(12) Was denn mit Achim sei, wo er denn bleibe, wann man denn nun endlich etwas von ihm höre, wird manch einer fragen. Der hier berichtet und erzählt, bittet um Geduld und meldet, daß dieser Achim, den der Titel der Geschichte verspricht, sich jetzt auf den Weg macht.
Und da der Autor sich nun schon einmal eingemischt hat und der Fluß der Geschichte somit unterbrochen worden ist, möchte er auch noch Auskunft geben über sein Verhältnis zu seiner Heldin und seinem Helden. Kann er sich dafür verbürgen, daß dieses Paar und all die anderen Personen um es herum genau das gedacht und gesagt haben, was da steht?
Nein, dafür verbürgt er sich nicht, und dafür will er auch nicht verantwortlich gemacht werden.
Es kann nämlich einer noch so genau nachforschen in den Zeugnissen und Quellen - damit macht er doch nie ganz wett, daß er damals nicht mit dabei gewesen ist. Er kann noch so viele genaue Einzelheiten wissen über das Leben der Personen, von denen er schreibt, und ihrer Zeit, aber das wird er nie wissen können: wie es sich anfühlte, wenn Bettina fieberte und Achim fror. Er kann nachlesen, was sie selbst gesagt haben und was andere über sie schrieben und urteilten. Er kann abwägen, vergleichen. Aber in ihre lebendigen Körper hineinkriechen - das eben kann er nicht. Deswegen also scheint es dem Autor richtig, hier anzumerken, daß dies seine Bettina und sein Achim sind, die er vor den Leser hinstellt. Manchmal erlaubt er sich, mit den Quellen und Dokumenten spielerisch umzugehen und Bruchstücke von Zitaten in Szenen einfließen zu lassen, die er erfunden hat. Auf diese Weise gibt er das Bild, das er bei seinen Recherchen von den Personen gewonnen hat, in erzählerischer Form an den Leser weiter. Er mag Menschen um dieser oder jener Eigenschaften willen. Um der Betroffenheit willen, die gewisse Sätze hervorrufen. Beispielsweise der von Bettina:
Ich bin immer nackt und bloß durch die Welt gelaufen, und wo andre in Hochzeitkleidern hinbestellt waren, da hatte ich keinen Eingang, weil ich kein hochzeitlich Gewand hatte. So ist denn meine Seele frei von Grundsätzen und Erfahrungslehren und Vorsätzen geblieben. So daß sie der Gott wieder niederschlucken kann ungeschält, wie er sie ausgespien hat.
Er mag Bettina wegen ihrer Lebhaftigkeit, der Intensität ihrer Empfindungen und ihrer Unabhängigkeit: »Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter.«
Er mag Achim wegen seiner nie zur Schau gestellten Gewissenhaftigkeit. Es gefällt ihm, diesem Widerstreit zwischen Nüchternheit und dem Verlangen, den Verlockungen des Phantastischen zu folgen.
Wenn etwas von alldem nicht auch in ihm wäre, könnte er von den beiden nie und nimmer erzählen. Es fehlte ihm die Erfahrung. Er mag den Widerspruch, der in jedem Menschen lebt. Er mag das Unerklärbare, er mag es, Zeit aufzuheben, indem er jemandem, der vor hundert Jahren gelebt hat, so nahe kommt wie nur irgend möglich und sich zugleich der Unmöglichkeit völliger Annäherung bewußt bleibt. Das ist es, was er »Offenheit« nennt.
(13) Auf einem zeitgenössischen Gemälde sehen wir einen schönen, edlen jungen Mann mit schmalem Gesicht, kastanienbraunem, leicht gewelltem Haar, feiner, heller Haut, einer ausgeprägten Nase und einem sinnlichen Mund. Sein Kopf ragt aus einem braunen Umhang hervor; die großen weichen Augen könnten die eines Mädchens sein.
Die ganze Person hat etwas Entrückt-Altertümlich-Märchenhaftes. Man denkt an einen gebildeten Jüngling aus der Renaissance. Etwas anders die Bleistiftzeichnung, die von Clemens Brentano stammt. Auch hier unverkennbar dieses schmale, edle Gesicht, diese mädchenhaften Augen, aber in ihrem Blick liegt etwas Verschreckt-Skeptisches, das das auf Idealität bedachte Ölbild nicht einfängt.
Der junge Mann, den beide Bilder darstellen, heißt Karl Joachim Friedrich Ludwig von Arnim. Er ist am 26. Januar 1781 in Berlin geboren. Seine Mutter, Amalie Karoline, geb. Labes, stirbt knapp einen Monat später, genau an dem Tag, an dem das Kind die Nottaufe erhält.
Der Junge wächst auf bei einer zähen, eigenwilligen und lebenstüchtigen Großmutter, der zu diesem Zeitpunkt fünfzigjährigen Witwe Karoline Labes, die dem Schwiegersohn und Vater des Kindes, Erdmann von Arnim, zunächst preußischer Gesandter in Kopenhagen, dann königlicher Schauspieldirektor in Berlin, nun aber nur noch adliger Großgrundbesitzer und mit der Verwaltung seiner Güter beschäftigt, seine beiden Söhne Karl Joachim, genannt Louis, und den um zwei Jahre älteren Karl Otto, genannt Pitt, für 1000 Taler abkauft.
Ein selbst für damalige Zeiten, da Kinder aus den niederen Ständen nicht selten von ihren Eltern an hochgestellte Damen und Herren verkauft werden, ziemlich ungewöhnlicher Vorgang. Offenbar traut Karoline Labes dem Vater nicht zu, daß er in der Lage ist, seine beiden Jungen zu erziehen. Und der Vater ist wohl in Geldnöten.
Die Großmutter ist dreimal verheiratet gewesen. In erster Ehe mit dem im Jahre der Eheschließung 1753 fünfundvierzigjährigen Michael Gabriel Fredersdorff, der schon nach fünf Ehejahren starb. Als Kammerdiener und Günstling Friedrich II hatte er von diesem das Gut Zernikow zum Geschenk erhalten, das nun seine Witwe erbt. Die zweite Ehe, über die wenig bekannt ist, wurde nach kurzer Frist wieder geschieden. Dritter Ehemann Karolines wurde der Kammerherr Hans Labes, ein Günstling des preußischen Königs Friedrich II, ein skurriler Mann, dessen Lebenslauf wirkt, als stehe er in einer der Geschichten seines Enkels: als Knabe aus Hannover fortgelaufen, wird man in der Schule auf ihn aufmerksam und läßt ihn eine Universität besuchen. Unter Friedrich II. ist er im auswärtigen Dienst an süddeutschen Fürstenhöfen tätig - als Spion. In Preußen fällt er trotz seiner Verdienste beim Auskundschaften der gegnerischen Kriegsvorbereitungen vor dem Siebenjährigen Krieg beim König in Ungnade. Er verläßt Berlin und lebt während seiner letzten Lebensjahre mit seiner Frau auf deren Besitz Zernikow. Sein skurriler Sinn macht sich auch dort noch bemerkbar. Sein Enkel berichtet von ihm:
Seine Neckereien gegen Landesgesetze zogen ihm einmal Festungsarrest zu, er war unermüdlich, die königlichen Beamten zu quälen. So hatte er eine Streitigkeit über hohe Jagd. Um die Förster zu ärgern, lud er sie in seinen Speisesaal, wo viel Ratten und Mäuse nisteten, zu Gast und schoß zwischen ihnen hindurch mit der Kugelbüchse nach dem kleinen Geschmeiß. Auch die Accisebedienten*, (*Zollbeamte) die ihm fremde Delicatessen, welche ein Bote brachte, weggenommen hatten, bat er an der Grenze, wo sein Gut lag, zu Gast. Die Seite des Tisches, die ins Mecklenburgische reichte, besetzte er mit Austern, Seefischen, feinen Weinen, dort saß er mit Nachbarn; auf die andre ließ er Kartoffeln und sauer Bier stellen, dort waren die Plätze der Accisebedienten. Während des Essens bat er sie um Verzeihung, wenn er nichts Gutes hinüberreichte, aber es sei noch nicht verzollt.
Als 1776 dieser dritte Ehemann stirbt, gelingt es Karoline durch eiserne Sparsamkeit und Geschäftssinn, die hohen Schulden, die er ihr hinterlassen hat, zu tilgen und außer ihrem Besitz Zernikow noch die Herrschaft Bärwalde mit dem Schloß Wiepersdorf zu kaufen. Wegen ihrer beiden Enkel unterhält sie auch noch eine Stadtwohnung in Berlin. Von dort kann der jüngere Louis zwischen seinem achten und zwölften Lebensjahr den Bau des Brandenburger Tores beobachten.
Der Vater kümmert sich nach dem »Verkauf« kaum noch um seine beiden Söhne. Es gibt Briefe aus Louis' Kinderjahren, in denen er den Vater bittet, ihm doch wenigstens einmal zu schreiben. Standesgemäß wird Louis von einem Hofmeister erzogen, bis er 1793 in Berlin ins Joachimsthaler Gymnasium eintritt. Später einmal wird Achim schreiben:
Unter Familie versteh ich verschiedenartige Leute, die aus einer wunderlichen Ansicht von Verwandtschaft sich immer an einander drängen, um sich zu stoßen, statt sich zu küssen, es ist ein verruchtes Wort: Familie... das alle wahren Rechte zwischen Blutsverwandten und alle freye Liebe unter ihnen erstickt, mit ein paar Geburtstagskuchen das grobe Brot des ganzen Jahres ersetzt.
In der Schule ist der Junge eifrig, ein guter Schüler. Er treibt gern Mathematik. Für seine Leselust zeugt ein Brief an den Vater, der 1795 offensichtlich sogar die Weihnachtsgeschenke vergessen hat:
Ich habe eine Bitte theuerster Vater, die zwar etwas unbescheiden ist, die Sie mir aber doch nicht übel nehmen werden, wie ich hoffe: ... Weihnachten hat zwar viele meiner Wünsche befriedigt, indes hege ich doch noch einige, die ich bey einer Bücherauction in kurzer Zeit stillen könnte, wenn nur das nötige Geld in meiner Kasse wäre, aber dieses ist nun nicht der Fall. Ich dachte bey mir nach: Wer kann wohl, wer wird wohl mir etwas in meine Kasse zum Ankauf dieser Bücher legen? Dein gütiger Vater, antwortete eine geheime Stimme.
Lesen als Ersatz für elterliche Liebe und Aufmerksamkeit? Das läßt sich nur vermuten. Aber die Schuldgefühle, durch die eigene Geburt den Tod der Mutter verursacht zu haben, lassen sich belegen, wenngleich nur durch eine Äußerung aus späteren Jahren: »Durchwache eine trübe Nacht, träume, du hättest deine Mutter ermordet, um geboren zu werden...«
Es gibt nicht viele Zeugnisse aus dieser Kindheit, aber daß sie unter den erwähnten Umständen nicht sehr glücklich gewesen sein kann, läßt sich mit Sicherheit vermuten.
Im Mai 1798 geht Louis an die Universität Halle. Das standesgemäße Bildungsprogramm für einen jungen Mann aus einer Adelsfamilie sieht drei Jahre Hochschule vor, danach eine längere Bildungsreise, genannt »Kavalierstour«. In Halle ist Louis für Rechtswissenschaften immatrikuliert. Mit Freunden und ehemaligen Klassenkameraden gründet er einen Studentenklub, in dem Vorträge zu sehr verschiedenartigen Themen und Diskussionen stattfinden. Neben Jura und Philosophie hört von Arnim Mathematik, Chemie und Physik und veröffentlicht in einer Fachzeitschrift eine Abhandlung über eine Theorie der elektrischen Erscheinungen. Einer der renommiertesten Physiker dieser Zeit kommt nach Halle gereist, um mit dem Studenten von Arnim dessen Theorie über die chemische Beschaffenheit von Magneten zu diskutieren. Mit diesem Johann Wilhelm Ritter ist auch Clemens bekannt geworden und hat ihn Bettina als Heiratskandidat nahegelegt, ohne daß die beiden sich jemals gesehen hätten.
In die Studienzeit in Halle fällt eine traurige Erfahrung, die Louis lange und intensiv beschäftigt: Einer seiner Schulkameraden, Karl Franz von Goltz, auf dem Gymnasium immer Primus, hat auf der Universität Anpassungsschwierigkeiten, ist deprimiert. Plötzlich verschwindet er. Von Arnim sucht ihn, läuft ihm nach.
Ein Fremder fand ihn, er hatte sich selbst erschossen, ich fühlte es, wie mir alles unerwartet schrecklich (naheging), daß der Zufall des Zusammenlebens, nicht nothwendiges Vertrauen uns verbunden, aber das tröstete mich freilich auch nicht.
Selbstmorde unter jungen Leuten sind in dieser Generation häufig. Seit dem Erscheinen und der weiten Verbreitung von Goethes Werther sind sie geradezu Mode geworden. Und doch lassen sich für die Zeitmode auch andere Erklärungen finden. Der sich anbahnende Verfall des Staatswesens in Preußen, der Niedergang der Feudalgesellschaft überhaupt, unmenschliche Ehrbegriffe, doppelte Moral, Konventionen, die Menschen nur noch in äußeren Formen miteinander umgehen ließen, Unterdrückung des Gefühls, der Phantasie und all dessen, was Gewinnstreben und Karriere im Weg stand - das sind ein paar Stichworte, die andeuten, was bei vielen sensiblen jungen Leuten damals zum Lebensekel und zur Verzweiflung geführt hat. Von Halle aus besucht Louis auf einer Fußwanderung zu Pfingsten 1799 die Freiberger Bergwerke im Erzgebirge. Er findet die Arbeiter dort schlecht bezahlt und notiert, sie müßten »mehr Freyheit und mehr Löhnung« haben.
Aus verschiedenen Beobachtungen wächst in ihm der Eindruck, daß der preußische Staat einer Katastrophe entgegentreibt, wenn nicht bald Reformen durchgeführt werden, wenn die herrschende Adelsschicht nicht in stärkerem Maße Verantwortungsbewußtsein und Engagement entwickelt.
Von Arnim kommt aus einer Familie, die sich mit diesem Staat durchaus identifiziert. Auch bei dem jungen Mann muß man sich da ein starkes, idealistisch gestimmtes Gefühl von Verantwortung für dieses Preußen vorstellen. Das schließt aber nicht das Bedürfnis aus, auch einmal aus Preußen herauszukommen. Die beiden Brüder von Arnim wollen von Halle nach Göttingen gehen; Göttingen scheint damals eine etwas weltoffenere Universität als Halle gewesen zu sein.
Der Wechsel von einer Universität zur anderen aber ist nur innerhalb der Landesgrenzen der deutschen Fürstentümer möglich. So wird denn auch das Gesuch der beiden Brüder von Arnim vom König selbst dahingehend entschieden, »daß die Supplikanten auf hiesigen (preußischen) Universitäten zulänglich Gelegenheit finden, ihre Kenntnisse zu erweitern.« Erst als die Großmutter insistiert, wird die Genehmigung endlich erteilt. Es gibt zwei Typen von Studenten. Jene, die tatsächlich ernsthaft studieren, und die anderen, für die das Studium eine Zeit vor dem beginnenden »Ernst des Lebens« ist, um sich auszuleben und auszutoben. Von Arnim hat nun von Jura auf Mathematik gewechselt. Er veröffentlicht fleißig weiter Aufsätze in den Annalen der Physik und im Allgemeinen Journal der Chemie, auch eine kleine Schrift Ideen zu einer Theorie der Magneten, bis es plötzlich zu einer Wende kommt. Einen Grund dafür nennt der folgende Brief:
Ich konnte fast nichts denken in der Physik, was nicht zu gleicher Zeit Ritter, Schelling oder andere bekannt machten: ja, viele Arbeiten habe ich zerrissen, weil sie mir zuvorkamen... ich dachte damals, daß mein Wirken für die Physik unnütz sei, für Büchermotten wollte ich nicht schreiben.
Zwar wird er von seinem Onkel aufgefordert, sein Studium »auf praktische Nützlichkeit hin« anzulegen, aber viele seiner Freunde, Bekannten und Studienkollegen sind Musiker oder Schriftsteller. So wendet, zunächst wohl nicht ohne schlechtes Gewissen, auch er sich der Literatur zu.
Schon von Halle aus hat er häufig Johann Friedrich Reichardt besucht, einen Mann, der aus einer Musikerfamilie stammt, bei Kant in Königsberg studiert hat und auch als Violinvirtuose und Komponist hervorgetreten ist. Vorübergehend ist er in Berlin unter Friedrich II als Kapellmeister angestellt gewesen und hat an diesem Posten auch mit Louis' Vater zu tun gehabt. 1794 wird Reichardt wegen seiner enthusiastischen, wenn auch durchaus nicht kritiklosen Anteilnahme an den Ereignissen der Großen Revolution in Frankreich aus dem Staatsdienst entlassen, zwei Jahre später jedoch begnadigt und als Salinendirektor in Schönbeck bei Halle angestellt. Schon bei seiner Entlassung hat er sich das Landgut Giebichenstein gekauft. Er ist Louis ein väterlicher Freund. Hier findet der junge Mann, was er in seiner eigenen Verwandtschaft vergeblich gesucht hat: ein Familienleben, in dem für künstlerische Neigungen Platz ist.
- Wir traten in sein Wohnzimmer, seine vier Töchter sangen zum Pianoforte ein Chor, wir setzten uns still und unbemerkt hinter sie. Ich sah vor mir ausgebreitet das mannigfache Grün des Parks, der durch eine große geöffnete Tür mit dem Lichte in den Saal zu treten schien, das von dieser Seite allein hineinleuchtete, die Wohlgerüche unzähliger Blumen umdufteten mich, ihr buntes Farbenspiel bekränzte die Tür. Dies alles vereint, vielleicht auch die eigentümliche Schallzurückwerfung im Saal berauschten mich wunderbar mit dem Gedanken, von ihnen im Licht getragen walle die volle Harmonie der Töne zu mir.
Zunächst nur für den Familienkreis schreibt Reichardt um diese Zeit ein Liederspiel >Lieb und Treu<, das 1800 mit großem Erfolg in Berlin aufgeführt wird.
Reichardt zeichnet auch Volkslieder auf. Und es ist auf Giebichenstein, daß von Arnim zum ersten Mal die Poesie dieser Lieder bewußt wahrnimmt und über sie nachzudenken beginnt. Schon in Halle hat von Arnim auch Johann Ludwig Tieck kennengelernt, Sohn eines Seilermeisters aus Berlin, der zunächst Theologie studiert, bald aber sein Studium abgebrochen hat und nun als freier Schriftsteller lebt. Tieck hat 1795/96 einen wilden Roman über einen hochbegabten, empfindsamen jungen Mann, William Lovell, veröffentlicht, der sich aus Lebensüberdruß zunächst in den »Glauben an das Wunderbare« flüchtet, um dann, verführt von philosophischen Lehren, die den Genuß und die Ausschweifung verherrlichen, zum Tugendschänder, Falschspieler, Räuber und Mörder zu werden.
Tieck hat auch Volksmärchen herausgegeben, wobei es ihm aber nicht so sehr darauf angekommen ist, das Authentische der Texte zu bewahren. Er hat sie recht freizügig bearbeitet, aber die Vorliebe Tiecks für den Einbruch des Grauenhaft-Widersprüchlichen, des Unbegreifbaren und Unheimlichen in der Poesie und im Märchen werden von Arnim darin bestärkt haben, Neigungen und Empfindungen in sich nachzugeben, die in Widerspruch stehen zu den Erziehungsgrundsätzen und der Moral der Familie, aus der er stammt.
Kunst hat für ihn etwas von einer »verführerisch, verbotenen Frucht«, die den Menschen »für die tätige, lebendige Welt unwiederbringlich verloren sein« läßt. So entstehen Spannungen. Da ist einerseits sein Lebensplan, »alles Gute und Ehrenvolle, was sich in den adligen Häusern... entwickelt hat, allgemein zu machen, alle Welt zu adeln.« Und da ist andererseits der Wunsch, von der merkwürdigen Brüchigkeit der Welt zu erzählen, vom Unheimlichen, von dem, was aus den Abgründen brodelt.
Zwischen diesen beiden Ansprüchen wird eine Entscheidung fällig.
1798, genau in dem Jahr, als Louis sein Universitätsstudium beginnt, hat ein gewisser Friedrich Schlegel mit der Arbeit an seinem Roman >Lucinde< begonnen, der schon ein Jahr später gedruckt vorliegt und in literarisch interessierten Kreisen des Bürgertums heftig diskutiert wird. Aber hauptsächlich ereifert man sich in den Salons darüber, daß Schlegel in Lucinde seine Liebesaffäre mit Dorothea Veit, die sich seinetwegen von ihrem ersten Mann hatte scheiden lassen, kaum verschlüsselt dargestellt hat.
Über dem Skandal um den Roman wird sein »Anliegen«, seine Botschaft, weitgehend übersehen. Erst ein Aufsatz von Friedrich Schleiermacher, >Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde<, der 1800 erscheint, macht die gesellschaftskritische Bedeutung dessen, was da erzählt wird, bewußt.
Der Held des Romans ist Julius. Ihn bekommen wir in der entscheidenden Krise seines Lebens vorgeführt. Julius gerät mehr und mehr
- in einen Zustand, der von der Verrückung* (*Verrücktheit) nur dadurch verschieden war, daß es einigermaßen auf ihn ankam, wann und wie er sich seiner Gewalt hingeben wollte. Auch war sein äußeres Betragen jeder bürgerlichen und gesellschaftlichen Ordnung gemäß, und gerade jetzt fingen die Menschen an, ihn vernünftig zu nennen, da eine Verwirrung aller Schmerzen sein Inneres wild zerriß und die Krankheit des Geistes immer tiefer und geheimer an dem Herzen nagte.
An Julius wird dargestellt, was damals viele Menschen empfinden: Gesellschaftliche Norm und individuelle Wünsche und Gefühle klaffen immer weiter auseinander. Aus dieser Krise wird Julius durch die Liebe gerettet. Er begegnet Lucinde, einer jungen Künstlerin. Sie ist »mitten im Schoß der menschlichen Gesellschaft Natur geblieben«, hat sich »eine eigene selbstgedachte und selbstgebildete Welt« eingerichtet.
- Nur, was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für sie, alles andere nicht; und sie wußte, was Wert hat... sie hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig.
In der Liebe zu ihr findet Julius seine Jugend - man könnte auch sagen: seine Lebendigkeit - wieder. Liebe ist also in diesem Roman jene Kraft, die die Übereinstimmung des Individuums mit der Natur und mit der Gesellschaft herstellt: »Er fühlte, daß er diese Einheit nie verlieren könne, das Rätsel seines Daseins war gelöst.«
Somit ist die Botschaft im Recht des Menschen auf seine Selbstverwirklichung zu sehen. Und offenbar, auch das läßt sich aus der Geschichte herauslesen, sind Frauen eher dazu fähig als Männer, »mit kühner Entschlossenheit alle Bande zu zerreißen« und »völlig frei und unabhängig« zu leben. Nur durch Lucindes Vorbild und Liebe wird ja Julius zu einer solchen Lebenshaltung fähig.
Freilich beschreibt dieser Roman einen künftigen Idealzustand, aber er stellt damit auch eine radikale Herausforderung an die gesellschaftlichen Normen dar. Seine Tendenz zielt gegen den »Senat der Erhalter«, also gegen die Würdenträger und Repräsentanten der Konvention. Die Liebe soll den Menschen aus der Barbarei und Widernatürlichkeit retten - damit aber wird die Botschaft dieses erotischen Romans zur Gesellschaftskritik. Zu viele Ehen sind reine Vernunftehen, geschlossen, um ein Mädchen zu versorgen oder damit Geld zu Geld komme. Zu viele Spielregeln und Konventionen dienen nicht dem Glück des Menschen, sondern richten sich gegen es.
Und auch dies ist ein bezeichnendes Handlungsmotiv in Lucinde. Prof. Dr. Kurt Böttcher schreibt:
- Die hochangesehene Dame der guten Gesellschaft erweist sich in ihrer Koketterie als berechnend und herzlos, aber die verachtete Dirne bezeugt durch ihren Selbstmord nach dem Verrat, den Julius an ihr begangen hat, ihre menschlichen Empfindungskräfte und ihre Würde.
Man sieht: menschliche Beziehungen, sei es nun in der Ehe, im Verhältnis von Eltern und Kindern, von Geschwistern in der Familie, in der Freundschaft zwischen Männern und zwischen Frauen, stehen plötzlich unter neuen Maßstäben zur Bewertung an. Das ist gewiß nicht allein die Wirkung dieses einen romantischen Romans. Weit eher könnte man sagen, daß Mißstände, Mängel und Unmenschlichkeiten in der Gesellschaft dazu geführt haben, daß dieser und ähnliche Romane erscheinen.
Es ist für einen nach den strikten Grundsätzen der Adelsgesellschaft erzogenen jungen Mann nicht einfach, die Botschaft der >Lucinde< zu akzeptieren.
Einerseits gibt es ein Gedicht von Arnim, in dem Lucinde als Priesterin am Liebestribunal auftritt und einem jungen Mann höchst ironische Ratschläge in Liebesdingen erteilt.
Sie müssen baden, lieber Freund
Die Zähne besser putzen
In schwarzer Wäsche nie erscheint
Das kann zu gar nichts nutzen.
Andererseits beweist das Thema der ersten größeren Prosaarbeit des jungen Autors von Arnim, der mit dem Eintritt in die literarische Welt seinen bisherigen Rufnamen Louis in Achim abgeändert hat, daß mit der Thematik der Lucinde durchaus auch ihm vertraute Lebensprobleme angesprochen werden.
In >Hollins Liebeleben< zerbrechen Heldin und Held, weil sie sich über die bürgerliche Konvention mit einem außerehelichen Liebesverhältnis hinwegsetzen. Die Moral, die zwischen den Schlußsätzen anzuklingen scheint, läßt sich auf den Nenner bringen: So muß es ja kommen, wenn man alle Ordnung und Sittlichkeit mißachtet.
Aber einige Jahre später schreibt Achim, nun noch einmal die Moral und Botschaft der von ihm verfaßten Geschichte überdenkend:
Da ich nun (vor der Ehe) als einer bürgerlichen Einrichtung große Achtung ... hege, so las ich im Landrecht darüber weiter nach; da fand ich aber nichts als die wunderlichsten Definitionen. Hätte ich das damals gewußt, wer weiß, ob ich meinen Hollin (hätte) umkommen lassen, weil er gegen die bürgerliche Ordnung gesündigt.
Dieser Achim von Arnim, der in Göttingen studiert, hat eine ausgesprochene Begabung dafür, Freundschaft zu halten. In diesem Sommer in Göttingen macht er die Bekanntschaft eines genialisch wirkenden, in seinen Stimmungen sehr schwankenden jungen Mannes, der Philosophie studiert und ihm von einer Schriftstellerin und Professorengattin in Jena vorschwärmt, die sich scheiden lassen wird oder vielleicht auch nicht und die er heiß und innig liebt, weil sie ihn so an seine Mutter erinnert. Dieser Clemens erzählt aber auch von »Nebenlieben«, die bei ihm nahezu wöchentlich aufflackern und wieder verlöschen, von seinen hübschen Schwestern, die Gunda und Bettina heißen und in Frankfurt und Offenbach leben, von einem wüsten, aller bürgerlichen Moral spottenden Roman, der den Titel >Godwi< trägt und dessen zweiten Teil, an dem er noch schreibt, er eben jener Schwester Bettina zu widmen gedenkt, die er am liebsten mit Achim verliebt, verlobt und bald verheiratet sähe.
Aus der Bekanntschaft zwischen Achim von Arnim und Clemens Brentano wird bald eine Freundschaft. Sie mag gerade in der Verschiedenartigkeit der beiden Freunde ihren festen Grund gehabt haben: Der eine ist wild, wirr, extrovertiert, zerrissen, liebesgierig, voller Unrast. Der andere ein »ritterlicher Jüngling«, scheinbar sicher, überlegen, ausgeglichen. Einer, der Achim zum ersten Mal sieht, ein Mann, der stark unter seiner eigenen Häßlichkeit leidet, beschreibt Achim so: »Es ist etwas Herrliches um dieses kräftige Auftreten auf dem Erdboden, um dieses heitere, klare feste Blicken in die Welt... so soll ein Mann sein.«
Achim ist von seiner preußischen Erziehung geprägt. Aber zur Nüchternheit erzogen worden zu sein, schließt das Verlangen nach Phantasie und Poesie nicht aus. Und wenn Achim von Arnim aus eigener Wahl Naturwissenschaften studiert hat, so muß man wissen, daß zu dieser Zeit damit auch viel Naturspekulation verbunden ist. »Echte Mathematik ist das eigentliche Element des Magiers«, dieser Satz von Novalis hat Achim gewiß gefallen. Auch wenn ihn jemand »ganz unliterarisch« nennt, »so unliterarisch wie es ein Volkslied oder Großmütterchens Märchen sind«, so trifft das genau zu. Aber es stimmt eben auch, daß ihn das Unbedingte, Zerrissene, Komödiantische, wie er es bei Clemens findet, fasziniert.
(14) An einem Maitag liest Clemens seinem neuen Freund aus dem >Godwi oder das steinerne Bild der Mutter< vor. Im zweiten Teil des Romans begegnet dieser Godwi, »ein Jüngling aus reichem Kaufmannshaus, der jede produktive Tätigkeit ablehnt und das Leben eines Abenteurers und Bohemiens führt«, auf einer Reise zum Rhein der Gräfin G., einem »leichtsinnigen und fröhlichen Weib mit einer Freiheit ohne Grenzen, die doch nicht ins Gemeine fiel.« Sie verkündet als ihre Philosophie, »der sinnliche Mensch werde erbärmlich, wenn er, wie man es nennt, tugendhaft würde; denn er gefalle sich dann in Eigenschaften, die er in Wahrheit verachte.«
Nach dieser Überzeugung bildet sie die eigene fünfzehnjährige Tochter zum Freudenmädchen aus. Godwi, an den die Mutter die Tochter Violetta verkuppelt, merkt nicht, daß das Mädchen echte Zuneigung zu ihm empfindet. Er verschmäht sie, stößt sie damit endgültig ins Verderben. Nach zwei Jahren trifft er sie wieder. Sie ist eine Hure, um die Offiziere der französischen Revolutionsarmee würfeln. Jetzt wäre Godwi bereit, sie zu retten, aber es ist zu spät. Violetta wird wahnsinnig und stirbt. Godwi aber setzt auf dem Landsitz seines Vaters, auf den er sich, um über sein Leben nachzudenken, zurückgezogen hat, dem Mädchen ein Mahnmal, das aus einem großen schweren Würfel besteht. Seine vier Seiten erzählen in allegorischen Reliefbildern Violettas Geschichte und verherrlichen das Mädchen zugleich zur Vorbildfigur. Das erste Relief zeigt, wie sich das Kind zum Genuß entscheidet, das zweite, »wie sich ihr die Jungfräulichkeit nicht mehr anpassen will«, das dritte, wie sie die Genußsucht besiegt, »ihr der Gürtel gelöst und über die Augen gelegt wird«, das vierte, wie die Liebe sie besiegt.
Das klingt nach Kitschroman. Tatsächlich wäre die melodramatische Handlung unerträglich, käme nicht hin und wieder beim Erzählen romantische Ironie ins Spiel. So, wenn im Nekrolog der Satz steht: »Dies ist der Teich, in den ich Seite 260 im ersten Band falle.«
Man kann das Buch auch als Schlüsselroman lesen. Lady Molly, die reife, emanzipierte Frau im ersten Band, ist Sophie Mereau, die Gräfin G. die französische Emigrantin Louise de Gachet, die Clemens tatsächlich auf einer Rheinreise in Mainz kennengelernt hat und mit der er nach Spanien fliehen wollte. Auch Bettina hat er die Dame aus der Vendee, deren Angehörige unter dem Fallbeil endeten, wegen ihres Mutes und ihrer Ungebundenheit nachdrücklich ans Herz gelegt. Aber Bettina hat sich gerade in einer Phase der Schwärmerei für den Revolutionär Mirabeau befunden und die Begeisterung des Bruders für die Gachet nur in Maßen geteilt.
Die Geschwister der Kaufmannsfamilie Butler sind die Brentanos, und das Gut Godwis hat als Vorbild den schönen Gutshof und das Herrenhaus der Savignys in der Nähe von Hanau. Es ist nirgends überliefert, wie Achim auf den Roman seines Freundes reagiert hat. Man kann vermuten: kritisch. Etwas von seiner preußischen Gesinnung muß sich dagegen empört haben, die fünfzehnjährige Bettina, von der Clemens so schwärmerisch spricht, in Gestalt einer Hure auftreten zu sehen. Einen gewissen Eindruck muß die »Verwilderung« in den Texten Clemens' auf Achim aber doch gemacht haben, denn als er im Herbst 1801 auf dem Gut Zernikow Hollins Liebeleben zu schreiben beginnt, ist das eine ganz ähnlich verwilderte Geschichte. In der wilden Landschaft des Bodetals im Harz gibt sich Maria ihrem Geliebten Hollin hin. Später meint dieser sich durch seinen Freund Odoardo betrogen und erdolcht sich in der Rolle des Mortimers bei einer Amateuraufführung von Schillers Maria Stuart.
Maria stirbt aus Kummer nur eine Woche nach ihm, samt dem Kind, das sie vorzeitig zur Welt gebracht hat. Von Odoardo heißt es:
- Nachdem er alles, was er liebte, begraben, ging er in ein Kloster. Sein böses Schicksal ging nicht mit ihm ein; er verlor Gedächtnis und Erinnerung, wurde früh wie ein Kind und las oft lächelnd die Briefe seines Freundes, als sei es ihm eine fremde Geschichte.
Im Frühjahr 1802 - Achim ist inzwischen mit seinem Bruder Pitt zur Kavalierstour aufgebrochen - kündigt er von München aus seinen Besuch in Frankfurt an. Er will die vielgepriesene Bettina kennenlernen. Er will Savigny auf dessen Familienbesitz Träges besuchen. Er will sich auch die Schar der Brentano-Geschwister im »Haus zum goldenen Kopf« einmal ansehen. Clemens reagiert mit einem überschwenglichen Antwortbrief:
»Du Freudenstrahl, du klingend Wasser... von selbst bist du mir gut. Ich kann dich nicht verlieren, solange ich lebe.«
Bettina ist tagelang bearbeitet worden, damit bei ihr auch ja kein Zweifel bestehe, daß sie den, der da kommen wird, als Messias in Liebesdingen anzusehen hat. Das hat sie trotzig werden lassen.
Sie denkt nicht daran, sich in diesen Achim von Arnim zu verlieben, nur weil der Bruder es gern sähe. Sie liebt das Günderrödchen. Männer ... pah!
(15) Dieser Achim kommt, und Clemens führt ihn überall herum, stellt ihn aus, als habe er ihn für Frankfurt erschaffen. Bettina hat ihn sich nach all den Lobreden und Anpreisungen ganz anders vorgestellt, aber es ist etwas an ihm, das ihr gefällt. »Findest du nicht auch?« fragt sie Karoline. Die lächelt und antwortet: »Ganz recht, das finde ich auch. Er hat nicht diese aufgeregte Heftigkeit, die einen an Clemens manchmal recht einschüchtert.« Er hat einen Ernst und eine Ruhe, die sie mag. Wenn er länger erzählt, tritt etwas dabei hervor, was man nicht gleich vermuten würde: daß er weiß, was die Phantasie vermag über den Menschen.
»Ich könnte mich fast in ihn verlieben«, sagt Bettina zu Karoline. »Das begreif ich«, sagt Karoline, »ich auch.« »Nun, so tu du es nur. Ich hab mir geschworen, daß ich es nicht tu, damit der Clemens, der Kuppler, am Ende nicht doch noch seinen Triumph hat.«
»Ist es nicht töricht, sich die Liebe selbst zu verbieten?« fragt Karoline.
»Das sagst du doch nur, weil du dich bereits in ihn verliebt hast. Du kannst ihn haben. Nimm ihn. Ich überlasse ihn dir großzügig zum Verlieben. Er paßt auch viel besser zu dir als zu mir in seiner feierlich-vornehmen Art.«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich in ihn verliebt bin. Das legst du mir in den Mund. Ich werde mich hüten. Du weißt, ich habe kein Glück in der Liebe mit solch fein-vornehmen Männern.« »Mit anderen etwa?« fragt Bettina neugierig. »Ach was. Wie und wo denn?«
»Ich traue dir zu, du schlichest dich heimlich am frühen Morgen aus dem Haus und küßtest einen Gassenkehrer, sofern er hübsch ist, und warum auch nicht.«
»Bettina, hüte dich, solch kurioses Geschwätz vor anderen Leuten hören zu lassen. Sie könnten es für die Wahrheit nehmen.«
»Das geschähe ihnen recht, wenn ihre eigene Dummheit sie betröge.«
»Nein, im Ernst nun, Bettina... Ich ging gestern hinaus vors Gallustor, als der Sonnengott vom Himmel hinabstieg... ich war ganz durchdrungen von seiner Gegenwart in dem sich absenkenden Sonnenball. Allein beim Nachhausegehen verdarben mir zwei Philister die Andacht. Sie gingen hinter mir und haben von mir und dir geklatscht.«
»Wir sind wichtig geworden... wie herrlich«, ruft Bettina, »wir beschäftigen tatsächlich die guten Bürger von Frankfurt in ihren Gesprächen am Feierabend.«
»Hör weiter! Die Frau sagt zum Mann: Im Stift, das tut gar nicht gut für die Mädchen. Kein Wunder, wenn dort am Ende eine noch närrisch wird. Diese Bettina Brentano zum Exempel, die treibt's besonders arg. Die ist zu jeder Torheit aufgelegt. Sie soll im Stiftsgarten immer aufs Dach steigen vom Gartenhaus oder auf einen Baum und da herunterpredigen ... und die lange Geiß, die Günderrode, die da vor uns herspaziert, steht unten und hört zu.« »Und was hast du getan ... hast du's so hingenommen?« »O nein. Sie haben mich dann überholt. Ich erkannte die Frau Euler mit ihrer Tochter Salome und den Doktor Lehr. Es dunkelte jetzt ein. Aber da ich grüßte, erkannte er mich auch. Und ich dachte mir: Das kannst du ihnen nicht durchgehen lassen, und also sagte ich ihnen recht höflich, wenn sie sich schon abfällig über andere Leute und deren, wie ich ihnen versichern könne, recht harmlose Gepflogenheiten äußerten, riete ich ihnen an, es in Zukunft nicht unbedingt in deren Gegenwart zu tun.« »Das hast du ihnen gesagt, Karoline?« »Ja doch.«
»Und was erwiderten sie?«
»Sie erstarrten zu Salzsäulen und blieben da stehen, bis ich einen genügenden Vorsprung hatte vor ihnen.« »Das ist süperb.«
»Sag nicht immer süperb. Es ist ein törichtes, modisches Wort.« »Was soll ich denn sagen?«
»Oh, es gibt so viele Worte. Such dir halt jenes heraus, das recht paßt.«
»Es ist mutig gewesen... gewandt... aufrichtig.«
»Aufrichtig gewiß.«
»Ich schenke dir aufrichtig den Achim zum Verlieben«, sagt Bettina.
»Nun aber einmal ein Ende damit und in Vernunft«, antwortet Karoline, »ich bin kein Automat, in den man ein Geldstück oder zwei hineinwirft und ein Ehemann kommt heraus. Und ich will auch keinen Mann zum Verlieben, den mir die Freundin aus Gnade und Barmherzigkeit abtritt. Ich weiß überhaupt nicht, ob ich Männer recht leiden kann. Aber jedenfalls weiß ich, daß ich in absehbarer Zeit um meiner Seelenruhe willen mich in keinen verlieben werde, und sei es der Kaiser von China. Es ist zuviel Fragwürdigkeit dabei und für mich zuviel Gefährdung.« Da ist Bettina still gewesen und bald fortgegangen. Sie hat das ehrlich gemeint mit dem Schenken. Ein bißchen ist sie schon verliebt in diesen Achim, der immer noch in der Stadt ist, aber sie würde für Karoline gerne zurücktreten. Es ist doch gut und schön, einen Menschen, den man liebt, glücklich zu sehen. Sie begreift nicht, warum die Freundin so heftig geworden ist. Savigny fällt ihr ein, den Achim und Clemens am anderen Tag in Träges besuchen wollen. Es scheint so, als spinne sich der Faden zwischen Gundel und ihm fester. Aber das hindert ihn nicht, an Karoline zu schreiben und in die Glut zu pusten, von der er wohl weiß, daß sie noch unter der Asche ist. Nicht, daß Karoline ihr davon erzählt hätte. Aber sie hat in einem Buch, das sie im Garten des Stifts las, ein Billet von Savigny an Karoline gefunden. Sie hat Skrupel gehabt, ob sie es lesen dürfe, aber dann hat sie ihr Gewissen damit besänftigt, daß sie wissen müsse, wie es um die Freundin stehe. Bettina denkt über Savigny nach. Sie hat ihn ein paarmal gesehen auf dem Träges und im Haus der Geschwister zu Frankfurt. Die Leute sagen ihm eine große Karriere voraus als Gelehrter. Aber daß Karoline ihn nicht vergessen kann, ist ihr unbegreiflich. Wenn sie sich vorstellt, daß Clemens sie mit Savigny verheiraten wollte... nein. Und da ist sie wieder bei diesem Achim. Der geht ihr nicht aus dem Sinn. Und vielleicht sollte sie sich doch in ihn verlieben. Und sei es nur, um einmal auszuprobieren, wie das ist. Anders als damals, da sie in Clemens verliebt war. Anders als jetzt, da sie in Karoline verliebt ist. Ach, der Mensch ist doch wenig, wenn ihn nicht die Liebe ein bißchen befeuert. Ja, sie hat Lust, es mit dem Neuverlieben zu probieren, und deswegen geht sie auch hin, als Clemens und Achim zu ihrer Fahrt zum Rhein aufbrechen. Sie könnte ja auch den Clemens mit Karoline verheiraten. Da wäre das Geld kein Hindernis, und zwei, die dichten, kämen zusammen. Ach nein, wenn sie ehrlich ist ... die beiden verheiratet, das wäre eine Katastrophe. Sie winkt dem Marktschiff nach Mainz nach, das Clemens und Achim davonträgt. Achim hat gesagt, er werde sie auf der Rückreise noch einmal besuchen. Aber ob es dahin kommt, ist nicht gewiß. Vielleicht sagt er es nur aus Höflichkeit. Dem Clemens ist anzumerken gewesen, daß er gar nicht zufrieden war mit dem Stand der Beziehungen zwischen Achim und ihr. Das gönnt sie ihm. Sie hat auch ganz spröde, kühl und stachlig getan. Dabei haben sie ihr nun doch wieder beide gefallen. Achim in seinem weiten Überrock, die Naht am Ärmel aufgetrennt, die Mütze mit dem halb aufgerissenen Futter; der Clemens mit einer roten Mütze, fein und elegant, den tausend schwarzen Locken und dem Tabaksbeutel, der ihm lässig aus der Tasche schaut. Sie hat dem Günderrödchen erzählt, es habe ausgesehen, als sei ein vornehmer Herr inkognito mit seinem Diener unterwegs, als habe sich der Herr als Diener verkleidet - aber keiner werde ihm den Diener glauben -, und der Diener gehe als Herr. Und der, von dem sie da schwatzen, schreibt unterwegs an eine Tante nach Regensburg:
Auf den Postschiffen ist es ein herrliches Leben, ganz wie im Himmelreich, nur nicht umsonst, und etwas heißer. Die Rheinländer sind ein edles Volk wie ihr Wein, sie haben außer dem Sinn für Dichtung eine helle klingende Stimme, besonders die Schiffer. In einen alten Mantel gehüllt, ohne Plan mit einem Freunde und einem Buch umherirrend im Gesang der Schiffer, von tausend neuen Anklängen der Poesie berauscht, ohne Tag und Nacht zu sondern... - so möchte ich wohl noch einmal leben; das Leben war frisch angebrochen wie die echte Quelle des rheinischen Weines. Wir trafen viele frohe Menschen und wurden von ihnen in ihre Fröhlichkeit eingeweiht, zogen mit Schauspielern und färbten ihnen die Backen und sahn ihre Probestunden beim Kindergeschreie und hörten ihre eigenen Klagen über Kindergeschrei... ich möchte wohl gut dichten und gut singen können, um mein Leben auf dem Marktschiff zwischen Frankfurt und Mainz zu versingen.
Von Clemens kommt Nachricht an Bettina, daß er so glücklich sei, weil ihn der Achim lieb habe, und so unglücklich, weil er erneut verliebt sei, und zwar in die Geliebte eines Freundes. »Sagtest du: in die einzige Geliebte seines Freundes?« fragt Karoline nach.
Bettina liest den Brief im Stift vor, und Karoline reagiert etwas gereizt.
»Es ist klar«, stimmt ihr Bettina zu, »du kannst diese Gleichung aufstellen. Eine Rheinreise ist gleich einer neuen Geliebten. Beim ersten Mal eine, die hieß Walpurga, beim zweiten Mal die Gachet, dieses Heldenweib, mit der wollte er auf und davon nach Spanien, und nun ein Benediktchen.«
»Und dahinter steckst noch du und hinter dir ich, und hinter allem die Eitelkeit. Und jedesmal wird fest daran gestorben auf offener Bühne wie in einer Schmiere, die eine Tragödie gibt. Es ist doch gut, daß die Männer solche Mädchen wie uns als Zuschauer haben, wer sollte ihnen sonst Beifall klatschen.«
Wie's eigentlich mit ihm und der Mereau stünde, der Hauptliebe über all den Neben-, Seiten- und Fußnotenlieben, fragt die Günderrode.
Er lasse sie jetzt von Gunda mit Briefen bestürmen, damit sie ihm wieder gut werde, antwortet Bettina. Es sei bei ihm eine merkwürdige Gewohnheit: Wann immer eine seiner Lieben ins Stocken gerate, müsse eine seiner Schwestern herbei und der Unwilligen gut zureden. In seinem Brief jetzt aus Koblenz heiße es ja denn auch wieder: »Wenn sie Dich kennte, sie liebte mich vielleicht.«
Dieser Sommer ist schön. Es muß an den langen Tagen liegen, in denen es so hell von der Sonne ist. Wenn sich Bettina später an diesen Sommer erinnert, ist da kein Regentag, nur Sonne und Blumen überall und Lindenduft. Obwohl's so nicht gewesen sein kann.
Und überhaupt dehnt sich in der Erinnerung diese Zeit des Glücks, denn wenn sie nachrechnet, so hat sich all das in vierzehn Tagen abgespielt, und für sie ist ein ganzer Sommer damit besetzt. Wenn sie sich weiter fragt, woher dieses Glücksgefühl seine Nahrung erhält, dann kommt sie darauf, daß es eine Zeit gewesen ist, in der sie sich alle eingestanden haben, daß sie einander liebten. Aber stimmt das überhaupt? Daß sie Achim geliebt hat, hat sie in diesen Wochen weder sich noch ihm eingestanden, als er zurückgekommen ist und plötzlich im Zimmer der Günderrode im Stift stand und einen gemeinsamen Abendspaziergang vorgeschlagen hat.
Zu dritt sind sie den stillen Feldweg hinaus zur »Grünen Burg« gegangen, einem Gut vor dem Eschersheimer Tor, auf einer Anhöhe, von der aus man die Stadt und das Niddatal bis an die Berge übersieht. Bettina ist vorausgesprungen, und wenn sie zurückgeblickt hat, meint sie, da hinter ihr gingen ihre Eltern. Jugendliche Eltern, warum nicht? Dann kommt ein Gewitter auf. In ihren Abendträumen und dem Geschichtenausspinnen über die zwei schönen Menschen hat sie nicht gesehen, wie der Wind Wolken zusammengefegt hat. Überhaupt hat man nach all den Tagen mit nur Sonne und blauem Himmel gar nichts mehr davon gewußt, daß es so etwas wie Gewitter gibt auf dieser Welt.
Sie wartet, bis die beiden anderen heran sind. Als sie vorangelaufen ist, waren sie in Griechenland, oder genauer, sie spazierten in Hölderlins >Hyperion< herum. Und auch jetzt hören und sehen sie nicht, was sich auf Erden, noch was sich am Himmel tut. Wie sie näherkommen, hört Bettina mit, wie Karoline dem Achim ihre neue Philosophie erklärt. Ja, sagt sie, sie weigere sich nun einmal, Dingen zuzustimmen, sie zu lieben und zu bewundern, nur weil viele sie liebten. Im übrigen gebe es ihrer Meinung nach nur zwei Arten, recht zu leben: irdisch oder himmlisch. Sie meine das so: Entweder könne man der Welt dienen und nützen, indem man ein Amt führe, Geschäfte treibe und Kinder erziehe. Dann lebe man irdisch. Oder man lebe himmlisch: in der Betrachtung des Ewigen, Unendlichen, oder, wenn man es schon nicht schaue oder ergreife, so doch wenigstens im Streben danach. Wer anders leben wolle als auf eine dieser zwei Arten und Weisen, der verderbe, und irgendwann müsse man sich entscheiden.
Was dieser Achim allein dadurch, daß er so gut zuzuhören vermag, ihr alles entlocken kann, wundert sich Bettina und ist ein bißchen verdrossen, daß Günderrode solche Überlegungen dem Achim anvertraut und nicht ihr. Und weil sie sich etwas vernachlässigt vorkommt, sagt sie: »Ihr solltet lieber einmal einen Blick zum Himmel hinauf werfen, als immer nur vom Ewigen und Unendlichen daherzuschwätzen.«
Da fallen auch schon die ersten Tropfen, und sie müssen rennen, auf ein Wäldchen mit Kastanien zu, wo sie sich unterstellen und Achim seinen weiten Radmantel über sie beide legt, daß sie darunter sind wie in einem Zelt, aber auch nahe seinem Herzen und seiner Haut. In diesem Augenblick weiß Bettina, daß sie ihn liebt.
Sie wühlt ihren Kopf unter dem Mantel hervor und ruft: »Ha, 's ist mir zu hitzig und stickig da unter Eurem Mantel, Herr. Was tut sich?«
Eben da fällt ein Donnerschlag. Sie kuschelt sich wieder zurück in den Mantel und an sein Wams und denkt: Sogar der Himmel und die Elemente reden mir zu, ihn zu lieben. Da es nicht aufhören will zu regnen, rennen sie bis zur »Grünen Burg« und bitten dort um ein Nachtquartier. Eine Sommernacht unter einem Dach mit Achim, mit Karoline durchgeplaudert.
Bettina teilt mit der Freundin ein Zimmer. Achims Kammer ist nebenan. Die Wand ist dünn.
Karoline sagt: »Er ist schon ein vortrefflicher Mensch.« »Willst du ihn haben?«
»Ach was. Immer willst du ihn mir aufdrängen, was nur ein Zeichen ist, daß du fürchtest, ihn nicht zu kriegen.« »Nun mach aber einen Punkt. Wer hat den ganzen Weg mit ihm philosophiert und ihm die weitgehendsten Geständnisse gemacht, wie ich sie nie würde von dir zu hören kriegen!«
»Daß du es mir mißgönnst, einmal ein paar Minuten mit einem Menschen zu reden, der sich auskennt in den philosophischen Systemen, hätte ich nie gedacht. Es ist ein klares Anzeichen von Eifersucht.«
»Wenn du mir definierst, was Eifersucht ist, könnte ich nachsehen, ob ich sie in meiner Brust finde.«
»Es ist immer bei dir ein Zeichen von Unehrlichkeit, wenn du versuchst, geistreich zu werden.«
»Ah, sehr gut. Vortrefflich. Endlich höre ich einmal die Wahrheit über mich, die du mir sonst wohl meist gnädig verschweigst, weil du meinst, daß ich sie nicht fasse. Was doch dieser Arnim alles bewirkt.«
»Sei nicht töricht, Bettina. Warum sagst du nicht offen heraus, daß du ihn liebst? Wogegen wehrst du dich? Er ist ein schöner Mann ... wie geschaffen zum Verlieben. Und ich werde nicht traurig sein, wenn du dir's eingestehst, sondern mich mit dir freuen.« »Ich habe mich entschlossen, himmlisch zu leben wie du.« »Das sagst du aus Hohn.« »Zum Schutz nur vor deinem Hohn.«
»Dieser Mann wird's schon noch fertigbringen, uns zu entzweien.« »Immerhin hat er es schon fertiggebracht, daß du mich der Unehrlichkeit beschuldigst.«
Kaum hat sie das gesagt, da wird nebenan auffällig heftig und langanhaltend gehustet.
»Mein Gott«, ruft Bettina erschrocken, »wir haben laut gesprochen, nicht wahr?«
»O ja. Offenbar hat er alles mit angehört.« »Wie sollen wir ihm morgen begegnen?« »Was haben wir eigentlich alles geschwatzt über ihn?« »Jedenfalls stehen wir vor ihm da, als trügen wir nicht einmal ein Hemd.«
Wieder hustet da nebenan jemand vernehmlich, und diesmal ist es Bettina, als höre sie noch ein unterdrücktes Lachen dazu. Sie sagen nichts mehr. Die Dunkelheit kommt. Bettina streckt ihre Hand aus und berührt Karolines Hand. Irgendein Zeichen muß sie ihr doch machen, daß sie ihr nicht mehr zürnt. Am nächsten Morgen setzen sie sich beim Frühstück beide mit dem Rücken gegen die Tür, damit sie sich erst fassen können, wenn er hereinkommt. Er macht es ihnen leicht: Er hat jeder von ihnen einen Strauß Vergißmeinnicht mitgebracht. Sie sind noch den ganzen Tag zusammen da draußen auf der Grünen Burg. Bettina hat Gundas Gitarre gefunden und singt ein Lied:
»Das schmerzt mich sehr,
das kränkt mich,
daß ich nicht genug kann lieben dich.«
Und während sie singt, überlegt sie, wem sie den Satz in Gedanken zuschreiben soll: Karoline oder Achim. Er hat einen Einfall am Abend beim Heimgehen. Da kommen schon die ersten Sterne heraus, und er sucht, als es schon viele sind, einen aus und sagt, wenn sie getrennt seien und in der Ferne und einer von ihnen sähe diesen Stern, da wollten sie aneinander denken.
Und dann der Schreck in der Nacht, als Bettina einfällt, daß sie den Stern vergessen hat, weil noch etwas anderes geschehen ist: Achim hat ihr seinen Handschuh aus Gamsleder gegeben und gebeten, ihm einen Riß an der Naht zuzunähen. Das hat sie getan. Aber er ist wohl schon so daran gewöhnt gewesen, nur einen von seinen Handschuhen noch vorzeigen zu können, daß er nur den Rechten übergestreift hat; der linke ist liegengeblieben, und sie hat ihn mit dem Ellenbogen vom Tisch gekehrt. Vielleicht, hat sie gedacht, vergißt er ihn. Dann hat sie ein Unterpfand, und immer ist ihr auch das Lied durch den Sinn gegangen:
Wird nicht wiederkommen,
wird nicht wiederkommen,
das tut mir weh.
Denn morgen bricht er wieder zu seiner Kavalierstour auf, und so von sich selbst eingenommen ist sie nun auch wieder nicht, daß sie meint, er würde da unterwegs nie einem Mädchen oder einer Frau begegnen, die mehr hermachen kann als sie und Schlingen und Knoten zu knüpfen weiß, um einen so schönen jungen Mann an sich zu binden. Ach nein. Es darf niemand erfahren, daß sie ihn liebt. Nicht Karoline, nicht Clemens, nicht einmal er selbst; sie fürchtet zu sehr den Verlust.
Am letzten Tag, auf dem Weg zwischen den Feldern, von Offenbach nach Frankfurt herüber ... sie ist noch ein Stück mit ihm gegangen... haben sie ein Wettrennen gemacht. Sie ist gestolpert, ihr Kleid hat sie behindert. Er hat sie aufgefangen und geküßt. Aber statt seinen Kuß zu erwidern, statt ihm einen Kuß zu geben, den er so rasch nicht vergißt, hat sie ganz kalt getan, denn ihr Verstand hat ihr zugeflüstert: Jetzt bist du verwundbar, und wenn er es merkt, wirst du ihn nur desto sicherer verlieren, weil er dann deiner sicher zu sein meint.
So ist es zu Ende gegangen. Eine Kutsche hat ihn fortgetragen. Gegen alle Welt spielt sie Theater. Immer nehmen die anderen - Clemens, Gunda, Karoline - sie dazu in Anspruch, um von ihren Lieben zu reden, aber verliebt sie sich einmal: wer ist dann da, dem sie's sagen könnte? - Aber Karoline kann sie immerhin fragen, wie jener Stern heißt.
Es vergehen drei Jahre, ehe Bettina und Achim sich wiedersehen. Drei Jahre sind - heute wie damals - eine lange Zeit.