Sterben ist eine Kunst wie alles andere

Washington, D.C., 1992 bis 1993

STERBEN
IST EINE KUNST WIE ALLES.
ICH KANN ES BESONDERS SCHÖN.
ICH KANN ES SO, DASS ES DIE HÖLLE IST, ES ZU SEHN.
ICH KANN ES SO, DASS MAN WIRKLICH FÜHLT,
ES IST ECHT.
SIE KÖNNEN, GLAUBE ICH, SAGEN, ICH BIN BERUFEN
ZU DIESEM ZIELE.
SYLVIA PLATH, »MADAME LAZARUS«, 1966[23]

Washington war sehr aufregend. Ich erinnere mich größtenteils nur vage daran, weil ich starb. Sterben ist ebenfalls sehr aufregend. Eigentlich schade, daß es mir nicht früher aufgefallen ist. Wahrscheinlich hätte ich noch ein paar interessante Betrachtungen angestellt über den Prozeß des Sterbens im Alter von achtzehn Jahren. Aber es fiel mir nicht auf. Ich war sehr beschäftigt. Wirklich sehr beschäftigt, sehr wichtig, keine Zeit, meine Tage durch die Uhr an meiner Wand geordnet, das Ticken der Uhr an meinem Handgelenk, ein durchsichtiger, mit Haut überzogener Knochen. Ständig mußte ich neue Löcher in mein Uhrarmband stechen, weil es zu weit war und gegen den bleichen Handgelenkknochen schlug, wenn ich mit energisch vorgerecktem Kinn durch die überfüllten Straßen eilte und dabei die Arme hin und her schwang. Ich wußte, daß ich dünn war, als ich nach Washington kam. Dieses Wissen wertete ich als Fortschritt. Nie zuvor hatte ich über einen längeren Zeitraum hinweg erkennen können, daß ich dünn war. Aber wenn ich mich jetzt, im fünften Stock der Hughes Hall in der American University, im Ganzkörperspiegel betrachtete, der an meiner Schranktür angebracht war, erkannte ich es. Ich zog die Unterhose an, die auf meinen Hüftknochen hing wie an zwei Kleiderhaken, und konnte erkennen, daß ich dünn war. Ziemlich dünn, dachte ich und lächelte mein Spiegelbild voller Stolz an: Gutes Mädchen! Nie kam mir der Gedanke, daß ich vielleicht zu dünn sein könnte. Denn was hieß das überhaupt: zu dünn. Schließlich konnte man nie zu reich oder zu dünn sein. Aber ich stand vor dem Spiegel und sagte, Vielleicht. Vielleicht dünn genug. Das war ein Wunder. Es ist allgemein bekannt, daß Menschen, die an Eßstörungen erkrankt sind, niemals glauben, daß sie dünn genug sind. Wo die meisten Menschen sich vornehmen, ein paar Kilo zu verlieren - zwei, fünf, sieben - und aufhören, wenn sie ihr Ziel erreicht haben, nimmt sich die Anorektikerin vor, fünf Kilo abzunehmen, und sagt, wenn sie ihr Ziel erreicht hat: Na ja, vielleicht sieben. Sie verliert sieben und sagt zehn, sie verliert zehn und sagt fünfzehn, verliert fünfzehn und sagt zwanzig und stirbt. Ups. Sie hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, zu sterben. Sie wollte doch einfach nur sehen, was passieren würde. Wollte sehen, wie weit sie gehen konnte. Und dann konnte sie den Absturz nicht mehr verhindern. Es war völlig unwichtig, ob ich dünn genug war, und nein, ich war nicht sicher, ich konnte nicht sicher sein, wer kann schon sicher sein? Wer legt fest, was Wahrheit ist und was Wahrnehmung? Wo die absolute Norm liegt? Und außerdem war es sowieso egal, weil ich nichts mehr aß.
Ganz plötzlich aß ich fast gar nichts mehr. Ich hatte nicht unbedingt die Absicht gehabt, meine Lebensmittelration noch mehr zurückzuschrauben, als ich nach Washington abreiste. Ich nahm bereits so wenig Kalorien zu mir, daß mir gar nicht der Gedanke kam, daß ich es noch weiter reduzieren könnte oder sollte. Aber ich tat es, schaffte die überflüssigen Bissen ab. Oberflächlich gesehen war dies eine Art Katharsis; Nahrung erschien mir plötzlich als Last, eine unnötige Beanspruchung meiner ohnehin schon knappen Zeit, und ich stutzte das, was ich aß, noch mehr zurück, ein paar Schlucke hier, ein paar Bissen da. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Ausdauertest. Ich wollte herausfinden, wie lange ich es aushalten würde, von Luft zu leben. Ich wollte herausfinden, mit welchem Minimum an Nahrung ich auskommen würde.
Denken Sie daran: Magersüchtige essen durchaus. Wir schaffen uns bestimmte Systeme, die sich fast unbewußt entwickeln. Wenn wir erkennen, daß wir unser Leben an einem eisernen System aus Zahlen und Regeln ausgerichtet haben, hat das System bereits die Herrschaft über uns erlangt. Solche Systeme bestehen aus sicheren Nahrungsmitteln, also solchen, die nicht oder weniger von Ungeheuern, Teufeln und Gefahren durchdrungen sind, aus »reinen« Lebensmitteln, die die Seele kaum mit Sünden wie Fett oder Zucker oder einem Kalorienüberschuß besudeln. Denken Sie doch an die Werbesprüche für Lebensmittel, an die mit religiösen Metaphern geradezu durchsetzte Wortwahl: »Sündhaft sahnig« intoniert die Sprecherin mit seidiger Stimme und fährt fort, den »Genuß ohne Reue« anzupreisen. Keine komplexen Nahrungsmittel, bei denen sich der Geist in einem wirbelnden Tornado möglicher Fallstricke verfängt - eine Fehlberechnung der Kalorienzahl, der Verlust der Sicherheit, keine Kontrolle mehr über das Chaos, keine Kontrolle mehr über sich selbst. Die schreckliche Möglichkeit, daß man sich mehr nimmt, als man verdient hat. Aber Systeme sind wie Korsetts, sie zwängen den Körper immer mehr ein, lassen ihn immer mehr zusammenschrumpfen, pressen einem den Atem aus dem Leib, bis man sich schließlich gar nicht mehr bewegen kann. Und selbst dann hören sie nicht damit auf.
Und so funktionierte mein Eßsystem, als ich noch in Minneapolis lebte: Nahrung wurde in (Brot-)Einheiten eingeteilt. Eine Einheit bestand aus 80 Kalorien, das entspricht einer durchschnittlichen Scheibe Brot. Natürlich hatte ich mir dieses System selbst ausgedacht, und bis zum heutigen Tag verstehe ich nicht, warum es eine solch immense Bedeutung für mich hatte. Aber so geht es allen Magersüchtigen: Wir alle haben unsere Systeme. Eine meiner Freundinnen teilte Nahrungsmittel willkürlich in Flüssiges und Festes ein - unter Festes faßte sie Suppe, Brot, Nudeln, Reis; flüssige Lebensmittel waren Schokolade, Gemüse und Hühnchen. Sie hätte mit jedem vernünftigen Menschen Streit angefangen, der ihr die alternative Bedeutung der Begriffe »flüssig« oder »fest« hätte nahebringen wollen. Es ist lediglich ein bestimmtes Muster, an dem wir uns orientieren, und es ist lebensnotwendig. Es würde mir schwerfallen, die Leidenschaft zu beschreiben, die wir für unsere Systeme empfinden. Sie stehen uns ebenso nahe und sind uns ebenso teuer wie ein rettender Gott. Wir kennen unsere Systeme besser als das Alphabet, wir haben sie in der Tiefe unseres Gehirns gespeichert, ähnlich wie die Hand, die selbst im Dunkeln noch weiß, wie man schreibt. Sie sind das einzige, was die Unsicherheit in Schach hält. Wir verspüren einen krankhaften Stolz, weil wir von jedem Nahrungsmittel der Welt den genauen Kalorien- und Fettanteil kennen. Verständlicherweise verachten wir alle Ernährungsphysiologen und Experten, die versuchen, uns die Kalorien von Lebensmitteln vorzurechnen. Schließlich sind doch wir die Göttinnen der Kalorien, und wir genießen die Illusion unserer Allmacht. So ringen wir uns lediglich ein überhebliches Lächeln ab, wenn der Ernährungsphysiologe sagt, daß eine durchschnittliche Frau täglich 2 000 oder mehr Kalorien zu sich nehmen muß, wo wir selbst VERDAMMT NOCH MAL HERVORRAGEND mit 500 auskommen.
Als ich das Lowe House verließ, war ich (1) mit 51 Kilo ziemlich dünn und nahm, meinen Berechnungen zufolge, (2) täglich 31,25 Einheiten zu mir.
Im Winter jenes Jahres, in Minneapolis, beschloss ich, daß 16 Einheiten reichen würden. Ich teilte meine Kalorienzufuhr durch zwei und strich Fett vollkommen von meinem Speiseplan. Im Sommer, bevor ich nach Washington aufbrach, war ich bei 10 Einheiten. Als ich in Washington ankam, beschloss ich auf der Stelle, zwei weitere Einheiten zu streichen - nur zwei, welchen Unterschied machten denn schon zwei mickrige Einheiten? - so daß ich bei acht landete. Im Oktober lebte ich von sechs Einheiten, und im Dezember strich ich sie auf vier zusammen. Vier Einheiten. Legen Sie vier Äpfel vor sich hin, und versuchen Sie, sich vorzustellen, wie Sie sich fühlen würden, wenn Sie ein paar Tage lang das und sonst gar nichts essen würden. Oder vier Scheiben Brot. Oder ein Joghurt und eine Orange. Oder zwei Brötchen. Oder einen Haufen Möhren und eine Schüssel mit Cornflakes. Ich nahm 320 Kalorien am Tag zu mir. Eine tägliche Kalorienzufuhr von 900 Kalorien führt langfristig zum Verhungern. Ich aß lediglich ein Drittel davon. Wie soll man das nennen? Das Wort, das einem hierzu in den Sinn kommt, lautet »Selbstmord«. Die meisten Menschen haben die seltsame Angewohnheit, regelmäßig zu schlafen. Diese Angewohnheit hatte ich nicht. Bestimmt nicht in Washington. Ich befürchtete, etwas zu verpassen. Ich war manisch und am Verhungern, und wer verhungert, dessen Manie explodiert und verwandelt sich in eine psychedelische Leidenschaft für das Wachsein, eine trügerische Verachtung für so grundlegende Bedürfnisse wie Schlafen. Die meisten Menschen schlafen sieben Stunden pro Nacht. Das sind sieben Stunden, in denen ihr Körper ruht und nicht viel Energie in Form von Nahrung verbraucht. Die meisten gesunden Menschen können siebzehn Stunden mit etwa 2 000 Kalorien überstehen, was bedeutet, daß sie in jeder wachen Stunde 117,64706 Kalorien verbrauchen. Ich hingegen war, wie viele Menschen mit dieser Krankheit, etwa einundzwanzig Stunden am Tag wach, die drei restlichen Stunden verbrachte ich damit, mich im Halbschlaf hin und herzuwälzen. Damit standen mir für jede meiner wachen Stunden 15,238095 Kalorien zur Verfügung.[24]
Übrigens entwickelte ich in Washington eine Art Besessenheit von Zahlen. Es ist also nicht schwer zu erraten, was als nächstes geschah.
1992 in der Hauptstadt, ein Wahljahr mit Kandidaten, die die Nation spalteten. Ich brach mitten im Laufen, denn wenn man in Rom ist, muß man sich auch wie ein Römer verhalten. Für die Menschen in Washington war dies ein aufregendes Jahr: Clinton versprach, die Wirtschaft zu retten, und verbreitete eine Aura von Jugend und Energie. Bush sah alt aus und wurde für sämtliche nationalen Probleme verantwortlich gemacht. Die Stadt brodelte vor Versprechungen oder Drohungen je nachdem, auf welcher Seite man saß: auf der Oppositionsbank der Demokraten oder im Weißen Haus. Es war ein großartiges Jahr für eine junge, ehrgeizige Möchtegernreporterin, die keinerlei Privatleben zurückhielt oder behinderte. Ich arbeitete als Redakteurin für eine kleine Rundfunkstation, was bedeutete, daß ich mit vierzig Stunden in der Woche begann und sehr bald fand, daß es einfach nicht genug war, also arbeitete ich mehr und kurz darauf noch mehr. Ich schrieb eine wöchentliche Kolumne zum Thema Kunst in der Studentenzeitung der American University. Nebenher arbeitete ich als freiberufliche Researcherin für ein paar Zeitungen der Stadt, ging zur Uni, und zwar Vollzeit, hatte sogar einigermaßen gute Noten und galoppierte mit gesenktem Kopf auf die Ziellinie meines seltsamen, kleinen, geheimen Rennens zu.
Ich war und bin ein hyperkinetischer Mensch. Ich war immer sehr beschäftigt, egal, ob ich nun einen Job hatte oder fünf. Ich liebe es, beschäftigt zu sein. Es hält das Gehirn in Bewegung. Außerdem kann ich sowieso nichts dagegen tun. Diagnostisch gesehen. Ich bin manisch. Und zwar ziemlich. Bis heute zapple und renne ich die ganze Zeit herum. Wenn ich einmal nicht aktiv bin, frage ich mich gleich, was mit mir nicht in Ordnung ist. Ich. habe das Gefühl, faul zu sein, und ich suche nach einer Beschäftigung. Ich habe keinen Knopf, an dem man mich abstellen kann. Aber während meines Aufenthalts in Washington wurde es extrem. Meine Aktivität hatte etwas Verzweifeltes an sich. Aber auch heute, im Rückblick, kann ich nicht sagen, ob es der verzweifelte Versuch war, beschäftigt genug zu sein, um am Leben zu bleiben, oder der Versuch, mich zu Tode zu arbeiten. Ich bekam langsam Angst vor dem Schlafen und vor der Ruhe. Als ob ich befürchtete, vielleicht nicht mehr aufzuwachen. Der Herbst in Washington war kühl und windig, sonnig, das gelobte Land - blauer Himmel, Straßen, auf denen es vor Menschen nur so wimmelte, die riesigen Diplomatenvillen, die die Straße zum Campus der American University säumen, blasierte Häuser mit gepflegter Gartenanlage. Morgens wachte ich auf, in dem Bett neben dem Fenster des Schlafzimmers, das ich mit einer anderen jungen Frau teilte. Ich ging mit ein paar Leuten, die auf meinem Flur wohnten, frühstücken, aß eine Schüssel Cornflakes, trank meinen Kaffee, ging in meine Seminare, rannte vom Campus zur Tenleytown Metro Station, tauchte in die U-Bahn ab, tauchte wieder auf, raste die langen Rolltreppen hinauf, 'tschuldigung, 'tschuldigung, schob mich mit Ellbogen und Schultern an den Anzügen und Kostümen vorbei. Auch ich war nichts weiter als eine Frau in Kostüm und Laufschuhen und tauchte wie eine Ratte am Dupont Circle wieder auf. Wir alle gingen im Stechschritt durch die Straßen, auf unsere einsame und anonyme Weise, blinzelten im plötzlichen Sonnenlicht, vorbei an den Blumenverkäuferinnen, den Obstverkäuferinnen den Hot-Dog- und den Brezel-Ständen, an den Cafés und den Geschäften und dem kleinen, runden Park, in dem Männer mit Zeitungen über den Gesichtern auf Parkbänken lagen, vorbei an den Männern, die auf den Abluftgittern am Bürgersteig schliefen, aus denen der Dampf wie Rülpser aus dem Bauch der Stadt aufstieg, vorbei an den Frauen mit Schildern und Blechtassen, die sich an die Mauern der Gebäude lehnten, unter Augenhöhe. jedermann maß die Entfernung zwischen hier und dort, mied den Augenkontakt, schwang seine Aktentasche in einem scharfen Bogen, hielt die Handtasche dicht an die Hüfte gepreßt, schritt mit jenem besonderen Schritt vorbei. Schon bald hatte ich diesen Schritt perfektioniert. Man geht so schnell wie möglich, selbst wenn man nur irgendwo eine Tasse Kaffee trinken will, selbst wenn man nicht einmal ein Ziel hat, selbst wenn man auf dem Weg zur Arbeit relativ früh dran ist. Man geht, als ob man sonst zu spät käme. Man wird ganz bestimmt zu spät kommen, zu einem sehr wichtigen Termin, und weil jeder versucht, so wichtig wie möglich auszusehen, geht man, als ob es ungeheuer wichtig wäre, daß man nicht zu spät kommt, weil man über wichtige Dinge nachdenken muß, wenn man ankommt, und weil ganz Washington stillstehen wird, wenn man auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu spät kommt. Man achtet darauf, daß das Gesicht ausdruckslos bleibt. Man lächelt nicht, man runzelt nicht die Stirn. Man blickt geradeaus, man bemerkt auch die Penner nicht, über die man steigt, ohne den Schritt auch nur im geringsten zu verändern, ebensowenig wie die Frauen mit den zahlreichen Mänteln, die ziellos in der Menge umherwandern und etwas über den schrecklichen Zustand der Welt vor sich hin brabbeln. Auch die Obstverkäuferin bemerkt man nicht, die jeden Tag einen anderen Hut trägt und auf dem gleichen Bürgersteig wohnt, auf dem auch ihr Obststand steht. Sie lacht und lacht, das netteste, kleine Lachen, das man je gehört hat, und winkt einem jeden Tag zu, wenn man vorbeiläuft, Hallo, Liebes! Wie geht es dir heute? Und weil man doch eigentlich nichts weiter als ein Kleinstadtmädchen ist, das sich in der Großstadt ganz verloren vorkommt, ist man danach immer den Tränen nahe. Man erwidert ihren Gruß mit einem scheuen Lächeln, sagt Hi und zieht dann sofort wieder das Gesicht glatt, behält seine Gedanken für sich und läuft weiter, rast die Treppe zum Büro hinauf, sagt den Kollegen Hallo, nimmt den Hörer auf und beginnt, Anrufe zu tätigen, während man sich durch den Papierstapel auf dem Schreibtisch wühlt. Man kritzelt Notizen auf den Block, legt wieder auf und arbeitet, bis der Rest der Belegschaft schon lange wieder zu Hause ist. Allein im Büro geht man zur Kaffeemaschine und brüht sich eine weitere Kanne auf, lehnt sich an die Wand und reibt sich die Augen. Dann schaltet man das Radio ein. Man gießt sich frischen Kaffee ein. Kehrt an seinen Schreibtisch zurück.
Nachts. Die Straßen sind immer noch überfüllt mit jenen, die bis spät in die Nacht gearbeitet haben und jetzt nach Hause gehen. Ich liebte die Nächte, die nächtliche U-Bahn, den nächtlichen Spaziergang zu den Schlafräumen. Am Anfang war alles noch gut. Ich lernte ein paar Leute kennen, die man - bei besonders wohlwollender Betrachtung - sogar als Freunde hätte bezeichnen können. Ich erinnere mich nicht mehr an ihre Namen, aber wir gingen abends zusammen essen, und ich aß meine Möhren mit Senf. An Abenden, an denen ich mir besonders mutig vorkam, aß ich sogar gefrorenes Joghurt aus einer Kaffeetasse. Wenn ich ihn aus der Kaffeetasse und nicht von einem Teller aß, kam ich eher damit zurecht ein Teller war einfach zu groß! Wenn ich den Leiter der Caféteria ausfindig gemacht hatte, um absolut sicherzugehen, daß das gefrorene Joghurt auch wirklich gar kein Fett enthielt und nicht einfach nur fettreduziert war, wenn ich sicher war, daß niemand einen Fehler gemacht hatte und das falsche Etikett angebracht hatte, setzte ich mich an den Tisch, und wir stritten laut über Politik und Philosophie, lachten und schrien. Meine Kommilitonen waren recht nett. Ein bißchen blöd. Sehr ehrgeizig. Wir alle waren ungeheuer getrieben, wir alle verbrachten viel mehr Zeit mit unseren Nebenjobs als auf dem Campus, die meisten arbeiteten in der Politik. Nachdem wir tagsüber unserer Wege gegangen waren, trafen wir uns am späten Abend immer in der Lounge im fünften Stock wieder, schalteten die Fernsehnachrichten ein, saßen um einen kleinen Tisch herum und pokerten, schrien einander an bis zum Morgengrauen. An den Wochenenden tranken wir.
Viel. Eigentlich war Alkohol auf dem Campus verboten, aber das bedeutete nichts weiter, als daß wir heimlich tranken. Wir fielen in die Bars der Stadt ein und tranken uns dumm und dämlich. Dann tanzten wir. Eines Tages trug ich ein kleines, schwarzes Kleid, und wir nahmen die Metro zum Quigley's in der Innenstadt, wo ich einen recht netten Idioten namens Jeff kennenlernte. Ich war betrunken genug, um den Namen »Jeff « ungeheuer amüsant zu finden, ebenso wie die Tatsache, daß ich dabei war, einen zukünftigen Major der Armee von Georgetown zu verführen. Darüber hinaus trug Jeff eine Seidenkrawatte und eine Baseballkappe, und zwar gleichzeitig, und er spendierte mir Drink um Drink. Wir vögelten, keinerlei Empfindung in meinem Körper, in der dunklen Ecke einer Bar, hinter einem Vorhang, im Stehen. Er schrieb seine Telefonnummer auf eine Serviette. Im Taxi auf dem Nachhauseweg mußten die Mädchen, mit denen ich gekommen war, und ich so heftig lachen, daß wir kaum mehr die Treppen zu unseren Schlafzimmern hinaufkamen. Unsere Freunde waren alle in der Lounge und rauchten, und jemand sagte »Oh-oh« und fing mich auf, bevor ich umfiel und mich weiter kaputtlachte. Er trug mich den Flur hinab auf mein Zimmer (Gottverdammich, Mädchen, was wiegst du eigentlich?) und brachte mich zu Bett. Ich erinnere mich undeutlich daran, daß sich zwei Typen im Zimmer darüber stritten, ob sie mich nun ausziehen sollten oder nicht, und schließlich zogen sie mir die Schuhe aus, stellten den Mülleimer neben mein Bett und ließen mich allein. Ich beugte mich darüber und erbrach den Schnaps der ganzen Nacht mit einem gewaltigen Platsch. In dem Erbrochenen war nicht das kleinste Fitzelchen fester Nahrung, denn ich hatte den ganzen Tag (wenn nicht länger) nichts mehr gegessen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, sprang aus dem Bett und schlenderte in die Lounge zurück. Dort fand ich noch ein paar Leute, die gar nicht schlafen gegangen waren, und sie alle starrten mich an. Ich trug immer noch mein Kleid und meine Strümpfe, war immer noch geschminkt, das Haar war ordentlich frisiert. Einer von ihnen fragte mich mit einer Grimasse: »Wie fühlst du dich?« - »Gut«, antwortete ich. »Warum?«, - »Hast du denn keinen Kater?« fragte er? »Nein«, sagte ich. »Gehen wir jetzt frühstücken, oder was?« Wir gingen zum Frühstück. Ich aß normalerweise eine halbe Tasse Vollkorncornflakes mit heißem Wasser, die ich auf dem Teller zu einem matschigen Brei vermengte. Dann begann man mich zu fragen, ob ich magersüchtig sei. Meine Zimmergenossin erzählte dem Studienberater, daß sie sich Sorgen um mich machte. Eines Abends kam der arme Kerl dann zu mir aufs Zimmer, um mit mir darüber zu reden, und ich berichtete ihm vergnügt, daß ich einmal magersüchtig gewesen sei, aber das hätte ich hinter mir. Er freute sich darüber. Wenn ich mal jemanden zum Reden brauchte, sollte ich zu ihm kommen. »Aber klar«, sagte ich. Die Leute begannen, über mich zu klatschen, ebenso wie über die Bulimikerin nebenan, deretwegen, wie man sich erzählte, die Leitungen in den Toilettenräumen immer verstopft waren. Ich hörte auf, mit den anderen zu frühstücken und zu Abend zu essen. Ich habe zu tun, sagte ich, was stimmte. Ich begann, meine Abende allein auf meinem Zimmer zu verbringen, an meinem Schreibtisch, vor meinem Computer, horchte auf das National Public Radio, ignorierte meinen Wirbelwind von Zimmergenossin, die ständig irgendeine Krise hatte.
Ich hingegen hatte ganz bestimmt keine Krise. Ich nicht!
Ich war jedoch außerordentlich allein. Die vielen Briefe, die ich meinen Eltern nach Hause schickte, sagten wieder und wieder, daß ich einsam war. Heute kommt mir das seltsam vor. Meine Beziehung zu meiner Familie war bis zu meiner Abreise schlimmstenfalls feindselig und bestenfalls gekünstelt, und seit Jahren hatte ich mein Möglichstes getan, sie so weit ich konnte von mir fern zu halten, mich so gut es ging vor ihnen zu verstecken. Diese Briefe jedoch sind zart und intim, voller Fragen über die Welt, in der ich lebte, voller Sorgen über meine Position darin, über das, was ich mit meinem Leben anfangen wollte, über meine Furcht vor der Geschwindigkeit, mit der ich mich voranbewegte. Das ist vielleicht der seltsamste Teil, die Tatsache, daß diese Briefe, die ich fast immer mitten in der Nacht schrieb, so offen und geradezu enthüllend sind, wahrscheinlich viel stärker, als es meine Absicht gewesen war. Ich erinnere mich nicht, wirklich so nachdenklich, gewesen zu sein, wie meine Worte es andeuten. Tatsächlich erinnere ich mich überhaupt nicht daran, irgend etwas empfunden zu haben. Außer Furcht. Und die Briefe werden dem Ausmaß meiner Furcht keineswegs gerecht. Doch eines spiegeln sie ganz bestimmt wider: meinen Versuch, für meine Eltern das Bild einer gesunden Tochter zu entwerfen. Im letzten Satz spreche ich grundsätzlich vom Essen: »Ich mache jetzt Schluß, um noch eine Kleinigkeit zu essen.« »Ich bin jetzt zum Abendessen verabredet.« »Fühle mich richtig gut nach einem Teller Suppe.« »Komme gerade erst nach Hause. Bin mit Freunden Pizza essen gewesen.« Pizza mit Freunden, ach du meine Scheiße. Haha. Scheiße? Wo sollten die wohl herkommen! Ich hatte doch noch nicht mal mehr einen Arsch. Keine Beine, keine Arme, keine Wangen, keine Brüste. Und auch keine Freunde. Zu Beginn des ersten Trimesters zog meine Zimmergenossin aus. Das dünne Band, das mich mit der Welt der Menschen verbunden hatte, wurde nun vollkommen gekappt. Ich hatte aufgehört, an den Mahlzeiten teilzunehmen. Seminare, Arbeit, die fünf Stockwerke in mein Zimmer hinaufgehen, an manchen Abenden mußte ich mich am Geländer hochziehen, dann in mein Zimmer, Tür zu. Ich schaltete das Licht an, das Radio, kochte mir eine Kanne Kaffee, zündete eine Zigarette an, schleuderte meine Schuhe weg und setzte mich an meinen Schreibtisch an die Arbeit. Ich trank zwischen drei und sechs Kannen Kaffee am Tag. Meine Hände zitterten fürchterlich. Es war mir fast schon peinlich; in den Seminaren behielt ich sie unter dem Tisch, wo sie im geheimen weiterzittern konnten. Als der Herbst in den Winter überging, nahmen meine Hände eine seltsame Färbung an, eine Art geflecktes Lila. Die Sehnen traten aus der Haut hervor, ein kleines Netz aus blauen Adern umspannte die Knochen. Wenn ich die Hände gegen das Licht hielt, dann berührten sich nur noch die Knöchel, das Licht schien durch die Lücken zwischen den Fingern, egal wie heftig ich sie zusammendrückte. Ich interessierte mich sehr für diese Lücken, für die Löcher zwischen den Knochen, Orte der Abwesenheit, wo früher ganz bestimmt einmal Fleisch gewesen war, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, wann. Wenn die leise Stimme in meinem Kopf immer noch keine Ruhe gab, warf ich meinen Stift auf den Schreibtisch, stand auf, ging zum Spiegel, zog meine Hose aus, betrachtete die Lücken. Ich preßte meine Beine so heftig zusammen, wie es ging, und betrachtete den Zwischenraum zwischen meinen Waden und meinen Oberschenkeln. Ich begann, die Dinge nach Abwesenheit statt nach Anwesenheit zu messen. Wo ich früher meinen Hintern angestarrt hatte, um festzustellen, ob er gewachsen oder geschrumpft war, betrachtete ich nun die Luft in seiner Umgebung, und versuchte festzustellen, ob sie gewachsen oder geschrumpft war. Ich betrachtete meinen Arsch im Profil und die Art, wie er sich auf die Hüftknochen zubewegte. Aufmerksam inspizierte ich den Hüftknochen, nahm ihn in die Hand, klopfte darauf, horchte auf das hohle Geräusch. Ich betrachtete den Raum zwischen meinen Oberschenkeln, dann meinen Unterkörper, der aussah wie eine Fleischgabel, meine Schamhaare, die auf der präpubertären Gestalt geradezu obszön wirkten: Zwischen den Oberschenkeln klaffte eine Lücke, die Knochen meiner Knie berührten sich, und dann folgte erneut reiner Raum, reiner, leerer Raum. Im Spiegel konnte ich die Heizung hinter mir durch meine Beine hindurch erkennen, ein kleines, leeres Oval vom Knie bis zum Schritt. Ich starrte den Ort an, wo vorher mein Oberkörper gewesen war, den Raum zwischen den Knochen. Ich nahm meinen Brustkasten in die Hände, legte die Hände um die Knochen, die Finger im Innern des Brustkastens, die Handflächen oben drauf, zwei Fäuste. Wenn ich zufrieden festgestellt hatte, daß die Leere nicht geschrumpft war, daß mein Körper innerhalb der ihm zustehenden Grenzen geblieben war und sie nicht überschritten hatte, zog ich meine Hose wieder an, setzte mich an meinen Schreibtisch, trank meinen Kaffee und arbeitete. Die ganze Nacht.
Anfang des Jahres baten mich meine Eltern, zum Arzt zu gehen, nur um mich untersuchen zu lassen, nur um ihnen einen Gefallen zu tun. Ich ging zu einem Arzt auf dem Campus, weil ich ganz richtig annahm, daß er eine Eßstörung selbst dann nicht erkennen würde, wenn sie ihn in den Hintern trat. Bevor ich hineinging, aß ich ein Brötchen, um mein Gewicht etwas zu manipulieren. Wie meine Eltern mich gebeten hatten, sagte ich ihm, daß ich früher einmal eine Eßstörung gehabt hatte. Er war sehr nett, hatte weißes Haar und ein sympathisches Gesicht. Er wog mich in Unterwäsche und Socken: 82 Pfund. Ich war selbst überrascht und mußte innerlich grinsen. Er sagte mir, daß ich besser etwas zunehmen sollte und empfahl mir dazu Milchshakes. Nachdem ich gegangen war, summte ich den ganzen Tag vor mich hin. ich dachte daran, daß mein Idealgewicht früher einmal bei 84 Pfund gelegen hatte, und nun hatte ich sogar das unterschritten. Ich beschloß, daß 80 eine bessere Zahl war, eine hübsche, runde Zahl. Als meine Eltern mich fragten, sagte ich ihnen, daß, der Arzt versichert hätte, ich sei so gesund wie irgend möglich und daß ich 101 Pfund wog. »Seht Ihr?« krähte ich. »Ich halte mein Gewicht.«
Ich reiste nach Virginia, um über die Präsidentschaftsdebatten zu berichten. Ein hektischer Tag, eine ebenso hektische Nacht im Pressezelt, Reporter, die wie verrückt umherrannten, schüsselweise Karamellbonbons auf den Tischen. Ich aß unglaublich viele davon, so daß mir ziemlich schlecht wurde. Es wurden schachtelweise Zigaretten ausgegeben. Auch das Abendessen war sehr üppig, aber das einzig sichere Nahrungsmittel wären die weißen Brötchen gewesen, also beschloß ich, es ganz auszulassen. Ich rannte mit dem Rest durch die Gegend, machte Interviews, kritzelte meine Notizblöcke voll, saß während der Debatten im Pressezimmer, mitten im ohrenbetäubenden Lärm. Ein alter Mann mit einer Underwood Schreibmaschine und gelockerter Krawatte saß neben mir, kaute auf seiner Zigarre herum, blickte mir über die Schulter, las, was ich geschrieben hatte, und sagte dann irgendwann zu mir: »Kind, du wirst bestimmt mal eine gute Reporterin.« Dann kehrte er an seine Schreibmaschine zurück. Als die Debatten vorbei waren, kamen Mary Matalin und James Carville ins Zimmer. Die Presseleute versuchten, einen guten Platz zu ergattern, und ich - nur einsfünfzig groß und so schmal wie ein Zweig, duckte mich, schlängelte mich überall hindurch und stand mit meinem Kassettenrecorder direkt vor ihren Gesichtern und schrie ihnen über den Lärm hinweg Fragen zu. Dann zum Hotel zurück, die Story heruntertippen, während ich alte Gummibärchen kaute, die ich vorher nach Farben geordnet hatte, und eine Cola trank. Um 5.30 Uhr morgens erreichte ich den Zug zurück nach Washington, saß auf meinem Sitz und beobachtete, wie die Blätter von den Bäumen fielen. Ich zog ein Notizbuch hervor, in der Absicht, ein Gedicht zu schreiben, wie ich es in Zügen immer tat, aber in meinem Gehirn summte es nur, ein leises, eintöniges, leeres Nebengeräusch. Ich preßte die Faust in den Magen, um den reißenden Hunger zu zerquetschen, der meine Rippen aufzufressen schien. Ich nippte an meinem Kaffee. Und unterhielt mich mit dem Mann neben mir, einem einsamen Mann in einem Armani-Anzug, der auf der Suche nach einer Verabredung war. Und in einem selten klaren Augenblick dachte ich, daß ich mir nicht vorstellen konnte, jemand könnte mich attraktiv finden, so häßlich, wie ich geworden war.
Ich war wirklich sehr häßlich geworden. Wo war die Romantik der Schwindsucht? Wo die schaurige Schönheit durchscheinender Blässe und zarter Knochen? Jedenfalls nicht auf meinem Gesicht. Tod durch Verhungern ist etwas Abstoßendes. Ich hatte eine seltsam fahle Gesichtsfarbe, meine Wangen waren vollkommen eingesunken. Morgens wachte ich auf und betrachtete mich eine Weile im Spiegel, dachte darüber nach, wie anders ich aussah. Immer häufiger hatte ich das gleiche Gefühl, das ich auch als kleines Mädchen gehabt hatte, wenn ich in den Spiegel sah und plötzlich nicht mehr so genau wußte, wer dieser Mensch dort war, keine Verbindung herstellen konnte zwischen ihr und mir. Und dann legte ich mich auf den Boden, breitete die Zeitung vor mir aus und machte meine Gymnastik, wobei ich häufig die Lage veränderte, weil der Boden sich gegen meine Knochen drückte, und das tat weh. Ich hatte Prellungen auf beiden Hüftknochen, auf den Knochen am Hintern, auf dem Steißbein am Ende meiner Wirbelsäule, das nun wirklich nicht vorstehen soll, weil dort ein Hintern vorgesehen ist. Ich erinnere mich ganz deutlich an den Tag, an dem ich diesen Knochen zum ersten Mal entdeckte. Es sah aus, als ob mir ein Schwanz gewachsen wäre.
Ich strich die meisten Seminare von meinem Stundenplan, um mehr arbeiten zu können. Ich ging zur Metro, sprach im stillen mit meinem Magen, befahl ihm, ruhig zu sein. Er war schließlich nicht wirklich hungrig, er brachte einfach nur meinen Kopf durcheinander. Ich würde zu Mittag essen, versprach ich ihm beschwichtigend. Ich ging zu einem kleinen Joghurtgeschäft gegenüber vom Büro. Sie hatten das beste Joghurt. Es besaß nicht diese eklige, krümelige Konsistenz, sondern war cremig, selbst wenn es fettfrei war, und sie hatten fettfreies Joghurt mit Erdnußbuttergeschmack. Der war am besten, weil er die Zunge so zum Narren hielt, daß sie glaubte, sie bekäme wirklich etwas Nahrhaftes zu essen. Ich hielt dieses Joghurt sogar für gesund, weil es proteinhaltig war. Schließlich war es doch ein Milchprodukt, und eines mit Erdnußbuttergeschmack dazu. Nachdem ich die Frau, die dort arbeitete, mit meinen kreischenden Fragen bestürmt hatte, ob sie auch wirklich sicher war, daß dieses spezielle Joghurt kein Fett enthielt, kaufte ich mir einen kleinen Becher, und dann setzte ich mich so an den Tisch, daß ich zur Straße hinaus sah, damit niemand meine erotischen Spielchen mit einem Plastiklöffel beobachten konnte.
Ich breitete die Zeitung vor mir aus, stellte das Joghurt auf den Tisch, sah auf die Uhr. Ich las den gleichen Satz immer und immer wieder, um mir zu beweisen, daß ich vor etwas Eßbarem sitzen konnte, ohne es gleich in mich hineinzuschlürfen, um mir zu beweisen, daß es keine große Sache war. Nachdem fünf Minuten vergangen waren, begann ich mein Joghurt abzuschöpfen. Probiert das doch zu Hause auch mal aus, Mädels, das macht richtigen Spaß. Zunächst läßt man die Kante des Löffels über das Joghurt gleiten, ganz vorsichtig, damit man auch wirklich nur den geschmolzenen Teil abschöpft. Dann läßt man das Joghurt abtropfen, bis nur noch ein zarter Film auf dem Löffel ist. Dann leckt man daran - aber Vorsicht, man darf nur einen winzigen Tropfen davon ablecken, der Film muß für mindestens vier oder fünf Mal Lecken ausreichen, und man muß die Rückseite des Löffels zuerst ablecken, dann erst darf man den Löffel umdrehen und die Vorderseite ablecken, und zwar immer nur mit der Zungenspitze! Dann stellt man das Joghurt wieder beiseite. Liest eine ganze Seite, darf dabei das Joghurt aber nicht ansehen, um den Fortschritt des Schmelzens zu begutachten. Wiederholen. Wiederholen. Wiederholen. Niemals einen Mundvoll nehmen, nur das Geschmolzene essen. Nicht über Saucen oder andere Leckereien nachdenken. Nicht über ein Sandwich nachdenken. Ein Sandwich wäre so kompliziert.
Stellen Sie sich eine Frau in einem Kostüm vor, die in ihrer Mittagspause die Post liest. Sie schiebt die Brille die Nase hoch. Dann stelle man sich vor, wie sie das Joghurt zu sich heranzieht, sich darüber beugt, als ob sie seine einzelnen Atome begutachten wollte. Beobachten Sie, wie sie einen Löffel in das Joghurt taucht, wie sie es dann wieder vom Löffel abtropfen läßt und den nackten Löffel ableckt. Wenn ich eine Frau wie diese sähe, käme ich in die starke Versuchung, zu ihr hinüberzugehen und ihr den ganzen Becher Joghurt ins Gesicht zu schütten. Aber ich war diese Frau, und nachdem ich das Frühstück ganz gestrichen hatte, aß ich monatelang nur noch dieses Joghurt am Nachmittag sowie ein fettfreies Muffin am späten Abend. Es ist erstaunlich, zu beobachten, wie verzweifelt man an diesen beiden letzten Dingen festhält, bevor sie einem ebenfalls genommen werden. Stellen Sie sich einen verhungernden Hund vor, der auf einem trockenen Knochen herumkaut und daran leckt. Für die Seminare, an denen ich noch teilnahm, arbeitete ich mit fast schon absurder Hingabe. Ich geriet in hitzige Diskussionen und Streitgespräche über Journalismus und Philosophie, blieb jede zweite Nacht auf, um an Artikeln für die Journalismus-Seminare und an philosophischen Aufsätzen zu arbeiten. Und die Philosophie war es, die mich fesselte. Ich war geradezu besessen von diesem Fach, insbesondere von Hume und der materialistischen Ontologie. Ich klammerte mich so wütend an die Lehre von der Entkörperlichung, daß ich mich heute noch wundere, warum ich die Verbindung zu mir selbst nicht wahrnahm. Statt dessen schrieb ich Briefe an Julian, in denen ich Humes Lehre wütend verteidigte und darauf beharrte, daß das Leben nur ein Traum war und daß jegliche Ordnung im Leben einzig und allein ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft sei, daß unser Geist nur eine Bühne sei, auf der unsere Wahrnehmungen spielten. Meine von Koffein und Manie hervorgebrachten Aufsätze wurden allesamt mit Eins bewertet. Wenn ich sie dann später noch einmal las, runzelte ich nur die Stirn, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, diese Argumente jemals ins Feld geführt zu haben. Dann kam meine Mutter zu Besuch. Sie mußte in Washington an einer Konferenz teilnehmen. Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe, etwas zu essen. Während ihres Aufenthalts wohnte ich bei ihr im Hotelzimmer. Sie brachte mir etwas zu essen mit, Joghurt und Muffins von ihrer morgendlichen Besprechung. Ich ließ alles auf dem Tisch stehen, saß in einem großen, weichen Sessel mit dem Laptop auf meinem Schoß und tippte einen leidenschaftlichen kritischen Aufsatz über Kierkegaard. Als ich fertig war, saß ich auf dem Fensterbrett, die Knie bis zur Brust hinaufgezogen, rauchend, und versuchte, meine Mutter durch meine reine Willenskraft dazu zu bewegen, wieder ins Zimmer zu kommen. Ich wollte meine Mutter bei mir haben. Ich wollte, daß sie für immer in Washington blieb. Ich wollte, daß sie mich fest im Arm hielt und dafür sorgte, daß die Welt in meinem Kopf aufhörte, sich zu drehen. Sie war sichtlich besorgt über meinen Zustand und versuchte, mit mir darüber zu reden - Wir dachten, daß es dir wirklich gut ginge, sagte sie, und ihre Stimme wurde immer leiser. Sie bemühte sich sehr darum, einfach nur da zu sein und unter den Schichten falschen Frohsinns, überschäumenden Ehrgeizes und greifbarer Angst ein Stück von mir zu finden.
Ich schrieb ihr und fragte sie, wie sie diese Reise in Erinnerung hat. Sie antwortete, daß sie nicht unbedingt glaubte, daß ich einen Rückfall hatte. Sie und mein Vater wußten, daß ich krank war, als ich abreiste, aber sie hielten es für besser, mir die Chance zu geben, es zu versuchen und es zu schaffen, ohne daß sie externe Kontrollen errichteten, eine Entscheidung, für die ich mittlerweile sehr dankbar bin. Sie sprach davon, wie isoliert ich war, daß ich überhaupt keinen Versuch unternahm, mit den Menschen an der Uni oder bei der Zeitung Bekanntschaft zu schließen, daß ich an nichts mehr Interesse hatte (insbesondere, wenn ihre Krankheit besonders schwer geworden ist, neigen Anorektiker dazu, sich vollkommen zu isolieren). Sie beschreibt mich als »deprimiert, losgelöst, eingehüllt in deine geistige Suche nach was auch immer ... Es war schwer, dich zu verlassen. Du kamst mir klein und wütend vor und warst entschlossen, allein zu sein.« Ich fragte sie, ob sie das Gefühl hatte, mich loszulassen. Sie schrieb. »Ich habe dich nicht psychisch verlassen, aber ich verließ dich, um dir Raum zu geben, einige Entscheidungen für dich selbst zu treffen, von denen ich glaubte, daß nur du selbst sie treffen könntest.« Dabei ging es, denke ich, in der Hauptsache um die Frage, ob ich leben oder sterben sollte, und ich traf die Entscheidung, indem ich nichts entschied. In den letzten paar Jahren hatte die Anwesenheit meiner Mutter eine andere Bedeutung für mich gewonnen. Sie schien nicht mehr distanziert und kühl, sondern übte eine beruhigende Wirkung auf mich aus. Sie war vielleicht nicht immer warmherzig, aber sie war mir auf jeden Fall immer verbunden, zog mich immer auf den Boden der Tatsachen zurück. In jenem Oktober traf mich die Erkenntnis, daß ich einem anderen Menschen auf diese Weise verbunden war, wie ein Schock. Ich hatte einen Knoten im Hals, den ich weder erklären noch lösen konnte. Die zwei Tage, in denen wir zusammen waren, konnte man fast als friedlich bezeichnen. Dann reiste sie wieder ab. Ich kehrte in mein Zimmer auf dem Campus zurück, legte mich aufs Bett und weinte. Erst im Rückblick verstehe ich, warum ihre Anwesenheit so schmerzhaft für mich war: Obwohl sie da war, konnte ich spüren, wie ich ihr entglitt, wie ich hinabfiel in die Leere. Ich streckte die Hand nach ihr aus, aber ich konnte sie nicht packen. Wenn jemand stirbt, gibt es nichts, was man sagen oder geben könnte. Man kann nur eines tun: Seine sterbliche Hülle festhalten, ganz vorsichtig, und sie dann loslassen.
Und ich begann, die Verbindung zu verlieren.
Kurz nachdem sie gegangen war, ging ich eines Tages in die Redaktion und merkte, daß irgend etwas nicht stimmte. Nicht mit meiner Arbeit. Sondern mit meinem Kopf. Dies war der Anfang von etwas, das ich für einen Nervenzusammenbruch hielt. Ich konnte mich nicht mehr auf den Computerbildschirm konzentrieren. Ich. ging in der Redaktion auf und ab. Das ist ganz normal. Irgendwann beginnt auch das Gehirn zu verhungern. Zuerst hungert man sich das Fett weg. Dann werden die Muskeln weggefressen. Dann die Organe, von denen eben eines das Gehirn ist. Ich konnte nicht mehr klar denken, meine Gedanken schweiften ständig ab. Ich sagte mir immer wieder, daß ich nur eine faule Göre sei, die nicht das Durchhaltevermögen hätte, um wie eine Erwachsene zu arbeiten. Dann widersprach ich mir selbst: Hey, sagte ich, ich bin erschöpft, ich bin gestreßt, ich arbeite viel, das ist ganz normal, wenn man viel arbeitet. Schließlich ging ich ins Büro meines Chefs und sagte, daß ich Urlaub bräuchte. Mein Boß war total cool, hatte aber unter vier Augen bereits seine aufrichtige Sorge um meine Gesundheit geäußert. Er hatte schon mehrfach versucht, mich zum Mittagessen zu überreden, und er hatte mich beiseite genommen und zu mir gesagt: »Hey, so hart mußt du nun wirklich nicht arbeiten. Delegiere deine Aufgaben. Du bist schließlich verantwortliche Redakteurin. Du kannst einen Teil deiner Arbeit weitergeben.« Ich schüttelte den Kopf: Nein. Er klopfte mir auf den Rücken und sagte: »Na ja, dann sag mir wenigstens, wenn du eine Pause brauchst.« Also ging ich jetzt in sein Büro und sagte ziemlich abrupt: »Ich drehe im Moment ziemlich durch, deshalb mache ich ein paar Tage Urlaub.« Er sagte: »Gut, prima.« Ich verließ die Redaktion, kehrte zum Campus zurück, packte einen Koffer, ging zur Union Station und nahm einen Zug nach Boston, um Lora zu besuchen. Obwohl wir uns nach dem Jahr auf Interlochen nicht gerade freundschaftlich getrennt hatten, hatte sie in jenem Sommer gleich angerufen, als sie erfuhr, daß ich im Krankenhaus war. Unsere Briefe voller Zeichnungen, Artikel und Gedichte und Zitate waren in den darauffolgenden Jahren hin und her geflogen, durch die Zeit meiner Aufenthalte im Krankenhaus, in der Irrenanstalt und auch während des Jahres zu Hause in Minneapolis. Egal wo ich war, vor meinem geistigen Auge sah ich immer ein dünnes rotes Band, das mich mit der Ostküste verband Lora - und mit der Westküste - Julian - und mich deshalb irgendwie in dieser Welt hielt. Diese beiden Menschen waren das einzige auf der Welt, das meinem Leben einen Sinn gab. Und ganz plötzlich wünschte ich mir Lora mit aller Macht herbei, ich brauchte sie, ihre Gestalt, die ständig herumhüpfte, herumschrie und vor Lebenslust und Lebenskraft schier zu bersten schien. Seit ihrem Universitätsabschluß im Sommer zuvor hatten wir uns nicht gesehen. Und in der Zwischenzeit war etwas Seltsames geschehen: Sie hatte sich von einem mageren Geschöpf mit wilder Mähne in eine absolut schöne Frau verwandelt, weiblich und voll Anmut. Aus mir jedoch, dem dünnen Mädchen, war ein skelettähnlicher Geist geworden, der einen pflaumenfarbenen Hut trug, der nicht nur die Augen, sondern auch die violetten Halbmonde darunter verbarg. Sie holte mich am Bahnhof ab, und wir umarmten einander, tanzten vor Freude, und sie versuchte das ganze Wochenende über, mich auf ihre sanfte Art zum Essen zu überreden. »Hey, Max«, sagte sie, als ich das Muffin in der Glasvitrine eines Cafés anstarrte, wie man es vielleicht sonst mit den Kronjuwelen tut. »Max«, wiederholte sie und stieß mich in den Rücken. »Kauf dir etwas, das du in den Kaffee tunken kannst. Komm schon, Max. Du bist viel zu mager.« Ich schüttelte den Kopf. Keinen Hunger. Die ganze Reise war sehr schmerzhaft. Wir krachten gegeneinander wie Elektronen, rasten aufeinander zu und prallten wieder voneinander ab. In der einen Minute lagen wir im Pyjama auf ihrem Bett, lachten, heulten, johlten und schrien, in der nächsten stürmten wir davon, böse, beleidigt. So war es bei uns immer gewesen. Aber heute gab es einen entscheidenden Unterschied. Ich war halb tot. Sie wußte es, ich vermutete es, und es hatte mich verändert: Mein Blick und meine Bewegungen waren fahrig, und wenn ich lief, ging mein Atem merkwürdig schwer. »Hey«, sagte ich, »können wir nicht anhalten und uns eine Minute ausruhen?« Wir setzten uns auf eine Bank am Harvard Square, beobachteten die Tauben und die Leute. Ich zog den Mantel dichter um mich, vergrub die Fäuste in den Taschen, rieb die Finger aneinander. Sie wandte den Blick ab, ihre Sätze kamen nur noch stoßweise hervor: »Max, das ist gar nicht mehr witzig.« (Was?) Sie schüttelte den Kopf, wütend und still. Dann: »Mein Gott, Max, rede mit mir. Sag mir, was zum Teufel los ist?« (Was meinst du?) Ich sah zu Boden, dachte an unsere gemeinsame Schulzeit. Ließ den Gedanken in den weißen Winterhimmel aufsteigen wie einen Ballon. Ich habe Lora geschrieben, habe sie gefragt, ob sie sich an diese Reise erinnert. Das ist ihre Antwort:

Na gut. Du stiegst also aus dem Zug und sahst aus wie eine Porzellanpuppe, die sich für kugelsicher hält. Du warst das Abziehbild eines Models. Ich meine, Du hättest toll ausgesehen, wenn Du gesund gewesen wärst. Ich war überrascht, wie wenig Du oder wieviel ich gewachsen war. Wahrscheinlich wachsen Menschen, die gut essen, mehr. Und Dein Kopf sah aus, als wäre er viel zu schwer für Deine Knochen. Du machtest den Eindruck, als ob Du unter dem Gewicht Deiner Koffer bald zusammenbrechen würdest, so schwach. ... Und dann habe ich Dich umarmt, und ich hatte das Gefühl, einen Vogel im Arm zu halten. Absurd, einen Vogel zu umarmen. Aber vielleicht waren Deine Knochen ja tatsächlich so leicht und hohl wie die eines Vogels. Möglicherweise ist es Dir deshalb gelungen, sie überall hinzuschleppen, auch ohne Muskeln und Fett, ganz wie sich normale, nicht-vogelartige Menschen bewegen ... Aber trotzdem. Wow. Ich erinnere mich, daß mein Freund Ryan Dich für todkrank hielt und daß ich ihm antwortete: Das will ich verdammt noch mal nicht hoffen. Weißt Du?

Nur ein einziges Mal in der ganzen Zeit, die ich bei Lora verbrachte, aß ich etwas. Eines Abends ging Lora ein paar Stunden lang auf eine Party, zu der ich nicht mitkommen wollte. Ich hatte neuerdings Angst vor fremden Menschen. Ich zog meinen Pyjama an. Dann legte ich mich aufs Bett, um zu lesen. Auf dem Boden stand eine große Tüte aus der Bäckerei. Ich konnte einfach nicht aufhören, daran zu denken. Ich blätterte um, bekam die Worte, die ich las, gar nicht richtig mit. Schließlich spähte ich in die Tüte hinein. Alte Muffins, halb aufgegessen. Ich wand mich vor Qual. Ich zog die Muffins heraus, Minimuffins, sagte ich mir, nur einen Bissen. Ich werde einmal daran beißen, nur ein einziges Mal. Das tat ich. Und noch einen Bissen von einem anderen Muffin, was, wenn Lora sah, daß ich gegessen hatte? Cranberry Muffins, die in meiner Hand zerkrümelten. Und noch ein Bissen und noch einer. Und dann weinte ich. Ich hatte insgesamt weniger als ein Muffin gegessen, trotzdem fing ich an zu weinen, stand auf, um in den Spiegel zu sehen, betrachtete meine Knochen, befühlte sie, ob weiches Fett sich darauf zu bilden begann, mein Gehirn schwankte hin und her zwischen Schwein-Schwein-Schwein-fettes-Schwein und Hör-auf-ist-doch-schon-gut-alles-gut-alles-gut. Als Lora wieder nach Hause kam, weinte ich und beichtete ihr. Ich erinnere mich genau an ihr Gesicht, voller Verwirrung und Entsetzen, und an ihre Stimme, Max, ganz ruhig, alles ist gut, ganz bestimmt, hör auf zu weinen. Max. Max.
Eines Abends trafen Lora und ich zufällig eine Freundin aus Kindertagen, die mich eine ganze Welle anstarrte und dann den Rest der kurzen, peinlichen Unterhaltung damit verbrachte, wegzusehen. Im Geiste sagte ich ihr Lebewohl. Am Morgen meiner Abreise saßen Lora und ich in einem Café, sie aß, ich wickelte das Muffin, das ich bestellt hatte, in eine Papierserviette und steckte es in meine Tasche. Für später, sagte ich. Im Zug gibt es doch nichts zu essen. Wir saßen am Bahnhof, sprachen nur wenig. Der Zug hatte Verspätung, und wir starrten in unsere Kaffeetassen, warteten auf den Abschied. Plötzlich war der Schmerz in meiner Brust so heftig, daß ich kaum mehr atmen konnte. Mehr als alles andere wünschte ich mir, mit ihr zu reden, sagen zu können, Lo, ich habe Angst. Aber ich sagte es nicht, ich sprach über die Seminare, die ich belegen würde und über meine Arbeit, und sie sagte gar nichts. Als der Zug einfuhr, umarmten wir uns und ich stieg ein. Eine Zeitlang saß ich einfach nur auf meinem Sitz, lehnte den Kopf ans Fenster, biß die Zähne zusammen und sagte mir: Nicht weinen. Nicht weinen. Beziehungen gehen einfach auseinander, das geschieht immer wieder. Nicht weinen. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich setzte mich aufrecht hin und schrieb einen sehr guten Aufsatz über Dostojewski. Irgendwann stand ich auf und warf das Muffin in meiner Tasche weg, weil es mich durch seine Anwesenheit ablenkte. Ich setzte mich wieder hin und fühlte mich viel besser, viel beherrschter, stärker, fast so, wie man sich nach einer guten, vollständigen Mahlzeit fühlt. Als ich wieder in D. C. war, stieg ich aus dem Zug, ging vom Bahnhof aus zur U-Bahn-Haltestelle und fuhr nach Hause. Als ich am nächsten Morgen wieder in der Redaktion erschien, fühlte ich mich leer und verloren und leicht, als ob ich mich von etwas befreit hätte, das mich die ganze Zeit über am Boden festgehalten hatte.
Der Winter fiel mit grimmiger Entschlossenheit über die Stadt her. Er kam mir geradezu bösartig vor, als ob er insbesondere hinter mir her wäre, der eisige Wind, der an meiner Haut kratzte. In Wirklichkeit war es in Washington gar nicht so kalt, ganz bestimmt nicht so kalt wie in Minnesota. Ich wußte das, und wunderte mich darüber, daß ich so sehr fror. Eines Tages schneite es - ganz Washington ist immer unheimlich überrascht, wenn es schneit. Die Menschen sind nicht darauf vorbereitet, also scheint die Welt stillzustehen. Ich hatte Weihnachtseinkäufe gemacht und war auf dem Heimweg. Ich beschloß, nicht den Bus von der Haltestelle zum Campus zu nehmen, sondern zu Fuß zu gehen - das würde mir guttun. Ich ging ein paar Straßenzüge, war vor Kälte fast den Tränen nah. Meine Taschen waren zu schwer, die Muskeln meiner Arme brannten, obwohl sie gar nicht so schwer gewesen sein können. Auf halbem Wege begann ich zu rennen, ein stolpernder, unsicherer Laufschritt, meine Wimpern waren schwer von Schneeflocken, mein Gesicht taub, das Haar fiel mir mit dem Gewicht nassen Schnees ins Gesicht. Ich rutschte aus, fiel hin und konnte nicht mehr aufstehen. Ich saß vor der Villa des Vizepräsidenten, ich, die vielversprechende, junge Journalistin. Eine Studentin, eine Verrückte, eine verhungernde Künstlerin, ein unsichtbarer Brustkorb, ich. Ich weinte vor ohnmächtiger Wut auf meine Beine, die sich weigerten, mir zu gehorchen, und ich dachte an meinen Cousin Brian, während meine Hände, rein und weiß im Schnee scharrten, um den Inhalt meiner Tüten wieder einzusammeln, der sich auf die Straße ergossen hatte. Ich dachte an meinen brillanten und wunderbaren Cousin, meinen treuen Freund und lebenslangen Vertrauten, der seit seiner frühesten Kindheit im Rollstuhl saß. Ich dachte daran, wie er sich jeden Tag fühlen mußte, wenn seine Beine ihm ihre Mitarbeit verweigerten, und zwar ohne eigene Schuld, einfach nur durch einen erbärmlichen kleinen Scherz Gottes, und ich dachte: Das hier ist aber dein EIGENER verdammter Fehler. Steh auf STEH AUF Ich haßte mich inbrünstig und wünschte mir den Tod.
Als ich wieder auf meinem Zimmer war, stellte ich meine Tüten in die Ecke, hüllte mich in ein paar Decken, legte Weihnachtsmusik auf und beobachtete, wie der Schnee fiel, eine Postkarten-Winterlandschaft, weite, weiße Flächen, dünne schwarze Zweige, die in den weißen Himmel hinaufragten. Ich überlegte, ob ich schreiben sollte. Aber was hätte ich zu sagen gehabt? Ich hatte schon vor langer Zeit mit dem Schreiben aufgehört, dem wahren Schreiben, meinem eigenen Schreiben. Es kamen keine Worte mehr. Ich hatte das Gefühl für die erste Person Singular verloren, das Gefühl, in der Welt zu sein, das für das Schreiben notwendig ist. Ich glaube, ich hatte nichts mehr über mich selbst zu sagen. Ich drehte mein Gesicht ins Kissen und schlief.
Die letzten Wochen des Trimesters neigten sich dem Ende zu. Ich lernte Tag und Nacht, plauderte kurz mit den wenigen Bekannten, mit denen ich auf dem Flur oder in den Seminaren überhaupt noch ein Wort wechselte. Ich aß nur Brötchen und Joghurt aus dem kleinen Laden auf dem Campus. Ein Brötchen und ein Joghurt am Tag. Ich nahm sie mit hinauf in mein Zimmer, stellte sie auf den Boden, auf ein Buch, nahm mir ein Kissen, um darauf zu sitzen, und pellte das Brötchen. Zunächst entfernte ich den Boden, tunkte die etwa einen Quadratzentimeter großen Stücke in meinen Kaffee, kaute langsam, während ich las, hielt bei meiner Mahlzeit häufig inne, als Beweis dafür, daß ich mit dem Essen jederzeit aufhören konnte, daß ich nicht unter dem Zwang stand, schnell zu essen, daß ich nicht wirklich hungrig war. Ich unterstrich irgendwelche Textpassagen, kritzelte hastig etwas in mein Notizbuch, dann pellte ich wieder etwas von der Kruste des Brötchens ab und knabberte daran wie ein Karnickel. Wenn die gesamte Kruste verschwunden war und ich nur noch das nackte Brötchen vor mir liegen hatte, aß ich Stück für Stück, wobei ich jedes einzelne in ein Salzfaß drückte, bevor ich es mir in den Mund stopfte: Ich leckte den Brötchenkrümel ab, dann benetzte ich ihn mit Salz, anschließend steckte ich ihn mir in den Mund und kaute. Dieser Prozeß dauerte so lang, daß ich mich normalerweise nicht auch noch mit dem Joghurt aufhalten wollte. Außerdem war es mittlerweile sowieso schon vollständig geschmolzen, und ich mochte es nicht mehr und warf es weg. Manchmal aß ich eine Dose grüner Bohnen, die ich in Salz ertränkte. Ich ging in die Lounge, steckte die grünen Bohnen in die Mikrowelle, während ich neuen Kaffee kochte, und ignorierte die Stille, die sich auf den ganzen Raum senkte, wenn ich hereinkam.
Eines Abends, als ich mich gerade mit meiner Schüssel grüner Bohnen davonmachte, hörte ich jemanden, mit dem ich mich während des Semesters durchaus häufiger unterhalten hatte, sagen: »Mein Gott, ich wünschte, sie würde verdammt noch mal essen.« Das machte mich wütend, und meine Wut überraschte mich. Früher war ich unglaublich stolz gewesen, wenn andere bemerkten, daß ich nichts aß, und daß ich dünn war. Der Sinn und Zweck der Übung hatte die ganze Zeit über darin bestanden, auf sichtbare Weise zu verschwinden, meine dünne Gestalt wie ein Verdienstkreuz vor mir her zu tragen, als Symbol dafür, daß ich mich vom Rest der Welt unterschied. Aber jetzt machte mich die Aufmerksamkeit der anderen stinksauer. Etwas hatte sich verändert. Ich wollte nicht mehr gesehen werden. Ich wollte vollkommen in Ruhe gelassen werden.
Aber das wurde ich nicht. Wohlmeinende Leute versuchten, mich umzustimmen. Meine frühere Zimmergenossin schaute bei mir vorbei und teilte mir mit, wie besorgt sie war. Ziemlich verblüfft sagte ich, daß ich doch schließlich gar nicht abgenommen hätte. Ich wog noch genau das gleiche wie an dem Tag, an dem ich hergekommen war, und sie schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Marya, das tust du nicht.« Eine andere junge Frau - die ich immer gern zur Freundin gehabt hätte - klopfte eines Tages an meine Tür, kam herein und setzte sich aufs Bett. Ich erinnere mich, daß sie einen Becher Joghurt aß. Ich erinnere mich, daß ich sie beim Essen beobachtete: Sie aß in normalen Bissen, kein Lecken am Löffel wie so manch anderer. Ich erinnere mich daran, wie hübsch sie war. Ich erinnere mich, daß sie mit mir sprach, in einem warmherzigem Ton, zunächst über dies und das, bis sie dann zur Sache kam: »Du bist magersüchtig«, erklärte sie. Und dabei sah sie mir gerade ins Gesicht. Ich saß auf meinem Stuhl am Schreibtisch, die Knie an die Brust gezogen. »Nein«, sagte ich. »Ganz bestimmt nicht.« Sie sah mich eine Zeitlang an, dann sagte sie: »Du bist sogar magersüchtig in fortgeschrittenem Stadium und solltest meiner Ansicht nach einen Therapeuten aufsuchen.« Draußen schneite es, und ich hielt den Atem an, um nicht in Tränen auszubrechen. Ich hätte am liebsten losgeheult. Ich wollte mit ihr reden, den ganzen Tag hier in diesem Zimmer mit ihr sitzen, ihr alles erzählen, jemanden in meiner Nähe haben, mit ihr ins Kino gehen, mit ihr über das Leben sprechen, wieder ein Mensch sein. Ich blickte wortlos auf meine Knie hinab. Sie streckte die Hand aus, als ob sie meinen Arm berühren wollte, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Sie sagte, ich will dir helfen, wenn ich kann.

  • Mit ausdrucksloser Stimme sagte ich: »Wieso.«
    Sie sagte: »Ich weiß nicht.«
    Ich sagte: »Du kannst mir nicht helfen.«
    Ich sagte: »ich werde sterben.«
    Ich sagte: »Bitte, laß mich in Ruhe.«
    Und sie sah zur Decke hinauf.

Ich erinnere mich an die Art, wie ihr rotes Haar ihren Rücken hinabfiel, und ich dachte an Lora und an meine Mutter, und sie berührte meine Schulter, als sie aufstand und ging. Als die Tür ins Schloß fiel, biß ich mir ins Knie und dachte:
Es tut mir leid.
In den Weihnachtsferien fuhr ich nach Hause. Es war die Hölle. Ich begann, die sichtbaren Veränderungen an und in mir wahrzunehmen. Während der paar Monate in Washington war ich ein vollkommen anderer Mensch geworden. Ernst und still. Augen, die nur selten den Versuch machten, den Blick anderer Menschen zu erwidern. Langsame Bewegungen, seltsam reglos.
Vom Studentenwohnheim zum Flughafen nahm ich ein Taxi. Ich betrachtete die Villen in ihrer weihnachtlich leuchtenden Pracht, während das Taxi sich seinen hastigen Weg durch den nächtlichen Verkehr bahnte, und schrieb im Kopf eine Geschichte für die Weihnachtsgäste meiner Eltern, einer Gesellschaft, der man schließlich irgend eine Geschichte erzählen mußte. Ich schrieb eine Geschichte über die Traurigkeit der Städte und das kleine, einsame Glück einer Frau an Weihnachten. Wie üblich eine Geschichte zur Unterhaltung meiner Eltern. Wie üblich eine Lüge. In Dulles schleifte ich meinen Koffer hinter mir her, weil ich ihn nicht hochheben konnte. Den ganzen übrigen Weg nach Minneapolis schlief ich. Es war eisig kalt, als ich dort ankam. Meine Eltern hatten mir einen Mantel mitgebracht, und wir gingen in ein Café, wo ich zu essen begann. Ohne ersichtlichen Grund aß ich zwei Himbeermuffins. Später hatte ich das Gefühl, Unmengen in mich hineingestopft zu haben. Noch nie im Leben hatte mir etwas so gut geschmeckt. Wir unterhielten uns. Sie hörten mir zu und musterten mich mit seltsamen Blicken, während ich über Washington sprach, über meine Arbeit dort, darüber, daß ich das Gefühl hatte, eine Persönlichkeit zu entwickeln, zu wachsen. Wahrscheinlich dachten sie über die schreckliche Ironie meiner Worte nach. Ich wog höchstens noch 75 Pfund und aß wie ein verhungertes Kätzchen, entschuldigte mich dafür, daß ich so viel aß, ich war eben einfach nur ziemlich hungrig. Schließlich hatte ich seit dem Mittagessen nichts mehr gegessen, behauptete ich. Mittagessen, ja sicher. Sie ließen mich ein oder zwei Tage lang in Ruhe. Dann begannen wir, über das Essen zu streiten. Das Schlimmste war, daß ich den Eindruck hatte, vollkommen ausreichend zu essen. Ich hatte sogar das Gefühl, daß ich zu viel aß, doch schließlich mußte ich vor meinen Eltern wenigstens so tun, als wäre ich normal. Mein Vater und ich schrien uns wegen des Essens an. Er schrie, daß ich nichts aß, ich brüllte entrüstet zurück, daß ich schließlich gerade gegessen hätte, ein Muffin. Ich bat meine Mutter um Unterstützung: »Habe ich nicht gerade ein Muffin gegessen? Mama? Heute nachmittag?« Sie sagte: »Ja, aber Schatz, jetzt ist es Zeit fürs Abendessen. Jetzt solltest du zu Abend essen. Du kannst nicht nur ein Muffin essen und das allen Ernstes als Abendbrot bezeichnen, komm schon. « Und mein Vater rief nur »Gottverdammich« und rannte türeknallend zur Küche hinaus. Mein Stiefbruder Paul kam über Weihnachten nach Hause. Eines Abends lud er mich, nachdem ich mich mal wieder mit meinem Vater über das Essen gestritten hatte, zu einem Spaziergang ein. Als wir draußen waren, eingepackt in mehrere Schichten, so daß nur noch die Augen heraussahen, sagte ich zu ihm: »Paul, es geht mir nicht besser.« Und wir gingen ein Stück weiter. Er sagte: »Ich weiß.« Ich sagte: »Es geht mir schlechter als je zuvor.« Und ich schüttelte den Kopf, sah zum Himmel hinauf und zählte die Sterne. Ich fragte mich, wie weit dies alles noch gehen würde. Wir gingen einmal um den Block. Ich war zu erschöpft, um weiter zu laufen, deshalb kehrten wir zurück. Es folgte die Weihnachtsparty, auf der jeder höflich die Tatsache ignorierte, daß ich abstoßend dünn war. Ich hatte mir selbst die Erlaubnis zum Essen gegeben, wenigstens auf der Party; um niemanden in Verlegenheit zu bringen. Und ich aß in der Tat, viele Möhren und Sellerie und Obst mit einer fettfreien Sauce, die ich zubereitet hatte. Wir erzählten uns Geschichten und sangen Weihnachtslieder, und im Haus war es sehr warm: Im Kamin prasselte ein Feuer. Meine Freundin Sibyl nahm mich beiseite und sagte: »Du bist krank.« - »Nein, nein«, antwortete ich, »es geht mir gut.« Sie sagte: »Marya, du siehst aus, als ob du bald sterben würdest.« »Nein, nein«, sagte ich wieder und kehrte zur Party zurück, wo es Lärm und Gelächter und Gesang gab, und es schön warm war. Eines Nachmittags machten meine Eltern, Paul und ich einen längeren Spaziergang mit den Hunden, die durch den Schnee tollten. Ich glaube, an diesem Tag verlor ich erneut ein großes Stück meines Verstandes, bewegte mich unaufhaltsam auf den Irrsinn zu. Wir waren noch keine halbe Stunde gegangen, als ich plötzlich nur noch den Wunsch hatte, mich in den Schnee zu legen und einzuschlafen, mich einfach nur im Schnee zu verstecken. Irgendwo hatte ich gelesen, daß, wenn man sich eine Höhle im Schnee grub, der Schnee die von ihm selbst ausgehende Kälte abhielt, und man es warm hatte. Ich war unglaublich erschöpft und versuchte, meine Beine zum Weitergehen zu zwingen. Immerhin machten wir gerade einen Familienausflug, und ich wollte ihn nicht verderben, aber mir war so verdammt kalt. Ich wünschte, ich könnte die Worte finden, um zu erklären, was für eine Art der Kälte das ist eine Kälte, die irgendwie unter die Haut gelangt ist und die im Innern des Körpers immer kälter und kälter wird. Es ist keine äußerliche Form der Kälte; sie fährt einem in die Knochen und ins Blut, in kleinen, harten Explosionen scheint der eigene Herzschlag für die Verbreitung der Kälte im Körper zu sorgen. Und plötzlich erinnert man sich wieder daran, daß man einen Körper besitzt, weil man ihn nicht länger ignorieren kann. Man fühlt sich an wie ein Eiswürfel. Man hat das Gefühl, nackt zu sein, durch die dünne Eisdecke eines Sees eingebrochen zu sein und jetzt im darunterliegenden Eiswasser zu ertrinken. Man kann nicht atmen. Irgendwann drehte ich mich einfach nur noch um und stolperte zum Auto zurück, innerlich beschimpfte ich Gott, warum er mich so verdammt kalt werden ließ. Warum rettest du mich nicht? Rette mich, du Bastard! Schrie ich in meinem Kopf, während ich mich durch den tiefen Schnee voranschleppte, der schwer an meinen Beinen hängen blieb. Ich hatte das Gefühl, durch Wasser zu gehen, unbeholfene, langsame Bewegungen wie bei den Spielen, die man als Kind im Meer gespielt hatte. Aber jetzt war es anders. Ich konnte nur noch eines denken: Unterkühlung. Ich bin verdammt noch mal völlig unterkühlt. Meine Familie fuhr in wütendem Schweigen mit mir nach Hause, während ich mich immer und immer wieder dafür entschuldigte, ihnen den Tag verdorben zu haben, aber es war einfach so kalt. Als wir wieder zu Hause waren, saß ich auf einem Stuhl am Eßzimmertisch, hatte immer noch meinen Mantel, meinen Hut und meinen Schal an, die Hände rissig und rot, die Finger um eine Tasse Tee geschlungen, die ich mir dicht ans Gesicht hielt, damit der Dampf meine Haut wärmte. Ich dachte: Bald kommt der Frühling. Dann ist alles wieder gut. Ich schaltete den Laptop ein und fing an zu arbeiten. Dann waren die Ferien vorüber, und ich kehrte an die Uni zurück. Als ich die Tür meines Zimmers öffnete, bemerkte ich, daß ich nicht länger allein dort lebte. Im zweiten Schrank hingen Kleider, auf dem Ankleidetisch standen Bilder, auf dem Schreibtisch lagen Bücher. Ich geriet in Panik. Wie zum Teufel sollte ich überhaupt noch etwas geschafft bekommen? Wie sollte ich meine morgendlichen und abendlichen Gymnastikübungen. schaffen? Wie sollte ich mein Brötchen in aller Ruhe auseinandernehmen können? Wie sollte ich jetzt noch den ganzen Tag und die ganze Nacht zwischen Schreibtisch und Spiegel hin- und herpendeln können, wie ich es seit Monaten tat? Scheiße. Scheiße. Scheiße. Unglücklicherweise war sie eine der nettesten, auf richtigsten und wunderbarsten Menschen, die ich je in meinem Leben kennenlernen durfte, und im Laufe der Zeit lernten wir einander schätzen und lieben, zumindest so weit, wie ich es zu diesem Zeitpunkt überhaupt konnte. Und das ruinierte alles. Die Anwesenheit eines normalen Menschen in meiner Umgebung machte mir schmerzhaft bewußt, daß ich außer Kontrolle geraten war. Nein, dieser Gedanke war mir bis dahin noch nicht gekommen! Sie aß. Sie schlief. Ich sah ihr zu, als ob ich die faszinierenden Gewohnheiten eines exotischen Tieres beobachtete. In den langen und ruhigen Nächten, wenn sie im Schatten des kleinen Lichtkreises, den meine Schreibtischlampe warf, schlief, sah ich zu ihr hinüber: Ihr gelbes Haar war auf dem Kissen ausgebreitet, ihr Mund stand ganz leicht offen und war zu einem winzigen Lächeln verzogen. Ich sah zu, wenn sie Butter in einen Topf gab, und staunte über die bloße Existenz von Butter und über all ihre Implikationen, die so gar nichts mit mir zu tun zu haben schienen: Die Vorstellung, Butter im Supermarkt zu kaufen, die Vorstellung, Butter zu berühren, ohne befürchten zu müssen, daß die Öle durch die Haut in die Finger sickerten und sich geradewegs auf den Weg zum Hintern machten, die Vorstellung, Lebensmittel zu essen, von denen man wußte, daß Butter in ihnen enthalten war, die Vorstellung, Butter im Schrank zu haben, ohne daß der Gedanke daran einen zu jeder Tages- und Nachtstunde verfolgte, Butter, die nicht jene unsichtbare Inschrift trug, die nur man selbst sehen konnte: ISS MICH. ISS ALLES AUF - SOFORT.
In ihrer Gegenwart wurde ich wieder daran erinnert, warum ich magersüchtig war: aus Angst. Angst vor meinen Bedürfnissen nach Nahrung, nach Essen, nach Berührung, nach einfacher Unterhaltung, nach menschlicher Nähe, nach Liebe. Ich war Anorektikerin, weil ich Angst davor hatte, menschlich zu sein. Menschliche Nähe impliziert die Preisgabe des Selbst. Mein ehemaliges Selbst aber war immer »zuviel« gewesen. Jetzt war kein Selbst mehr übrig geblieben. Ich war ein unbeschriebenes Blatt. Aber das Erstaunlichste war, daß sie eine absolute Schönheit war. Ihre Haut war wunderbar weich, und ein seltsamer gold-rosiger Schein ließ ihre Wangen leuchten. Ihr Haar war dicht und schimmerte. Und sie hatte Titten und einen Arsch, die erstaunlicherweise sehr attraktiv wirkten. Nicht daß ich selbst mich von ihr angezogen gefühlt hätte. So etwas wie sexuelle Empfindungen kannte ich schon seit langer Zeit nicht mehr. Aber es war der Kontrast, der mich faszinierte. Wo früher meine Brüste gewesen waren (die noch sehr lange Zeit auf und nieder gehüpft waren, auch wenn ich noch so dünn war), gab es heute nur noch braune Brustwarzen, die sich über den Brustkasten spannten, die Haut war zwischen den Knochen eingesunken. Wo mein Hintern gewesen war, gab es gar nichts mehr, eine gerade Linie von meinem Nacken bis zu meinen Beinen, die in einem kleinen Knochen mitten im Becken endete, das vorne und hinten in einem seltsam flachen Bogen vorstand. Mein Gesicht sah am seltsamsten aus: Die Wangen waren so tief eingesunken, daß man meine Zähne durch die Haut sehen konnte, die Kehle lag straff und konkav unter meiner Haut, die Augen schienen täglich tiefer in meinen Schädel hineinzusinken. Ich sah aus wie ein Monster, hatte einen Großteil meiner Haare verloren, meine Haut hatte die graue Farbe schlecht gewordenen Fleisches. Ich schlang meinen Wickelrock zweimal um meinen Körper und befestigte ihn mit einer Sicherheitsnadel. Ich stopfte mir Toilettenpapier in die Schuhe, damit der Boden beim Laufen nicht gegen meine Fußknochen hämmerte, was mir durch Mark und Bein ging und zu Schwindelanfällen führte. Ich wartete. Und während ich wartete, bewarb ich mich für Volontariate bei Zeitungen im ganzen Land. Wenn alle Kollegen schon nach Hause gegangen waren, saß ich noch im Büro, stellte meine Bewerbungsunterlagen zusammen, machte kleine Häufchen aus meinen Zeugnissen, Essays und Artikeln, die allesamt so gar nichts mit mir zu tun hatten: ein Stapel Lügen. Ich fragte mich, warum ich mich eigentlich überhaupt noch um meine Zukunft kümmerte. Ich stand am Fenster des Büros, blickte auf den Dupont Circle und die Gestalten hinab und verspottete mich selbst, weil ich zu schwach war, hinunterzuspringen. Ich suchte nach einer Waage. Siebzig Pfund. Ich legte meinen Gürtel ab und zog die Schuhe aus. Siebenundsechzig. Da begann ich zu fressen. Jetzt war alles vorbei. Von diesem Zeitpunkt an versinkt alles im Nebel. Nichts auf der Welt jagt mir so viel Angst ein wie die Bulimle. Es stimmte damals, und es stimmt auch heute noch. Aber ab einem gewissen Punkt ißt der Körper aus eigenem Antrieb, um sich selbst zu retten. Und damit begann meiner jetzt. Ich formuliere es ganz bewußt so, als ob ich dabei völlig passiv geblieben wäre. Man hat das Gefühl, besessen zu sein, keinen eigenen Willen zu besitzen, sondern in beständigem Krieg mit dem eigenen Körper zu leben, einem Krieg, den man verliert. Der Körper will leben. Man selbst will sterben. Körper und Geist können nicht gleichzeitig ihren Willen durchsetzen. Und so kriecht die Bulimie in die Ritze zwischen Selbst und Körper, und man wird verrückt vor Angst. Verhungern ist unglaublich beängstigend, wenn es schließlich mit aller Gewalt einsetzt. Und wenn es beginnt, ist man überrascht. So weit hatte man doch nun auch wieder nicht gehen wollen. Warte, das nicht, sagt man. Und dann saugt es einen nach unten, und man ertrinkt.

Fünfundsechzig
Alles verschwommen, der Himmel drehte sich über meinem Kopf, als ich durch Washington, D. C. wanderte, mich verirrte und das Verlangen nach etwas Eßbarem abzutrainieren versuchte. Gierig sog ich den Duft aus den Restaurants in mich ein, wenn ich vorbeiging, als ob der Geruch allein jemals ausreichen könnte, ich sprach mit mir selbst, ich umklammerte meine Brieftasche, versuchte, die Gedanken an Essen, Essen, Essen abzuwehren, versuchte, meine Zähne stark genug zusammenzubeißen, um die Sehnsucht nach fester Nahrung, nach etwas, das ich zerkauen, zerbeißen, hinunterschlucken konnte, zu befriedigen. Und dann der Freßanfall, in Fast-Food-Restaurants hinein und wieder hinaus; ich rannte fast, während ich versuche, mein Gesicht zu verbergen, während ich mir das Essen in den Mund stopfte, noch mehr und immer noch mehr, und dann erbrach ich mich in einem Toilettenraum nach dem anderen. Ich hatte jetzt immer Kleenex in der Tasche bei mir, damit ich, wenn ich Blut hustete, ganz höflich in mein Kleenex spucken und es unauffällig in meinen Ärmel stopfen konnte. Langsam bekam ich Probleme mit dem Gehen, der Himmel neigte sich immer in seltsamem Winkel nach unten und drückte auf eine Seite meines Kopfes, die Grenzen meines Blickfelds schrumpften und weiteten sich ohne Vorwarnung, und alles kam mir sehr, sehr groß vor. Der Himmel war unglaublich riesig und hell, und er jagte mir Angst ein, dieser Himmel. Er schien unberechenbar zu sein. Meine Zimmergenossin war sehr besorgt, versuchte, mich dazu zu bringen, mit ihr zu reden, und ich redete tatsächlich, zumindest ein bißchen. Ich erzählte ihr, wenn ich den Tag ohne Freßanfälle überstanden hatte, sagte ihr, wie stolz es mich machte, wenn ich es geschafft hatte. Sie brachte mir etwas zu essen mit, doch ich lehnte ab. Wenn ich einmal zu essen anfing, dann wurde ich mit der Vorstellung, die Nahrung im Magen zu behalten, nicht fertig, egal um welche Art von Lebensmittel es sich handelte. Je weniger ich jedoch aß, um so mehr verspüre ich den Drang zu fressen. Auf biologischer Ebene ist das völlig einleuchtend. Aber für mich ergab es damals keinen Sinn. Nichts ergab Sinn. Ich ging nicht mehr in die Seminare, sparte mir die Energie für meinen Job auf, wo ich auf den Bildschirm starrte. Es gelang mir, etwas zu arbeiten, bevor ich wieder völlig ausrastete und mich auf meine manische Nahrungssuche machte. Man kann sich ziemlich lange von einem Minimum an Nahrung ernähren. Deshalb bleiben wir Magersüchtigen auch so lange am Leben: Wir essen immer nur ein bißchen, gerade genug, um Lebendigkeit vorzutäuschen. Aber wenn man gar nichts mehr ißt, oder alles, was man ißt, wieder erbricht, stirbt man schnell.

Einundsechzig
Dann war alles vorbei. Ich kaufte Abführmittel und aß eine ganze Schachtel am Tag. Das Problem war nur, daß ich ja gar keine Nahrung im Darm hatte. Ich gab also nur noch Wasser und Blut von mir. Das genau ist eine Eßstörung; so verrückt kann sie uns machen; und auf diese Weise bringen wir uns um - zufällig. Zufällig? Ja zufällig, während wir mitten in der Nacht durch die Straßen der Stadt irren, in der Hoffnung, einen Laden zu finden, der geöffnet hat und in dem wir noch mehr zu essen finden. Wir kaufen Brechmittel. Wir verpassen die Amtseinführung des Präsidenten, obwohl wir doch darüber berichten sollten, weil der Himmel zu groß ist, und wir haben uns den Weg durch die Menge gebahnt, die Kamera knallt mit lautem Knacken gegen unsere Rippen, und wir zwingen unsere Beine zum Gehen, und dann rennen wir mit einer Energie, die nicht durch Nahrung, sondern durch Wahnsinn gespeist wird, zur Union Station. Wir kaufen Lebensmittel, mehr und immer mehr, und dann essen wir unaufhörlich, in der U-Bahn und auf dem Nachhauseweg, und die Leute starren uns an, und wir schleppen uns die Treppenstufen zu unserem Zimmer hinauf, und dort setzen wir uns auf den Boden und stopfen uns das restliche Essen in den Mund, wir ersticken fast an jedem Bissen und schluchzen dabei herzzerreißend. Dann stehen wir auf und trinken eine ganze Flasche mit Brechmittel, sind stolz auf unsere Herrschaft über uns selbst und denken darüber nach, daß wir nach dem Kotzen einen Artikel schreiben werden, und dann fliegt uns der Boden an den Kopf.
Ich lag da, krümmte mich wie ein Fötus, meinen Magen schien es zu zerreißen, und ich betete mit aller Macht, mich entweder übergeben oder sterben zu können, lieber Gott, laß mich kotzen oder sterben, kotzen oder sterben, und dann kotzte ich ganz fürchterlich, und mir wurde wieder schwarz vor Augen.
Bald komme ich morgens nicht mehr aus dem Bett. Ich versuche es heroisch. Ich halte mich mit beiden Händen am Schreibtisch neben dem Bett fest. Ich ziehe. Ich ziehe stärker, versuche, mich aufzusetzen. Ich rutsche ab und falle wieder zurück. Ich nehme den Telefonhörer ab und melde mich krank.
Als ich aufhänge, muß ich darüber lachen, wie lustig es doch ist, sich im Büro krank zu melden.
Und dann rufe ich Mark an, der mich vielleicht versteht. Ich verstecke mich mit dem Telefon unter der Decke und flüstere: »Mark, ich habe Angst.«
Und Mark redet mit mir, aber ich kann gar nicht verstehen, was er sagt, und so lausche ich einfach nur der Melodie seiner Stimme. Und ich sage wieder: »Mark, ich habe Angst.«
Meine Zimmergenossin bekam langsam die Panik. Ich wollte nicht, daß sie sich so große Sorgen um mich machte, also suchte ich eine Therapeutin auf. Ich saß in ihrer Praxis und versuchte zu reden. Ich kann mich an keines meiner Worte erinnern, nur an das Behandlungszimmer: eine beigefarbene Ledercouch, in die ich mich sinken ließ und in der ich mich ganz klein fühlte, ihr Schreibtisch, ihr Stuhl und die Fenster und Pflanzen. Und ich erinnere mich an sie: platinblond, stark geschminkt, hochstehende Wangenknochen, schwarze Leggins, ein langes Sweatshirt mit Goldlamé-Schnickschnack auf der Brust. Ich sah sie mißtrauisch an. Sie sah mitleidig zurück, was mich ärgerte. Dann ging ich, verirrte mich in dem Gebäude, dachte voller Verwirrung darüber nach, ob man Kalorien verbrauchte, wenn man die Treppe herunterging, nahm an, daß es so war, rutschte auf dem Weg nach unten aus, prellte mir das Steißbein. Ich ging fressen, verirrte mich in unbekannten Teilen der Stadt, sah häufig von meinem Teller auf und bemerkte, daß ich keine Ahnung hatte, wo ich war oder wie ich dorthin gekommen war. Ich ging zur Arbeit, wenn ich aus dem Bett kam. Sonst lag ich nur da und wälzte mich unbehaglich hin und her. Das Bett tat mir an den Knochen weh. Das Bett verursachte mir Prellungen.

Neunundfünfzig
Eines Tages saß ich in einem Burger King und aß sechs Cheeseburger. Dann ging ich auf die Toilette und erbrach mich, und plötzlich merkte ich, daß ich jetzt definitiv einen Nervenzusammenbruch hatte. Es mußte ein Nervenzusammenbruch sein. Von der Redaktion aus rief ich meine Mutter an. Es war Samstagmorgen, und ich war allein im Büro und hatte wie wild gearbeitet, und jetzt rief ich meine Mutter an und schluchzte in den Hörer, daß ich einen Nervenzusammenbruch hatte, und was ich tun sollte? Was ich tun sollte? Ich weiß nicht mehr, was sie sagte. Ich kann mich nur noch an den Klang ihrer Stimme erinnern, leise und beruhigend. Sie fragte: »Willst du nach Hause kommen?« - »Nein, ich will nicht nach Hause kommen, ich weiß nicht, was ich will, ich verliere den Verstand, ich wollte nur deine Stimme hören.« Nachdem wir aufgelegt hatten, legte ich den Kopf auf die Tastatur und weinte noch eine ganze Weile. Dann arbeitete ich weiter. Meine Therapeutin überredete mich, einen Arzt aufzusuchen. Also ging ich zum Arzt, der mich untersuchte. Ich hatte den ganzen Tag Unmengen von Wasser getrunken, deshalb wog ich 69 Pfund, als ich auf die Waage stieg, und ich glaube, er war nicht allzu besorgt, weil dieses Gewicht offensichtlich durchaus im Rahmen des Normalen lag und weil ich ansonsten kerngesund war.[25] Ich ging wieder, aß tütenweise Karamellbonbons und erbrach sie wieder. Kehrte zu den Wohnhäusern zurück, blinzelte in den hellen Himmel, wünschte mir tot zu sein, wünschte inständig, tot zu sein, und es war viel zu hell, und ich wünschte mir doch so verzweifelt, tot zu sein.

Fünfundfünfzig
Eines Nachts saß ich im Coffee-Shop über der Dupont Metro Station und konnte nicht mehr lesen. Ich saß gerade über der Newsweek. Ich merkte, daß ich die Worte nicht mehr entziffern konnte. Ich konzentrierte mich. Ich starrte sie so aufmerksam an, wie ich konnte, als wollte ich sie dazu zwingen, sich zu einem Sinn zusammenzusetzen. Doch das geschah nicht. Zuerst marschierten sie in einer unleserlichen Reihe an mir vorbei, dann verstreuten sie sich auf der ganzen Seite. Ich schlug die Zeitschrift zu und dachte: jetzt habe ich den Verstand verloren. Der Junge oben an der Rolltreppe winkte mit der Washington Post, und es war Nacht, und nichts ergab einen Sinn, nun, wo ich den Verstand verloren hatte. Ich war ganz ruhig und gelassen, und der Junge winkte mit der Zeitung, und alle bewegten sich so schnell, und irgendwann hielt mich jemand am Arm fest und sagte, Ups, ganz ruhig, und ging weiter. Ich fragte mich, warum er mich am Arm gepackt hatte, und der Junge verschwamm vor meinem Gesicht und sagte: »Ma'am? Ma-am? He, kann mir vielleicht mal irgend jemand helfen?« Und ich wurde immer kleiner und kleiner, Alice, die ohne Vorwarnung zusammenschrumpft, und »HE, kann mir vielleicht mal irgend jemand HELFEN?« Und dann fiel ich die Rolltreppe am Dupont Circle herunter, prallte am Boden auf und dachte:
Jetzt bin ich tot. Endlich.

Zweiundfünfzig
Dann wird alles weiß.
Jetzt ist alles nur noch sehr verschwommen. Ich sitze mit meiner Mitbewohnerin in unserem Zimmer. Sie fing an zu weinen und sagte: »Marya, es tut mir leid, ich habe deine Eltern angerufen. Aber ich habe mir solche Sorgen gemacht.« Ich brauchte eine Minute, um zu verstehen, was sie mir sagen wollte. Dann griff ich zum Hörer, ich glaube, es war mitten in der Nacht, und rief meine Eltern an und sagte: »Es tut mir wirklich leid, aber ich muß nach Hause kommen. Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen.« Sie hatten etwas dagegen. Jahre später erklärte mein Vater mir seine Gefühle: »Ich hatte dir schon so lange gesagt, >Du ißt nicht genug, du siehst schon wieder todkrank aus.< Wir haben es immer und immer und immer wieder gesagt, und du hast nur geantwortet: >Es geht mir gut, es geht mir gut.< Du hast gelogen, gelogen, gelogen. Und als du jetzt nach Hause kommen wolltest, sagte etwas in mir: >Soll sie doch verdammt noch mal krank bleiben.<«

Wenn ich mich heute in die Lage meiner Eltern versetze, verstehe ich sie. Nachdem sie vier Jahre lang zugesehen hatten, wie ihr Kind ein infantiles, feiges Spielchen trieb, wie es am Rande des Abgrundes stand, vor- und zurückwippte und lachte, wie es beinahe herunterfiel, sich aber nie so ganz über die Klippe warf, waren sie es trotz aller Sorge um mich leid. Ich verstehe, daß Menschen um ihrer eigenen Gesundheit willen, und einfach weil die Vernunft es ihnen gebietet, loslassen müssen. Und ich verstehe auch, daß das Gehirn eines Menschen sich nach diesen Erfahrungen weigert zu akzeptieren, daß der andere diesmal wirklich über die Klippe gesprungen ist. Mein Vater wollte mir schlicht und ergreifend nicht glauben, daß das der Fall war. Und ich glaubte es ebensowenig. Mein eigenes Verhalten war vollkommen widersprüchlich. Ich wußte, daß ich nach Hause zurückkehren mußte, aber ich wollte nicht zugeben, daß ich wirklich krank war. Verdammt krank. Ich log über mein Gewicht und sagte, daß ich eben so gestreßt wäre, daß ich eine kurze Pause von der Uni bräuchte. Mein Vater schlug vor, daß ich weniger arbeiten sollte. Ich wurde immer hysterischer, hatte Angst, daß meine Chance, gerettet zu werden, mir entglitt. Wer einmal blinden Alarm schlägt, usw. Ich sprach mit meiner Mutter, unzusammenhängend, versuchte, sie dazu zu bewegen, meinen Vater umzustimmen, nur eine kurze Pause, sagte ich. Es verging einige Zeit - ein paar Tage? Ein paar Wochen? Ich hatte kein Zeitgefühl mehr - in der mein Vater und ich mehrfach telefonierten und uns darüber stritten, ob ich nach Hause zurückkommen sollte oder nicht. Meine Therapeutin beschwor ihn, meine Mitbewohnerin ebenfalls. Dann ging plötzlich alles sehr schnell: Ich ging ins Büro der Studienberaterin und sagte ihr, daß ich magersüchtig sei und ein Urlaubssemester brauchte. Sie war sehr verständnisvoll und unterstützte mich. Auch sie rief meine Eltern an und sagte ihnen, daß ich - haha - sichtlich etwas Ruhe bräuchte. Ich packte meine Sachen zusammen und schickte sie nach Hause, kündigte meinen Job und bestieg ein Flugzeug nach Minneapolis. Der Empfang war, sagen wir, nicht gerade warmherzig.
Ich habe Verständnis dafür. Es ist sicher kein Vergnügen, sein Kind anzusehen und zu erkennen, daß es in Kürze sterben wird. Mein Vater war zornig und meine Mutter so erschrocken, daß sie in eisiges Schweigen verfiel. Am Abend meiner Rückkehr saß sie mit mir am Küchentisch, während ich mehrere Teller Cornflakes aß und dann weinte, weil ich zuviel gegessen hatte. Und sie sagte einfach nur: »Liebes, O Liebes, sag so etwas nicht.« Ich hob den Kopf, sah sie an, suchte in ihren Augen nach einer Antwort. Dann fragte ich sie: »Mama, glaubst du, daß ich verrückt bin?« Es folgte eine lange, quälende Stille. Die Uhr tickte. Ich trug immer noch meinen Mantel. Sie sah aus dem Fenster und sagte: »Ich glaube, daß du sehr krank bist.« Ich brauchte eine Weile, um mitzubekommen, daß sie gerade JA gesagt hatte. Noch nie in meinem ganzen Leben war ich so entsetzt. Ich hatte bis zu einem gewissen Grad verstanden, daß dies das Ende war, daß ich dabei war, mein leckes, kleines Ruderboot von der Küste abzustoßen und richtig, wahrhaftig zu sterben. Mehr denn je begann sich der Gedanke in mir festzusetzen, daß ich verrückt sein könnte, und zwar in des Wortes klassischster Bedeutung. Daß ich, auf immer und ewig, Amen, eine Irre war. Daß das, was wir schon immer vermutet hatten, das, was ich mit allen Mitteln zu widerlegen versucht hatte, die Wahrheit war. Und dem Wahnsinn zog ich das Sterben nun einmal deutlich vor.
Die folgenden Tage verbrachte ich damit, in eine Decke gehüllt auf der Couch zu sitzen, aus dem Fenster zu starren und über den Wahnsinn zu reflektieren, während meine Eltern mich beschworen, zum Arzt zu gehen und mich gründlich untersuchen zu lassen. Ich erklärte mich einverstanden. Am Abend vor meinem Termin im Krankenhaus fuhr - ja fuhr - ich zum Universitätsgelände, um in einem Café etwas zu lesen. Natürlich konnte ich nicht lesen. Ich mußte immer wieder daran denken, daß ich gerade zu Abend gegessen hatte, wenn auch nur eine winzig kleine Menge. Die Mahlzeit hüpfte in meinem Magen auf und ab, machte jede Menge Lärm, und ich erwog, mich zu übergeben. Aber wenn ich schon kotzte, dann sollte es sich auch lohnen. Für die drei Bissen hautloses Hühnerfleisch, die ich gegessen hatte, wollte ich doch gar nicht erst anfangen. Ich kaufte ein paar Muffins und aß sie im Spazierengehen. Der vertraute Adrenalinstoß durchzuckte mich und trieb meine Beine zu einem Burger King. Obwohl mein Konto leer war, schrieb ich einen Scheck darauf aus. Anschließend setzte ich mich und kaute ruhig vor mich hin. Dann rastete ich aus, rannte durch die Stadt, hielt hier und da an, aß und übergab mich in Gassen, aß und wurde ohnmächtig, stand auf, rannte, aß während des Laufens, unempfindlich gegen die Kälte, Hand zum Mund, Hand zum Mund. Innerhalb weniger Stunden des Essens, Laufens und Kotzens stellte ich Schecks in einem Gesamtwert von $ 200 aus. Schließlich stieg ich ins Auto und hielt auf dem Nachhauseweg noch bei Perkins an. Mein letztes Abendessen, dachte ich. Ich bestellte Pfannkuchen mit Schlagsahne sowie Schinken, Eier und Frikadellen. Ich übergab mich im Toilettenraum, kaufte ein Stück Pastete, aß es im Auto und übergab mich, als ich nach Hause kam. Dann ging ich ins Bett, zu erschöpft, um noch meine Gymnastik zu machen. Es war die schlimmste Nacht meines Lebens. Und meine Erinnerung daran ist die einzig klare aus dieser ganzen Zeit. Ich träumte, daß ich in einem dunklen, scheußlichen Restaurant aß und aß, und jeder starrte mich an, aber ich konnte nicht aufhören zu essen, und dann wurde ich mit einem Ruck wach, hielt meinen Traum für wahr und geriet in Panik. Dann erst erinnerte ich mich daran, daß es ein Traum gewesen war. Ich hatte nicht wirklich gegessen, alles war gut, und dann nahm ich, vollkommen dehydriert, wie ich war, ein paar kräftige Schlucke aus der Flasche mit Diät-Orangenlimonade, die ich am Bett stehen hatte, fiel wieder in Schlaf, kehrte in das Restaurant zurück, aß weiter, wachte auf, Panik, trank, und schlief und träumte, Stunden um Stunden, die ich im Traum aß und das Gelächter der Menschen, die mich verhöhnten, während ich aß und aß. Morgens war ich völlig am Ende. Ich konnte kaum noch reden. Mein Vater fuhr mich ins Krankenhaus zur Untersuchung. Aus irgendeinem Grund bekam ich gar nicht mit, daß ich in der Notaufnahme gelandet war. Als ich hereinkam, warf mir die Dame am Empfang einen Blick zu, nahm den Telefonhörer zur Hand und sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann hörte ich ein Geräusch wie das Trommeln von Hufen und eine Stimme, die über Lautsprecher erklang. Plötzliche Aufregung, viele Menschen. Ich wurde in ein Zimmer gebracht. Ich legte mich auf das kleine Bett und jemand deckte mich zu. Ein anderer kam herein, tastete mich ab, half mir, mich aufzusetzen, gab mir einen Becher mit Saft. Darauf stand BLUE BIRD APFELSAFT. Offensichtlich sollte ich ihn trinken. Als die Person wieder gegangen war, schüttete ich ihn in das Waschbecken. Ich dachte, warum schütte ich das weg? Was will ich damit beweisen? Dieser Gedanke war mein Untergang.
Eine Ärztin kam herein. Sie war sehr forsch. Sie sagte mir, daß sie mich einweisen wolle. Ich antwortete, daß ich gehen müsse, daß ich mit Freunden zum Frühstück verabredet sei, was auch tatsächlich der Fall war. Ich hatte mir den ganzen Morgen über Gedanken darüber gemacht, wie ich es umgehen konnte zu frühstücken. Ich fragte mich, ob das Restaurant auch Joghurt servierte und ob es fettfrei oder nur teilentrahmt war, und ich fragte sie, ob ich nicht später wiederkommen könnte? Zwischenzeitlich fragte ich mich, ob ich bis zu dem Zeitpunkt, bis ich wiederkam, genug zunehmen konnte, um nicht ins Krankenhaus zu müssen. Ich wog um die 25 Kilogramm, und ich war sehr erschöpft. So legte ich meinen Kopf auf das Kissen und schloß für eine Weile die Augen. Sie wartete. Ich stieß mich vom Bett ab, lächelte und fragte: »Nun? Kann ich gehen?« Sie sagte: »Sie werden es wohl kaum bis zur nächsten Ecke schaffen.« Ich dachte kurz darüber nach. Ich hielt es für möglich, daß sie Recht hatte. Ich fragte sie, ob ich eine Zigarette haben dürfte, während ich darüber nachdachte. Sie gab mir eine. Ich ging nach draußen, wobei ich mich an der Mauer festhielt. Es war zu kalt, um zu rauchen, also trat ich die Zigarette mit dem Absatz aus, drehte mich um, mir wurde schwindlig, ich beugte mich nach vorn - und wartete. Während ich wartete, zählte ich meine Knochen. Sie waren alle noch da. Dann dachte ich nur noch: Mein Gott. Ich richtete mich auf, hielt mich an der kalten Mauer fest, während mich der Schwindel nun in Wellen überkam und davontrug. Ich ging sehr langsam wieder hinein, wobei ich die Füße ganz vorsichtig voreinander setzte, immer einen nach dem anderen. Ich ging zur Rezeption und ließ mich einweisen.