Mai

Freitag 1ten
Hagel und Kälte; traurige Erfahrung an Rus, welcher eine schwere Wunde hat. Wir befürchten seinen Verlust. R. verbringt einen Teil des Morgens mit der Beantwortung des gestrigen Briefes. Die Regelung des Hauses nimmt dann viel Zeit in Anspruch. Zur Lektüre kommt es wenig, kaum zu einem unserer gewohnten Gespräche. Wir beginnen abends »Die zwei Veroneser«,[1] jedoch ohne genügende Befriedigung, um trotz Müdigkeit fortzufahren.
Sonnabend 2ten
Große Kälte, R. freut sich darüber, indem er hofft, der Schluß des Monates würde gut. »Nur 48, der Völkerfrühling, brachte ununterbrochen schönes Wetter, von März an; und trotz alles Unsinnes ist doch der Grund zu Deutschlands Einheit damals gelegt worden. Ich selbst, ich hätte, glaube ich, den Ring nicht konzipiert ohne diese Bewegung.« Brief von Herrn Muchanoff. Ich möchte die Freundin besuchen, wage aber kaum den Wunsch auszusprechen! Große Mattigkeit des Abends, so daß ich kaum einigen Scenen aus »J. Caesar« folgen kann.
Sonntag 3ten
Die Kinder in der Kirche. Ich lese ein wenig im Bett meinen »Woodstock«, immer mit großer Bewunderung. R. freut sich des Hauses und sagt: »Ja, wer mir das gesagt hätte, daß ich ein solch liebes edles Weib in dieser Traulichkeit besitze n würde, ich ärgere mich aber schändlich, daß ich nicht 15 Jahre jünger bin!« Loldi's Geburtstag wird nachgeholt, Kinder eingeladen, ich spiele mit ihnen Charaden, hübsches Leben im Garten. Ein Brief von Herrn Muchanoff, welcher auf meine Anfrage, ob mein Besuch die Freundin erfreuen würde, mir zurät zu kommen, bestürzt R. sehr, und ich muß lange mit ihm reden, um den Eindruck zu verwischen. - Abends wieder in »J. Caesar«; wir nehmen uns vor, immer von diesen göttlichen Dingen sehr wenig auf einmal zu lesen, um jedes Wort uns einzuprägen.
Montag 4ten
R. wollte heute an die Arbeit, allein er hatte seinen letzten Bogen der Kopie übergeben, welche jetzt im Theater wohnt, er wandert dort hinauf! Die jungen Leute frieren, sind aber stolz darauf, das Gebäude einzuweihen. - Am Nachmittag*(* Beginn der neuen Seite am Rand überschrieben: »Wahnfriedheim«.[2]) sagte mir R., ich hätte immer gewünscht, daß er das Haus taufe, nun habe er einen Namen für dasselbe, »Wahnfriedheim«, in Hessen gäbe es einen Ort Wahnfried, es habe ihn so mystisch berührt, diese Zusammensetzung der beiden Worte, >undwie das Gedicht von Goethe, was nur zu dem Weisen gesprochen sei, so würde nur der Sinnige ahnen, was wir darunter verstehen^ - Wir nehmen den Nachmittagskaffee in der Halle, welche wirklich hallt. Gestern sangen die Kinder »Kos im Mai«, und »Freude schöner Götterfunken« von der Galerie herab zu uns, die wir unten saßen, es wirkte sehr rührend. - Heute früh sagte R. zu mir: »Ich beklage es doch, dir meine Symphonie nicht zeigen zu können; Mendelssohn hat sie wahrscheinlich vernichtet, möglich, daß ihm darin sich Anlagen offenbarten, welche ihm unangenehm waren.« Abends wiederum in »J. Caesar«. Erstes Bad der Kinder; viel Gelächter. Sonst noch viel Not mit Einrichtung und Einteilung.
Dienstag 5ten
Wie ich heute meine Besorgnis vor dem sehr vergrößerten Hausstand, welchen wir führen, mitteile, sagt R.: »Ich muß es bloß erleben, es kommt noch alles, auch für Fidi, es müßte denn sein, daß ein neuer Opernkomponist mich aussteche und meine Sachen nicht mehr gegeben würden, ich denke es aber nicht.« R. kam wiederum nicht zur Arbeit heute. Brief des Vaters, welcher mir mit Bemerkungen des Staunens über die Unredlichkeit die Briefe von Mutter und Ollivier zurücksendet. Auch von Ritters Nachrichten, leider recht traurige, sie sind um einen Teil ihrer Einkünfte gekommen. Abends »Die zwei Veroneser«. Am Morgen die erste Douche den Kindern.
Mittwoch 6ten
R. erzählt mir, er habe geträumt, ich hätte ihm erzählt, ich sei in der Jugend verführt worden, zuerst habe er nichts anhören wollen, dann aber habe es ihn »gewurmt« und er habe mich gequält, es ihm zu erzählen, ich dagegen hätte gesagt: »Du wolltest ja nichts hören!« -Am Vormittag Besuch des bayerischen Abgeordneten Georg Kolb mit Frau; derselbe erzählt, daß Bayreuth so verhaßt beim Ministerium u.s.w. sei. Beide machen uns einen guten Eindruck. Beständiger Wirtschafts-trouble, ich schreibe dem Vater. Freude über das Leben der Kinder hier. Abends die »Veroneser«.
Donnerstag 7ten
R. träumte wieder von mir, daß ich eine große Gesellschaft gegeben, daß überall Leute wären, er sich nirgends von seiner Haustracht entkleiden konnte und ich ihm immer sagte: »Du liebst es ja so.« - Es melden sich zwei Damen aus Straßburg, Freundinnen Malwiden's, ich führe sie auf das Theater und lade sie ein, den Abend mit uns zuzubringen. Vortreffliche, begabte und angenehme Frauen, aus Danzig gebürtig. Sie erzählen Trauriges von Straßburg, wo es noch schlimmer sei als im Anfang, und sie scheinen nicht zu glauben, daß wir das Elsaß behalten! Sie meinen auch, daß die deutschen Beamten es nicht recht verstünden, ihre Aufgabe zu lösen. Viel über Erziehungswesen gesprochen, R. rät, sich nicht zu viel davon zu erwarten, jedoch immer das Seinige zu tun; komme ich mir nicht selber vor wie ein Narr, mit meinem Theater da draußen, und doch, es läßt mich nicht, man tut es. - R. findet den Vers für unser Haus.[3]
Freitag 8ten
»Ich halte als Künstler nicht viel von der Pickelhaube«, sagte R. gestern zu den Damen, »und doch erkenne ich sie als die einzige Rettung.« Er rühmt die Damen heute sehr und sagt, es habe ihm gefallen, daß sie mir die Hand geküßt; wie ich das durchaus nicht zugebe, sagt er: »Wer dich erkennt, muß vor dir auf die Knie fallen.« Gestern schrieb ein Herr v. Gerstenberg,[4] Redakteur der A.A.Z., an R. und bat um ein Autograph, R. hatte Lust, ihm seine Meinung über die Zeitung, welche der Abtreter für allen Schmutz, der seit Jahren gegen ihn von jedem ersten besten abgelagert würde, gewesen sei, zu sagen. - Bei Tisch bemerkt R. den alten Mann, welchen wir angestellt haben, um das noch mit Eisen behaftete Wasser auszupumpen, es gemahnt ihn an die Magd in der Odyssee, welche nachts mahlt. Er ist mit Mitleiden überfüllt, »das Geräusch ist für mich urelementarisch, es ist wie Sphärenquietschen«. Er hat am Vormittag Vorstel's und Will's Reiseabenteuer gelesen, und ich fand ihn mit Tränen in den Augen. »Ach war das eine merkwürdige Zeit«, ruft er aus, »diese, in welcher wir Tribschen wählten - alles ein Auf- und Niederwallen, ein Krampf!« - Wie wir nach Tisch den Kaffee in der Halle nehmen und er die Bilder betrachtet, sagt er: »Welche merkwürdige Nacht muß das gewesen sein, wo Wotan die Erda bezwang; das ist ganz meine Erfindung- ich weiß nichts von Zeus und Gäa etwa, oder in einem Dichter ist mir nichts aufgefallen, wie zuweilen ein Zug, welcher den meisten entgeht, unsereinem sehr auffällt. Diese Nacht, wo Brünnhild gezeugt wurde - es ist nur unter dem Begriff des Göttlichen sich vorzustellen; der Reiz, dieses warnende Weib zu bezwingen, um von ihr alles zu erfahren - in der Tierwelt habe ich solches Ausbrechen von Naturgewalt belauscht, wie wir für das Göttliche einzig ein Analogon in der Tierwelt haben.« -»Nein«, rief er bald darauf aus, »wer hätte das geahnt, daß ich mit dir in solcher Traulichkeit einmal sitzen würde! So war alles gut, was unser Trachten in München scheitern ließ, und hier hat ein furchtbarer Wille gewaltet, der unsere Liebe nicht zergrämelt und zermemelt sehen wollte, wie es unter günstigen Umständen geschehen wäre, weil er wußte, daß eine solche nicht wiederkommt und daß sie ausgenutzt werden muß. Er führte durch grauenhafte Wege uns zur Vereinigung, gleichviel, sie werden es ertragen, darum glaube ich, daß ich noch lange lange Jahre mit dir leben werde.« »Ach! wie ich dich liebe, weiß niemand, weißt du selbst nicht«, ruft er mir zu, wie wir uns trennen. - Der Vater telegraphiert mir, erfreut über meinen Entschluß, nach Warschau zu reisen. - Sturmwind; abends Beendigung der »Beiden Veroneser«. - Wie ich zum Garten ging und meinen Hut aufsetzte, gedachte R. der Tochter seiner Patin Anna Träger, welche ihn bat, wie er ein 8jähriger Knabe war, ihre Hut-Bänder von strohgelbem Atlas ihr zu binden, das habe sich ihm tief eingeprägt.*(*Eine Zeile darüber findet sich bei Seitenbeginn erstmals der Eintrag: »Wahnfried«) -Von den »Veronesern« sagt R.: »Das waren die Spiele, welche die Oper vorbereiteten, die höchste Tragik wird berührt, und dann endigt alles gut.« - Wie er sich auskleidete, hörte ich ihn laut reden und frug ihn, was er gesagt hätte, er meinte, ich würde darüber sehr lachen, er habe gesagt: »Fünfzehn Jahre jünger müßte ich sein, oder besser, wie ich damals die Kapellmeisterstelle in Dresden aufgab, hätte ich Cosima als junges Mädchen von 20 Jahren finden sollen.«
Sonnabend 9ten
Geburtstag Daniel's und Großmamas, trübes Wetter. R. träumte von Rus, daß wir ihn mit auf Reisen genommen und derselbe als Löwe sich entpuppte und plötzlich mit einem Arbeiter einen Abhang hinunter lief; während ich R. sagte, wie können wir aber auch ein solches Tier mitnehmen, und R. die Bemerkung machte: Wer mir nun sagen würde, daß das ein Traum ist, ich würde es glauben, und erlebe es doch. Dann waren wir im Haus und bedachten, ob wir darin und in Bayreuth bleiben könnten, nach einem solchen Vorfall - über dieser Beängstigung wachte R. auf. Die jetzige Scheidung von Rus, welcher nicht mehr in die Stuben kommen darf - was R. wehmütig stimmt -, ist wohl der Grund zu diesen Halluzinationen. - Abends den letzten Akt von »Julius Caesar« mit unsäglicher Ergriffenheit; »kein Mensch würde das glauben, daß meine Frau über den Tod von Brutus und Cassius weint«, ruft R. aus.
Sonntag 10ten
Um Mittag die Familie Groß, dann viele Nöte mit dem Maler Maurer, ich erkälte mich und werde wiederum von der Heiserkeit heimgesucht, welche mich gänzlich meiner Stimme beraubt. R. darüber sehr traurig und ich insofern auch betrübt, als ich einsehen muß, daß ich meiner Gesundheit nicht mehr so sicher bin als früher. R. liest mir etwas aus Freytag vor, worüber ich einschlafe.
Montag 11ten
Herr Schott[5] ist nun in Mailand gestorben. - R. las heute wiederum in Freytag und sagte: »Wie einem das wohltut, mit diesen sicher von uns erkannten Verhältnissen des Altertums zu tun zu haben und unsere Jesuiten- und Judenwelt, unsere komplette Barbarei zu verlassen!« - R. behauptet, daß die Deutschen sich noch gar nicht vom 30jährigen Krieg erholt und kein eigentliches Ehrgefühl und die daraus entstammende Sicherheit hätten. - Wie wir die Madonna von Raphael in dem Kindersaal betrachten und ich meine, das sei naiv, Murillo und Corregio gegenüber*(*Sinngemäß: dagegen) sentimental, sagt R.: »Zu der Religion verhält sich diese Kunst wie Homer zu der Heldenzeit, sie verewigt, was schon entschwunden.« - Ich muß den größten Teil des Tages heute zu Bett wegen Heiserkeit zubringen. R. schläft mich abends mit Freytag ein und bemerkt, daß es ihm sehr schwerfiele, eine völlige Anstrengung sei, schlechte deutsche Prosa zu lesen: »Man könnte wohl unsere Sprache euphonischer behandeln, ohne ihre Würde zu nehmen.«
Dienstag 12ten
Richtertag, d. h. Tag der Erwartung Richter's, er kommt aber nicht, durch die Anwesenheit des Kaisers in Pest zurückgehalten. Immer schlimmes Wetter und dazu mein Übelbefinden, welches mich ganz untauglich macht. - R. kann immer nicht zu seiner Arbeit, denn es ist noch zu viel Unruhe des Einrichtens im Hause. Die Marmorstatuetten werden aufgestellt: »Und Marmorbilder stehen und sehen mich an!« Abends nehme ich den Ring des Nibelungen in [die] Hände und muß die Schönheit der Reime bewundern und wie durch diese der Sinn der Sprache uns offenbart wird.
Mittwoch 13ten
Immer Einrichtung! - R. erhält wiederum einmal eine Korrektur von Basel, ihm völlig erwünscht, da er doch - ach! - an seine Partitur nicht gehen kann. - Beim Nachmittagskaffee sagt er mir, nachdem er mich lange angeblickt: »Freundin! Du bist meine Freundin. Nicht nur, daß du mein Fleisch und mein Blut geworden bist, sondern du bist das einzige Wesen auf dieser Welt, von dem ich sagen konnte: Hier ist Rast und Ruhe, hier ist Friede.« - Ein Amerikaner sucht uns heim, er ist vom New Yorker Herald hieher gesandt, um Notizen über das Theater zu geben, und er will sich 8 Tage hier aufhalten. Wir lesen abends nicht, eine Erfahrung mit den zwei älteren Kindern betrübt uns wiederum tief. Langes Erwägen. - Am Schluß des Abends sage ich zu R., ich möchte mit dir auf einer einsamen Insel sein, »das sind wir ja eigentlich«, sagt R., »ich lebe jetzt nach meinem Tode, das muß man erreichen können, dem guten Haydn wurde es zu Teil, der eigentlich mit Mozart's Auftreten tot war und nach Mozart's Tod sein Bestes schuf und auch genoß. - Und wie erstorben ist mir die ganze Welt; eine Welt mit Freytag und Gutzkow als Berühmtheiten, ich habe keine Fühlung mehr für sie. Gott, wenn ich an meinen Onkel Adolph denke! Diesem hätte ich dich mit Stolz vorstellen können, dir sagen, von dieser Race stamme ich ab. Der schöne sanfte Ton seiner Sprache, die edle freie Bildung seines Geistes, er war so recht aus der Goethe'sehen Schule hervorgetreten«. Vorhin hatte er des Pfarrers in Possendorf[6] gedacht, »ein herrlicher Mann« mit den buschigen Augenbrauen, und des Collaborators Heine, welcher abends ihnen in der Je-län-ger-je-lieber-Laube vorlesen kam, während, von dem Schein der Laterne angezogen, die Nachtfalter umherflatterten, was sich R. so einprägte. Er blickte in die Biographie, und ob der Einzelheiten sich verwundernd meinte er, er habe sich dessen nur einmal erinnert, um es mir mitzuteilen.
Donnerstag 14ten
R. erzählt seinen Traum, er habe Putz, unheilbar krank, mit einem Stock totgeschlagen, »keiner kümmert sich doch um dich, armes Tier, nun bist du wenigstens erlöst«, und begrub ihn unter einem Haufen Schutt, der massenhaft im Garten umherlag. Beim Frühstück besprechen wir die Erziehung der Kinder; was kann man gegen die Natur? - Wir mußten gestern auf Deutschland ein Wort [anwenden], welches Griechenland galt, kurz bevor es der römischen Herrschaft erlag: So lang wir nicht ganz verloren sind, ist uns nicht zu helfen. So lang wir nicht Preußen sind, war das Gefühl in Süddeutschland. Neulich, als R. die Manöver der Infanterie sah, kam er heim und sagte: »Es hat mir gefallen, und ich dachte, Gott sei Dank, daß wenigstens hier noch etwas nach den Gesetzen des Rhythmus geht und nicht alles in Sackpaletöt, Cigarre und Bart (wie Schopenhauer sich ausdrückt) untergegangen ist!« - Besuch des guten Bürgermeisters, welcher sich offenbar freut, daß es in Bayreuth ein so hübsches Haus gebe. R. spricht davon, daß er nie so gut mit der Polizei gestanden habe. Er erzählt dann von der Schweiz und seinen Erinnerungen an Sulzer; wie dort man noch deutsche Gemeindewesen antreffen könnte, leider mit verschrumpftem Herzen wegen der Trennung vom Reich und der Fremden-Überschwemmung. - Abends von »Titus Andronicus«[7] den 1. Akt mit einiger Befremdung gelesen. Als gestern R. den Kindern die Parabel des Zinsgroschen erklärte, wurde es mir recht klar, daß es mit den Bildern zu diesen h. Dingen geht wie mit den Programmen zu symphonischen Werken, welche Programme niemals zugleich mit den Symphonien genossen werden dürfen; der herrliche Zinsgroschen von Tizian, die Madonnen Raphael's verlieren ihre Wirkung, wenn die Worte des Evangeliums ertönen.
Freitag 15ten
Gestern am Himmelfahrtstag war das Wetter schön und ich konnte wieder ausgehen, heute wiederum regnerisch. - Wir sprachen beim Frühstück vom »T. Andronicus«, ob er acht wohl sei? Dann von unseren besondern Lieblingen unter den Stücken, R. sagt, daß das letzte Mal, daß wir »Lear« gelesen hätten, die ungeheure Steigerung, das Kommen und Gehen, die Scenen-Einteilung, die ungeheure Rapidität und dabei doch die Gemächlichkeit ihm einen ganz besonderen Eindruck gemacht hätten, sonst wäre »Othello« wohl ihm am innigsten an das Herz gewachsen. Mir bleibt »J. Caesar« - ich weiß selbst nicht warum, nicht das liebste (wie könnte man also sprechen) - wohl aber ganz eigenartig ergreifend. - Wiederum werden Briefe von R. feil geboten, einer an H. v.Bülow, Juni 1858, und das Manuskript vom »Judentum in der Musik«!! R. träumte von einer Aufführung von Tristan und Isolde in Dresden mit Ballett und gänzlicher Veränderung von Text und Musik, nur einzelne Figurationen beibehalten. Herr Rietz[8] mit ergrautem Kopf dirigierte - »so müssen sich die Leute meine Sachen herrichten, um sie zu geben«, habe R. gesagt, sei aber dabei in Wut ausgebrochen. - Ich erhalte einen Brief des Herrn Muchanoff, welcher mich im Namen seiner Frau bittet, nicht nach Warschau zu kommen, zugleich auch von ihren entsetzlichsten Qualen mir erzählt. Dies drückt mich tief nieder und, Gott weiß wie, unwillkürlich der Vers »wer nie sein Brot mit Tränen aß« mir laut entschlüpft, und ich R. sehr dadurch reize; er sagt mir, er sei der Ausdruck der Not eines Bettlers und könne nicht auf seelische Leiden bezogen werden. Ich schweige und finde dann beifolgenden Zettel*(*Liegt dieser Seite bei. In der Handschrift Richard Wagners: »>Wer nie sein Brod mit Thrä-nen ass.< / Göthe / >Pleurons nous ou dinons nous?< / Liszt«. S. Anm.) auf meinem Arbeitstisch, das Zitat von Liszt bezieht sich auf eine Ane kdote, die ich erzählte: Meine Mutter weinte einst fortwährend bei Tisch, da frug sie der Vater wie oben angeführt. Nachmittags kommt eine Depesche von der Freundin! Ich verkrieche mich förmlich, um zu weinen! Abends Fortsetzung von »Titus Andronicus«, durch die unerhörten Roheiten und Kraßheiten [hin]durch erkennen wir an einzelnen Zügen (Knieen vor den Steinen, Aron's Vaterfreuden, der Wahnsinn des Titus, Lavinia's Suchen im Buch etc.) die unverkennbare Hand des Göttlichen! »Daß alles dies sich bis zum >Hamlet< aufgebaut hat, ist wohl merkwürdig«, sagt R.
Sonnabend 16ten
Allerlei Briefe geschrieben, nach Warschau, Berlin u.s.w., dabei immer viel Einrichtungssorgen. R. instrumentiert eine Seite, befindet sich aber immer nicht recht wohl. Wir beschließen abends den »Titus« mit großem Staunen. - Am Morgen machten uns unsere zwei Hähne viel Spaß, welche ein völliges Duett sangen, »die zwei Trompeter aus Lohengrin«, sagt R
Sonntag 17ten
R. instrumentiert wiederum; ich tue nicht viel außer umher schauen, mit Loldi lesen (deutsche Geschichten u.s.w.) und mich herumschleppen, da mein Übelbefinden sehr groß ist. Nachmittags mit den Kindern gespielt, weil sie kleine Gäste haben. Abends wollten wir »Perikles«[9] lesen, fanden ihn aber nicht in der Tieck-Schlegel'schen Ausgabe.
Montag 18ten
Brief eines Kolbergischen Herrn, des Neffen der Dame, welche einen Patronatschein begehrte, derselbe schickt wiederum 300 Th. und erklärt seine Absicht, sich diesem Theater zu widmen. - Gestern kam wiederum ein Brief des Redakteurs der A.A.Z., welcher seinen Dank für R.'s Brief und seine Versicherungen der unbedingten Verehrung ausspricht. R. arbeitet. Ich habe allerlei Tapezierer-Schneiderinnen-Angelegenheiten, und dazu ein frostiges Wetter. Der Amerikaner empfiehlt sich. Abends endlich einige Sprichwörter aus Indien gelesen, was mich wahrhaft erholt. Eines von der üblen Berühmtheit durch einen Schwager ergötzt uns sehr, ein anderes vom Sohn, den man fünf Jahre als Herrn, zehn Jahre als Knecht und vom fünfzehnten Jahre als Freund [hat], sowie mehrere andere von der Unveränderlichkeit des Charakters entzücken uns durch Tiefe und Anschaulichkeit, bei höchster Kultur der naivsten Natur ganz nahe.
Dienstag 19ten
Uns der Sprichwörter erinnert - über Erziehung gesprochen (unselig das Wissen ohne Taten, unselig der Mann ohne Wissen u.s.w.). Viel weniger auf Wissen darin geben als auf ästhetisches Gefühl, schönes Sprechen, schöne Gebärden - die Griechen darin das Richtige erkannt und gefunden. Was wäre das Schöne für die Deutschen? Das Ehrbare, Züchtige. Von da auf den Staat und die schöne physiologische Auffassung desselben seitens C. Frantz; nur darin habe er sich geirrt, daß er die kleinen deutschen Höfe für naturgemäße Entwickelungen gehalten sowie den alten deutschen Bund, welche nur Schöpfungen der Konvention und Abstraktion gewesen sind. Am Nachmittag Depesche von Frau v. Meyendorff, sie kommt morgen an. Vorbereitungen. - Am Morgen erzählte mir R., daß er häufig seine Träume fortfahre und erwache, indem er sich sagte - Gott, das habe ich ja schon geträumt. -
Mittwoch 20ten
Versuch, ein Gedicht zu R.'s Geburtstag zu Stande zu bringen, beständige Unterbrechungen durch R., die Kinder, den Tapezierer, schließlich doch die Sache entworfen. Erwartung Richter's, Kinder malen Fahnen, er kommt eine halbe Stunde vor Frau v. M. an, um drei. Der Vater sei in letzter Zeit sehr leidend gewesen. Abends erträgliche Unterhaltung zwischen vier ziemlich verschiedenen Wesen.
Donnerstag 21ten
Früh auf, um das Gedicht zu Stande zu bringen, den Kindern dann übergeben. Mit Frau v. M. nach Eremitage gefahren, nachmittags zum Theater, dann nach Fantaisie. Brief des Vaters aus Florenz, Brief von Herrn Muchanoff, ich entschließe mich, ohne der Freundin ein Wort davon vorher zu sagen, gleich nach der Konfirmation von Lulu dorthin zu reisen. Der Abend vergeht gemütlich; da Richter verschwindet, macht R. Scherze darüber, daß man ihm morgen etwas vorbereitet.
Freitag 22ten
Die Kinder stecken 61 Lichter auf die Badewanne R.'s und umgeben dieselbe mit Kränzen und Blumen-Stöcken, ganz aus sich; heiteres Lachen darüber. Tauben fliegen zum ersten Mal aus dem Haus und umflattern das unsrige. Ich feiere dieses Jahr R. nicht. Marie Dönhoff kommt in ihrer ganzen Lieblichkeit um 9 Uhr früh an, und Freund Gersdorff findet sich zu Mittag ein. Die Kinder sagen ihr Gedicht, nur Eva kann nicht vorwärts. Nach Tisch Ausfahrt nach dem Theater. - Heimkehr bei trübem Wetter, um 8 Uhr Ständchen der Liedertafel und Militärmusik (am Mittag hatten sie sehr hübsch Kaisermarsch und Pilgerchor gespielt). R. trinkt aus dem silbernen Hörn mit ihnen und dirigiert sie, inmitten des heftigsten Jubels erhalte ich eine Depesche — Marie ist gestorben, sanft entschlafen, die Leute ziehen ab bei dem gemeinsten Marsch - so wird hienieden unser Schluchzen begleitet. Ich verschweige R. die Nachricht. Bei Tisch hatte ich ihrer gedacht.
23ten Sonnabend
Frau v. M. fort, den Tag über mit Marie Dönhoff in Ergießungen ihrerseits, bei mir ist der Schmerz zurückgedrängt. Der Maler Hoffmann kommt mit seinen Skizzen, hat aber leider nichts daran verändert. Abends spielt Marie Dönhoff sehr schön, von der Kronprinzessin erzählt sie, dieselbe habe von R.'s Musik gesagt, sie mache ihr Kopfschmerzen.
24ten Sonntag Pfingsten
Immer mit der kleinen schönen Frau, dazu Hoffmann und Freund Gersdorff, in der Seele der schlafende Schmerz. Nachmittags entfernt sich die Schöne, abends heimliche Unterhaltung mit dem Maler Hoffmann, welcher sehr eigensinnig ist.
Montag 25
Abschied von Freund Gersdorff und Herrn Hoffmann. R. ist nicht wohl, die Besuche greifen ihn an, auch ist er heftig darüber erschrocken, daß Richter uns nur noch 2 Monate geben kann. Auch ist die Häufung der Ausgaben des Hauses ihm sehr unangenehm. Trübes Wetter, der Pfarrer Tschudi, der gute Mann, welcher uns getraut hat, ist nun auch gestorben.
Dienstag 26ten
Lusch schreibt ihrem Vater nach Florenz, sich seinen Segen erbittend zu ihrer Konfirmation. Ich schreibe allerlei Briefe. R. dankt dem König für sein Telegramm. Er ist sehr angegriffen. Wir machen gemeinschaftliche Besuche und Besorgungen zu Fidi's Geburtstag. Abends ist R. sehr leidend.
Mittwoch 27ten
Ich habe heute für R. zu unterschreiben, daß er mein zurückgelegtes Geld für die Zahlungen des Hauses nach Belieben gebrauchen möchte. Die Sorgen hausen bei mir, denn auch das Befinden R.'s flößt mir große Besorgnisse ein, und ich fürchte die Überschreitung unserer materiellen Kräfte. R. wirft mir vor, daß ich zu seinem Geburtstag ihm nicht bescherte. - Hübscher Brief Marie Dönhoff's, welcher aber R. ärgert, weil er französisch geschrieben ist, er macht mir darüber ernstliche Vorwürfe, daß ich sie nicht anleite, zu mir italienisch zu sprechen, und ich zu ihr deutsch. Ich will es auch tun. Wir lesen jetzt abends nicht.
Donnerstag 28ten
R. nimmt sein Marienbader Wasser, spürt aber wenig gute Früchte davon und ist tief verstimmt. Ich habe Lulu zur Konfirmation vorzubereiten und spreche ernst zu ihrem Herz; der herrliche einfache Mythos des Sündenfalls, das daran sich knüpfende Elend der Welt, welches uns einzig das Heil in der Erlösung finden läßt, bildet mein Thema; mächtiger sind die Triebe als wir, mächtiger aber als die Triebe ist die Gnade, die uns wandeln kann, dieses Wunder geschieht jeden Tag. Das Kind sehr erschüttert. Ich schenke ihr das Kreuz. - Abends sehr interessanter Aufsatz von Hans über den Mißerfolg einer Glinka'schen[10] Oper in Mailand, unerbittlich gegen die Italiener.
Freitag 29ten
Im Garten gefrühstückt, dann Lusch zur Prüfung geführt. Nachmittags mit dem Dekan die Ordnung der Beichte vorgenommen, wobei mich R. antrifft, was ihn sehr unterhält. Große Schwüle. Freude an dem Haus, am Garten, abends spazieren gegangen mit R., wiederum außerhalb der Welt. Nur die Tiere machen Not, einen armen Hahn hörten wir schreien, wie er geschlachtet wurde, und konnten es nicht überwinden. R. arbeitet wieder, aber mühsam, es strengt ihn immer sehr an, sich wieder hineinzuweben. Der gute Pfarrer Tschudi ist nun auch gestorben!
Sonnabend 30ten
Ich habe nach Boston Notizen über das Theater zu schreiben; den Nachmittag mit Lusch zur Beichte und Absolution; R. spricht ihr von ihrem Vater und sagt ihr, er hoffe, daß unter seinem Schutz sie ihm, dem Vater, zur dereinstigen Freude gedeihen werde. Das Kind sehr ergriffen. Ich danke R. von ganzer Seele, mich bis zu diesem Punkte gebracht zu haben. Bis spät abends mit dem Teuren gewandelt, er meint, alle lieblichen Frauen (wie M. D.*(* Marie Dönhoff)) seien Nippes, ihnen gegenüber sei ich wie eine Urkraft, und meine ganze Kraft kommt von ihm!
Sonntag 31ten
Um 8 Uhr zur Kirche bis gegen 12, auch R. kommt hin, und alle Kinder, auch Fidi, tiefe Ergriffenheit, Innewerdung des Erhabenen der Religion und der Gemeinsamkeit, ich glaube, Daniella wird an diesen Tag stets mit Rührung und Erhebung denken. Nach Tisch noch einmal in die Kirche gegangen. - Der Dekan gestern und heute herrlich! - Eine Photographie, von einer Freundin geschickt, nach dem Bild von Max, Gretchen,[11] zeigt das Widerliche unserer heutigen witzigen Malerei; R. sagt, das Gesicht ist so praktikabel. — R. arbeitete, sagt mir aber, er gebrauchte völlig ein zweites Orchester, um seine Gedanken ganz wie er es möchte auszudrücken. Er spricht von dem Thema, welches Brünn-hilde's Seelenstimmung darstellt, während Siegfriedim ungestümen Jubel im zweiten Akt davoneilt. »Es ist bei mir nicht die Sucht, Effekte hervorzubringen, sondern immer andere Instrumente hinzutreten zu lassen, um mit den anderen abzuwechseln; keine Virtuosenspiele treiben. Dazu kommt, daß ich Pedant eine gute Partitur für den Druck machen will, führe ich fort, wie ich die Nibelungen begonnen hatte, alle Instrumente durcheinander, es ging besser, ich müßte aber einen ungeheuer gescheiten Kerl dabei haben zum Kopieren.« - Spaziergang abends, den Mond als Kladderadatsch-Gesicht; heimkehrend singen wir das Hauptthema von der Coriolan-Ouvertüre, »das ist das Schöne daran, das (nur das)*(*( ) eingefügt) ungeheuer Neue, daß es keinen Schluß hat, daß diese Themen wie fragende Gestalten auftauchen und untergehen«. - Durch Herrn Voltz erfuhren wir, daß die Skizze zu Lohengrin, welche R. Frau Laussot, diese vermutlich Karl Ritter geschenkt, in die Hände eines reichen Kaufmannes wahrscheinlich durch Ankauf gelangt ist!...