Ein ganz einfacher Eingriff: Ich soll die Weisheitszähne gezogen bekommen. Ich gehe zum Zahnarzt, ich sitze im Wartezimmer, fülle die Anamnese-Formulare aus. Waren Sie wegen einer schweren Krankheit im Krankenhaus? Ja. Sind Sie herzkrank? Ja. Es werden keine Einzelheiten abgefragt, also gehe ich auch nicht weiter darauf ein. Ich trage das Formular wieder zu der blonden Frau im Vorzimmer. In Räumlichkeiten, in denen Nadeln und Medikamente in kleinen Schränken lauern und nur darauf warten, mich zu beißen, bin ich immer ziemlich nervös. Bei dem Geruch von Antiseptika wird mir übel; die geschrubbten, rosa Hände der Arzthelferinnen und Krankenschwestern kommen mir immer vor wie diese feuchten Kröten in den Tropen. Drei Leute stehen hinter mir in der Schlange. Die Arzthelferin fragt laut: »Schwere Krankheiten?« Ich weiß nicht, was sie hören will, also antworte ich: »Ja.« Sie, mittlerweile ungeduldig geworden, fragt: »Welche?« Ich sage: »Oh, Magersucht.« Sie sieht mich zum ersten Mal an - mit scharfem Blick. Die Arzthelferin neben ihr betrachtet mich ebenfalls. Die Frau, die hinter mir in der Schlange steht, beugt sich vor, gerade weit genug, daß ich ihre Bewegung aus den Augenwinkeln erkennen kann. Ich denke: Warum habt ihr diese Frage nicht einfach auf das verdammte Formular geschrieben? Die Krankenschwester sagt: »Herzkrankheit?« Ich sage: »Herzrhythmusstörungen.« Ich sage: »Ich glaube nicht, daß Sie mir eine Vollnarkose geben sollten.« Sie antwortet nicht. Sie kritzelt Magersucht auf das Formular. Im Geiste bitte ich den Arzt, bei meinem Anblick nicht zu sagen: Nun, Sie sehen aber gar nicht aus wie eine Anorektikerin. Er sagt es. Das tun sie immer. Wenn man nicht gerade so ausgezehrt ist, daß man kaum laufen kann, finden andere Menschen nicht, daß man magersüchtig »aussieht«. Ich setze mich auf den Stuhl, beiße die Zähne zusammen. Er nennt mich Mayra. Ich korrigiere ihn nicht. Ich sage zu ihm: »Es ist wohl besser, wenn Sie mir keine Vollnarkose verabreichen. Ich habe Herzrhythmusstörungen.« Er antwortet: »Doch, doch, das geht schon in Ordnung.« Ich sage: »Ich halte das wirklich für keine gute Idee.« Er sagt: »O nein, diesen Eingriff wollen Sie ganz bestimmt nicht im Wachzustand erleben.« Ich vertraue ihm plötzlich wie ein alter Trottel und frage: »Sind Sie sicher?« Er sagt: »O ja, es wird schon gutgehen.« Am nächsten Tag komme ich wieder, setze mich auf den Stuhl. Ich sage: »Nehmen Sie meinen rechten Arm, im linken habe ich keine Venen mehr.« Sie sagen: »Nein, nein, wir müssen den linken nehmen.« (Warum, erklärt mir keiner.) Das Zimmer ist voller Arzthelferinnen. Meine Panik, steigert sich mit jeder Minute. Jemand legt eine Aderpresse um meinen linken Arm. Ich sage jetzt lauter: »Die Venen in meinem linken Arm sind zerstört.« Sie sagen: »Machen Sie eine Faust.« Sie stochern mit der Nadel in meinem Arm herum. Ich sage: »Die Venen sind zerstört.« Eine Arzthelferin sagt: »Keine Venen« (Was Sie nicht sagen, keine Venen!), die Aderpresse wird von meinem Oberarm entfernt, sie schlingen sie um meinen Unterarm, so daß die 10 Zentimeter lange, anderthalb Zentimeter breite purpurrote Narbe zusammengequetscht wird, die in der Mitte verläuft. Sie sagen: »Machen Sie eine Faust.« Ich sage: »Bitte nicht die Hand. Bitte nicht die Hand.« sie sagen: »Machen Sie eine Faust.« Ich mache eine Faust, so gut es geht. Schließlich sind die Muskeln meines linken Armes seit langem von einer Rasierklinge zerfetzt worden und danach vorzeitig verkümmert. »Fester«, sagen sie. Die Nadel gleitet in meine Hand, und ich lausche, wie mein Protest leise verklingt.
Mitte der Woche trommelt mein Herz eine seltsame Melodie: Da-dum dumdumdum ... Da, da, da-dum dumdumdumdumdum. Ich werde häufig ohnmächtig. Mir ist schwindelig. Sie geben mir Penizillin, um die Entzündung in meinem Mund zu bekämpfen. Ich muß mich davon übergeben. Innerhalb von zwei Tagen ist keine Nahrung mehr in meinem Magen, und ich beginne, Blut zu spucken oder besser gesagt: Stücke meiner Speiseröhre. Das Penizillin macht meinem Immunsystem den Garaus. Zwei Wochen später ist mein Mund immer noch nicht verheilt. Ich wache nachts auf, beuge mich über das Waschbecken, spucke dicke Blutklumpen. Ich habe eine Blasenentzündung, eine Nierenentzündung, eine schlimme Erkältung, Kratzer auf den Armen, die keinen Schorf bilden und bei der kleinsten Berührung wieder aufplatzen. Blaue Flecken geben meinem Körper ein seltsam gesprenkeltes Aussehen: an der Hüfte, die sacht den Türrahmen berührt hat, an einem Schienenbein, mit dem ich gegen den Stuhl gelaufen bin. Zwei Wochen später habe ich fast acht Kilo verloren. Ich presse die Hände gegen mein Brustbein: eine alte Angewohnheit, eine intime Geste, der Versuch einer wortlosen Erwiderung auf das nervöse Geplapper meines Herzens. Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte voller Stolz meine Rippen, die sich durch die Haut nach vorne drängen. Ich stehe vor dem Spiegel und sehe, wie meine Hände mit ihnen spielen wie auf einem hohlen Instrument. Meine Hände tasten sich bis zum Kreuz vor, schlängeln sich weiter, um die beiden Zwillingsknochen ganz unten zu drücken. Meine Hände, scheu, als ob sie einen alten Geliebten neu entdeckten, berühren meinen Körper sanft, in atemlosem Unglauben: Bist du wirklich da? Bist du endlich zu mir zurückgekommen? Mein Ehering hängt locker an meinem Finger.
Im Bett zieht mein Mann die Decke im Mondschein zurück, läßt seine Hände wortlos über meinen Körper gleiten. Er stößt auf die scharfe Erhebung der Beckenknochen; er umfaßt sie, und seine Daumen ruhen in der Höhle meines Bauches. Ich warte darauf, daß er sagt: Du hast abgenommen. Ich warte auf den Rausch törichten Stolzes, den diese Worte in mir auslösen werden auf die Erleichterung, weil ich auf frischer Tat mit einem Geliebten im Bett ertappt worden bin. Er sagt nichts. Er legt sich neben mich, dreht mir den Rücken zu. Seine Stille erfüllt den Raum.