Nachwort

Das Wrack

ICH KAM, UM DAS WRACK ZU ERFORSCHEN.
DIE WORTE SIND DIE ABSICHT.
DIE WORTE SIND DIE KARTE.
ICH KAM, UM DEN SCHADEN ANZUSEHEN
UND DIE SCHÄTZE, DIE ERHALTEN BLEIBEN.
MIT DEM STRAHL MEINER LAMPE STREICHELE ICH
LANGSAM UBER DIE FLANKE VON ETWAS
BESTÄNDIGEREM ALS FISCH ODER ALGE
ADRIENNE RICH,
»HINABTAUCHEN INS WRACK«, 1973

Ich habe es nicht genossen, dieses Buch zu schreiben. Das öffentlich zu machen, was ich so lange selbst vor den Menschen geheimgehalten habe, die mir nahestehen, und häufig genug sogar vor mir selbst, mein ganzes Leben lang, war nicht gerade ein Vergnügen für mich. Auch hatte dieses Projekt, wie so viele Leute vermutet haben, keine »therapeutische« Wirkung für mich - dafür bezahle ich schließlich meiner Therapeutin einen Haufen Geld. Im Gegenteil, es war sehr schwierig. Ich schrieb schubweise, hörte auf, fing wieder an, versuchte, ein Objekt der materiellen Welt, einen Körper in Worte zu fassen. Versuchte zu erklären, statt zu entschuldigen, auszugleichen, statt Schuld zuzuweisen. Die Worte kamen abgehackt, in plötzlichen Ausbrüchen und mit langen Auslassungen. Nach lebenslangem Schweigen ist es schwer, sie auszusprechen. Und selbst wenn man gesprochen hat, stellt man fest, daß unsere Sprache größtenteils unzureichend ist: den Worten fehlt die Form und der Geschmack, die Temperatur und das Gewicht. Hunger und Kälte, Fleisch und Knochen sind ganz normale Worte. Ich kann einfach nicht deutlich machen, daß diese vier Worte eine ganz andere Bedeutung für mich haben als vielleicht für Sie. Jedes einzelne hinterläßt einen seltsamen Geschmack in meinem Mund: die Säure des Erbrochenen, der metallische Beigeschmack von Blut. Sie erwarten jetzt ein Ende. Und da dies ein Buch ist, sollte es auch tatsächlich einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben. Ich kann Ihnen jedoch keines bieten. Ich würde es sehr gern tun. Am liebsten würde ich all die losen Fäden zusammenflechten und sagen, Seht Ihr? Heute ist alles besser. Aber die losen Fäden starren mich im Spiegel an. Die losen Fäden, das ist mein Körper, der weder vergibt noch vergißt: das halbherzige, blinde Dahinstolpern meines Herzens, das faltig und verschrumpelt ist wie ein Apfel, der auf dem Boden verfault. Die Narben auf meinen Armen, die grauen Haare, die Falten, der freundliche Barkeeper, der mein Alter schätzt und lächelnd sagt, »Sechsunddreißig?«. Die Eierstöcke und die Gebärmutter, die tief und fest vor sich hin schlafen. Das Immunsystem, das ziemlich am Boden liegt. Die allwöchentlichen Besuche beim Arzt wegen einer erneuten Infektion, eines erneuten Virus, einer weiteren Erkältung, einer weiteren Verstauchung, einer weiteren Testreihe, einem weiteren Rezept, einem anderen Gewicht, einer Warnung. Die kleinen, gelben Pillen, die ich morgens nehme und die der sich windenden Angst, die genau unter meinem Brustbein wohnt und sich an meinen Rippen festhält, den Fuß auf den Nacken setzen. Die losen Fäden, das sind die schlechten Tage: Wenn mein Mann einen Teller mit Brei auf dem Küchentisch findet, Cornflakes, die ich mir zubereitet und dann »vergessen« habe. Mein Mann, der sich mit mir über das Abendessen streitet. (Nein, Liebes, wir wollen keine Reisplätzchen mit Gelee essen.) Die losen Fäden, das sind die Alpträume von Hunger und Ertrinken und Eiswüsten, das Zittern, wenn ich wie nach einem Schock aufwache, der kalte Schweiß. Das sind die Minuten, die ich vor dem Spiegel verbringe, die angsterfüllten Finger, die den Körper lesen wie Blinde die Blindenschrift, als ob die Anordnung der Knochen Worte ergäbe und meinem Leben einen Sinn verliehe. Die verzweifelten Gehversuche, heraus aus dem Treibsand der Besessenheit, mit Händen und Füßen arbeite ich mich ein Stück weiter nach oben, dann falle ich zurück. Die Zweideutigkeit des Wortes »Fortschritt«, die einen zum Wahnsinn treibt, ebenso wie das unfaßbare Ziel der »Gesundheit«. Man versteht es erst viel später. Die Tatsache, daß man fast tot war, kommt einem erst zu Bewußtsein, wenn man langsam wieder lebendig wird. Frostbeulen tun erst dann weh, wenn sie warm werden und die Haut zu tauen beginnt. Dann fährt der Schock des Schmerzes durch den Körper. Und jeden folgenden Winter schmerzen sie aufs neue. Und in jeder Jahreszeit, seit es Winter für mich wurde, schmerzen meine Wunden aufs neue.

  • Februar, der 18.1993. Man gibt mir nur noch eine Woche zu leben.
  • Vier Jahre (etwa 169 Wochen, 1 183 Tage, 28 392 Stunden) vergehen
  • 11. März 1997, Ich bin noch immer am Leben.

Jetzt folgen keine erstaunlichen Enthüllungen. Keine Beschreibungen der Todesnähe, kein Tunnel des Lichts, keine tränenreichen, alles erhellenden Therapiesitzungen, keine glücklichen Familienzusammenführungen, kein Dr. Mini-Heiland, dessen Erscheinen mich rettet, kein Ritter, der auf einem weißen Pferd in mein Leben galoppiert. Ich bin aus sehr niederen Gründen wieder gesund geworden:

  1. Krank zu sein wird nach einer Weile ganz schön langweilig.
  2. Ich war richtig verärgert, als man mir sagte, daß ich sterben würde, und dachte ziemlich gereizt: Das wollen wir doch mal sehen.
  3. In einer meiner seltenen, klaren Phasen, in denen mein vernünftiges Selbst die Oberhand erhielt, erkannte ich, daß es vollkommen dumm und feige war, mich aus dem Leben zu stehlen, nur weil es mich durcheinanderbrachte.
  4. Mir kam der Gedanke, daß es absolut unoriginell war, sich zu Tode zu hungern. Das tat doch jeder. Es war, wie eine Freundin es schließlich formulierte, völlig passé. Ein Relikt der achtziger Jahre. Ich beschloß, etwas zu tun, das weniger en vogue war.
  5. Ich wurde neugierig: Wenn ich so krank geworden war, dann konnte ich (so glaubte ich) ja wohl verdammt noch mal auch wieder unkrank werden.

Und das tat ich. Und bin ich. Wie immer man es formulieren will. Ein widerspenstiger Charakter ist nicht nur sehr hilfreich bei der energischen Vernichtung des eigenen Körpers und des individuellen Selbst, er kann auch zur Verwirklichung anderer Zwecke eingesetzt werden. »Zum Beispiel, um zu leben. Meine Eßstörung war nicht »geheilt« in dem Augenblick, als ich eines bitterkalten Tages, am 18. Februar 1993 in einem Rollstuhl auf die Abteilung für Eßstörungen rollte (oder besser gerollt wurde), eine Kanüle im Arm, der Kopf willenlos hin und her schaukelnd und das Herz schlingernd. Auch während der folgenden drei Monate, die ich dort verbrachte, wurde sie nicht geheilt und ebensowenig während der Jahre, die seitdem vergangen sind. Ich sitze jetzt hier, esse trockene Cornflakes aus einer Schüssel, weil es mir irgendwie zu kompliziert ist, in den Supermarkt zu gehen und Milch zu kaufen. Ich bin nicht geheilt worden. Ich werde nicht geheilt werden. Aber die Eßstörung hat sich verändert. Genau wie ich. Ich wiege genau das Doppelte von dem, was ich damals wog. Womit ich immer noch untergewichtig bin. Was aber dafür spricht, daß ich im Chaos der letzten vier Jahre ein paar Dinge richtig gemacht habe. Ich bin siebeneinhalb Zentimeter größer als damals, was vielleicht bedeutet, daß der Körper dem Licht entgegenwächst, wie eine Pflanze, die die Sonne sucht. Ich bin klassifiziert als (Achse I) 1. Atypisch verlaufende bipolare Störung II. Zyklothym-hypomanische Störung 2. Nicht weiter spezifizierte Eßstörung, (Achse II) 1. Borderline-Syndrom? was eigentlich gar nichts zu bedeuten hat. Meine Arme sind mit Narben übersät, die es im Jahre 1993 noch nicht gab, was bedeutet, daß mit meinem Körper auch die Trauer zum Leben erwacht ist und daß ich sie, stumm wie ich war, in meine Haut eingeritzt habe. Es bedeutet zudem, daß wir keine Rasierklingen im Haus haben. Ich bin verheiratet, was eine Menge bedeutet, einschließlich der Tatsache, daß wir ein, zwei Dinge über die Liebe, über Geduld und Vertrauen gelernt haben. Es bedeutet, daß ich die Verantwortung habe, hier zu bleiben, auf der Erde, in der Küche, im Bett, und nicht mehr langsam in den Spiegel zurücksickern darf. Ich fühle mich einigermaßen. Formulierungen wie Es geht mir gut oder Ich bin geheilt werde ich an dieser Stelle vermeiden. Es hat lange gedauert, bis ich mich einigermaßen fühlte, und ich mag diesen Zustand. Sich einigermaßen zu fühlen, ist ein interessanter Balanceakt: ein Glas, das halb leer oder halb voll ist. Das Pendel kann jederzeit zur anderen Seite ausschlagen. Dies ist ein Zustand, in dem man entweder Hoffnung schöpfen oder verzweifeln kann. Hoffnung, daß es immer leichter wird, wie es während der vergangenen Jahre der Fall war, oder Verzweiflung über die Konzentration, die dieser Balanceakt erfordert, eine Konzentration, die einen rasend macht, Verzweiflung über die Tatsache, daß ich jung sterben werde, daß ich nicht »normal« sein kann, daß ich mich immer wieder mit den dunklen Teilen meines Lebens konfrontiert sehe, mich förmlich darin suhle. Blablabla. Ich bin die Verzweiflung leid. Sie sieht aus wie ein Model aus der Illustrierten: apathisch und unterernährt und zugedröhnt und genauso wie all die anderen blassen kränklichen Models. Verzeihen Sie mir, wenn ich lustig vor mich hin schwatze, aber Verzweiflung ist verzweifelt langweilig. Deshalb vermute ich, daß eigentlich nur eines geschah: Ich wurde es leid, so stinklangweilig zu sein.

Ich ging ins Krankenhaus und blieb sehr lange Zeit dort. Dann wurde ich entlassen und warf mich ins Leben. Leider hatte ich nur sehr wenige Hilfsmittel an der Hand, um damit klarzukommen, weshalb ich ziemlich viel Chaos verursachte und einiges kaputt machte. Ich lernte, etwas vorsichtiger zu sein. Ich arbeitete, schloß Freundschaften, hatte eine chaotische Liebesbeziehung, zog in ein heruntergekommenes Appartement in der Innenstadt und schaffte mir eine Katze an. Lernte, daß Pflanzen Wasser brauchen, wenn sie überleben sollen. Daß man nicht von Cornflakes leben kann, obwohl ich immer mal wieder dorthin zurückkehre. Daß Freunde Nahrung für die Seele sein können, wenn man im Augenblick allein nicht den Dreh zum Kochen oder zum Leben (als Gegenstück zum Sterben) kriegt. Daß nichts - weder Schnaps noch Liebe, noch Sex, noch Arbeit, noch ständiges Umziehen von Staat zu Staat - die Vergangenheit zum Verschwinden bringen kann. Nur Zeit und Geduld können heilen. Ich lernte,

  • daß es vergebene Liebesmüh ist, wenn man versucht, sich die Arme aufzuschneiden, damit der Schmerz von innen nach außen fließt, von der Seele an die Hautoberfläche kommt.
  • Daß wer sterben will, sich nur vor dem Leben drückt.

Ich habe alles ausprobiert:

  • Ich habe mir den Kopf rasiert,
  • habe im November 1994 einen Selbstmordversuch begangen,
  • habe zweiundvierzig Stiche in meinem linken Arm, die höllisch weh taten, und beschloß, daß dies genug war.
  • Ich schrieb, veröffentlichte und las, forschte und lehrte und ging von Zeit zur Zeit zur Uni.
  • Ich trank sehr viel Kaffee und hatte ein paar wirklich makabere Träume.
  • Ich spielte Trivial Pursuit,
  • machte eine Therapie und stellte plötzlich fest, daß ich mitten im Leben stand.

Schritt für Schritt lernte ich, verdammt noch mal, einfach damit zurechtzukommen. Tatsächlich liegt eine ungeheure Freiheit darin, wenn man nichts zu verlieren hat. In dem Schwebezustand, der meinem letzten Krankenhausaufenthalt folgte, klammerte ich mich an jeden Strohhalm. Wenn man das lang genug tut, bekommt man schließlich einige zu fassen: jedenfalls ist es genug, um weiterleben zu können. Ich hatte nichts mehr, das ich verstand oder woran ich glauben konnte. Und diese Situation ist gar nicht so ungewöhnlich. Die Experten fragen einen: Was haben Sie vor Ihrer Eßstörung gemacht? Wie waren Sie vorher? Und man starrt sie einfach nur an, weil man sich an kein davor erinnern kann, und das Wort Sie bedeutet sowieso gar nichts. Beziehen Sie sich damit auf Marya, die Konstellation von suizidalen Symptomen? Auf Marya, die Invalidin? Auf Marya, die Patientin, den Gegenstand des medizinischen Interesses, den Fall, die Frau, die Tabletten einnehmen muß, die an Muffins herumknabbert, die Asexuelle, die wandelnde Enzyklopädie, die Bleistiftzeichnung eines menschlichen Skeletts, die Trägerin der Alpträume des Hungers, die Personifikation des Hungers selbst? Es ist unmöglich, diesen unbeschreiblichen Prozeß einigermaßen zu beschreiben, denn es war eine stumme, wortlose Zeit. Ich habe nicht gelernt, das Essen einzustellen und ausschließlich von Worten zu leben. Aber es ist mir gelungen, mir ein paar Worte zu eigen zu machen, um zu beschreiben, was geschah. Aber eigentlich hatte ich immer das Gefühl, einen schwarzweißen Stummfilm mit Farbe und Stimmen zu unterlegen. Ich habe einer Zeit meines Lebens Worte, Farbe und Chronologie hinzugefügt, die mir eigentlich wie eine Ansammlung unzusammenhängender Dinge vorkommen, die auf dem Boden meines Geistes herumlungern. Heute wundere ich mich manchmal, wenn ich aufstehe und zur Tür gehe, um mich selbst im Spiegel zu betrachten. Ich bin häufig überrascht, daß ich existiere, daß mein Körper wirklich physisch vorhanden ist, daß mein Gesicht ein Gesicht ist und daß mein Name eine Verbindung zu einem Menschen hat, den ich als mich selbst identifizieren kann. Aber wahrscheinlich ist es gar nicht so selten, daß man eine Collage aus Erinnerungen zusammenstellt einzelne Anekdoten und Bilder, die die lineare, logische Erzählung ersetzen. Ich habe mit mir selbst ja etwas sehr ähnliches getan. Nie gab es eine plötzliche Erleuchtung, eine vollkommene und endgültige Erklärung dafür, warum es geschah oder warum es endet oder warum und wer man ist. Sie wünschen sich eine, und ich wünsche mir eine, aber es gibt keine. Sie kommt in Fragmenten, und man näht die einzelnen Stückchen zusammen, wo immer sie passen, und wenn man fertig ist und das Tuch seines Selbst in die Höhe hält, dann sind da immer noch Löcher. Man ist eine Puppe aus Lumpen, ein unvollkommenes Produkt der Phantasie. Und doch: Man selbst ist alles, was man hat, also muß man sich damit zufriedengeben. Es gibt keinen anderen Weg. Bei mir klingt es so einfach: Ich sage, daß es langweilig wurde, deshalb hörte ich auf. Ich sage, daß ich anderes zu tun hatte, deshalb hörte ich auf. Ich sage, ich hatte gar keine andere Wahl als aufzuhören. Ich weiß selbst nur zu gut, daß es nicht so einfach ist. Aber meistens trifft man die wichtigsten Entscheidungen im Leben aus Gründen, die absolut unspektakulär und alles andere als weltbewegend sind. Oft genug treffen wir unsere Entscheidungen, in guten wie in schlechten Tagen, durch Versäumnis. Es stimmt, daß es keinen Augenblick der Erleuchtung gab. Man könnte einfach nur sagen, daß mein Leben die Herrschaft übernahm - das heißt, daß mein Lebenswille stärker wurde als der Todestrieb. Diese beiden Impulse existieren in meinem Innern in einem instabilen Gleichgewicht, aber momentan ist dieses Gleichgewicht immerhin stabil genug, daß ich noch lebe. Im Rückblick erkenne ich, daß ich damals etwas recht Grundlegendes tat. Ich vollzog den Sprung in den Glauben. Und der machte den ganzen Unterschied. Ich klammerte mich an das einzige, das mir wirklich erschien, und das war ein grundlegendes ethisches Prinzip: Wenn ich am Leben war, dann hatte ich auch die Verantwortung, weiterzuleben und etwas mit dem Leben anzufangen, das man mir geschenkt hatte. Und obwohl ich, als ich den Sprung in den Glauben wagte, absolut nicht überzeugt davon war, daß ich einen vernünftigen Grund dazu hatte, und obwohl ich gar nicht so recht daran glaubte, daß es etwas gab, das mir soviel Sinn geben würde wie eine Eßstörung, tat ich ihn, denn ich begann mich zu fragen, wie das Leben danach aussehen würde. Genau wie seinerzeit, als ich mich gefragt hatte, was passieren würde, wenn ich abnähme, fragte ich mich jetzt, was wohl geschehen würde, wenn ich damit aufhörte. Es war die Anstrengung wert. Es ist die Anstrengung wert. Es ist ein Kampf. Er treibt einen zur Erschöpfung, aber es ist ein Kampf, an den ich glaube. Ich kann nicht länger an den Kampf zwischen Körper und Seele glauben. Wenn ich das tue, wird er mich umbringen. Aber was noch wichtiger ist: Wenn ich das tue, habe ich den leichten Ausweg gewählt. Ich weiß ganz sicher, daß die Krankheit leichter ist. Aber Gesundheit ist interessanter. Der Sprung in den Glauben sieht folgendermaßen aus: Man muß glauben - oder es zumindest vorgeben, bis es tatsächlich der Fall ist - daß man stark genug ist, um sich dem Leben zu stellen.

Eßstörungen sind immer eine Krücke. Außerdem sind sie eine Sucht und eine Krankheit, aber fraglos sind sie eine ganz einfache Methode, um den banalen, täglichen, juckenden Schmerz des Lebens zu umgehen. Eßstörungen liefern uns ein kleines, privates Drama, sie nähren den Wunsch nach ständiger Aufregung, alles wird zur Entscheidung auf Leben und Tod, alles ist schrecklich groß und zerstörerisch, wie im Sturm und Drang. Und Eßstörungen sind eine praktische Ablenkung. Man muß nicht über die häßlichen Kleinigkeiten des Alltags nachdenken, man muß sich nicht jenem schrecklichen, langweiligen Ding unterwerfen, das man als geregeltes Leben bezeichnet, mit seinen Rechnungen und Trennungen, dem Abwasch und der Wäsche, den Einkäufen und den Streitereien darüber, wer jetzt dran ist, den Mülleimer zu leeren, mit Schlafenszeiten und schlechtem Sex usw. Man hat sein wirkliches Drama, keine Sitcom, sondern ein richtiges großes Epos, ganz für sich allein. Also warum soll man sich mit jenen törichten Sterblichen abgeben, wo man doch Stunde um Stunde vor dem Spiegel stehen kann, wo man doch eine äußerst interessante sadomasochistische Affäre mit dem eigenen Spiegelbild hat? Doch dieses ganze Getue überdeckt nur eines - und das nicht einmal besonders gut, wie ich hinzufügen möchte - nämlich eine grundsätzliche Angst, daß die richtige Welt einen verschlingen wird in dem Augenblick, in dem man den ersten Schritt auf sie zugeht. Offensichtlich ist diese Angst riesig, sonst würde man sich nicht soviel Mühe geben, um die Welt zu verlassen, und ganz bestimmt nicht eine solch langwierige Methode wählen. Die Angst ist auch eine Angst vor sich selbst: eine dualistische und widersprüchliche Angst. Einerseits befürchtet man, daß man nicht die Voraussetzungen erfüllt, um es zu schaffen, und andererseits - möglicherweise noch stärker - daß man die notwendigen Voraussetzungen vielleicht doch erfüllt, und daß man deshalb per definitionem die Verantwortung trägt, etwas wirklich Großes zu leisten. Es ist ein bißchen entmutigend, wenn man mit dieser geistigen Einstellung in die Welt hinauszieht. Die meisten Menschen haben die Vorstellung, daß sie schon irgend etwas tun werden und daß alles schon irgendwie klappen wird. Man selbst aber geht mit Gewißheit davon aus, daß man von Anfang an ein Versager sein wird, oder daß man etwas absolut Ungewöhnliches tun muß, so daß das potentielle Versagen wiederum vorprogrammiert ist. In meiner Kindheit hatte ich ständig das Gefühl, daß meine Welt von mir erwartete, eines der folgenden beiden Dinge im Leben zu tun: etwas Großartiges zu leisten oder verrückt zu werden und ein vollkommener Versager zu werden. Es gab kein Mittelfeld für mich. Und erst in letzter Zeit beginne ich, das Gefühl zu entwickeln, daß überhaupt so etwas wie ein Mittelfeld existiert.

Ich mußte zu dem Schluß kommen, daß schon alles gutgeht, was immer auch geschieht. Und dies war die schwerste Entscheidung, die ich je getroffen habe, die Entscheidung, mich selbst unter allen Umständen zu schützen. Mein ganzes Leben habe ich mich immer sofort gegen mich selbst gewendet, wenn irgend etwas schiefging, und sei es auch nur die kleinste Begebenheit. Das ist unter Frauen nicht ungewöhnlich. Denjenigen, für die immer nur alles oder nichts gilt, scheinen sich nur zwei Möglichkeiten zu bieten: entweder die Welt zu geißeln und sich selbst dadurch als grenzenlos hysterisch, schrill, unstet und mit vielen anderen Makeln behaftet auszuzeichnen oder sich selbst zu geißeln. Bei Eßstörungen wird die Selbstgeißelung unglücklicherweise - zumindest vorübergehend - von der Welt belohnt und ist deshalb um so verführerischer. Aber irgendwann verkehrt sich das ins Gegenteil. Mein Sprung in den Glauben war eine Art Proklamation: Ich wollte mein Leben nicht länger vergeuden. Insofern war er eher eine negative Reaktion als eine positive Entscheidung, durch die ich mich meinen Mitmenschen freudig in die Arme warf. Ich stehe der Welt nach wie vor mißtrauisch gegenüber. Aber ich würde nicht sagen, daß ich mein Leben vergeude. Und es gibt noch eine Schwierigkeit, wenn man beschließt, solch ein Spiel zu beenden: Dieses Spiel ist wenn auch mit unterschiedlicher Intensität - unter den meisten Frauen ziemlich verbreitet. Alle Spielarten sind gefährlich, die Gefahr beschränkt sich nicht auf die Menschen mit einer möglicherweise tödlich verlaufenden Eßstörung. Eßgestörte Personen reden meist nicht miteinander. Wir bilden keine Schwesternschaft, in der kameradschaftliches Verhalten das oberste Gebot ist. Normalerweise spielt sich eine Eßstörung ausschließlich im verborgenen ab. Und wenn man beschließt, daß man keine Lust mehr hat, mit seiner Krankheit allein zu sein, sucht man sich Freundinnen, Menschen, von denen man glaubt, daß sie einem Vorbilder sein können, daß sie einem zeigen können, wie man essen, wie man leben soll und man stellt fest, daß fast alle Frauen von ihrem Körpergewicht geradezu besessen sind. Das ist schon ein bißchen entmutigend. Im Rückblick erkenne ich alle möglichen Wege, wie ich die Eßstörung, und damit die unglaubliche und unheimliche Reise durch den dunkleren Teil des menschlichen Geistes, die im großen und ganzen mein Leben ausgemacht hat, hätte verhindern können. Wenn ich zu einem anderen Zeitpunkt geboren worden wäre, wenn das Hungern nicht eine so ideale Methode gewesen wäre, den unvermeidlichen Schmerz des Lebens von sich fernzuhalten, wenn jemand, der sich zu Tode hungert, nicht auch noch von der Gesellschaft dafür belohnt würde - Oh, du hast ja so abgenommen! Du siehst großartig aus!

Wenn ich ein anderer Mensch geworden wäre, vielleicht weniger leicht zu beeindrucken, weniger intensiv, weniger ängstlich, weniger abhängig von den Wahrnehmungen anderer Menschen, dann vielleicht hätte ich nicht an die in unserer Kultur so verbreitete Partyweisheit geglaubt, daß man alles erreichen kann, wenn man nur schlank genug ist. Vielleicht wenn meine Familie nicht die meiste Zeit über dermaßen chaotisch gewesen wäre, vielleicht, wenn meine Eltern etwas besser mit ihrem eigenen Leben klargekommen wären. Vielleicht, wenn ich früher um Hilfe gebeten hätte oder wenn mir auf andere Weise geholfen worden wäre, vielleicht, wenn ich mein Geheimnis nicht so entschlossen gewahrt hätte oder wenn ich nicht so eine gute Lügnerin gewesen wäre oder nicht gar so leer im Innern, dann vielleicht, vielleicht, vielleicht. Aber all das ist nur graue Theorie. Manchmal geht eben etwas im Leben schief. Und wenn man fünfzehn Jahre des Fressens und Kotzens, des Verhungerns, der Nadeln und Kanülen, des Entsetzens und der Wut, der gesundheitlichen Krisen und des persönlichen Scheiterns sowie Verlust um Verlust hinter sich hat - wenn man all dies hinter sich hat, noch Anfang zwanzig ist und auf eine deutlich geminderte Lebenserwartung blickt, und wenn die zerstörerische Kraft der Eßstörung immer noch die Hälfte des Körpers und die Hälfte des Geistes in Beschlag nimmt, wenn man einen Großteil seines Lebens krank war, wenn man noch gar nicht weiß, was es bedeutet, »gesund« oder gar »normal« zu sein, wenn man bezweifelt, daß diese Worte, überhaupt noch eine Bedeutung haben, gibt es immer noch keine Antworten. Man wird jung sterben, und man hat keine Möglichkeit, dieser Tatsache einen Sinn abzugewinnen. Aber man hat eins: Man ist dünn. Juppi-duppi-fucki-duu. Der Augenblick, in dem man beschließt, die Karten auf den Tisch zu legen, den Stuhl nach hinten schiebt und das Spiel verläßt, ist sehr einsam. Frauen nutzen ihre Besessenheit von Gewicht und Nahrung als Bindeglied, mit dem sie ein Gefühl der Gemeinsamkeit untereinander schaffen. Statt darüber zu reden, warum wir Nahrung und Gewichtskolltrolle als Mittel gebrauchen, um mit emotionalem Streß klarzukommen, reden wir bis zum Erbrechen über die Tatsache, daß wir unsere Körper nicht mögen.

Wenn man beschließt, das in Zukunft nicht mehr zu tun, bemerkt man, wie unaufhörlich der Strom der Gespräche darüber ist. Ich gehe ins Fitneßcenter, wo überall Frauen in ihrer Unterwäsche herumstehen und sich über ihre Bäuche aufregen. Ich gehe in ein Restaurant und höre, wie die Frauen fröhlich über ihre neueste Diät reden; ich gehe in eine Boutique, und die Frau, die mich bedient, hält, wie alle ihre Vorgängerinnen auch, einen Monolog, daß diese Hosen besonders schlank machen würden, wie glücklich ich doch dran sei, weil ich doch wohl nie ein Problem damit hätte, Kleider zu finden, die die richtige Größe haben. »Und das kommt nur, weil Sie so zierlich sind«, schreit sie. Ich muß mir ins Gedächtnis rufen, daß dies kein Gespräch ist, auf das ich mich einlassen muß. Ich weigere mich, auch nur »Nett von Ihnen, danke« zu sagen. Ich will eigentlich gar keine Hose haben, die schlank macht. Ich will gar nicht aussehen, wie die skelettdünnen Models auf den Fotos an den Wänden. Wenn man gesund sein will, wird man als endgültig merkwürdig abqualifiziert. Ich bin also merkwürdig. Ja und? Ich möchte ein Rezept für unsere Kultur ausstellen, ihr eine Art Beruhigungsmittel verschreiben, das dazu führt, daß sie sich nicht gezwungen fühlt, ständig auf den Stair-Master zu steigen und ins Nichts hinaufzugehen, doch das kann ich nicht. Das geht nur von Mensch zu Mensch. Ich sehe es so, also siehst du es auch so. Ich habe die vielleicht lächerliche Überzeugung, daß es nur genug Menschen geben muß, die diese Sichtweise mit mir teilen, um die Gesellschaft zu verändern. Ich möchte darüber schreiben, wie man GESUND WIRD, aber auch das kann ich nicht. Am liebsten würde ich ein Tortendiagramm erstellen, dessen einzelne Stücke den prozentualen Anteil der verschiedenen Gesundheitskomponenten repräsentieren: Therapie, Nahrung, Bücher, Vollbäder, Arbeit, Schlaf, Tränen, Wutanfälle, Versuche, Irrtümer. Aber auch das kann ich nicht. Es treibt mich zum Wahnsinn. Wenn ich den Weg von A nach B beschreiben sollte, müßte ich einen gewundenen, kreuz und quer verlaufenden Pfad durch ein Rosenbeet beschreiben: Blind stolpert man vor sich hin, dann ein doppelter Haken zurück, man taumelt, stolpert in verschiedene, kleine Kaninchenlöcher, und plötzlich wirft man sich auf den Boden und heult vor Wut. Schließlich muß ich noch darauf hinweisen, daß mein Stolpern ganz allein meines ist. Ihr Stolpern wird anders sein. Sie werden die Schlaglöcher melden, in die ich kopfüber hineinfiel, und dann in den Treibsand geraten, den ich umgehen konnte. Es ist keinesfalls ein plötzlicher Sprung von der Krankheit in die Gesundheit. Viel eher ist es ein langsames, merkwürdiges Mäandern von der Krankheit zu einem einigermaßen stabilen Wohlbefinden. Die unzutreffende Vorstellung, daß Eßstörungen eine medizinische Krankheit im traditionellen Sinne sind, ist nicht besonders hilfreich. Es gibt keine »Heilung«. Eine Pille kann einen nicht stabilisieren, obwohl sie vielleicht hilft. Das gleiche gilt für Therapie, für Nahrung, für die endlose Unterstützung, die man von Familie und Freunden erfährt. Man stabilisiert sich selbst. Das war das Schwierigste, was ich je in meinem Leben getan habe, aber danach war ich stärker. Viel stärker. Und niemals, niemals sollten Sie die Macht ihres Verlangens unterschätzen. Wenn man sich nur verzweifelt genug wünscht zu leben, dann kann man es auch.

Zumindest für mich lautete die viel wichtigere Frage: Wie kann ich mich entschließen, leben zu wollen? An der Beantwortung dieser Frage arbeite ich immer noch. Ich hatte mir eine Probezeit verordnet, sechs Monate. Ich sagte mir, wenn sechs Monate vorbei sind, kann ich wieder krank werden, wenn ich wirklich will. In diesen sechs Monaten geschah so viel, daß ich den Tod instinktiv als störend empfand. Die Probezeit wurde verlängert. Ich scheine sie immer weiter zu verlängern. Es gibt so viel zu tun. Ich muß Bücher schreiben und Nickerchen machen. Ich muß mir Filme ansehen und Rühreier essen. Im Grunde ist das Leben trivial. Entweder beschließt man, es mit dem abgedroschenen Geschäft des Lebens aufzunehmen und sich selbst die Option offenzulassen, etwas richtig Cooles zu tun, oder man entscheidet sich für das Große Epos der Eßstörungen und verurteilt das eigene Leben zu einem wirklich trivialen Ende. In gewisser Weise gehe ich immer wieder vor und zurück, etwas Großes Epos hier und ein bißchen triviales Leben da. Im Laufe der Zeit finde ich immer mehr Vergnügen am Trivialen und finde das Große Epos immer trostloser. Ein gutes Zeichen. Und doch muß ich mir jeden gottverdammten Tag wieder einen Grund ausdenken, warum ich lebe. Offensichtlich habe ich bislang immer etwas gefunden. Ich habe kein Happy End für dieses Buch. Wahrscheinlich könnte ich es mit meiner Hochzeit enden lassen - Ehemalige Magersüchtige angelt sich Mann! Exbulimikerin von gutaussehendem Weißkittel vor Magenperforation gerettet! - aber das wäre lächerlich. Ich könnte es enden lassen mit dem Bericht über die solide Beziehung, die ich zu meinen Eltern habe, aber das kommt mir fast unwichtig vor. Ich kann es nicht enden lassen mit meinem Triumph über die Widrigkeiten, weil (1) ich noch weit von einem Triumph entfernt bin und (2) die besagte Widrigkeit, hmm, ich selbst war.

Ich kann das Buch nicht mit einer Beschreibung meiner blühenden Gesundheit oder meines stabilen Gewichts beenden, denn keines von beidem existiert. Ich kann kein Resümee ziehen und sagen, »Aber jetzt ist es vorbei. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

Es ist niemals vorbei. Nicht wirklich. Nicht wenn man so lange dort unten verharrt, wie ich es getan habe, nicht wenn man länger in der Unterwelt gelebt hat als in der materiellen Welt, wo alles so hell, so groß und so laut ist. Man kommt niemals zurück, zumindest nicht den ganzen Weg. Es bleibt immer ein merkwürdiger Abstand zwischen einem selbst und den anderen, eine Barriere, die dünn ist wie das Glas eines Spiegels. Niemals kommt man so ganz aus dem Spiegel heraus; für den Rest seines Lebens steht man mit einem Fuß in dieser Welt und mit dem anderen in einer anderen, in der alles auf dem Kopf steht, rückwärts läuft und traurig ist. Es ist die Distanz einer besudelten Erinnerung, einer verwickelten Vergangenheit, die alles verändert hat. Wenn Menschen über ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Collegetage sprechen, lache ich mit ihnen und versuche, nicht zu denken: Das war die Zeit, als ich mich in den Toilettenräumen der Grundschule übergeben habe; das war die Zeit, als ich mit Fremden herumgevögelt habe, um meine vorstehenden Hüftknochen zur Schau zu stellen, das war der Zeitpunkt, als ich meine Seele aus den Augen verlor und starb. Und außerdem ist es die Distanz der Gegenwart - die Distanz, die normalerweise zwischen Menschen besteht, weil sie unterschiedliche Leben geführt haben. Ich weiß nicht, wer aus mir geworden wäre, wenn mein Leben anders verlaufen wäre, und deshalb kann ich mein Bedürfnis nach Distanz auch nicht verändern genausowenig kann ich den dumpfen und immerwährenden Schmerz mindern, den die Distanz hervorruft. Mein gesamtes Leben ist von einer einzigen und beinahe tödlichen Obsession überschattet. Heute nehme ich große Anstrengungen auf mich, um ein Leben der Trauer und des Wahnsinns und eines langsamen Walzers mit dem Tod zu kompensieren. Wenn ich mein Haus verlasse, ziehe ich ein Gesicht, ein Kleid und ein Lächeln an und gestikuliere mit den Händen, rede gutgelaunt daher, bin ungeheuer offen und scheine die Dämonen mit großem Selbstbewußtsein besiegt zu haben. Vielleicht stimmt das auf gewisse Weise sogar. Aber häufig habe ich das Gefühl, daß sie mich besiegt haben. Ich bin jetzt dreiundzwanzig. Aber so fühle ich mich nicht: Ich fühle mich alt. Ich habe meine Faszination für den Tod nicht verloren. Ich habe mich auch nicht in einen merklich weniger intensiven Menschen verwandelt. Ich habe die Sehnsucht nach dem Etwas, jenem Ding, von dem ich glaube, daß es die Leere in meinem Innern füllt, nicht verloren und werde sie auch nie verlieren. Ich glaube allerdings mittlerweile, daß diese Leere durch die Dinge, die ich mir selbst angetan habe, nur noch vergrößert wurde. Aber bis zu einem gewissen Grad - der Grad, der mich am Leben erhält, der dafür sorgt, daß ich etwas esse und meinen Alltag bewältige - habe ich die Leere verstehen gelernt, statt sie zu fürchten und zu bekämpfen und mich immer wieder dem vergeblichen Versuch hinzugeben, sie zu füllen. Sie ist da, wenn ich morgens aufwache, und sie ist da, wenn ich abends zu Bett gehe. Manchmal ist sie größer als wiederum zu anderen Zeiten, manchmal vergesse ich sogar, daß sie überhaupt existiert. An manchen Tagen denke ich noch nicht mal an mein Gewicht. An manchen Tagen sehe ich mich sogar so, wie es sich gehört: Ich schaue in den Spiegel und sehe mich als das, was ich bin - eine Frau - und nicht ein unerwünschtes Stück Fleisch, von dem immer zuviel da ist. Was ich jetzt erlebe, sind die seltsamen Nachwirkungen: Es ist nicht wirklich vorbei, und doch hat man es aufgegeben. Und wie oft fragt man sich, ob man es auch wirklich für immer aufgegeben hat. Es ist schwer zu verstehen, wenn man auf seinem Stuhl sitzt, gerade frühstückt oder sonst irgend etwas tut, daß das Aufgeben mehr Stärke demonstriert als das Festhalten daran. »Sich gehen zu lassen« bedeutet in diesem Zusammenhang einen Erfolg und kein Scheitern. Man ißt seine gottverdammten Croissants und streitet mit der Zicke im Kopf herum, die einem immer wieder sagt, daß man fett und schwach ist: Halt die Klappe, sagt man, ich bin beschäftigt, laß mich in Ruhe. Und wenn sie einen in Ruhe läßt, herrscht eine Stille und Einsamkeit, an die man sich erst noch gewöhnen muß. Manchmal vermißt man die Stimme sogar. Denk immer daran, daß sie dich umbringen will. Denk daran, daß dir ein Leben geschenkt wurde, aus dem du etwas machen mußt. Dann befällt einen ein Gefühl des unglaublichen Verlustes. Eine tiefe Trauer. Und schließlich, nach langer Zeit und viel mehr Arbeit, als man je für möglich gehalten hätte, wird es leichter.

Dies ist die bleierne Stunde,
An die man sich erinnert, wenn man sie überlebt,
wie Erfrierende sich an den Schnee erinnern
Erst-Kalt-dann Erstarrung-dann das Loslassen

Emily Dickinson

Und am Ende läßt man los.

Heute

Morgens überhöre ich den Wecker. Mein Schlafpuls liegt bei etwa neununddreißig; es ist schwer, in seinen Körper zurückzukehren, wenn er nachts in einen halbtoten Zustand hinabgleitet, ein bleicher Leichnam, der sich lautlos ins dunkle Wasser rollt. Ich wache auf, als Julian mich schüttelt. »Mar. MAR. MARYA, WACH AUF, STEH AUF, KAFFEE, HALLO.« Ich öffne ein Auge und sehe ihn an. »Verpiß dich«, sage ich. »NEIN, AUF JETZT, STEH AUF, BIST DU AUF?« - »Ja.« - »Geh weg.« »DU BIST NICHT AUF.« Ich lasse die Hände unter die Decke gleiten und fühle meinen Puls: guter oder schlechter Tag? Um die fünfzig, ein schöner, heller Morgen, aufstehen, ohne umzufallen. Schlechter Tag um die vierzig oder tiefer: Füße auf den Boden. Langsam aufsetzen. Es dreht sich alles. Besser als Galle, das. Schwindel und Übelkeit. Mit der Hand an der Wand abstützen, aufstehen. Sich zusammenreißen. In den Spiegel sehen, den Hintern betrachten. Immer noch da. Entsetzen. Ins Bad, Kopf an die Wand lehnen. Pinkeln. Langsam aufstehen. In den Fitneßraum gehen. Sich auf die Waage stellen. Ob ich das tue? Ja. Ich gestehe. Jeder rät mir, es nicht zu tun. Ich tue es trotzdem. Nur um sicherzugehen, daß ich meine Grenzen nicht überschritten habe. Grenzen? Wer hat sie gesetzt? Eine Frage, die wir noch beantworten müssen. Vor kurzem habe ich abgenommen. Ich habe Angst, weil ich mich so sehr darüber freue - Es geht mir gut! Es geht mir besser! Ich bin okay! Ich bin am Leben! Ich habe abgenommen und stelle mich aufs Laufband und laufe anderthalb Stunden, bis mein kaputtes Knie sich anfühlt, als ob es bei jedem Schritt explodiert, aber ich habe abgenommen! Mehr abnehmen, mehr - ich steige vom Laufband herunter und schwanke. Hallo. Ruhig, mein Mädchen, ruhig. Ich habe mir angewöhnt, mit mir zu sprechen wie mit einem Pferd. Ruhig! Unter die Dusche. Unter der Dusche ohnmächtig. Bloß Julian nichts erzählen. Weil Julian Angst hat, mehr als alles andere. Ich glaube, daß ich sterbe. Ich habe versucht, es ihm zu sagen. Ich habe gesagt: Ich werde zuerst sterben. Du mußt wieder heiraten, nach mir, und dann, im Herbst deines Lebens, wirst du eine wunderschöne Romanze erleben, wie aus dem Bilderbuch, und Liebling, denk jetzt nicht daran, genieße das jetzt mit mir. Siehst du? Ich bin hier. Siehst du? Siehst du? Sieh mich an. Sieh mich an. Wie lange noch? Mein Liebster, ich weiß es nicht. Ich kann nur raten, aber ich rate allein. Wir wissen, daß ich hier bin. Siehst du? Wir wissen nicht, wie lang. Wir wissen, daß ich in der letzten Nacht, wie in so vielen anderen Nächten auch, aufgewacht bin: Das Herz stolpert wie Blitz und Donner, ein manisches Herz, das, angetan mit Narrenkappe und Glöckchen an den Schuhen, dahintaumelt, erst hier entlang, dann dort, das tachycardische Herz, das versucht, aus der Brust zu springen, die selbst pumpt wie in einem Zeichentrickfilm, ein großes, rotes Herz zum Valentinstag, das von innen gegen meine Rippen drückt, Ragtime Tanzschritte, beruhige dich, BERUHIGE DICH MARYA, vielleicht ist es ja Julians Herz, das du hörst, vielleicht hast du einen Herzanfall HÖR AUF; vielleicht bist du ja nur erhitzt, vielleicht stirbst du SAG DAS NICHT, vielleicht hältst du beim Schlafen den Atem an, vielleicht vielleicht vielleicht - man setzt sich auf, zu schnell, alles dreht sich. Man stolpert aus dem Bett, stößt sich den Kopf am Waschbecken, legt die Wange an das kalte Porzellan wie eine Betrunkene, dreht das Wasser auf, hält den Mund unter den Wasserhahn, versucht zu atmen, langsam und gleichmäßig. Langsam. Langsam. In manchen Nächten, vielen Nächten, krieche ins Bett zurück und kuschele mich an Julian, der schläft, ein gleichmäßig schlagendes Herz, heiß, dampfende Haut, Mund leicht geöffnet, wie in Ehrfurcht vor seinen Träumen, seine Hände vollführen die kleinen, abstrakten Gesten des Schlafes. Ich lege mich auf seine Brust und horche auf sein Herz. Und ich versuche, mir sein Herz einzuprägen. Und streng mit dem meinen zu sprechen: Hör zu, sage ich. Genau so. Gleichmäßig. Stark. Julian murmelt vor sich hin. Mein Herz sinkt zurück. Setzt sich wieder auf, brabbelt noch einmal vor sich hin, mit weit aufgerissenen Augen, und noch einmal: das letzte Beben, das letzte erschütternde Schluchzen eines Kindes, das lange geweint hat. Ich zähle, sehe dabei auf das grüne Licht der Uhr. Achtunddreißig. Ich zähle fünfunddreißig. Und dann taumelt es zur Ruhe, packt mich am Schopf und zieht mich hinunter in die Gewässer des Schlafes, die so schrecklich tief und kalt sind.

Texttyp

Epilog