann. Sie haben die Menschen aufgezogen, die man als Brüder bezeichnet. Sie sind keine richtigen Brüder. Es sind die Jungs, die der eigene Vater und seine erste Frau vor etwa zwanzig Jahren adoptierten, die Jungs, die der Vater als Söhne bezeichnet, die Jungs mit zu vielen Familien, zu vielen Ansprüchen an ihre Zeit und Liebe, die Jungs, die einem das Roller-Skaten und das Eislaufen beigebracht haben, und das Spucken. Diesen Jungen ist man als kleines Mädchen hinterhergelaufen: Wartet auf mich! Sie trotteten zurück und hoben einen auf, wenn man hingefallen war. Sie banden einem die Schuhe zu und machten einem Apfelbuttersandwiches (Paul) und Limonade mit Eis (Tim). Jungen, die nicht viele Worte machen, die man bewundert, aber nicht kennt. Jetzt sind sie junge Männer, besuchen das College und waren und sind nach wie vor ein periodisch auftretender, schattenhafter Bestandteil des eigenen Lebens. Sie waren nicht lang genug da, um mitzubekommen, was in der Zwischenzeit geschehen war, wie das kleine Mädchen sich in einen Krankenhaus-Ex-Sträfling verwandelte, auf merkwürdige Weise »geheilt« und doch immer dünner wurde, jedesmal, wenn sie in den Ferien nach Hause kamen, immer dünner wurde und gemeiner und verschlossener. Man kann ihnen nicht ins Gesicht blicken, wenn sie von Zeit zu Zeit fragen: »Geht es dir gut?« Natürlich, sagt man und lächelt. Der jüngste, zehn Monate jünger als man selbst, lebt immer noch zu Hause, am Ende des Flurs. Man hat eine seltsame, bittere, enge Beziehung zueinander, die man als Freundschaft bezeichnen könnte. Man streitet, man prügelt sich. Oder man liegt auf dem Bett, zugekifft, und schlägt die Zeit mit Musikhören tot, spricht von nichts Besonderem. Spricht niemals wirklich davon, was mit einem geschieht. Streitet, nachdem man all seine Hemden gestohlen hat oder er den roten Rock, mit dem er dann auch noch am Frühstückstisch erscheint. Man hat ein paar gemeinsame Freunde. Man kennt die Frau, die einen in ihrem Haus aufgenommen hat und die darauf vertraut, daß man die Wahrheit sagt. Sie ist die Mutter dreier Söhne, und man selbst ist wie eine Tochter für sie. Man neigt ohnehin dazu, sich älteren Frauen anzuschließen, sammelt gewissermaßen Mütter. Sie ist eine. Man steht sich nahe. Sie liebt einen, und man liebt sie. Man geht zusammen in den Supermarkt. Man fährt an den Strand und macht lange Spaziergänge.
Ende August. Man fährt zur Bodega-Bucht, entfacht Freudenfeuer in den Dünen. Dünengras und Eiskraut, ein paar verstreute Mohnblumen, Dornen. Man trägt mexikanische Ponchos, die vorne eine Tasche haben, hat Gras in der Tasche, Papier, Feuerzeuge. Man sitzt im Kreis, die Knie bis zur Brust hochgezogen, die Arme um die Knie. Das Meer, schwarz, unter einem tiefblauen Himmel. Das Meer, das an die Küste schlägt. Der Geruch des Rauchs, der vom brennenden Holz aufsteigt, scharf, und der von Marihuana, klebrig süß. Der Wind und das Tosen.
Ende August. Man ist schwanger. Wieder. Man wußte es schon bei der Abreise. Man denkt: Das ist Gottes kleiner Streich. Gott wird einem diesen Streich noch ein paar weitere Jahre lang spielen, eine grausame Erinnerung daran, daß das Leben fortbesteht, daß die Naturgesetze einem immer eins auf den arroganten Arsch geben, egal, wie sehr man sich dagegen auflehnt. Man wartet. Als einem das Warten zuviel wird, fällt man die Treppe hinunter, als gerade niemand zu Hause ist, man taucht ab, bäuchlings. Der Körper ist noch immer schwach genug, um auf diesen alten Trick hereinzufallen. Man spült die rote Masse fort. Keine Tränen. Die unbehaglichen Schuldgefühle in der Brust gelten nicht dem Baby, sondern den weichen Brüsten, durchzogen von blauen Venen, fett. Sie werden schrumpfen, versichert man sich wieder und wieder. Schrumpfen.
Die folgenden Monate sind seltsam. Dies ist die einzige Zeit im Leben, von der man wirklich behaupten kann, daß man definitiv verrückt ist. Wie der Hutmacher aus Alice im Wunderland. Die Erinnerungen sind wie kurze Blitzlichter. Die Tage versinken im Nebel, nicht wegen der feuchten Hand der Zeit, die die Kreidezeichnungen des Gedächtnisses zu verwischen pflegt, sondern weil die Tage schlaflos und fließend ineinander übergingen, in einem faszinierenden Abwärtswirbel, einer Helix aus Blut in Wasser, die dem Abgrund entgegentanzt. Die folgende Schilderung der Ereignisse ist lückenhaft, weil es so vieles gibt, an das ich mich nicht erinnere. Es ist weggebrannt, vermute ich, wie der Morgennebel von den ersten heißen Strahlen der Sonne. Und übrig blieb das Folgende.
Spätsommerbrise. Die Hügel trocken, golden, wie gekämmtes Heu. Glitzernd. Die Bäume still. Morgens fütterte ich die Hühner, ging den knirschenden Kiesweg hinab, duckte mich in die kühle, widerlich stinkende Luft des Hühnerstalls, warf einen Eimer Futter auf den Boden. Ich bin mir sicher, daß ich mich im ersten Monat dort tatsächlich an mein verdammtes Genesungsprogramm zu halten versuchte. Jeden Tag mampfte ich meinen Nachmittagssnack genau um 15 Uhr, trank meine Milch. Ich bin mir sicher, daß ich mich erneut mit Jungen traf, natürlich vor allem deshalb, weil sie keine Fragen stellen. Atemlose, heiße Jungen mit zitternden Bäuchen. Ich erinnere mich, wie ich mit ihnen im Bett lag und der Dunkelheit lauschte. Ich erinnere mich daran, wie ich die gewundenen Wege der Gebirgsausläufer herunterlief, durch das hohe Gebüsch auf den Hügeln hinter dem Haus pfiff und immer wieder dachte: Ich bin daheim. Ich bin daheim. Ich bin daheim. Es war der Geruch. Die Eukalyptusblätter von damals, früher, aus der Zeit, die ganz allein mir zu gehören schien, als meine kleinen Beine noch stämmig genug waren, um überall herumzuklettern, den Walnut Boulevard entlangzurennen, das moosbewachsene Ufer des Baches zu erkunden, über die kilometerweiten Flächen der Felder zu laufen. Aber jetzt waren meine Beine geschwächt, irgend etwas stimmte nicht mit mir, obwohl ich keine Ahnung hatte, was es war. Es gab nur einen wirklich erhellenden Augenblick: Am ersten Schultag wachte ich vor meiner Stiefmutter und meinem Bruder auf. Ich ging die Treppe herunter, in die Küche, die im schwachen Licht des Morgens blaßgrau schien. Ich nahm mir eine Banane, legte sie auf die Arbeitsplatte, nahm die Cornflakes aus dem Schrank, ging zum Kühlschrank, um die Milch herauszuholen. Ich stand da, die Tür geöffnet, sah mit leerem Blick die Milchflasche an. Und dann dachte ich ganz klar: Ich muß keine Milch trinken. Ich muß nicht einmal frühstücken. Ich schloß die Tür wieder. Stellte die Cornflakes wieder an ihren Platz. Nahm ein kleines Messer heraus, schnitt die Banane in zwei Hälften, schnitt die Hälfte in Viertel und teilte jedes Viertel in genau 30 kleine Stückchen, aß die Hälfte in 120 Bissen, aß sie mit der Gabel. Es war so leicht. So organisiert, genauso, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich konzentrierte mich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner: Das Gehirn richtete sich auf die einfachen Muster numerischer Logik, das ordentliche Arrangement von Bananenstücken auf dem weißen Teller. Plötzlich voller Energie, stellte ich mir mein Lunchpaket zusammen: zwei Reiskuchen mit einem Klatsch Erdnußbutter, ein Apfel, ein Vollkornkeks, eine Diätcola. Das Herz pochte bei der plötzlichen Erkenntnis. Ich war erstaunt, daß mir der Gedanke nicht schon längst gekommen war. Wie dumm! dachte ich. Ich habe die ganze Zeit gegessen, obwohl sich eigentlich nie jemand darum gekümmert hat. Und ganz plötzlich veränderte sich auch meine Einstellung zum Verhungern. Zuvor hatte das Nicht-Essen immer den Beigeschmack der Entbehrung gehabt. Der menschliche Geist und der Körper wehren sich gegen Entbehrungen. Ich hatte geglaubt, daß ich nicht essen durfte - ich war schon lange über die Vorstellung hinaus, daß ich nur eine Diät machen wollte, ich hatte die Vorstellung entwickelt, daß es mir persönlich nicht erlaubt war zu essen. Diese Vorstellung hatte mich geängstigt, ich hatte mir die Faust in die Magengrube gerammt und hatte mich unter dem Schmerz des Hungers gewunden. Aber ganz plötzlich fand ich es einfach herrlich, nichts essen zu müssen, wenn ich keine Lust dazu hatte. Und ich hatte keine Lust dazu. Im Rückblick ist mir natürlich klar, daß dies nur ein Test war, um zu überprüfen, ob der Lügendetektor tatsächlich funktionierte, ob Big Brother mich tatsächlich unaufhörlich beobachtete oder ob er gelegentlich in seinem Stuhl einschlief. Das Krankenhaus hatte mein infantiles Bedürfnis geweckt, die Regeln zu umgehen, voller Freude zu beobachten, wie die ja ach so besorgten Gesichter vor Zorn weiß und angespannt dreinblicken angesichts der eigenen Machtlosigkeit. Man hat die unheimliche Fähigkeit, ihre Bemühungen zu vereiteln, sie zu zwingen, sie mit einem bestimmten Verhalten zu verarschen. Man merkt nicht, daß man eigentlich nur sich selbst verarscht. Man läßt sich selbst in dem Glauben, daß man tatsächlich gegen SIE ankämpft, weil das leichter ist. Man ist IHNEN entkommen, ein Flüchtling, und man freut sich über die Entdeckung, was für eine hervorragende Lügnerin man ist. Ich wußte damals noch nicht, was für eine gute Lügnerin erst aus mir werden sollte.
Wir fahren eine schmale Landstraße hinab, biegen auf den Kiesparkplatz vor der Schule ein. Rechts Felder, Bach, ineinander verwobene Grüppchen dünner Bäume. Wir gehen einen sanften Hügel hinauf und nähern uns einer kleinen Schule: ein paar einstöckige Gebäude, die in einem Halbkreis über einem weiten Wiesengelände verstreut liegen. Vom Kindergarten bis zum zwölften Schuljahr. Ich gehe in die elfte Klasse. Das Klassenzimmer liegt inmitten eines kleinen, dornigen Wäldchens; in einem winzigen Hof steht ein Tisch, an dem man picknicken kann. Das Wetter ist sonnig und kühl. Ein Mädchen, das sich einen Schal um den Kopf gewickelt hat, kommt um das Gebäude gelaufen, sieht mich, sagt: »DU mußt Marya sein.« Ich nicke. Sie heißt Rebecca. Die dünnen Silberfäden im Lila ihres Schals spiegeln das Licht wider. Wir gehen hinein, setzen uns. Elf Schüler. Die Lehrerin ist eine gutaussehende ältere Dame, die schnell spricht und sehr energisch wirkt. Manchmal, wenn es still im Zimmer ist, kann man einen Hahn von einer Farm in der Nachbarschaft krähen hören. Zwei Wochen später sitze ich auf meinem Stuhl im hinteren Teil der Klasse und verspüre ein seltsames Kribbeln in den Füßen. Ich betrachte den Nacken eines Jungen. Ein merkwürdiger Junge. Julian. Julian Daniel Beard. Ich habe ihn eines Tages, als wir zum Mittagessen im Gras saßen, gebeten, mir seinen ganzen Namen zu sagen. Lang, schlaksig, trägt jeden Tag gebügelte, weiße T-Shirts. Ich habe seinem Lachen gelauscht. Ich habe Witze gerissen, um ihn lachen zu hören. Er lachte, warf mir einen schnellen, scharfen Blick zu, ganz scheu, dann sah er weg. Er gehört zu den Jungen, die man zum Erröten bringen möchte, indem man ihnen schmutzige Witze erzählt. Man möchte ihn necken, beobachten, wie der seltsame Bogen seines Mundes sich zu einem Lächeln verzieht. Man duckt sich, um seinem schweifenden Blick folgen zu können. Seine Augen haben die Farbe sehr alter Armeemäntel, ein verwaschenes Grün. Als ich an diesem Tag in der Schule saß, dachte ich plötzlich ziemlich beunruhigt: Ich werde diesen Jungen heiraten. Ich werde diesen Milchbubi heiraten! Er setzte sich auf, wandte sich abrupt um, starrte mich an, als ob ich die Worte laut ausgesprochen hätte. Ich starrte zurück. Mit einem Ruck wandte er sich wieder seinem Papier zu, krümmte sich über seinem Tisch zusammen wie eine Faust, steckte die Zunge zum linken Mundwinkel heraus und kritzelte wie ein Verrückter an seinem Aufsatz über die Industrielle Revolution herum, als ob er den amerikanischen Fortschritt behindern würde, wenn er nicht weitermachte; als ob er ein Eisenbahnimperium zu errichten hätte, in diesem Augenblick, in jenem kleinen, von Holzwänden umgebenen Schulzimmer, während die Herbstwinde durch die geöffnete Tür hereinschlenderten.

Herbst 1990: Wir saßen auf den Treppenstufen hinter Copperfield's Bookstore & Café, und ein paar schmuddelige, langhaarige, barfüßige Baby-Hippie-Jungs mit gepiercten Brustwarzen spielten Gitarre. Wir rauchten selbstgedrehte Zigaretten und tranken Kaffee. Ich fuhr auf der Ladefläche eines langsam dahinschleichenden, blauen Pickup von hier nach dort und beobachtete, wie die schmalen, schmutzigen Straßen unter den Rädern vorbeirollten. Das Leben war schön, und die Freiheit machte mich schwindlig. Ohne es zu bemerken, hatte ich in diesem Herbst aufgehört, mein Leben zu planen. Ich wurde zum Bohemien, weil ich nichts Besseres vorhatte. Ich hing in der Luft, und dort ist es schön, weil keiner Fragen stellt und weil keiner sich wundert, wo man hingeht oder wo man gewesen ist. Das Leben ist ein großer, tanzender Bär, ein Grateful-Dead-Aufkleber auf dem Fenster eines alten Volvo. Die Leute sprechen von Karma, und es ist sehr leicht, sehr sehr leicht, daran zu glauben, daß alles unvermeidlich ist und daß man nichts tun kann, außer sich zurückzulehnen und zuzusehen, wie das Leben vorübergeht. So ist das Leben. Aber ein Mensch wie ich, ein Mensch, der eigentlich immer ein Projekt braucht, kann nicht lange ohne ein Ziel leben. Nach außen hin stellte es sich so dar, als ob ich auf die Bremse getreten hätte. Es sah so aus, als ob ich mich von dem Zwang gelöst hätte, alles auf einmal und sofort und schneller als alle anderen tun zu müssen. Dies war ein Jahr, in dem ich angeblich meine »Seele erforschte«, »die Verbindung« zu meinem »Körper« wiederherstellte, die »Dinge« etwas »langsamer angehen« ließ, »das Leben leichter« nahm. Am Telefon und in Briefen berichtete ich meinen Eltern, daß dies eine Zeit des »Wachstums« für mich sei, eine Zeit des »Seins«, eine Zeit der »Gesundung«. Scheiße. Ich wußte sehr genau, daß diese Zeit nur eines war: ein absoluter Glücksfall, eine glückliche Fügung, die mir die Gelegenheit gab, mich von der wirklichen Welt zu entfernen, mich tiefer und tiefer in das unheimliche Kinderliedland in meinem Kopf sinken zu lassen. Ernsthaft begann es, glaube ich, im Oktober. Ich hörte einfach auf zu essen. Und diesmal war ich zäh. Es ging eindeutig nicht mehr darum, »abzunehmen«. Dieser Euphemismus kam selbst mir mittlerweile absurd vor, zumal er lediglich einen äußerlichen Prozeß beschreibt. Was ich tat, war jedoch rein innerlich. Ich versuchte zu verhungern. ich erforschte das Ausmaß des Hungers. Der Hunger war mein Ziel, mein Daseinsgrund. Er war wie ein ungestümer Rausch, dem ich hinterherjagte. Zum Frühstück aß ich nur Cornflakes und trank den ganzen Tag Wasser. Ich trug ständig eine Zweiliterflasche mit mir herum, die ich stündlich aufs neue füllte. Manchmal trank ich mittags etwas Saft. Ich erinnere mich, wie ich das Schild auf einer Flasche Möhrensaft las und wie ich dann ein Drittel des leuchtend orangenen Inhalts trank. Rebecca und ich gingen im Spätherbst zusammen in den Supermarkt. Ich trug ein blaues Kleid. Wir kauften Sahneteilchen und getrocknete Apfelringe. Am Nachmittag setzten wir uns in ihre Küche, aßen Sahneteilchen und tranken Wein dazu. Sie sagte: Ich hätte nie gedacht, daß du einmal magersüchtig warst. Ich antwortete: oh, na ja, das ist ja auch vorbei. Ich warf den Kopf in den Nacken. Langsam aß ich das Sahneteilchen, leckte die Sahne aus der Mitte. Ich ging nach Hause, begrüßte meine Familie und meinen Freund, der zum Abendessen gekommen war. Ich muß mich eben frisch machen, sagte ich. Ich ging ins Bad, und zum ersten Mal nach meiner Krankenhauseinweisung kotzte ich wieder. Danach erhob ich mich, betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Keine aufgedunsenen Lider, keine deutlichen Anzeichen wie früher. Leicht glasig dreinblickende Augen. Ich lachte, eine schreckliche Freude stieg in meiner Brust auf. Alle Sahneteilchen waren herausgekommen, ebenso der ganze Wein. Ich wusch mir das Gesicht, die Hände. Ich legte Parfüm auf. Ich war eine Expertin. Ich konnte alles tun, was ich wollte. Nichts und niemand konnte mich jetzt noch aufhalten. Meine Eßstörung gehörte mir allein. Ich ging hinunter, stocherte in meinem Abendessen herum, schlug die Augen nieder, brachte sie zum Lachen. Der arme Junge, der in mich verliebt war, hielt meine Hand.
In meiner Akte im TAMS finden sich Briefe aus dieser Zeit. Notizen, eine umfangreiche Korrespondenz zwischen Kathi und den Ärzten des »medizinischen Teams«, das mich in Kalifornien »beobachten« sollte. Die Ärzte hatten eindeutige Instruktionen, Dinge, nach denen sie Ausschau halten sollten: Wiegen Sie sie immer nur in Krankenhauskleidung, nicht in Straßenkleidung. Bitte denken Sie daran, daß sie seit vielen Jahren eine Eßstörung hat und genau überwacht werden muß. Sie sollte alle zwei Wochen einen Arzt aufsuchen, einmal im Monat einen Psychiater, einmal die Woche einen Ernährungsphysiologen und einen Psychologen. Halten Sie nach folgenden Symptomen und Anzeichen Ausschau: ... Sie hatten jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme getroffen. Die Grundlagen waren geschaffen; das Team in Kalifornien versicherte ihnen, daß sie tatsächlich professionelle Mediziner seien und alles tun würden, was man ihnen gesagt hatte. Ich glaube, den Psychiater suchte ich ein einziges Mal auf. Zur Therapie bei meiner Psychologin ging ich am Anfang jede Woche. Auf ihre Waage stellte ich mich nur in Straßenkleidung. Dann setze ich mich hin und erzählte ihr, wie gut ich vorankäme, daß der Umzug wirklich gut für mich gewesen sei, daß ich jetzt definitiv (ich beugte mich vor, ein langhaariges Mädchen mit großen Augen, das hastig vor sich hin gestikulierte, Krokodilstränen herausquetschte und sie auf dem Teppichboden verteilte) auf dem Weg der Besserung war. Ich brachte ihr sogar Gedichte über meine Genesung mit. Meine Verbindung zur Erde, meine Beziehung zu den Rhythmen des Blutes und des Atmens. Blablabla. Ich lachte nur, als ich sie verfaßte. Ich war und bin zu Tränen gelangweilt von diesem Mist. Göttinnen und Mutterschöße und das Gefühl der neuen Erde in meiner Hand schwab-schwabidu-bi-du. Sie war tief bewegt. »Hast du dich denn wieder übergeben?« fragte sie. »O mein Gott, nein«, sagte ich und lachte über die bloße Vorstellung. Nach der Schule ging ich nach Hause. Meine Stiefmutter und mein Bruder waren nicht da, das Haus war still, abgesehen von den schlurfenden Schritten ihres Ehemannes in seinem Büro. Den Schrank öffnen, eine Schüssel herausholen. Cornflakes, Zucker, Rosinen hineingeben, zwei Scheiben Brot mit Käse in die Mikrowelle, die Cornflakes in den Mund stopfen, während der Käse schmilzt, das Brot und den Käse mit der einen Hand halten und essen, während man Butter auf Vollkornkekse schmiert, die Vollkornkekse essen, wahrend man sich weitere Cornflakes in die Schüssel schüttet, noch mehr Brot und Käse, zum Kühlschrank, die Eiscreme herausholen, die Eiscreme hinunterschlingen, während man Butter aufs Brot schmiert, das Brot essen, während man hinaufklettert, um die Kekse herunterzuholen, die Kekse essen, während man kalten Milchreis in eine Schüssel gibt. Wenn der Ehemann hereinkommt, während man noch kaut, schnell herunterschlucken, lächeln, über die Schule reden. Vor sich hin brabbeln. Sagen: Ich war am Verhungern, wir haben nämlich heute Fußball gespielt. Eine Show darum, wie man die Schüssel wegschiebt, die Zeitung zur Hand nehmen, während er sich Kaffee kocht. Man wird es nicht schaffen, nicht mehr an die Cornflakes zu denken, deshalb sollte man es gar nicht erst versuchen. Man denkt darüber nach, was man sonst noch essen könnte. Keine Panik. Er wird bald gehen, dann kann man weitermachen. Wenn er fragt: Sag mal, bist du am Stuhl festgewachsen? einfach lachen. Sagen: Sieht ganz so aus. Wenn er wieder in seinem Büro verschwunden ist, ein paar Scheiben Brot mitnehmen, zwei Tabletten kohlensaures Natrium, auf das Zimmer hinauflaufen, die Tür abschließen, sich den Rest in den Mund stopfen, herunterschlucken, ins Badezimmer laufen, den Heizlüfter und den Ventilator einschalten, die Dusche aufdrehen, den Wasserhahn, den Toilettensitz hochheben, das Natrium herunterkippen, erbrechen. Und noch mehr erbrechen, bis die Knie weich sind. Wenn man sich erhebt, zittern sie, man klammert sich an das Waschbecken, als ob es ums Überleben ginge. Ums Überleben, du meine Scheiße! Im November wünscht man sich, tot zu sein.
Man will gar nichts mehr. Jeden Tag, jeden verdammten Tag rennt man die Treppen des Hauses hinauf, vollkommen außer Atem, öffnet die Schränke und denkt: Du bemitleidenswerte kleine Schlampe. Verdammte Kuh. Gieriges Schwein. Den ganzen Tag schmerzt der Magen und steigt einem die Galle hoch. Man schwankt beim Gehen. Und man fängt wieder an zu frieren. Man verknallt sich in einen Jungen, der ein paar Jahre älter ist als man selbst. Eines Nachts nach dem Sex steht man nackt in der Küche. Er macht dir einen Drink, du lehnst am Küchentisch. Er kommt zu dir und nimmt dich in den Arm. Er kneift die Haut deines Oberarmes zusammen und sagt: »Mein Gott. Du hast buchstäblich kein Gramm Fett am Körper.« Du lächelst und fragst: »Und stört dich das?« Er lächelt und antwortet: »Nein, es gefällt mir.«
Erst Jahre später wird dir klar, daß er das gesagt hat, um deine Gefühle nicht zu verletzen. Jahre später tauchst du nämlich in seinem Haus auf - er sitzt immer noch da, wo du ihn zurückgelassen hast: vollgekifft auf der Couch - und schließlich schlaft ihr wieder miteinander. Er sagt dir, daß er dich viel anziehender findet, jetzt, wo du einen Arsch hast, den man in die Hand nehmen kann. Er lächelt. Du bist fast schon stolz auf deine Gesundheit. Aber mit sechzehn weiß man das alles noch nicht. Auch in den darauffolgenden Jahren wird man die Haut am Arm zusammenkneifen, um zu überprüfen, ob man auch ja kein Fett am Körper hat. Im Bett dieses Jungen welkt man schnell. Rebecca beginnt, sich Sorgen zu machen. »Deine Hose ist viel zu groß«, sagt sie. »Du siehst dünn aus.« Man fragt: »Zu dünn?« Sie sieht einen an - man steht vor dem Spiegel und sagt: »Ja, etwas zu dünn.« Und unwillkürlich muß man lächeln. Und dann, eines Tages, Anfang November, steht man in der Küche. Die Brüder sind nach Hause gekommen, die ganze Familie ist versammelt. Es gibt etwas zu essen. Man erinnert sich nicht mehr daran, was es war. Die Stiefmutter hält einem den Löffel hin: »Hier, probier mal.« Und voller Entsetzen - wann, zum Teufel, soll man nur kotzen, wenn so viele Menschen im Haus sind - probiert man. Man ißt noch eine Brezel, eine Möhre. Man wird eindeutig, merklich nervöser. Schließlich geht man, nimmt den Bus in die Stadt, gibt vor, noch in die Bibliothek zu müssen. Man läuft schnell und energisch die Straße herunter, fängt irgendwann an zu rennen. Ein frischer Tag, die Sonne scheint. Man hetzt durch den Drugstore und denkt nur noch eins: Brechmittel. Man kennt einen Sirup, der zum Einleiten des Erbrechens verabreicht wird. Man hat ihn noch nie benutzt und weiß auch nicht, wie er funktioniert, aber das ist einem scheißegal, man muß ihn einfach finden. Man rast an den Regalen vorbei, zerrt an den Manschetten seines Hemdes, die Hände sind rauh und kalt. Man kann es nicht finden. Nirgends. Man trägt Overalls. Man krümmt den Rücken, schiebt den Bauch so weit raus wie möglich, legt die Hand auf den getürkten schwangeren Bauch. Man schlängelt sich zum Ladentisch, setzt sein liebreizendstes Gesicht auf, lächelt und fragt den Apotheker in aller Ruhe, ob er ein gutes Brechmittel hat. Man hätte gern eines im Erste-Hilfe-Kasten zu Hause, »Sie wissen schon, falls die Kinder irgend etwas Schreckliches schlucken«. Man ist erst sechzehn, aber jetzt preist man Gott für den Alterungsprozeß, den das eigene Gesicht durchgemacht hat. Man sieht alt genug aus, um selbst Kinder zu haben und schwanger zu sein. Er nickt: »O ja«, sagt er, »Kinder stecken ja alles in den Mund.« Man lacht. Er holt die kleine braune Flasche hervor und legt sie auf den Ladentisch. Man kann die Augen kaum davon abwenden. »Wie alt sind Ihre Kinder denn?« fragt er freundlich und steckt sich das Geld ein. »Zwei und drei«, antwortet man. Es kommt einem glatt über die Lippen, man tätschelt sich den Bauch und fügt hinzu: »Und Null.« Er lacht, gratuliert, und man steckt Wechselgeld und Brechmittel ein, nimmt die Quittung, dankt ihm, er bedankt sich ebenfalls. Dann schlendert man zur Tür hinaus, duckt sich hinter dem Gebäude und trinkt die gesamte Flasche mit dem ekelhaften Sirup auf fast leeren Magen aus. Auf dem Etikett steht: Einen Löffel verabreichen, danach mindestens einen Liter Wasser oder Milch trinken. Auf keinen Fall die gesamte Flasche einnehmen oder verabreichen. Im Falle einer Überdosis begeben Sie sich SOFORT in ärztliche Behandlung. Man schlendert den Bürgersteig entlang, ist jetzt viel ruhiger. Im Kopf hat man die Vision, an der Tankstelle anzuhalten, sich vorzubeugen und zu erbrechen, wie man es jeden Tag tut. Man hat die Situation wieder unter Kontrolle. Alles ist gut. Und es wird einem wieder gutgehen. Plötzlich kann man nicht mehr aufrecht stehenbleiben. Man greift nach der Wand vor dem Laden, die Sonne zieht schreckliche, wirbelnde Kreise am Himmel. Man denkt: jetzt sterbe ich. Ich habe einen Herzanfall. Man versucht, weiterzugehen, aber man schafft es nicht. Passanten starren einen an. Man versucht, sich nicht darum zu kümmern, man versucht zu atmen. Man stolpert in ein kleines Café bestellt einen Teller Suppe, denkt, vielleicht hatte ich nicht genug im Magen, damit es wirken kann. Man wird sehr bleich, man ist über und über mit kaltem Schweiß bedeckt, und man kann die Hände nicht mehr ruhig halten. Man sitzt da, den Kopf auf der Tischplatte. Dann kommt die Suppe, man nimmt einen Löffel. Schiebt den Stuhl vom Tisch weg, die Serviette vor den Mund, stößt auf dem Weg zur Toilette ein paar Menschen beiseite. Man schafft es noch nicht einmal mehr, die Toilettentür zu schließen. Man erbricht sich in kranken Schüben, die den ganzen Körper zu zerreißen drohen. Blut ergießt sich auf den Toilettensitz. Man erbricht eine Möhre, einen Bissen Irgendwas, eine Brezel, ungeheure Mengen Wasser und Blut. Wenn man fertig ist, zieht man die Tür hinter sich zu und sinkt auf die Knie. Die Hände gehorchen einem nicht mehr, man muß beide Hände benutzen, um das Toilettenpapier abzureißen, den Sitz sauberzuwischen, die Wände, den Boden. Man bleibt auf dem Boden sitzen, zitternd, etwa eine Stunde lang. Schließlich steht man auf, wäscht sich Gesicht und Hände, geht langsam in die Bibliothek, wo der Bruder einen abholt. Man legt sich auf eine Bank. Wenn er kommt, sagt man: Ich fühle mich nicht besonders gut. Er bringt einen nach Hause. Man legt sich mitten am Nachmittag ins Bett. Man schläft unruhig, wird immer wieder vom plötzlichen Schlingern des Magens in Richtung Kehle wach. Die Bettwäsche ist feucht von kaltem Schweiß.
Jetzt wird man verrückt. Es passiert einfach. Verrückt ist nicht immer das, was man sich landläufig darunter vorstellt. Es ist nicht immer die alte Frau in Turnschuhen, Rock und Schal, die mit ihrem Einkaufswagen durch die Straßen zieht, schreit und nichts und niemanden im besonderen meint, sondern einfach nur durch die Jahre in ihrem Kopf stolpert. Nein. Manchmal ist es auch ein Mädchen in Stiefeln, Jeans und Sweatshirt, das - die Arme über der Brust gekreuzt und zitternd - nachts durch die Straßen läuft, vor sich hin murmelt und nichts und niemanden im besonderen meint, sondern einfach nur durch die seltsamen, unwirklichen Dimensionen in ihrem Kopf stolpert.
Schlafenszeit, und das Haus wird noch dunkler. Ich sitze am Fenster, warte darauf, daß das Murmeln und Scharren leiser wird. Die Uhr zählt die Minuten, eine kleine Veränderung. Mit einer Hand halte ich mich an der Stuhllehne fest, mache meine endlosen gymnastischen Übungen, warte darauf, daß es 1 Uhr wird. Nur noch vier Stunden bis zum Morgen, denke ich, wenn es 1 Uhr ist. Bis dahin die Gymnastik. Dann die Pullover, Hosen, Kleider auf den Bügeln ordnen, nach Farbe, nach Muster, nach Größe. Schreiben. Ich schreibe einen Gedichtzyklus über eine sterbende Frau. Voyeuristische Gedichte darüber, eine sterbende Frau zu beobachten. Ich schreibe über ihr Schweigen, über das Gesicht, das sie abwendet, über ihr stilles und geduldiges Warten, eine Kriegsbraut, die darauf wartet, daß ihr toter Ehemann zurückkehrt. Darüber, wie sie ihr Ruderboot von der Küste abstößt, ohne Ruder, und durch die Unsichtbarkeit treibt. Ich lese: Einmal eingeschlafen - wer weiß, ob wir wieder aufwachen?! ... Schlaf nicht! Bleib fest! Sieh, die Alternative ist - /lmmerwährender Schlaf . Dein - immerwährendes Haus![26]
Um 1 Uhr nachts ziehe ich meinen Mantel und meine Stiefel an. Gehe die Treppe hinunter, zur Tür hinaus, die lange Auffahrt zur Straße hinab. Manchmal gehe ich zum Haus des zugekifften Jungen. Wir sitzen zusammen und sehen fern. Wir schlafen miteinander, manchmal. Ich erinnere mich nur, daß das Schlafzimmer zwei Fenster hatte, durch die sich das blaue Licht ergoß, und daß es immer klebrig süß roch. Seine Gitarre lehnte an der Wand. Manchmal gehe ich auch nur spazieren. Die Straßen auf und ab, durch die Hügel, durch Nachbarsiedlungen, frierend. Ich zähle die kleinen Lichtquadrate in den Häusern, in denen noch jemand wach ist. Ich frage mich, wer diese Leute sind und was sie wach hält. Ich ging zu dem kleinen Einkaufszentrum, das die ganze Nacht über geöffnet ist, ein einsames Glühen neben der dunklen Bar, dem dunklen Supermarkt, dem dunklen Schönheitssalon falsche Fingernägel nur $ 19. Ich kaufte einen Halbliterbecher Kaffee, schwarz. Ich setzte mich nach draußen auf eine Bank, rauchte, hielt den Becher in beiden Händen. Ich erinnere mich daran, wie meine Hände aussahen: wie Vögel, papierdünne Haut, blau und taub. Ich hatte Schwierigkeiten beim Greifen. Als der Becher wieder leichter wurde, stand ich auf, immer in Bewegung bleiben. Warten, bis die Morgenröte sich über den Hügeln im Osten zeigte. Ich ging durch den Supermarkt, am Zigarettenregal vorbei, stopfte drei Packungen in den Ärmel meines Mantels. Kaufte eine Packung Kaugummi, eine Packung Zigaretten. Ging noch etwas weiter, eine schmale Straße hinauf, die den Hügel umarmte. Manchmal im schmalen Graben zwischen Straße und Hügel, manchmal auf der anderen Straßenseite, hinter der Leitplanke, die die Autos auf der Straße hielt, die vorbeifliegenden Autos, die mein Haar aufpeitschten, wenn sie vorbeifuhren, deren Scheinwerfer mich streiften, meine Gestalt im Schatten jedoch nicht entdeckten. Manchmal stand ich an dem Geländer über der kleinen Stadt und blickte auf ihre verstreuten Lichter hinab. Ich stand über dem steilen Abhang und fragte mich, ob gleich Wind aufkommen, meine Füße vom Boden lösen und mich in den wabernden Nebel werfen würde, der über dem Tal hing. Eines Nachts stand ich neben einer Straße, ganz in der Nähe eines kleines Supermarktes. Auf dem Boden lag etwas zu essen Reste eines Sandwiches, ein paar verstreute Chips. Ich beugte mich nach unten und begann, sie aufzulesen, und schob sie in meine Taschen. Ich kann mich nur noch erinnern, daß ich es tat. Ich weiß nicht mehr warum, oder was ich dachte, fühlte oder ob ich es überhaupt merkte. Ich hockte auf der Straße, Scheinwerfer bogen um die Kurve. Mein Gesicht flog nach oben, ganz sicher erschrocken. Ich trug nur dünne Kleidung, es war Winter. Ich hatte meinen Mantel vergessen, am Körper nur ein durchsichtiges T-Shirt, das meine Gestalt lose umflatterte. Beleuchteten die Scheinwerfer den sich schemenhaft darunter abzeichnenden Brustkasten? Die tiefen Höhlen unter meinen Wangenknochen, meine Augäpfel? Welcher Anblick bot sich dem Fahrer? Quietschend kam das Auto zum Stehen. Ein Mann stieg aus. Er streckte mir die Hand entgegen, war vielleicht zehn Schritte von mir entfernt. »Geht es Ihnen gut? Keine Angst, ich will Ihnen nur helfen.« Er machte einen Schritt auf mich zu. »Ma'am, kann ich Ihnen helfen? Ma'am, ich wollte nur...« Ich stürzte davon. In manchen Nächten versuchte ich zu schlafen, ich versuchte es wirklich. Ich legte mich hin, verkroch mich unter der Decke. Sah aus dem Fenster zu den Schatten und Hügeln der Nacht hinüber. Ich schloß die Augen, dachte: Schlafen, Schlafen. Aber sobald ich mich dem Schlaf näherte, hätte ich schwören können, daß etwas in meiner Brust, etwas, das viel stärker war als mein Körper, sich von mir entfernte - wie kann ich das nur erklären, ohne daß es sich vollkommen absurd anhört? - etwas, das sich aus meinem Körper löste, das dem Fenster, den Hügeln entgegenstrebte. Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an eine zentrale menschliche Lebenskraft, und in diesen Nächten nahm ich an, daß meine jetzt genug von mir hatte und versuchte, mich zu verlassen. Ich lag da und konzentrierte mich darauf, sie zurückzuziehen. Geh nicht! dachte ich. Verlaß mich noch nicht! Aber in manchen Nächten konzentrierte ich mich auch nur darauf, zu fühlen, wie sie davonstrebte und dachte gar nichts. Ich sprach mit niemandem darüber. Auch nicht über andere Dinge. Nach der Schule, an kalten, hellen Tagen, rannte ich zum Parkplatz hinunter, sprang in Julians Auto, und wir fuhren los. Irgendwohin. Wir saßen in kleinen. Cafés, tranken sauren Zitronentee, plötzlich ganz schüchtern. Kletterten auf eines der Dächer, betrachteten den Himmel und sprachen über Musik und über Gott. Beim Morgengrauen wanderten wir manchmal über die Hügel am Rande der Stadt. Er wartete im Dunkeln am Ende der Auffahrt auf mich, und meine Schritte, die durch Frost und Schmutz knirschten, schossen in den Nebel hinaus. Wir beobachteten den Sonnenaufgang über dem verborgenen See, saßen dicht beieinander, ohne uns zu berühren. Wir redeten, sehr leise, von der Zeit. Wir sagten, wie unglaublich es war, daß zwei Menschen so gute Freunde sein konnten, und, wir lagen dicht beieinander wie Geliebte, ohne uns zu berühren, nicht ein einziges Mal. Ich war sehr verliebt in ihn, und es tat ungeheuer weh. Weil es aufrichtig und schrecklich unschuldig war, weil er ein Junge aus einer kleinen Stadt war, der ein gutes Leben führte und an die Welt und seine Macht, sie zu verändern, glaubte. Er glaubte an die Liebe und die Ewigkeit und an die Menschen. Weil ich nicht diejenige war, die er in mir sah, und weil ich ihm nicht zeigen konnte, was ich war. Ich wollte es ihm sagen, aber ich konnte es nicht. Jahre später, als wir schon längst verheiratet sind, trauern wir gemeinsam um diese Zeit. Ich hätte es sehen sollen, sagt er. Ich war so ein Idiot, wie konnte ich es nur übersehen? Wir legen unsere Stirnen aneinander, und ich sage ihm, wieder und wieder, daß er es nicht sehen konnte. Niemand sah es. Nicht die Menschen, mit denen ich zusammenlebte, nicht meine Lehrer. Meine Eltern, die zwar aus der Ferne versuchten, ein Auge auf mich zu haben, hatten keine Möglichkeit, einzuschätzen, was wirklich vor sich ging. Meine medizinischen »Betreuer« waren inkompetent. Mein Leben war Tag und Nacht: der Tag, das Licht, ein sechzehnjähriges, verliebtes Mädchen. Die Nächte verbrachte ich damit, jemanden, der aussah wie ich, dabei zu beobachten, wie er in einem dunklen Zimmer, in dem es nach Marihuana stank, Sex hatte oder wie diese Person, buchstäblich verrückt vor Hunger und Schlafmangel, durch Straßen wanderte, die für ein Mädchen nicht sicher waren. Aber sie ist gar kein Mädchen mehr, zumindest nicht mehr ganz. Der Schein des Irrsinns trügt. Die Zeit steht still. Mein ganzes Leben lang war ich von dem Gedanken an die Zeit besessen, an ihre Bewegung und Geschwindigkeit, an die Art, wie sie einen verändert, wie sie einen vorantreibt, ein Kieselstein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht. Ich war immer von dem Gedanken daran besessen, wohin ich gehen, was ich tun und wie ich leben würde. Doch jetzt hoffte ich nicht länger darauf, daß die Zeit mich eines Tages in einen wertvollen Menschen verwandeln würde. Der Gedanke an die Zeit war jetzt nur noch mit einem verbunden: mit dem Tod. Ich verbrachte meine Zeit damit, auf ihn zu warten. Und selbst damals war mir das klar. Weihnachten nahm ich den Zug nach Portland, um meine Eltern auf neutralem Terrain zu treffen. Während der Fahrt schrieb ich unaufhörlich, mied Schlaf und Nahrung. Ich stieg aus dem Zug. Mittlerweile fiel mir das Laufen schwer, meine Bewegungen waren langsamer geworden. Ich beobachtete, wieviel Mühe meine Hände hatten, wenn sie sich zur Faust schließen und wieder öffnen oder sich vom Stift zum Papier zum Kaffeebecher bewegen wollten. Meine Eltern standen nebeneinander auf dem Bahnhof. Sie lächelten nicht. Als ich meine Mutter Jahre später fragte, was sie damals dachte, antwortete sie: »Du sahst aus wie ein KZ-Flüchtling.« Wir fuhren zum Haus meiner Tante und meines Onkels. Wir aßen zusammen zu Abend, Spaghetti und Baguette. Ich erinnere mich, wie ich Butter auf das Brot schmierte. Ich aß, dann erbrach ich mich. Am Abend saß ich bei meiner Mutter auf dem Schoß, lehnte mich an ihre Brust, schläfrig und endlich warm. Ich hatte keine Ahnung davon, aber meine Eltern riefen am nächsten Tag voller Panik das TAMS in Minneapolis an. Meine Mutter berichtete Kathi, daß ich wie ein Skelett aussähe. Mein Vater war außer sich vor Zorn. »Was zum Teufel geht hier vor sich? Wie zum Teufel konnte das passieren? Sie hat mindestens 12 Kilo verloren! « Ich machte fröhlich weiter. Ich weigerte mich mittlerweile, in Gesellschaft anderer zu essen, schwor, daß es besser für mich war, meine Mahlzeiten allein einzunehmen. Ich beugte mich über den Balkon der Wohnung meiner Großmutter und kratzte mein Essen vom Teller, sah zu, wie es vierundzwanzig Stockwerke in die Tiefe fiel. Ich kann kein Brot essen, sagte ich, oder Fleisch oder Käse. Ich kann keine Milch trinken. Mir geht es wirklich gut, sagte ich. Ganz bestimmt. Ich habe in der Therapie wirklich hart gearbeitet. Wie zum Teufel konnte das passieren? Ich hatte die Waage meiner Therapeutin manipuliert. Das war leicht. Ich kam etwas früher, es war eine normale Personenwaage. Drehte an der kleinen Scheibe, hüpfte drauf . Gut, sagte sie. Ich hüpfte herunter. Bei der Ernährungsphysiologin machte es die medizinische Waage etwas schwieriger. Nach der letzten Schulstunde stopfte ich mir die Taschen voll, während meine Mitschüler sich über dieses bizarre Verhalten kaputtlachten. Jedes Schmuckstück, das ich besaß, kiloweise Bonbons. Ich trug T-Shirts mit zusätzlichen Taschen, steckte mir Steine ins Höschen und in den BH, manchmal ein paar Bücher in die ausgebeulte Tasche meines Sweatshirts. Drei oder vier Kleiderschichten, Fisherman's Pullover über den Sweatshirts, T-Shirts, dann ein Mantel. Mehrere Schichten Hosen, lange Unterhosen, Strümpfe. Dann Wasser. Je mehr Gewicht ich verlor, um so mehr Wasser mußte ich trinken, vier, sechs, acht Liter am Tag und sie dann bis zu dem Termin zurückhalten. Die Ernährungsphysiologin war eine nette und rücksichtsvolle Frau. Ich sei schließlich früher einmal Anorektikerin gewesen, sagte sie, also hätte ich für die Prozedur doch sicher Verständnis. Ich nickte mitfühlend. Wir gingen meine Ernährungsaufzeichnungen der letzten Woche durch, meine ordentlichen, kleinen Notizen, drei volle Mahlzeiten, Zwischenmahlzeiten, Vitamine. Sie gratulierte mir bei kleinen »Extras«, einem Keks, einem Schokoriegel. Ich war sehr gut im Ausfüllen dieser Bögen, tat es während der Mittagspause am Tag unseres Termins. Versuchte, mich daran zu erinnern, was normale Menschen aßen. Schrieb es auf. Gleich nach der Sitzung rannte ich auf die Toilette und pinkelte wie ein Rennpferd. Im Brief des TAMS steht:

  • Wiegen Sie Marya immer in Krankenhauskleidung, niemals in Straßenkleidung, und zwar nachdem sie auf Toilette war. Überprüfen Sie das spezifische Gewicht von Maryas Urin häufig. Wenn es unter 1,006 fällt, dann speichert sie Wasser.

Ich bin sicher, daß die Weinachtsferien richtig schön waren. Aber ich erinnere mich nur noch an das, was ich aß und wann und wo ich es erbrach. Außerdem erinnere ich mich an mein makaberes Weihnachtsgeschenk an meine Eltern: Ich war so verblendet, daß ich ihnen doch tatsächlich eine Sammlung meiner letzten Arbeiten überreichte. Titel: »Gesundheit«. Selbstmordgedichte. Ein Zyklus mit dem Titel »Alex«, die sterbende Frau. Im letzten Gedicht gibt sie den Löffel ab. »Sie sind nicht über mich«, beharrte ich. »Bist du sicher?« fragte mein Vater. »O ja«, sagte ich. »Das ist alles nur erfunden.« Zugfahrt zurück nach Kalifornien. Autofahrt zurück nach Santa Rosa. Am Tag nachdem ich Portland verlassen habe, habe ich plötzlich keine Hemmungen mehr und erbreche das unverdaute, spaghettiförmige Abendessen auf den Boden, wo es jeder sehen kann. Meine Eltern rufen im TAMS an. Kathi sagt: »Bringen Sie sie her, sofort.« Meine Eltern informieren die Menschen, bei denen ich in den letzten Wochen gelebt habe. Ich bekomme von all dem nichts mit. Ich tue nichts Besonderes, außer über den Tod nachzudenken. Ich warte, wandere nachts durch die Stadt, schüttele die Hände der vagabundierenden, stockbesoffenen Männer mit den grauen Bärten von meiner Schulter. Die Leute, bei denen ich wohne, finden, daß es mir doch schon viel besser geht - zumindest soweit sie es beurteilen können und daß es mich nur noch einmal aus der Bahn werfen würde, wenn man mich jetzt nach Minnesota zurückschaffen würde, wo ich doch gerade angefangen hatte, Wurzeln zu schlagen. Meine Eltern sagen, Scheißwurzeln, sie stirbt. Tut sie nicht. Tut sie doch. Tut sie nicht. Meine Eltern rufen meine Stiefbrüder an. Ich sitze auf dem Wohnzimmerboden im Haus meines Freundes, bin völlig zugekifft, klettere auf 30 Meter hohe Fenstersimse, weil ich mich für eine Katze halte. Kriege die Mampferitis, verbringe drei Stunden mit dem Versuch, ein Brötchen aufzuschneiden. Drehe es immer weiter im Kreis, bis es nur noch aus Krümeln besteht, gebe auf. Trinke statt dessen. Meine Brüder kommen ohne Vorwarnung aus der Schule zurück. Man informiert mich, daß ich ganz schön in der Scheiße sitze. Zwei Tage nach meiner Abreise werde ich von der Autobahnpolizei aufgegriffen, als ich gerade über den Highway 101 laufe. Wo wollen Sie denn hin, Miss? Mexiko. Oh? Entschuldigen Sie, ich muß gehen auf dem Rücksitz eines Polizeiautos einschlafen, gemütliche Fahrt. Sie setzen mich am Ende der Autobahn ab, ich sage, ich will nicht, daß sie meinen Mann aufwecken, sie geben mir die Nummer der Telefonseelsorge und des nächstgelegenen Frauenhauses, falls ich Hilfe brauche. Sicher, sage ich. Irgend jemand sorgt dafür, daß ich nach Minneapolis zurückkehre. Ich verabschiede mich. In der Nacht vor meiner Abreise fresse ich wie eine Wilde in der Küche meines Freundes, Eis, Käsesandwiches, mache mir selbst vor, daß ich genug zunehmen kann, um nicht ins Krankenhaus zu müssen. Mein Freund sagt sanft: »Iß nicht zuviel.« Ich lache. Sex ein übelkeiterregendes Geschaukele, aufgeblähter Bauch, pochender Kopf. Als ich am darauffolgenden Morgen aufwache, erbreche ich alles, was ich am Abend zuvor gegessen habe. Mir wird klar, daß ich keine Nahrung mehr verdauen kann. Nach meinem letzten Schultag fahren Julian, Rebecca und ich in ein Bistro. Ich trinke Kaffee. Ich schwöre, daß ich zurückkommen werde. Bald, sage ich, sehr bald. Ich muß einfach nur ein bißchen zunehmen, keine große Sache, ich komme nächsten Monat wieder. Im Auto fangen Julian und ich an zu weinen. Ich will es ihm erzählen. Aber ich sage ihm nur, daß ich ihn liebe. Ihn, den einzig gesunden Teil meines Lebens. Ich halte mich so sehr an ihm fest, daß ich schon befürchte, ihn zu zerbrechen. Er weiß nicht, was los ist. Sieht mir nach, als ich langsam die Auffahrt hinaufgehe. Auf dem Weg halte ich an, um eine Pause zu machen. Zum ersten Mal erkennt er, wie dünn ich bin. An diesem Tag habe ich mir nicht die Mühe gemacht, es zu verbergen. Es hatte keinen Zweck mehr. Meine Brüder auf der vorderen Veranda, kein Lächeln. Ich sage Hi. Sie sagen Hi. Das letzte, an das ich mich erinnere, ist, daß einer von ihnen ganz einfach sagt, daß er es nicht ertragen kann, mit ansehen zu müssen, was ich mir antue. Er starrt in die Ferne und schüttelt den Kopf. Als nächstes sitze ich im Flugzeug. Abflug, mein Blutdruck fällt in den Keller, und ich - es erstaunt mich selbst heute noch, wie wenig Beachtung ich dem allen schenkte - bin überrascht. Ich neige den Kopf zurück, versuche, mein Herz zum Schlagen zu zwingen, frage mich, was wohl mit mir geschieht, wenn ich im Flugzeug einen Herzanfall habe. Wie ein stetiger Strom fließt unaufhörlich eine Stimme durch meinen Kopf: Ich bin erst sechzehn! Aber ich bin doch erst sechzehn! Ich schlafe oder werde ohnmächtig. Ich steige aus dem Flugzeug; Mutter, Vater, Tante, Onkel, zwei Cousins nehmen mich in Empfang, stehen dicht gedrängt beieinander, angespannt. Ich sage hallo. Meine Cousins sagen: »Hey, Mar.« Meine Tante sagt wütend: »Wir haben gehört, daß du wieder gekotzt hast.« Ich bin zu müde, um aufzubrausen. Ich nicke nur. Am folgenden Tag gehe ich im TAMS die Treppe hinauf, die zu Kathis Büro führt. Ich halte mich am Geländer fest. Im Türrahmen frage ich gutgelaunt: »Na, wie sehe ich aus?« Ich strecke die Arme aus, als ob ich ein neues Kleid vorführen wollte. Sie sitzt auf ihrem Schreibtisch und sieht sich die Ergebnisse der Untersuchung an, die ich gerade hinter mir habe. Sie sagt: »Setz dich.« Ich bleibe stehen, mit blödem, leerem Blick. »Na, wie sehe ich aus?« wiederhole ich. Ihr Kopf schnellt in die Höhe. Sie sieht mich an und zischt: »Setz dich, bevor du tot umfällst.«
Ich setze mich. Sie starrt mich an. Sie sagt: »Mein Gott.«
Methodist Hospital Klappe die zweite. Mir ist eiskalt. Ich trage meinen Mantel. Sie durchsuchen meine Handtasche, meinen Koffer. Ich gleite auf den Boden hinunter, während die Krankenschwestern, die mich gut kennen, mir ein Zimmer und eine Schwester zuweisen, die meine Ansprechpartnerin sein soll. Jemand kommt zu mir herüber, zieht meinen Arm aus dem Ärmel, mißt, wie üblich, Blutdruck, Puls, Temperatur, bringt mich in den Aufenthaltsraum, setzt mich auf die Couch. »Sie tun mir am Arm weh«, sage ich. Meine Hände in den Manteltaschen: Ich reibe die Schachtel Abführmittel die ich hineingeschmuggelt habe. Meine Manteltaschen haben sie nicht durchsucht. In dieser Nacht schlafe ich im Aufenthaltsraum, befinde mich unter ständiger Beobachtung, eine Art Intensivstation. Das Licht aus dem Schwesternzimmer hält mich bis zum Morgengrauen wach. Während ich wach liege, denke ich über Dr. J. nach. Was wird er wohl zu mir sagen, wenn er mich am nächsten Tag sieht. Ich denke an etwas, das er mir beim letzten Mal gesagt hat. Eines Morgens saß er in seinem Stuhl und sagte mit herablassendem Grinsen: Nun, schließlich ist es ja nicht so, als ob du Anorektikerin wärest und nur noch 30 Kilo wögest. Sieben Monate später meine triumphale Rückkehr. Nicht 30 Kilo, aber näher dran denn je, nur wenig mehr als 40 Kilo. Ich lag im Bett und preßte die Knochen meiner Knie aneinander. Dann wippte ich mit ihnen hin und her, ließ sie in melodischem Rhythmus aneinanderstoßen: klackklackklack.
    •    MARYA JUSTINE HORNBACHER. W.
    •    Geb. 04-04-74
I. Achse I:
A. 1. Anorexia nervosa, 307,01
2. Unterernährung; schwere Verhungerungserscheinungen
B 2. Bulimia nervosa, 307,51
C 3. Starke, chronische Depression, 296,33

    •    II. Achse II:
    •    A. 1. Gemischte Persönlichkeitsmerkmale


ANMERKUNGEN: BRADYKARDIE, HYPOTONIE,
ORTHOSTATISCHE ALBUMINURIE,
ZYANOSE, HERZARRHYTHMIEN, SCHWERE 
ULZERATION DER VERDAUUNGSORGANE.